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Monsieur
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Amorbach

Bewertungen

Insgesamt 47 Bewertungen
Bewertung vom 11.01.2025
Wackelkontakt
Haas, Wolf

Wackelkontakt


gut

Ein skurriler Anfang, aber wohin führt es?

Der österreichische Autor Wolf Haas ist längst für seine skurrilen Plots und verschrobenen Charaktere bekannt. Mit seinem neuen Roman „Wackelkontakt“ bleibt er seiner Linie treu. Schon der Titel deutet darauf hin, dass es hier nicht nur um technische Störungen geht, sondern um eine Welt, die von absurden Wendungen und ungewöhnlichen Figuren geprägt ist.
Die Hauptfiguren, Escher und Elio Russo, erleben jeweils ihre eigene Geschichte, die dennoch auf absurde Weise miteinander verbunden ist. Escher, ein passionierter Puzzler berühmter Kunstwerke, verbringt seine Zeit wartend auf einen Elektriker. Als dieser schließlich eintrifft, führt ein Missgeschick zu einem unbeabsichtigten Todesfall. Parallel dazu verfolgt der Leser die Geschichte von Elio Russo, einem Mafia-Kronzeugen, der nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis unter neuer Identität ein ruhiges Leben als Mechaniker beginnt. Der Clou: Beide Protagonisten lesen in Büchern, in denen sie die Geschichte des jeweils anderen nachverfolgen. Diese originelle Erzählweise, die Realität und Fiktion miteinander verschmelzen lässt, macht den Reiz des Romans aus.
Zu Beginn entfaltet sich die Handlung mit einem unvergleichlichen Tempo und einer gehörigen Portion schwarzem Humor. Besonders die ersten knapp fünfzig Seiten, die sich auf Eschers Wartezeit und die skurrilen Ereignisse in seiner Wohnung konzentrieren, sind herausragend gelungen. Haas beweist hier sein Talent für Situationskomik und groteske Szenen, die entfernt an den Stil von Jonas Jonasson erinnern. Der schwarze Humor, gepaart mit den absurden Begebenheiten, sorgt für zahlreiche amüsante Momente, die den Leser schmunzeln lassen.
Doch je weiter die Handlung voranschreitet, desto mehr verliert der Roman an Originalität. Der anfängliche Reiz, dass Escher und Elio gegenseitig von ihren Geschichten lesen, tritt zunehmend in den Hintergrund. Stattdessen nimmt der eigentliche Plot das Ruder in die Hand – mit gemischten Ergebnissen. Die zweite Hälfte des Romans driftet in klischeebehaftete Mafia-Geschichten ab, die stark an zweitklassige Hollywood-Produktionen erinnern. Entführung, Mord und Lösegeldforderungen dominieren die Handlung, deren Auflösung auf glücklichen Zufällen beruht.
Auch die Figurenentwicklung bleibt hinter den Erwartungen zurück. Während Escher und Elio anfangs durch ihre Schrulligkeit noch unterhalten, handeln sie im Verlauf der Geschichte oft irrational. Was auf den ersten fünfzig Seiten charmant wirkt, verliert sich bei einem längeren Handlungsverlauf in Belanglosigkeiten. Die anfängliche Verspieltheit weicht einer Reihe von Episoden, die sich zu sehr auf gängige Klischees stützen.
In der Vergangenheit konnte mich Haas‘ Brenner-Reihe nicht überzeugen, und auch „Wackelkontakt“ ergeht es ähnlich. Die Grundidee ist vielversprechend, doch die Umsetzung bleibt hinter den Möglichkeiten zurück.
Trotzdem bleibt „Wackelkontakt“ ein unterhaltsames Buch für Zwischendurch. Der Humor und die originelle Grundidee retten den Roman vor völliger Mittelmäßigkeit. Leser, die jedoch ein raffiniertes Verwirrspiel oder ein komplexes Handlungsschema erwarten, werden enttäuscht sein. Haas erreicht weder die Raffinesse noch die humoristische Leichtigkeit, die der bereits erwähnte Jonas Jonasson mit seinen Werken etabliert hat.
Als reine Unterhaltungsliteratur für Zwischendurch mag das Buch durchaus funktionieren, doch wer mehr erwartet, wird mit „Wackelkontakt“ nur bedingt glücklich werden.

4 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.12.2024
Die blaue Stunde
Hawkins, Paula

Die blaue Stunde


sehr gut

Kein raffinierter psychologischer Thriller, aber ein faszinierendes Drama

Auf den ersten Blick wirkt Paula Hawkins‘ neues Buch „Die blaue Stunde“ ein wenig unentschieden. Es enthält zwar die typischen Elemente eines psychologischen Thrillers, scheint sich jedoch nicht vollständig diesem Genre zuzuordnen. Der Roman beginnt mit dem Fund eines menschlichen Knochens in einem Kunstwerk der verstorbenen Künstlerin Vanessa Chapman. Dieses Verbrechen bildet das zentrale Mysterium, das im Verlauf der Handlung aufgeklärt werden soll.
Der Kurator James Becker reist auf die Insel, auf der Chapman zuletzt gelebt hat, um Nachforschungen anzustellen. Dort stößt er auf zahlreiche Ungereimtheiten in Chapmans letzten Lebensjahren, was die Geschichte zunehmend in ein Netz aus Geheimnissen und Andeutungen verstrickt. Doch wer von Paula Hawkins, bekannt durch ihren Bestseller „Girl on the Train“, einen ähnlichen, psychologisch spannungsaufbauenden Thriller erwartet, wird hier überrascht. Zwar setzt Hawkins erneut auf Atmosphäre und das Geheimnisvolle, jedoch ist „Die blaue Stunde“ noch entschleunigter und phasenweise mehr Drama als Thriller.
Im Fokus stehen vor allem Chapmans Leben als Künstlerin und ihre komplexe Beziehung zu ihrer Freundin Grace, die nach ihrem Tod ihr Haus verwaltet. Die Krimielemente werden auf das Wesentliche reduziert, während unterschwellige Bedrohung und düstere Momente die Atmosphäre bestimmen. Die Spannung ergibt sich weniger aus actionreichen Szenen als aus der Erwartung, dass Hawkins am Ende alle Fäden zusammenführt und den Leser mit einer überraschenden Wendung belohnt.
Hier liegt jedoch auch die Schwäche des Romans: Der Plot wirkt letztlich nicht besonders raffiniert. Für eine Autorin ihres Kalibers hätte man sich komplexere Wendungen und Verstrickungen, sowie ein packenderes Finale gewünscht. Dennoch überzeugt der Roman durch seine fein gezeichneten Figuren und ihre Beziehungen zueinander sowie durch die kunstvolle Darstellung einer geheimnisvollen Stimmung.
Wer also einen klassischen Thriller mit ausgeklügeltem Krimihandwerk erwartet, könnte enttäuscht werden. Freunde von literarisch anmutenden Dramen und Künstlerromanen hingegen dürften bei „Die blaue Stunde“ voll auf ihre Kosten kommen.

Bewertung vom 19.12.2024
Über dem Tal
Preston, Scott

Über dem Tal


sehr gut

Scott Prestons Roman "Über dem Tal" entführt die Leser in den rauen und unbarmherzigen Lake District im Norden Englands – eine Region, die mit ihrer schroffen Schönheit und ihrer zeitlosen Atmosphäre den idealen Hintergrund für die tragische Geschichte von Steve Elliman bietet. Mit viel Liebe zum Detail und einer ungeschönten Darstellung des harten Lebens auf dem Land beschwört Preston den Charme einer verloren geglaubten Welt herauf, die jedoch alles andere als idyllisch ist.
Im Zentrum der Handlung steht Steve Elliman, ein wortkarger und raubeiniger Mann, dessen Leben seit seiner Geburt von der Schafzucht und dem kargen Dasein im Tal geprägt ist. Sein Vater lehrte ihn nicht nur, wie man Schafe hütet und das Land bewirtschaftet, sondern auch, wie man überlebt. Diese Fähigkeit wird für Steve zur zentralen Konstante in einem Leben, das von Entbehrungen und Enttäuschungen gezeichnet ist. Der Roman macht keinen Hehl daraus, wie hart das Leben im Lake District ist: Jeder Tag fordert Steves vollen Einsatz, und die Natur zeigt sich oft von ihrer grausamsten Seite.
Die Handlung nimmt eine drastische Wendung, als eine tödliche Seuche das Tal heimsucht und die Schafzüchter in den Ruin treibt. Steve verliert alles – seinen Hof, seine Tiere und schließlich auch die letzten Reste von Stabilität in seinem ohnehin prekären Leben. Doch Steve ist ein Mann, der sich nicht so leicht unterkriegen lässt. Gemeinsam mit seinem Freund William, der ihm in seiner Sturheit und Widerstandskraft ähnlich ist, gerät er auf die schiefe Bahn. Die beiden entscheiden sich, eine Herde Schafe zu stehlen, um überleben zu können – eine Entscheidung, die sie unweigerlich in einen Strudel der Gewalt zieht.
Was folgt, ist eine Abwärtsspirale, die das vermeintlich malerische Tal in ein blutgetränktes Schlachtfeld verwandelt. Die unbarmherzige Natur spiegelt die zunehmende Brutalität wider, die die Figuren in ihrem Kampf um die Existenz an den Tag legen. Preston gelingt es, die Ambivalenz dieser Welt einzufangen: Einerseits die natürliche Schönheit der Landschaft, andererseits die brutale Realität des Lebens in ihr. Diese Dualität zieht sich durch den gesamten Roman und verleiht ihm eine besondere Tiefe.
Die Charaktere sind tief mit ihrer Umwelt verwurzelt. Für sie ist das mühsame Leben im Tal keine Last, sondern eine Selbstverständlichkeit. Ihre Moralvorstellungen sind den harten äußeren Umständen angepasst, und so erscheinen ihre Handlungen oftmals brutal und unreflektiert. Steve Elliman ist dabei die zentrale Figur, durch deren Augen die Leser diese Welt erleben. Preston lässt ihn die Handlung dominieren und nimmt sich selbst als Autor weitgehend zurück. Stilistisch wirkt der Text wie aus Steves Feder: kurze, abgehackte Sätze, die kaum Raum für Reflexion lassen. Diese Art des Schreibens unterstreicht Steves pragmatische und wortkarge Persönlichkeit, macht die Lektüre jedoch bisweilen anstrengend.
Besonders auffallend ist, wie die Landschaft in die Handlung integriert wird. Preston verzichtet auf ausschweifende Beschreibungen und vermittelt die Umgebung stattdessen durch ihre unmittelbaren Auswirkungen auf die Figuren. Der beißende Wind, die eisige Kälte und die Verletzungen, die durch das harsche Terrain verursacht werden, lassen die Leser die Natur fast physisch spüren. Diese Technik macht die Erlebnisse der Charaktere spürbar und verleiht dem Roman eine authentische, wenn auch wenig angenehme Atmosphäre.
Die literarische Qualität von "Über dem Tal" ist schwierig einzustufen. Der Roman weist deutliche Parallelen zu den Werken von Cormac McCarthy auf, verlegt jedoch das Setting vom amerikanischen Westen in den Norden Englands. Anstelle von Drogen oder Pferden stehen Schafe im Mittelpunkt – ein ungewöhnliches Objekt der Begierde, für das jedoch ebenso gestohlen und gemordet wird. Die Handlung weist immer wieder Elemente eines Krimis auf, mit Schießereien und Brandanschlägen, die bildreich beschrieben werden. Gleichzeitig gibt es leise Momente, etwa wenn Steve und seine langjährige Freundin Helen allein auf der Farm sind oder wenn die Männer in den Bergen ihre raue Freundschaft pflegen. Diese Wechsel zwischen laut und leise, zwischen Gewalt und Intimität, tragen dazu bei, die Spannung aufrechtzuerhalten.
Die Verbindung zwischen Idylle und Gewalt ist eines der gelungensten Elemente des Romans. Die Symbiose zwischen Schafzucht und Kriminalität wirkt jedoch oft zu konstruiert, um wirklich zu überzeugen. Dennoch bietet "Über dem Tal" einen faszinierenden Einblick in eine Welt, die wie aus der Zeit gefallen scheint. Die Charaktere und ihre Lebensweise sind für den modernen Leser ebenso fremdartig wie faszinierend. Auf eine schräge und unkonventionelle Weise gibt Scott Preston diesen Menschen eine Stimme.

Bewertung vom 17.12.2024
Ein Haus und seine Hüter
Compton-Burnett, Ivy

Ein Haus und seine Hüter


sehr gut

Mit „Ein Haus und seine Hüter“ von Ivy Compton-Burnett legt Die Andere Bibliothek eine spannende Wiederentdeckung vor.
Im Zentrum der Handlung steht die vermögende Familie Edgeworth. Gleich zu Beginn stellt Compton-Burnett alle Familienmitglieder vor, wodurch die Ausgangskonstellation schnell etabliert ist. Wie für viktorianische Romane typisch nimmt der Hausherr Duncan selbstbewusst den Platz des Oberhaupts ein. Er gibt sich gebieterisch gegenüber seiner Frau und seinen noch unverheirateten Töchtern. Das Fehlen eines Sohnes, der als Erbe antreten könnte, schwebt als unausgesprochenes Problem über der Familie. Diese Lücke füllt zunächst der Verwandte Grant aus. Damit entspricht die Familienkonstellation nahezu einem Lehrbuchbeispiel eines viktorianischen Romans, der die Erwartungen der Leser zu Beginn kaum enttäuscht.
Das Anwesen der Familie Edgeworth wird zum Schauplatz für die großen Themen: Tragödien, Intrigen, Hochzeiten, Trennungen, Tod und glückliche Wendungen prägen die Handlung. Besonders geschickt gelingt der Autorin der Aufbau des Romans. Der Einstieg legt nahe, dass die Handlung sich innerhalb weniger Tage abspielen wird – genauer gesagt rund um das Weihnachtsfest, welches zunächst das zentrale Thema bildet. Gespräche und Interaktionen der Figuren kreisen um die Feiertage, um Familie und Tradition. Doch unvermittelt nimmt die Geschichte an Fahrt auf und entwickelt sich in unerwartete Richtungen. Der Roman löst sich bald von der Enge, die die Festtage über die Familie Edgeworth ausgeübt haben, und weitet seinen erzählerischen Horizont.
Ein einschneidendes Ereignis ist der plötzliche Tod von Duncans Frau, der Mutter seiner Töchter. Diese Tragödie bringt das bis dahin geordnete Familiengefüge ins Wanken. Zuvor schien das Leben der Edgeworths in festen Bahnen zu verlaufen; jeder kannte seinen Platz und seine Rolle. Compton-Burnett lässt den Leser annehmen, dass dieser Zustand bereits seit langem besteht, ohne dass es Veränderungen gab oder gar erwartet wurden. Doch nun gerät alles ins Chaos.
Die Reaktionen der Familienmitglieder auf diesen Verlust sind auf den ersten Blick erwartbar: Duncan zeigt sich gefühlskalt und verweigert sich jeglicher Trauer, während seine Töchter Schwierigkeiten haben, ein angemessenes Verhalten zu finden. Doch je tiefer man in die Familienstrukturen eintaucht, desto deutlicher zeigt sich, wie komplex und brüchig das gesamte Gefüge ist. Compton-Burnett nimmt den Leser mit auf eine Reise durch ein zerklüftetes, sich stetig wandelndes Familienleben, in dem zunehmend alles drunter und drüber geht.
In vielerlei Hinsicht wirkt „Ein Haus und seine Hüter“ wie ein moderner Roman. Die Handlung scheint fast an die Seh- und Lesegewohnheiten unserer heutigen Gesellschaft angepasst zu sein. Man hat das Gefühl, die Geschichte könnte ebenso gut aus der Feder eines geübten Drehbuchautors stammen, der seine Zuschauer mit Intrigen, Cliffhangern und emotionalen Spannungen in seinen Bann ziehen will. Unterstützt wird dieser Eindruck durch den eigenwilligen Schreibstil der Autorin: Die Handlung wird fast ausschließlich durch Dialoge vorangetrieben. Beschreibende Erzählungen oder längere Reflexionen sind nahezu Fehlanzeige.
Diese Dialoge zeichnen sich allerdings durch eine bemerkenswerte Eigenart aus: Sie wirken oftmals sprunghaft, absurd und banal. Kaum eine Figur scheint je etwas von wirklichem Gewicht oder von klarer Relevanz zu sagen. Ständig fühlen sich die Charaktere bemüßigt, einen Einwurf zu machen – oft belanglos, oft widersprüchlich, und nicht selten ohne klaren Bezug zur vorherigen Frage oder Antwort. Was zunächst wie ein Defizit erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als ein geniales Stilmittel. Denn es entsteht eine Dynamik, die ein äußerst treffendes Bild der damaligen Gesellschaft zeichnet. Die Qualität dieser Dialoge und des gesamten Romans offenbart sich somit erst in seiner Gesamtheit.
Auch die Handlung selbst bleibt diesem Muster treu. Viele Motive, die Compton-Burnett aufgreift, hat man in ähnlicher Form bereits bei viktorianischen Erzählern wie Jane Austen oder Frances Hodgson Burnett gesehen. Es wird verlobt und getrennt, ein Todesfall (Mordfall?) sorgt für Aufruhr, und die Familie sieht sich mit Verdächtigungen, Gerüchten und Verleumdungen konfrontiert. Das alles klingt wie der Stoff eines trivialen Unterhaltungsromans oder zeitgenössischen Dramas. Doch trotz dieser vertrauten Elemente gelingt es der Autorin, ihr literarisches Niveau durchweg zu wahren. Das liegt vor allem daran, dass Compton-Burnett die Fäden ihrer Geschichte souverän in der Hand behält.
Insgesamt ist „Ein Haus und seine Hüter“ ein hervorragender Familienroman, der klassische viktorianische Motive mit moderner Erzählkunst verbindet.

Bewertung vom 29.11.2024
Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Hefter, Martina

Hey guten Morgen, wie geht es dir?


sehr gut

Jedes Jahr löst die Verleihung des Deutschen Buchpreises bei vielen Leserinnen und Lesern zunächst Skepsis aus. Auch Martina Hefters Roman „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ fällt in diese Kategorie – ein Werk, das thematisch und methodisch auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint. Doch bei genauerer Betrachtung offenbart es eine tiefere, nachdenklich stimmende Ebene, die sich den Lesern erst nach und nach erschließt.
Ohne die Nominierung für den Buchpreis wäre das Buch wahrscheinlich an einem breiten Publikum vorbeigegangen. Das Thema, in das Martina Hefter ihre Leser mitnimmt, wirkt auf den ersten Blick wenig einladend: Es geht um Love-Scamming, eine Art des Internetbetrugs, bei dem Männer versuchen, Frauen durch gefälschte romantische Absichten auszunehmen. Die Hauptfigur Juno, eine Performance-Künstlerin, fällt jedoch nicht auf diese Maschen herein. Stattdessen nutzt sie die anonymen Chatgespräche als Spiel, eine Art Bühnenauftritt in einem digitalen Raum. Hier kann sie Rollen annehmen, sich inszenieren und eine Art Kontrolle ausüben, die ihr im Alltag oft verwehrt bleibt.
Juno entspricht nicht dem typischen Opferbild, das oft mit Love-Scamming verbunden wird. Sie ist weder naiv noch verzweifelt auf der Suche nach Liebe. Im Gegenteil: Ihr Leben erscheint auf den ersten Blick stabil. Sie ist nicht reich, kommt jedoch mit ihrer sparsamen Lebensweise gut zurecht. Sie betreibt regelmäßig Sport, hat Ambitionen im Ballett und führt ein künstlerisch bereicherndes, wenn auch nicht erfolgreiches Leben. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich, dass der Alltag sie stark fordert. Die Pflege ihres Ehemannes, der auf einen Rollstuhl angewiesen ist, zehrt an ihrer Energie. Sie ist ständig unterwegs, gehetzt von einem Termin zum nächsten. Diese Überforderung, die sich schon seit längerem schleichend in ihrem Leben eingeschlichen hat, mag für viele Leser nachvollziehbar sein – sie ist keine Ausnahme, sondern ein Abbild der Realität vieler Menschen.
Doch warum lässt sich Juno, die weder verzweifelt noch mittellos erscheint, auf dieses Internetspiel ein? Martina Hefter nähert sich dieser Frage in kleinen, unaufdringlichen Schritten. Ist es einfach ein Zeitvertreib? Oder steckt eine tiefere Sehnsucht dahinter? Juno scheint sich selbst einzureden, dass sie die Männer durchschaut. Doch immer wieder lässt der Text erahnen, dass auch in ihr eine gewisse Hoffnung aufkeimt: Vielleicht sind die Dinge am Ende doch anders, als sie scheinen. Diese Ambivalenz macht die Figur so vielschichtig – Juno ist stark und verletzlich, kontrolliert und suchend zugleich.
Interessant ist auch, wie Hefter Junos Leben abbildet. Es gibt kaum Dialoge oder intensive menschliche Interaktionen. Der Text wirkt nüchtern und fast kalt, was den monotonen Alltag der Protagonistin treffend widerspiegelt. Doch gerade diese nüchterne Erzählweise erlaubt es Hefter, tief in Junos Gefühlswelt einzudringen. Die Handlung schreitet kaum voran, die Geschichte scheint auf der Stelle zu treten – eine literarische Reflexion von Junos stagnierendem Alltag. Und doch entsteht dabei keine Langeweile. Vielmehr schafft es die Autorin, die Leser in die scheinbare Leere von Junos Leben hineinzuziehen, die gleichzeitig voller leiser Konflikte und emotionaler Nuancen ist.
Ein wiederkehrendes Motiv des Romans ist Junos Fähigkeit, Rollen zu spielen – beruflich wie privat. Als Performance-Künstlerin ist sie es gewohnt, sich zu inszenieren, und im Internet kann sie diese Fähigkeit voll ausleben. Doch das Leben ist kein Drehbuch, und so stößt sie immer wieder an ihre Grenzen. In einer Szene am Ende des Romans wird sie Zeugin, wie Jugendliche gegen die Scheibe einer Bahn spucken, in der sie sitzt. Diese willkürliche Aggression überfordert sie, und sie bleibt passiv. Gleichzeitig zeigt der Roman auch ihre Stärke: So hindert sie einen Zug minutenlang an der Abfahrt, um sicherzustellen, dass der Rollstuhl ihres Mannes eingeladen wird. Diese Ambivalenz – zwischen Stärke und Hilflosigkeit, Kontrolle und Ohnmacht – macht Juno zu einer faszinierenden, vielschichtigen Figur.
Der Roman stellt immer wieder die Frage, was Juno wirklich antreibt. Ist es Liebe, die sie im Internet sucht? Oder einfach nur eine Flucht aus dem monotonen Alltag? Vielleicht ist es auch etwas Dunkleres: eine Sehnsucht nach dem Ende. Der wiederkehrende Verweis auf Lars von Triers Film „Melancholia“, in dem die Erde durch einen Kometen zerstört wird, legt nahe, dass Juno sich von der Vorstellung eines absoluten Endes angezogen fühlt. Diese morbide Faszination verleiht dem Roman eine zusätzliche Tiefendimension und öffnet Raum für Interpretationen.
„Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ ist kein Buch, das durch große Dramatik oder tiefschürfende Konflikte besticht. Vielmehr lebt es von seiner ruhigen, unaufgeregten Erzählweise, die die Leser schrittweise in Junos Welt zieht. Der Text ist leicht zugänglich, aber keineswegs oberflächlich. Hefter hat es geschafft, eine ungewöhnliche Protagonistin zu schaffen, die auch skeptische Leser für sich einnehmen kann.

Bewertung vom 28.11.2024
Intermezzo
Rooney, Sally

Intermezzo


sehr gut

Ivan und Peter

In ihrem neuen Roman „Intermezzo“ widmet sich Sally Rooney der komplexen Beziehung zwischen zwei Brüdern, deren Lebenswege kaum unterschiedlicher sein könnten. Ivan, der Jüngere der beiden, ist ein introvertierter, sozial unbeholfener Schachspieler. Trotz seines Talents fehlt ihm das Selbstbewusstsein, sein Können anzuerkennen oder sich in sozialen Situationen wohlzufühlen. Peter hingegen verkörpert den selbstbewussten Erfolgsmenschen: charismatisch, aber auch überheblich und egozentrisch. Die beiden Männer, die nach dem Krebstod ihres Vaters auf verschiedene Weise mit ihrer Trauer umgehen, stehen im Mittelpunkt dieses Romans – sowohl in ihrer Gegensätzlichkeit als auch in ihrer Brüchigkeit als Geschwister.
Rooney setzt einen klaren Schwerpunkt auf die Beziehungen der Brüder zu Frauen. Ivan verliebt sich in die zehn Jahre ältere Margaret, eine Beziehung, die vor allem für sie von Unsicherheit und gesellschaftlicher Skepsis geprägt ist. Peters Umgang mit Frauen ist ebenfalls unkonventionell: Er fühlt sich gleichermaßen zu zwei Frauen, Sylvia und Naomi, hingezogen, ohne sich festlegen zu wollen. Dieser Kontrast in den Liebesbeziehungen der Brüder dient als Spiegel für ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten und Lebensansätze. Während Ivan sich seiner Gefühle rückhaltlos öffnet, bleibt Peter verschlossen und versucht, seine Zweifel allein zu bewältigen.
Der Roman ist gleichermaßen eine Analyse von modernen Beziehungen wie auch eine Studie einer unharmonischen Bruderbeziehung. Ivan und Peter kämpfen jeweils auf ihre Weise mit den Erwartungen der Gesellschaft, wobei sie sich mal anpassen, mal dagegen auflehnen. Ivan, der sich von Normen eingeschüchtert fühlt, sucht Halt in Margaret, während Peter sich in seiner Überheblichkeit unbeeindruckt von äußeren Meinungen gibt – und doch innerlich zerrissen ist.
Rooney zeigt dabei ein beeindruckendes Gespür für die Psychologie ihrer Charaktere. Ihre Beschreibungen dringen tief in die Innenwelten der Brüder ein und enthüllen, wie stark sie von ihrer Vergangenheit und ihrem Umfeld geprägt sind. Der Roman zeichnet nach, wie die Schatten der gemeinsamen Kindheit ihre Gegenwart belasten und ihre Beziehung in eine tiefe Krise stürzen. Mit präzisen Dialogen und einer facettenreichen Erzählweise gelingt es der Autorin, diese Spannungen greifbar zu machen. Besonders hervorzuheben ist die emotionale Tiefe, die Ivan in seiner Beziehung zu Margaret offenbart – ein starker Kontrast zu Peters egozentrischer Art, mit seinen Gefühlen umzugehen.
Stilistisch ist „Intermezzo“ ein zweischneidiges Schwert. Rooney setzt auf einen fragmentarischen Schreibstil, der zwar modern und populär ist, jedoch den Lesefluss gerade zu Beginn erschwert. Die zahlreichen unvollständigen Sätze mögen als literarisches Mittel gedacht sein, wirken aber mitunter wie ein Ausdruck erzählerischer Unsicherheit. Dieses Stilmittel dürfte Geschmacksache sein, doch es könnte bei manchen Lesern den Eindruck erwecken, die Autorin vermeide bewusst eine elegantere Ausdrucksweise.
Inhaltlich bleibt die Darstellung unkonventioneller heterosexueller Beziehungen nicht ganz überzeugend. Die Problematik einer Altersdifferenz von zehn Jahren oder die komplexen Gefühle in Dreiecksbeziehungen wirken im Vergleich zu realen gesellschaftlichen Herausforderungen fast trivial. Dennoch beweist Rooney ihre Stärke darin, die Ambivalenz menschlicher Beziehungen glaubhaft zu inszenieren.
Trotz kleinerer Schwächen in der erzählerischen Methodik zählt „Intermezzo“ zu Rooneys stärksten Werken. Im Gegensatz zu ihren früheren, teils mittelmäßig bewerteten Büchern wie „Gespräche mit Freunden“ gelingt es ihr hier, die Gegensätzlichkeit zweier Persönlichkeiten und ihre Beziehung zueinander auf ansprechende Weise darzustellen. Die Idee, zwei unterschiedliche Brüder ins Zentrum des Geschehens zu rücken, gibt dem Roman eine solide Grundlage, die durch die präzise Figurenzeichnung gestützt wird.

Bewertung vom 26.11.2024
Das Erwachen des Drachen / Kleine Hexe Nebel Bd.1
Pélissier, Jérôme

Das Erwachen des Drachen / Kleine Hexe Nebel Bd.1


sehr gut

Magisches Chaos

Mit dem ersten Band „Das Erwachen des Drachen“ gelingt Jérôme Pélissier und Carine Hinder ein farbenprächtiger Auftakt zu ihrer dreibändigen Comicreihe „Kleine Hexe Nebel“, die im Carlsen Verlag erscheint. Besonders Kinder ab 8 Jahren dürften von der kleinen Hexe und ihrer charmanten Welt begeistert sein.
Die Hauptfigur, Nebel, ist ein absoluter Hingucker: Mit ihrem runden Kopf, dem frechen Blick und dem spitzen Hexenhut strahlt sie jugendliche Unangepasstheit aus. Dank der wirkungsmächtigen Illustrationen von Carine Hinder wird Nebels Charakter perfekt eingefangen – ohne viele Worte. Sie ist eine Möchtegern-Hexe, wie sie im Buche steht: entschlossen, mutig und ein wenig tollpatschig. Ihr größter Traum ist es, eine echte Hexe zu sein. Doch leider fehlt ihr jegliches Talent, denn sie besitzt keinerlei magische Kräfte. Erst als ihr Vater ihr ein mysteriöses Zauberbuch schenkt, das er bei ihr als Baby gefunden hat, findet Nebel Zutritt zur Welt der Magie.
Gemeinsam mit ihrem treuen Freund Hugo und dem niedlichen Hausschwein Hubert eröffnet sie einen Zauberladen, um den Dorfbewohnern zu helfen. Doch schon der erste Auftrag endet im Chaos, und Nebel muss sich in ein aufregendes Abenteuer stürzen, um ihren Fehler wieder gutzumachen.
Das absolute Highlight dieses Comics ist zweifelsohne die Farbgestaltung, für die Jérôme Pélissier verantwortlich ist. Die Panels scheinen regelrecht zu glühen, und die geschickte Licht- und Farbwahl verleiht der Geschichte eine magische und heitere Atmosphäre. Die detailreichen Hintergründe, insbesondere Nebels Heimatdorf, wirken lebendig und fantasievoll – ein Hexendorf wie aus dem Märchenbuch, das Kinder und Erwachsene gleichermaßen in seinen Bann ziehen dürfte.
Auch die Figuren sind liebevoll gestaltet. Sie sprechen die junge Zielgruppe perfekt an, indem sie mit wenigen, klaren Details ihre Persönlichkeit ausdrücken: Nebel als freche Heldin, ihr Vater als kräftiger, gutherziger Beschützer, Hugo als treuer, etwas schusseliger Freund und Hubert als witziger Sidekick.
Während Zeichnungen und Farbgebung nahezu perfekt harmonieren, gibt es inhaltlich einige Schwächen. Die Story ist für Kinder ab 8 Jahren gut nachvollziehbar, hätte jedoch in ihren zentralen Momenten mehr Raffinesse vertragen können. Einige Dialoge wirken zu konstruiert, und häufig sind Kommentare des Schweins Hubert nötig, um das Geschehen zu erklären. Zudem fühlt sich das Abenteuer recht kurz an: Kaum wurde die Spannung aufgebaut, ist die Geschichte auch schon zu Ende.
Es scheint, als hätte Jérôme Pélissier, der sowohl für den Text als auch die Farben verantwortlich ist, den Fokus stärker auf die visuelle Gestaltung gelegt. Während diese fantastisch gelungen ist, hätte der Text von einem zusätzlichen kreativen Input profitieren können.
Im Allgemeinen ist „Das Erwachen des Drachen“ ein gelungener Auftakt für die Reihe „Kleine Hexe Nebel“, der vor allem durch seine farbenfrohe und fantasievolle Gestaltung besticht. Kinder werden die charmanten Figuren und die magische Erzählwelt lieben, auch wenn die Handlung stellenweise etwas stärker ausgearbeitet sein könnte. Magie, Drachen und ein wenig Chaos – dieser Comic hat das Zeug, junge Leser in seinen Bann zu ziehen.

Bewertung vom 24.11.2024
Antichristie
Sanyal, Mithu

Antichristie


sehr gut

Vielschichtiger Roman über ein wichtiges Thema

Die Aufarbeitung der kolonialistischen Vergangenheit ist in Großbritannien bis heute eher Mangelware – auch in der Literatur ist dieses Thema, vor allem wenn es um Romane von etablierten Autorinnen und Autoren geht, beschämend unterrepräsentiert. Diesen Mangel füllen mitunter ausländische Schriftsteller aus Indien oder Südafrika. Mithu Sanyal ist es zu verdanken, dass es 2024 mit ihrem zweiten Roman „Antichristie“ zumindest einen erwähnenswerten deutschsprachigen Titel zum Kolonialismus und seinen Folgen gibt.
Als Zeitreisende bewegt sich die Protagonistin Durga durch zwei Welten: In der Gegenwart wird sie mit Themen wie Cancel Culture und Rassismus konfrontiert, wobei der Tod der Queen die Ausgangsbasis des Geschehens bildet. In den Tagen der offiziellen Trauer ist Durga damit beauftragt, für eine Fernsehserie eine alternative Version von Hercule Poirot – dem legendären Ermittler von Agatha Christie – zu entwickeln, was unmittelbar zu tiefgreifenden Debatten über kulturelle Aneignung, Identität und Diversität führt. Und auch der Tod von Queen Elizabeth II. wird zum Anlass genommen, deren Rolle im Kolonialismus zu hinterfragen.
In der Vergangenheit taucht Durga ins Londoner India House des frühen 20. Jahrhunderts ein, wo sich historische Figuren wie Vinayak Damodar Savarkar versammeln, um mit Bombenbau und Waffenschmuggel für Indiens Unabhängigkeit zu kämpfen.
Stets von einem unterschwelligen Humor begleitet, präsentiert sich Sanyals Text als eine dynamische Abfolge steiler Thesen und provokanter Aussagen, die nicht nur historische Tatsachen hinterfragen, sondern ihnen oft auch ironisch eine neue Bedeutung verleihen; ebenso werden auch historische Figuren mitunter ziemlich entfremdet. In teilweise ellenlangen Dialogen kommt es zu scharfen Auseinandersetzungen, in denen politische und ideologische Gegensätze aufeinandertreffen. Dabei gelingt es der Autorin, das Wesen des modernen Menschen als zutiefst zwiegespalten zu zeigen: selbstbewusst in seinen Ansichten, jedoch zunehmend verunsichert durch gesellschaftliche Normen und die Frage, wie weit Meinungsfreiheit reichen darf. Dieses psychologische Porträt spiegelt die zeitgenössischen Spannungen wider, die das Denken und Handeln in einer von Cancel Culture und wachsender Diversität geprägten Welt beeinflussen.
Dass die Autorin bei dieser Vielzahl an unterschiedlichen Themen und Auslegungsarten nicht immer zu finalen Schlussfolgerungen kommen kann, ist kaum verwunderlich. So mal in den meisten Fällen unterschiedliche Sichtweisen durchaus nachvollziehbar sind. So entzieht sich auch ihre fiktive Version von Savarkar einer endgültigen Beurteilung, was im Anbetracht dessen, dass seine Reputation auch in der Realität nicht zweifelsfrei geklärt ist, nur vernünftig ist.
Die Vielschichtigkeit des Romans ist beachtlich. Sanyal geht mit großer Ambition an ihr Projekt heran und verwebt zahlreiche Ebenen – von gesellschaftspolitischen Debatten über historische Ereignisse bis hin zu Fragen der Identität und kulturellen Verantwortung. Aufgrund dieser Komplexität ist eine einmalige Lektüre kaum ausreichend, um alle Facetten angemessen würdigen zu können. Als ein Spiegel aktueller Diskurse und einer gleichzeitig tiefgründigen Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit darf „Antichristie“ aber in jedem Fall als ein mutiges literarisches Experiment angesehen werden, das Historienroman und Gesellschaftskritik auf einzigartige Weise verbindet.

Bewertung vom 23.11.2024
Carmilla
Le Fanu, Sheridan

Carmilla


sehr gut

Ein Vampir als Verführungskünstlerin

Bram Stokers „Dracula“ gilt als einer der bekannteste Vampirromane der Literaturgeschichte und ist vielen Leserinnen und Lesern ein Begriff. Weniger bekannt ist hingegen „Carmilla“, das weibliche Pendant zu diesem Werk, geschrieben von Sheridan Le Fanu und bereits Jahrzehnte vor „Dracula“ veröffentlicht. Obwohl der Roman auch in Deutschland mehrfach übersetzt wurde und bei verschiedenen Verlagen erschien, blieb er lange im Schatten seines berühmten Nachfolgers. Mit der aktuellen Ausgabe des Klett-Cotta Verlags bietet sich die Gelegenheit, dieses Frühwerk der Schauerliteratur neu zu entdecken und seine literarische Qualität sowie seine Bedeutung für das Genre zu beurteilen.
Das Setting von „Carmilla“ ist wie aus dem Lehrbuch des viktorianischen Gruselromans: Laura, die junge Protagonistin, lebt mit ihrem Vater abgeschieden auf einem Schloss in den österreichischen Wäldern. Bereits diese Kulisse ruft ein Gefühl der Einsamkeit und Melancholie hervor, unterstützt durch spärliche, aber effektive Beschreibungen, die die Atmosphäre von Isolation und unterschwelliger Bedrohung intensivieren. Zwar mag das Bild des gotischen Schlosses für heutige Leser vertraut bis klischeehaft wirken, doch in der Entstehungszeit des Romans war diese Bühne sicherlich weniger ausgelaugt als heutzutage.
Diese Inszenierung des Settings, so schlicht sie auch wirken mag, entfaltet durch ihren Minimalismus eine außerordentliche Wirkkraft. Das Schloss wird zu einer Art Mikrokosmos, in dem die Grenzen zwischen Realität und Fantastik verschwimmen – ein Element, das den Grundstein für die düstere Stimmung des gesamten Romans legt.
Mit dem Eintreffen von Carmilla, dem titelgebenden Charakter, nimmt die Handlung ihren Lauf. Le Fanu gelingt es, diese rätselhafte Figur von Beginn an ambivalent zu zeichnen. Auf der einen Seite fasziniert Carmilla mit ihrer Schönheit und Höflichkeit, die besonders Laura in den Bann zieht. Auf der anderen Seite umweht sie ein Hauch von Gefahr, der dem Leser schnell klar macht, dass sie mehr ist als nur eine charmante Besucherin.
Die Darstellung von Carmilla als Vampir unterscheidet sich erheblich vom später etablierten Bild, das durch Figuren wie Dracula geprägt wurde. Sie agiert weniger als physische Bedrohung und mehr als psychologische Manipulatorin, die ihre Opfer wie eine Sirene in der Mythologie mit Charme und Verführung umgarnt. Dieses Konzept der Vampirfigur ist in „Carmilla“ durchgehend präsent und daher die hauptsächliche Triebkraft der Geschichte. Besonders in der Interaktion mit der naiven Laura entfaltet sich dieser Aspekt in einer Mischung aus psychologischem Terror und unterschwelliger Schwärmerei, die für die damalige Zeit bemerkenswert war.
Jedoch ist der Handlungsverlauf von „Carmilla“ geprägt von einer gewissen Vorhersehbarkeit. Die nächtlichen Besuche schattenhafter Gestalten und die schleichende Offenbarung von Carmillas wahrem Wesen folgen einer klaren Linie, die moderne Leser kaum überraschen dürfte. Die Dialoge sind aufs Wesentliche reduziert und wirken mitunter etwas banal. Dennoch bleibt die Geschichte aufgrund ihrer dichten Atmosphäre und ihres altertümlichen Flairs fesselnd.
Einen großen Anteil daran hat auch die Übersetzung von Eike Schönfeld. Sie bewahrt den nostalgischen Stil des Originals, ohne dabei antiquiert zu wirken. Der Text trägt moderne Züge, die einen leichten Zugang ermöglichen, wahrt jedoch gleichzeitig den historischen Charakter des Romans. Damit vermeidet Schönfeld die meinerseits oft kritisierte vollständigen Anpassung klassischer Werke an zeitgenössische Lesererwartungen, was der Authentizität zugutekommt.
Als literarischer Vorläufer von „Dracula“ zeigt „Carmilla“ interessante Ansätze, insbesondere in der psychologischen Darstellung des Vampirs und der Thematisierung weiblicher Verführungskraft. Diese Aspekte machen den Roman auch heute noch lesenswert, besonders für Liebhaber klassischer Schauerliteratur. Gleichzeitig zeigt sich dem Werk aber auch sein Alter. Der Plot ist wenig komplex, die Figurenzeichnung bleibt oberflächlich, und sprachlich wie psychologisch fehlt es an Raffinesse, die man von moderner Literatur gewohnt ist.
Dennoch: Als kurze, atmosphärische Lektüre bietet „Carmilla“ einen faszinierenden Einblick in die Ursprünge der Vampirliteratur und überrascht durch eine unerwartete zwischenmenschliche Beziehung seiner Protagonistinnen.

Bewertung vom 22.11.2024
Über allen Bergen
Goby , Valentine

Über allen Bergen


sehr gut

Erst weiß, dann grün, dann gelb

Valentine Gobys Roman „Über allen Bergen“ hat mir etwas beschert, was ich in diesem Jahr selten erleben durfte: das Gefühl, einen echten literarischen Glücksgriff in den Händen zu halten. Der Fluchtroman über den jungen Juden Vadim aus Paris, der in den Bergen eine Zuflucht findet, entwickelt rasch eine eigene Dynamik und hebt sich deutlich von der Vielzahl zeitgenössischer Romane über den Zweiten Weltkrieg ab, die nur selten etwas Neues bieten.
Die Brillanz von Gobys Werk liegt in der klugen Erzählperspektive: Der Krieg bleibt ein fernes Echo, während die eigentliche Handlung sich in einer anderen Welt abspielt – einer Welt, die von Natur, Gemeinschaft und der Suche nach Identität geprägt ist. Vadim wird von seiner Mutter in die Berge geschickt, um den wachsenden Schikanen gegen Juden zu entkommen. Dort soll er als „Vincent“ ein neues Leben beginnen, in der Hoffnung, dass er fernab der Stadt sicher ist.
Anfangs schüchtern und unsicher, findet Vincent durch die Herzlichkeit seiner neuen Familie und der Dorfbewohner langsam Anschluss. Über mehrere Jahreszeiten hinweg – vom Winter bis zum Ende des Sommers – taucht der Leser in das einfache, aber muntere Leben in den Bergen ein. Vincent lernt Kühe zu melken, erlebt die Geburt von Kälbern und saugt wie ein Schwamm die Wunder der Natur auf. Besonders auffällig ist seine Sensibilität für Farben: Während der Winter für ihn in reines Weiß getaucht ist, empfindet er den Frühling als Grün und den Sommer als Gelb. Diese Farbempfindung erinnert an den von Goby erwähnten Maler Kandinsky, der in seinen Bildern unter anderem die Zugehörigkeit von Farben an bestimmte Formen nachzuweisen versuchte. Für Vincent haben ebenso auch die Naturspiele ihre ganz eigenen Farbwerte. Für den von Asthma geplagten Jungen wird die Welt abseits der Zivilisation zu einem Ort der Heilung – ein Ort, an dem die Zeit stillzustehen scheint, während er innerlich und äußerlich heranwächst. Gobys Stärke liegt in der einfühlsamen Darstellung von Vincents Reifeprozess, der sich in der Verbindung mit der Natur und der Gemeinschaft vollzieht. Doch nicht nur Vincent, auch die Menschen um ihn herum werden mit viel Wärme und Authentizität gezeichnet. Besonders glänzt der Roman jedoch durch die detailreiche Schilderung des Lebens in den Bergen. Mit einer fast dokumentarischen Präzision beschreibt Goby die bäuerlichen Arbeiten und den Alltag der Dorfbewohner, als wäre sie selbst Teil dieser Welt gewesen.
Stilistisch besticht „Über allen Bergen“ durch einen ruhigen, melodiösen Schreibstil. Die Übersetzerin Marlene Frucht hat diese Leichtigkeit auf beachtliche Weise ins Deutsche übertragen, ohne dabei die unterschwellige Poesie zu verlieren. Die Sätze fließen sanft, wie Blätter, die im Wind tanzen.
Obwohl ich Gegenwartsromane über den Zweiten Weltkrieg oft überdrüssig bin, schafft Goby es, diesem ausgeloteten Genre neue Facetten abzugewinnen. Indem sie den Krieg bewusst in den Hintergrund rückt, eröffnet sie Raum für die kleinen, alltäglichen Dinge des damaligen Lebens, die in vielen anderen Werken unbeachtet bleiben.
Ein kleiner Wermutstropfen bleibt jedoch: Mit knapp 340 Seiten wirkt der Roman stellenweise etwas zu langatmig. Für eine so leise und atmosphärische Erzählung hätte sich eine kürzere Form möglicherweise besser geeignet. Zudem bleibt der Roman, trotz seiner Feinfühligkeit, am Ende doch ein Werk seines Genres und kann sich nicht ganz mit den großen Meisterwerken der Kriegsromane messen.
„Über allen Bergen“ ist dennoch ein kleines literarisches Schmuckstück – ein Nebenwerk von unerwarteter Eleganz und Tiefe. Es erzählt eine Geschichte, die den Leser mit ihrer Wärme und Melancholie fesselt, und seine Veröffentlichung als stiller, poetischer Beitrag zum Genre ist allemal gerechtfertigt.