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Eternal-Hope
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Österreich

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Insgesamt 84 Bewertungen
Bewertung vom 05.04.2025
Strubel, Antje Rávik

Der Einfluss der Fasane


ausgezeichnet

Tiefgründige Darstellung eines Milieus, in dem Narzissmus floriert:

Hervorragend geschriebene Bücher, solche von Autorinnen und Autoren, die Buchpreise gewinnen, zeichnen sich meist durch ihre Vielschichtigkeit aus. Sie wirken emotional und intellektuell noch länger nach, bieten Stoff für tiefgehende Diskussionen, bilden und regen zum Nachdenken an. Manchen dieser Bücher gelingt es dann auch noch, zusätzlich angenehm und unterhaltsam zu lesen zu sein.

"Der Einfluss der Fasane", das neue Buch der Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2021, Antje Rávik Strubel, ist so ein Buch. Vordergründig liest sich die Geschichte leicht, schnell und unterhaltsam, doch regt sie gleichzeitig tief zum Nachdenken und Diskutieren an.

Worum geht es? Hella Renata Karl hat beruflich im Leben viel erreicht, sie ist Feuilletonchefin einer großen Zeitung und bewegt sich souverän auf dem gesellschaftlichen Parkett. Bei einer lieblosen Mutter in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen, hat sie den großen Aufstieg geschafft: eine intelligente, selbstbewusste und erfolgreiche Frau. Doch nun ist ihre Position bedroht: sie hat aufgedeckt, dass ein beliebter Theaterdirektor, Kai Hochwerth, seine Geliebte geschwängert hatte und diese zur Abtreibung drängen wollte, und darüber einen Artikel verfasst. Kurz darauf nimmt sich der Beschuldigte das Leben, und die Medienlandschaft und das Internet fallen über Hella her und meinen, in ihr die Schuldige für den Suizid gefunden zu haben. Sie bekommt anonyme Drohungen und wird beruflich von ihrem Posten erst einmal auf unbestimmte Zeit beurlaubt.

Soweit zur wichtigsten Rahmenhandlung. Wirklich interessant an diesem Buch finde ich aber die Psychogramme sowohl Hellas als auch des Verstorbenen und weiterer sich im beruflichen Umfeld zwischen Theater und Medien bewegender Menschen. Das Buch zeichnet ein deutliches Bild der Scheinwelt, die gerade in höheren gesellschaftlichen Kreisen herrscht: wie wichtig Status, Auftreten und der schöne Schein sind und wie schnell man nach einem scheinbar kleinen Fauxpas sehr tief fallen kann... das betrifft sowohl Hella als auch Hochwerth.

Überhaupt spiegeln sich beide sehr stark ineinander, Hochwerth ist ein offenkundiger Narzisst, der andere Menschen für seine Zwecke ausnützt, auch sexuell, und manipuliert, während sich Hellas narzisstische Tendenzen erst auf den zweiten Blick offenbaren. Doch erlebt man ihre Gedanken und Handlungsmotive mit, so wie wir das als Lesende des Buches können (denn das ganze Buch ist aus ihrer Innenperspektive geschrieben), so erleben wir sie als eine vom Wunsch nach Erfolg und Status Getriebene mit gleichzeitig instabilem Selbstwert, die mit anderen Menschen nur oberflächliche Beziehungen eingeht, zu wahrer Intimität kaum fähig ist, und ebenfalls dazu neigt, andere auf ihre Funktion für sich zu reduzieren. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die beiden sich durchaus sympathisch waren... zumindest bis zu Hellas Artikel über Kai Hochwerth.

Besonders interessant finde ich an dem Buch aber nicht nur die Frage, ob und in welchem Ausmaß diese beiden nun narzisstisch sind oder nicht, sondern die weitergehende Perspektive, inwieweit das Milieu, in dem sie sich bewegen, Narzissten regelrecht anzieht, heranzieht und fördert bzw. gewisse Persönlichkeitstendenzen in diese Richtung möglicherweise sogar erforderlich sind, um eine solche Karriere zu machen. Auch das wird in dem Buch sehr anschaulich dargestellt, wie ich finde. Somit regt es auch zur Reflexion über die Wechselwirkung zwischen individueller Persönlichkeitsentwicklung und dem jeweiligen Milieu an, genauso wie darüber, welche Werte wir in unserer medien- und darstellungszentrierten Gesellschaft fördern (möchten) und welche nicht.

Damit ist es insgesamt ein nicht nur angenehm lesbares und unterhaltsames, sondern auch sehr intelligentes und tiefgründiges Buch, das ich allen Interessierten sehr empfehlen kann.

Bewertung vom 31.03.2025
Serrano, Beatriz

Geht so


ausgezeichnet

Skizze einer Entfremdung von der Arbeit und dem eigenen Leben:

"Geht so", geschrieben von Beatriz Serrano, und ausgezeichnet übersetzt von Christiane Quandt, hat in Spanien den renommierten Literaturpreis "Planeta" gewonnen. Das hat mich neugierig gemacht auf dieses Buch mit dem vordergründig so unscheinbaren Titel, aber gleichzeitig einem sehr aussagekräftigen Titelbild einer jungen Frau, die sich aus einem Fenster hängen lässt.

Tatsächlich ist das Buch eines meiner Jahreshighlights, weil es der Autorin gelingt, in sehr pointierter, treffender Weise die Entfremdung von der Arbeit und damit - weil diese oft so einen großen Raum im eigenen Leben einnimmt - auch insgesamt von sich selbst und dem eigenen Leben, unter der speziell so viele junge Menschen der Generationen Millenials und Zoomer leiden, zu skizzieren und damit nachvollziehbar und nachfühlbar zu machen.

Marisa ist eine junge Frau in ihren 30ern, die in Madrid lebt und Kunstgeschichte studiert hat. Beruflich ist sie in einer Werbeagentur gelandet und mit ihrer Kreativität, Intelligenz und ihrem Charisma sehr erfolgreich in dem, was sie tut. Kaum jemand merkt, wie sehr Marisa innerlich ihren Job, den sie als sinnlos wahrnimmt und der gleichzeitig fast ihre gesamte Zeit und Lebensenergie frisst, hasst. Überhaupt jeden Tag weiter zur Arbeit zu gehen, das gelingt Marisa nur durch die Einnahme von Tabletten, und sie träumt davon, einen Unfall zu haben, der sie von der Last dieser Arbeit befreien könnte.

"... in meinem Fall erschien mir die Werbebranche sicherer und stabiler als die hypothetische und sich immer weiter von mir entfernende Welt der Kunst. Ich schätze, ich habe versagt. Eigentlich habe ich mich, vor der Wahl, glücklicher zu sein oder mehr Dinge zu kaufen, schlicht und einfach dafür entschieden, mehr Dinge zu kaufen." (S. 27)

Auch sonst ist Marisas Leben eher sinnentleert: sie hat kaum Freunde, statt einer ernsthaften Beziehung nur eine Freundschaft+ mit ihrem Nachbarn und hat sich von ihren Eltern innerlich entfremdet. Freude oder zumindest Ablenkung findet Marisa höchstens daran, sich mit ihrem guten Gehalt nach der Arbeit im Supermarkt Delikatessen zu kaufen, und zur Ablenkung banale Youtube-Videos zu schauen, auch in der Arbeitszeit. Die eine Arbeitskollegin, mit der so etwas wie eine Freundschaft am Entstehen war, hat sich das Leben genommen.

Diese und eine weitere Freundin von Marisa, die sich entschieden hat, aus dem Erwerbsleben ganz auszusteigen und sich von wohlhabenden Männern finanzieren zu lassen, zeigen auf, dass es eben nicht nur ein individuelles Persönlichkeitsproblem Marisas ist, dass sie ihre Berufstätigkeit so sinnentleert empfindet, sondern es vielen anderen ähnlich geht und die Probleme dahinter systemische sind.

Und so schleppt sich Marisa jeden Tag innerlich depressiv, aber äußerlich unter dem Einfluss der Tabletten sehr gut funktionierend zu ihrer Arbeit, und wird innerlich in ihrer Einstellung dazu immer zynischer.

Das alles gipfelt in einem verpflichtenden Teambuilding-Event in einem Seminarhotel am sonst freien Wochenende, für das Marisa alle verbleibenden Kräfte zu mobilisieren versucht, obwohl sie eigentlich am Ende ist:

"Seit Monaten laufen die Vorbereitungen für unseren gemeinsamen Ausflug. Und ich habe es verpasst, mir rechtzeitig eine Ausrede einfallen zu lassen. Die Vorstellung, ein ganzes Wochenende mit den Leuten aus meinem Büro zu verbringen, erscheint mir etwa so erstrebenswert, wie mir die Fußnägel mit einer Zange rauszureißen."

Das Buch ist sehr gut geschrieben und aus der Perspektive Marisas erleben wir eine hochintelligente Frau, die ihre Erfahrung und ihr Leid sehr treffend und mit einem bitterschwarzen Humor auf den Punkt bringen kann:

"Jetzt ist das Büro wirklich leer. Noch ein Vorteil, wenn man früher in die Pause geht: man kann sich sehr viel mehr Zeit lassen als nötig, weil sowieso alle beim Essen sind, wenn man zurückkommt." (S. 81)

Insgesamt regt das Buch zum Nachdenken und Diskutieren über viele Themen an: über den Stellenwert von Arbeit, über als sinnlos erlebte Jobs, über das kapitalistische Wirtschaftssystem, in dem wir leben, über mögliche Alternativen und Auswege und über vieles mehr.

Ein kluges Buch, dem ich viele Menschen wünsche, die es lesen und miteinander überlegen, an welchen Stellen es in unserem Wirtschaftssystem und in unserem Umgang mit Arbeit krankt und was wir gemeinsam daran zum Wohle aller verändern könnten.

Bewertung vom 27.03.2025
Valla, Kristin

Ein Raum zum Schreiben


sehr gut

Ein ruhiges Buch zum Thema Schreiborte finden als Frau:

Die norwegische Schriftstellerin Kristin Valla ist Anfang 40, verheiratet und Mutter von zwei Söhnen im Teenageralter, als ihr bewusst wird, wie lange sie schon keine Bücher mehr veröffentlicht hat, sondern stattdessen journalistisch tätig war: seit über zehn Jahren. Sie möchte unbedingt wieder Romane veröffentlichen, weiß aber nicht, wo sie dafür in ihrem Leben einen guten Platz finden kann, sowohl räumlich als auch mental.

Inspiriert von dem bekannten Text "A room of one's own" von Virginia Woolf, in dem diese die Wichtigkeit eines eigenen Zimmers und ausreichender finanzieller Mittel für schriftstellerisch tätige Frauen betont, begibt die Autorin sich auf eine Suche.

Sie sucht nach einem Ort zum Schreiben für sich ganz alleine. Gleichzeitig spürt sie auch der Verbindung zwischen weiblichem Schreiben und den Orten, an denen dies geschieht, nach: sie geht in Archive und beschäftigt sich mit den Lebensgeschichten bekannter Schriftstellerinnen und mit der Frage, ob und welche eigenen Orte zum Schreiben sie für sich finden konnten und wie sich ihre Lebensumstände auf ihr Werk ausgewirkt haben.

Dabei beschäftigt sie sich sowohl mit Schriftstellerinnen aus dem skandinavischen Raum wie Selma Lagerlöf oder Halldis Moren Vesaas als auch mit solchen aus anderen Regionen wie George Sand, Alice Walker oder Daphne Du Maurier.

Wir begleiten die Autorin in diesem autofiktionalen Buch mit Sachbuchelementen auf ihrer persönlichen Reise auf der Suche nach einem Haus für sich alleine in Südfrankreich.

Tatsächlich wird sie fündig und erwirbt ein altes, baufälliges, schimmliges Haus in einem kleinen französischen Bergdorf, einige Kilometer vom Meer entfernt. Denn nur dieses kann sie sich leisten, und auch dafür braucht sie einen Kredit, den sie voraussichtlich 25 Jahre abzahlen wird und den ihr die Bank nur gewährt, da sie auf den Papieren das Haus gemeinsam mit ihrem, offenbar sehr gutmütigen und unterstützenden, Mann kauft (sie selbst verfügt mangels verlässlicher hoher Einkünfte über keine gute Bonität), dieser auch für den Kredit bürgt und das gemeinsame Haus in Norwegen dafür belastet wird. Regelmäßig fliegt sie also aus dem hohen Norden nach Südfrankreich, um ihr Haus zu bewohnen und zu versuchen, dieses zu sanieren bzw. sanieren zu lassen, fast immer alleine, nur ganz selten wird sie mal im Sommer von Mann und Söhnen begleitet. In welcher Weise sich ihre regelmäßige wochenlange Abwesenheit und die damit verbundenen Aufwände und Kosten auf das Familienleben auswirken, erfahren wir nicht.

Aufgelockert wird diese persönliche Geschichte durch für mich sehr interessante Hintergrundinformationen zu anderen Schriftstellerinnen und deren Umgang mit Immobilien und mit dem Raum für sich. Da gibt es solche, die sehr privilegiert waren und eigene Immobilien geerbt haben, andere haben nach ersten Erfolgen mit den durch das Schreiben erzielten Einnahmen Häuser erwerben können (das müssen Zeiten gewesen sein, in denen die Verhältnisse zwischen Einnahmen durchs Schreiben und Immobilienpreisen in guten Lagen noch ganz andere waren als heutzutage), manche hatten jahrzehntelang kaum einen eigenen Raum zum Schreiben und schrieben am Küchentisch, am Wickeltisch, neben der Kinderbetreuung.

Über dieses tatsächlich sehr interessante und wichtige Thema der Vereinbarkeit nicht nur von Beruf, sondern auch, wie in diesem Fall, von Berufung und Selbstverwirklichung, mit den Anforderungen einer Partnerschaft und einer eigenen Familie, hätte ich sehr gerne auch in Bezug auf die Autorin noch mehr erfahren. Auch war für mich der persönliche Teil, in dem es über viele Seiten in das Haus in Frankreich reinregnet, alles schimmlig ist, es ungut riecht, die Decke halb einstürzt, die Handwerker Verwüstung hinterlassen und die Autorin dennoch immer wieder alleine dort hinfährt - auch wenn sie am Ende einräumt, durch das Projekt zwar wieder zum Schreiben gekommen zu sein, ihren neuen Roman aber letztendlich erst recht daheim in Norwegen geschrieben zu haben - streckenweise etwas langatmig zu lesen, hier gab es kaum Entwicklung und Spannungsbögen, somit überwiegt deutlich der Sachbuchaspekt.

Dennoch insgesamt ein lesenswertes Buch für alle, die sich für die Lebenswege verschiedener Autorinnen und die Räume, die sie für sich zum Schreiben gefunden haben, interessieren.

Bewertung vom 26.03.2025
Würger, Takis

Für Polina


sehr gut

Solide Unterhaltung:

"Polina" ist in aller Munde und sofort in die Bestsellerlisten eingestiegen. Das hat mich sehr neugierig auf dieses Buch gemacht, sodass ich es unbedingt lesen musste.

Was schätze ich an Literatur?

1. Gute Geschichten mit tiefgründigen Charakteren, die eine nachvollziehbare Entwicklung durchmachen:

Hier kann das Buch einiges vorweisen: es gibt nachvollziehbare, gut voneinander unterscheidbare und überwiegend sympathische Charaktere, mit denen man mitfühlen und mitfiebern kann. Einige davon liebenswürdig unkonventionell:

- etwa die frech-selbstbewusste Mutter von Hannes, Fritzi Prager, die als Teenagerin locker-flockig nach Italien reist, dort mit einem deutlich älteren Mann schläft, schwanger wird und das alles auf die leichte Schulter nimmt und für alles unkonventionelle Lösungen findet - sehr sympathisch und inspirierend!

- Günes, die ebenfalls alleinerziehende Mutter wird, weil sie sich von ihrem gewalttätigen Partner getrennt hat, und die zufällig neben Fritzi auf der Geburtenstation liegt, und die trotz türkischer Herkunft ihrer Tochter den Namen "Polina" gibt, inspiriert von einer Figur in einem Roman von Dostojewski. Fritzis Sohn Hannes und Günes' Tochter Polina sind also am gleichen Tag geboren, liegen schon als Babys aneinandergekuschelt im Bett, werden große Teile ihrer Kindheit miteinander verbringen und beste Freunde werden... bis hin zu der unglücklichen Liebesgeschichte später.

- Hannes selbst, nicht sonderlich attraktiv, nicht gut in der Schule, nicht sehr groß, wirkt als Kind eher langsam entwickelt, aber ist hochsensibel, feinfühlig und musikalisch hochbegabt

- die freche, schlaue, mutige Polina

- Heinrich Hildebrand, ein alter Mann mit einem großen Herzen, bei dem die junge Fritzi und ihr Baby Unterschlupf und eine emotionale Heimat finden

Das sind die Hauptcharaktere aus etwa dem ersten Drittel des Buches und die sind wirklich sympathisch, originell und gut gezeichnet. Danach kommen weitere Charaktere dazu, die deutlich klischeehafter sind, etwa Hannes' Vater, den er als Teenager kennen lernt, und der es mit seinem Unternehmen zu einigem Reichtum gebracht hat, für den nur das Beste gut genug ist und der wenig Sensibilität zeigt. Oder, viel später in Hannes' Leben, seine Partnerin Leonie, eine Ärztin, die sich mit ihm, der zu dieser Zeit als Möbelpacker arbeitet, einlässt, aber ansonsten ein Klischeebild des Lebensstils eines gewissen Milieus verkörpert.

Daran zeigt sich schon: während ich anfangs das Buch total begeistert gelesen habe, hat es mich mittendrin ein bisschen verloren. Zu klischeehaft wurden die neuen Figuren, zu sehr hat sich Hannes jahrelang in seinem Elend gewälzt, keine wirklichen Bewältigungsversuche unternommen und sein selbstschädigendes Verhalten regelrecht zelebriert, während er sich insgeheim nach Polina gesehnt hat. Dazu sehr viele Wendungen, viele davon nicht sonderlich glaubhaft.

2. Eine besonders schöne Sprache:

Damit punktet dieses Buch nicht. Es ist sehr verständlich und zugänglich geschrieben, es liest sich leicht, aber besondere Sprachbilder weist es nicht auf.

3. Authentisch recherchierte Hintergrundinformationen zu sozialen Milieus:

Auch das weist dieses Buch nicht auf, es ist klar Unterhaltungsliteratur, und ich habe nicht das Gefühl, über irgendein soziales Milieu glaubhaft irgendetwas Neues gelernt zu haben.

4. Originelle neue Ideen oder Konzepte:

Hier mochte ich die Idee, das Wesen eines Menschen in eine Melodie oder sogar Symphonie fassen zu können, so wie Hannes das mit Polina und später mit anderen Menschen gemacht hat. Und auch die durchaus tiefgründigen Reflexionen dazu, dass solche Symphonien viele Menschen tief bewegen, auch wenn jede/r je nach persönlichen Erlebnissen anderes mit den Melodien verbinden wird.

5. Emotional berührt zu werden:

Auch hier punktet das Buch, und die tiefe Liebe von Hannes zu Polina und die Verbindung, die die beiden Menschen seit frühester Kindheit trotz aller deutlichen Wesensunterschiede miteinander teilen, und dieses Festhalten daran über Jahrzehnte, das hat mich sehr berührt.

Somit ist es durchaus zu Recht ein sehr sympathisches und lesenswertes Buch und eine schöne Liebesgeschichte, aufgrund der angeführten Kritikpunkte aber für mich eindeutig im Bereich der Unterhaltung zu verorten, und keine anspruchsvolle Literatur.

Bewertung vom 21.03.2025
Godfrey, Rebecca;Jamison, Leslie

Peggy


gut

Daraus hätte man mehr machen können:

Ein historischer Roman über die schillernde Peggy Guggenheim - das klang spannend!

Anfangs habe ich das Buch auch sehr gern gelesen, speziell die Kindheit von Peggy war interessant geschildert, ich habe mich der Figur gleich nahe gefühlt, mit ihr um ihren beim Untergang der Titanic verschollenen Vater getrauert und gut nachfühlen können, dass sie sich immer anders gefühlt hat und mehr wollte als ihre reiche, ihr aber oberflächlich und immer auf den äußeren Schein bedachte Familie.

Eine Schlüsselszene dazu: Peggy arbeitet als junge Frau, um Erfahrungen zu sammeln - das Geld braucht sie nicht und bekommt auch nicht wirklich einen Lohn ausbezahlt - aushilfsweise in einer Buchhandlung. Ihre ebenfalls reichen Tanten kommen ins Geschäft und möchten 5 Regalmeter Bücher kaufen, egal welche. Der Inhalt interessiert sie nicht, es geht rein um Bücher als Dekoration, wichtig sind die harmonische Farbe und Gestaltung der Buchrücken.

So möchte Peggy nicht sein, sie möchte sich mit Menschen umgeben, die tatsächlich Bücher wegen ihres Inhalts schätzen. Ähnlich geht es ihr mit der Kunst: in den schwerreichen Kreisen, in denen sie sich bewegt, sammeln einige Menschen Kunstwerke, um sie wegzusperren. Peggy liebt Kunst, ihr Interesse dafür wurde schon in ihrer Kindheit durch ihren Vater geweckt, und sie findet, Kunst sollte an Orten ausgestellt werden, an denen viele Menschen sie genießen können.

Also: eine sehr interessante Person und eine sehr interessante Zeit. Man hätte aus diesem Buch viel machen können.

Aber: leider hat das Buch kaum einen Spannungsbogen und ist über weite Strecken einfach nur langweilig. Es geht um gesellschaftliche Events, Bälle, belanglose Unterhaltungen zwischen verschiedenen Personen, die aber nicht wirklich zu irgendetwas Interessantem führen. Ich hatte das Gefühl, je weiter ich mit der Lektüre gekommen bin, desto langweiliger wurde das Buch, und desto mehr habe ich auch den Bezug zu der in diesem Roman portraitierten Peggy verloren... als sie etwa Ehefrau und Mutter wurde, konnte ich überhaupt nicht mehr nachvollziehen, wie es ihr damit überhaupt wirklich ging als Freigeist, der sie war.

Ich muss also leider sagen, dass dieses Buch meine hohen Erwartungen nicht erfüllt. Ich habe nicht das Gefühl, dass mir dadurch die echte Peggy Guggenheim wirklich nahegekommen ist, und eine spannende Unterhaltung war es auch nicht. Deshalb drei Sterne für ein grundsätzlich spannendes Porträt einer sehr interessanten Frau, das streckenweise interessant ist.

Bewertung vom 19.03.2025
Hoven, Elisa

Dunkle Momente


ausgezeichnet

Recht oder Gerechtigkeit:
Die Strafverteidigerin Eva Herbergen ist eine Getriebene. Schwer lastet die Schuld auf ihr. Denn vor mehreren Jahrzehnten hat sie einem Mandanten Unrecht getan, war für ihn nicht so eine gute Strafverteidigerin, wie sie sein hätte können, und das hat zu einer furchtbaren Tragödie geführt, an der sie sich mitschuldig fühlt (dies wird schon ganz zu Beginn erwähnt, aber erst im allerletzten Fall erfahren wir die Details dazu).
In Elisa Hovens ausgezeichnetem und sehr nachdenklich machendem Debütroman "Dunkle Momente" erleben wir, wie eben diese Strafverteidigerin an dieser Schuld leidet und nun in ihrem weiteren Berufsleben versucht, für größtmögliche Gerechtigkeit nach ihren individuellen Maßstäben zu sorgen - auch durch Eingriffe am Rande des Legalen oder durch solche, die sogar eindeutig illegal sind.
Dieses Buch ist also ganz sicherlich kein Musterbeispiel dafür, wie sich eine Strafverteidigerin ethisch und juristisch einwandfrei verhalten sollte. Und auch keine Dokumentation darüber, wie sich Strafverteidiger üblicherweise verhalten (hoffe ich mal). Denn wir haben eine nicht unbedingt sympathische, oft wenig selbstreflektierte Protagonistin, die sich oft nicht einwandfrei verhält oder sogar strafbar macht. Wir wünschen uns als Gesellschaft nicht, dass Strafverteidiger so handeln. Aber: genau durch diese Protagonistin und ihr Handeln wird das Buch besonders spannend und regt umso mehr zu interessanten Diskussionen an.
Denn es werden insgesamt neun Fälle vorgestellt, die alle auf die eine oder andere Weise jedenfalls moralisch, oft auch juristisch, nicht eindeutig sind. Ein paar Beispiele:
- Darf ein alter Mann, bei dem eingebrochen wurde, den jugendlichen Einbrecher erschießen? Auch von hinten und wenn dieser sich schon auf der Flucht befindet? Und wie sieht es damit aus, wenn dieser Mann danach unter einem Vorwand rechtliche Informationen einholt, um im Nachhinein Beweismittel zu fälschen, und sich vor einer seiner Meinung nach ungerechtfertigten Strafe zu schützen?
- Wenn von 11 Männern auf einem Junggesellenabschied 10 nachweislich eine junge Frau misshandelt und vergewaltigt haben, aber alle die Tat leugnen, sodass nicht feststellbar ist, wer unschuldig ist: was ist schlimmer, wenn alle Täter aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden oder wenn ein Unschuldiger mit ins Gefängnis geht?
All diesen und noch vielen weiteren ethischen Fragen muss sich die Strafverteidigerin Eva Herbergen stellen. Dabei bezieht sie aufgrund der Informationen, die sie jeweils im Moment der Entscheidung hat, moralisch Position, und entscheidet sich, aktiv in die Beweisermittlung einzugreifen, Beweise zu manipulieren oder verschwinden zu lassen, Falschinformationen an die Presse zu spielen oder fragwürdiges Verhalten ihrer Mandanten (z.B. eine Falschaussage, von der sie Kenntnis hat) zu decken. Eva meint damit im jeweiligen Moment, ethisch richtig zu handeln und ihre Entscheidungen vor ihrem eigenen Gewissen verantworten zu können. Mal entscheidet sie sich in die eine, mal in die andere Richtung, wird manchmal tätig, schweigt das nächste Mal.
Was das Buch besonders interessant macht, sind die vielen unerwarteten Wendungen. Die Wahrheit ist eben nicht unbedingt zu einem bestimmten Zeitpunkt eindeutig ersichtlich, weder für uns Lesende noch für Eva Herbergen selbst.
Denn oft sind die Dinge nicht so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. So stellt sich immer wieder im Nachhinein heraus, dass Eva Herbergens Eingreifen oder Verschweigen nicht nur juristisch, sondern auch moralisch äußerst fragwürdig war, und manchmal dazu beigetragen hat, Schuldige vor dem Gefängnis zu bewahren oder sogar Unschuldige dorthin zu bringen (was Eva Herbergen zum Zeitpunkt ihres Eingreifens natürlich nicht wusste).
Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen und gemeinsam mit anderen äußerst spannende Diskussionen darüber geführt. Es eignet sich wie kaum ein anderes Buch zum gemeinsamen Diskutieren, und es ist sehr spannend, was für unterschiedliche Wertepositionen sich dabei zeigen, selbst wenn man es in einer Gemeinschaft von Menschen diskutiert, die sich sonst in vielem ähnlich ist.
Damit macht es sehr nachdenklich darüber, woher unsere Werte kommen, womit wir diese verteidigen und warum sich diese in manchem von denen anderer Menschen, die anderes erlebt haben, unterscheiden.
Ich kann das Buch also allen, die sich für die Grenzbereiche des Rechts und der Moral interessieren, sehr empfehlen, mit einer Einschränkung: die vorgestellten Fälle werden eindringlich und detailliert in aller Brutalität geschildert und manches davon ist an der Grenze des Erträglichen für mitfühlende Menschen: es geht um Vergewaltigung, Folter, Mord (auch an Kindern), Kindersoldaten, Kannibalismus und viele weitere wirklich abscheuliche Themen. Wer sich davon schnell getriggert fühlt oder sich gerade in einer sehr sensiblen Lebensphase befindet, in der die Konfrontation mit solchen Abscheulichkeiten kaum erträglich ist, der sollte von diesem Buch besser Abstand nehmen.

Bewertung vom 18.03.2025
Blum, Nora

Radikale Freundlichkeit


ausgezeichnet

Leidenschaftliches persönliches Plädoyer für einen freundlicheren Umgang miteinander:

Nora Blum ist eine bewundernswerte, mutige, junge Frau, die im Alter von 24 Jahren gemeinsam mit Katrin Bermbach und Farina Schurzfeld das Unternehmen "Selfapy" gegründet hat, bei dem Menschen, die lange auf einen Therapieplatz warten müssen, die Zwischenzeit mit therapeutischen Übungen, die ihnen eine App vermittelt, überbrücken können. Mittlerweile gibt es erste Studien zur Effektivität dieser App.

Als junge Gründerin auf der Suche nach Kapital, aber auch davor in ihrem Arbeits- und Privatleben hat Frau Blum immer wieder die erschütternde Erfahrung machen müssen, dass unsere Gesellschaft tendenziell unfreundlicher wird und Freundlichkeit insbesondere beruflich kein Wert ist, der hoch geschätzt ist. Einmal bekam sie sogar von potentiellen Investoren das Feedback, dass sie nicht in ihr Unternehmen investieren würden, weil sie bei der Präsentation zu freundlich gewesen sei und sie ihr die erforderliche Ellbogenmentalität nicht zutrauen würden.

Nun hat Nora Blum, die sich vor einiger Zeit aus dem operativen Geschäft bei Selfapy zurückgezogen hat, mit diesem Buch ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Freundlichkeit im Umgang miteinander geschrieben. Persönlich und nahbar leitet sie jedes Kapitel mit einer Geschichte aus ihrem Leben ein, die sie dann analysiert. Darauf folgen die Verbindung mit psychologischen Konzepten und wissenschaftlichen Studien dazu, wie sehr Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Spenden auch unserer körperlichen und psychischen Gesundheit und unserem Lebensglück zuträglich sind, und praktische Ideen und Beispiele, wie man durch kleine, leicht umsetzbare Handlungen im persönlichen Umfeld Freundlichkeit leben und damit zu einer lebenswerteren, angenehmeren Welt für alle beitragen kann.

Besonders eingegangen wird auf aktuelle Themen wie den Umgang mit dem Smartphone, das uns oft durch seine intensive Nutzung von unseren Mitmenschen distanziert, oder die sogenannte "Königsdisziplin", auch unter Stress - unter dem viele Menschen heutzutage leiden - freundlich zu bleiben, genauso wie in herausfordernden politischen Diskussionen mit Menschen, die eine ganz andere Weltanschauung haben, die wir nicht teilen können.

Was trägt zu Freundlichkeit im Alltag bei? Da finden sich im Buch viele Beispiele, von Blickkontakt und Anlächeln der Kassierin im Supermarkt, über kleine Gesten der Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden (z.B. jemandem helfen, den Kinderwagen in die Straßenbahn zu heben) über Spenden bis zu regelmäßigem freiwilligem Engagement. Deutlich wird aber auch klar, dass hinter diesen nach außen sichtbaren Zeichen eine menschenfreundliche Haltung steht.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, es ist unterhaltsam, gut verständlich, persönlich und nahbar geschrieben. Besonders die Geschichten aus dem Lebensalltag der Autorin haben mir sehr gut gefallen, auch, weil sie als so junge Unternehmensgründerin so eine spannende Persönlichkeit ist und ich mich gefreut habe, auf diesem Weg nicht nur über das Thema des Buches, sondern auch über sie und ihren Lebensweg ein bisschen etwas zu erfahren. Ich kann das Buch allen empfehlen, denen das Thema "Freundlichkeit" ein Anliegen ist oder sein sollte - also uns allen.

Bewertung vom 17.03.2025
Moore, Liz

Der Gott des Waldes


sehr gut

Spannender literarischer Thriller mit Tiefgang:

"Der Gott des Waldes", das neue Buch von Liz Moore, weckt schon von der Aufmachung her enorm hohe Erwartungen: in der gebundenen Ausgabe sehr hochwertig mit fast 600 dicken Seiten aus robustem Papier, mit einem geheimnisvollen Titelbild, einem See, über den ein rosafarbener Blutstrom rinnt, der sich sogar haptisch vom Rest des Buches abhebt. Dazu Lobpreisungen an verschiedenen Stellen auf dem Schutzumschlag, die von einem "literarischen Thriller der Spitzenklasse", einem "seltenen Juwel" und einem "Meisterwerk" sprechen. So ein Marketing lässt also ein ganz besonderes Buch erwarten. Ist es das?

Ich lese sehr gerne anspruchsvolle Literatur und gelegentlich mal den einen oder anderen Krimi oder Thriller, kenne also beide Genres. Viele Thriller sind mir zu banal konstruiert und haben wenig glaubwürdige, sehr stereotype Figuren. Davon hebt sich der "Gott des Waldes" durchaus wohltuend ab: es wird nicht nur einfach eine sehr spannende Handlung erzählt, sondern das Setting und die Figuren regen auch zum Nachdenken über die Zeit zwischen 1950 und 1975 in den USA, die Geschlechterrollen damals, soziale Ungleichheit und die mit Geld und Macht einhergehenden Privilegien und unfairen Vorteile an. Damit bietet das Buch deutlich mehr als ein einfacher Krimi oder Thriller und kann sich durchaus als literarisch bezeichnen.

Die Handlung spielt überwiegend im Sommer 1975, mit Rückblenden erzählt aus der Perspektive der 1950er und 1960er Jahre, um die Hintergründe und insbesondere die Entwicklungen einer Familie zu zeigen. Wir befinden uns in den Adirondacks Mountains, wo die vermögende Familie Van Laar ihren Sommersitz hat und außerdem, gemeinsam mit einer befreundeten Familie, ein Abenteuerferiencamp für Kinder betreibt, in dem diese den Sommer verbringen, Spaß und Unterhaltung haben, neue Freundschaften knüpfen können und lernen, wie man alleine im Wald überleben kann.

Die Familie Van Laar ist sehr reich, verschlossen und konservativ, und sie möchte genau ein Kind pro Generation haben, damit niemand das Erbe teilen müsse: am besten einen Jungen, Peter Van Laar, der erste, der zweite, der dritte und der vierte. Peter Van Laar I, der Gründervater, ist schon verstorben, doch mit seinem Sohn, Peter Van Laar II, mittlerweile ein alter Mann, dessen Sohn, Peter Van Laar III, einem Mann mittleren Alters, und wiederum dessen Sohn Peter Van Laar IV, genannt "Bear", einem Kind, leben zeitweise drei dieser Peters van Laar in der großen, aus der Schweiz hergeschafften und in den USA wieder aufgebauten Villa "Self-Reliance" am Rande des Feriencamps. Jeden Sommer wird das Fest "Blackfly Goodbye" gefeiert, bei dem sich alle gemeinsam darüber freuen, dass die Zeit der lästigen, blutsaugenden Kriebelmücke "Blackfly" für die Saison zu Ende geht, und zu dem all jene eingeladen werden, die die Familie als Freunde ansieht oder von denen sie sich geschäftliche Vorteile erhofft.

Frauen gibt es natürlich auch in der Familie, generationenlang als angeheiratete Gattinnen, blass und machtlos an der Seite der übermächtigen und manipulativen Peters. "Bear", der jüngste Peter, scheint aus der Reihe zu schlagen, alle haben ihn als freundliches, empathisches und zugewandtes Kind beschrieben... bis er leider auf tragische Weise im Wald verschwunden ist. Nach seinem Verschwinden brauchte es einen neuen Erben und Peter III und seine Gattin Alice machten sich an diese Zeugung desselben... doch diesmal wurde es ein Mädchen, Barbara. Ein sehr rebellisches, unabhängiges Mädchen, das sich nicht unterdrücken lassen will und sich gegen die lieblose Erziehung auflehnt. Mit 12 oder 13 Jahren möchte Barbara auch am Feriencamp teilnehmen und es wird ihr gewährt - die Eltern sind froh, sich mit der rebellischen Tochter mal einen Sommer weniger herumschlagen zu müssen. Doch gegen Ende des Feriencamps verschwindet auch sie im Wald.

Es ist keineswegs offensichtlich, was mit Bear und mit Barbara geschehen ist, und bis zum Ende des Buches gibt es so einige spannende Überraschungen, die sich aber durchaus plausibel in die Handlung einfügen. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass für klassische Thriller-/Krimi-Lesende die Handlung etwas zu langsam voranschreitet bzw. sich in zu vielen Nebenaspekten verliert... um dieses Buch zu mögen, sollte man sich schon für mehr interessieren als für die Spannungsaspekte alleine und auch die sozialen Hintergründe interessant finden.

Es ist ein gutes Buch, ein solider literarischer Thriller, den ich sehr gerne gelesen habe und der mir neben Unterhaltung auch Aspekte zum Nachdenken geboten hat. Sehr geschätzt habe ich auch die leserfreundliche und hochwertige Gestaltung des Buches: so gibt es etwa eine Übersichtskarte des Camps und außerdem am Anfang der Kapitel Zeitleisten, die die Orientierung, wo wir uns zeitlich gerade in der Handlung befinden, sehr erleichtern.

Insgesamt ein wunderschön gestaltetes, unterhaltsam und spannend geschriebenes und lesenswertes Buch.

Bewertung vom 14.03.2025
Schünemann, Christian

Bis die Sonne scheint


ausgezeichnet

Sensibel erzählte Geschichte von sozialem Abstieg:

Christian Schünemann, bisher eher für Krimis bekannt, hat sich mit diesem Roman in den Bereich der autofiktionalen Literatur begeben, und das gleich in hoher Qualität. In "Bis die Sonne scheint" erzählt er einen Ausschnitt aus seiner eigenen Familiengeschichte, basierend auf seinen Jugenderinnerungen sowie auf vielen Briefen, die die mittlerweile verstorbene Mutter mit ihrer in Amerika lebenden Schwester ausgetauscht hat.

Überwiegend spielt die Handlung in den 1980er Jahren, doch es gibt auch immer wieder Rückblenden in frühere Zeiten, sodass wir erfahren, woher die väterliche und die mütterliche Seite der Familie kommen, wie die Eltern aufgewachsen sind und was sie geprägt hat. Das schafft nochmal mehr Verständnis und Mitgefühl.

Durch die Augen des jugendlichen Daniels, der jüngste von vier Geschwistern und kurz vor der Konfirmation stehend, erleben wir, wie eine ehemals erfolgreiche und sehr fleißige Familie in immer größere finanzielle Schwierigkeiten gerät, vor denen die Eltern jedoch die Augen verschließen. Die unternehmerische Tätigkeit des Vaters läuft aufgrund veränderter wirtschaftlicher Bedingungen und eigener kurzfristiger Planung nicht mehr so wie früher, und auch die Versuche der Mutter, Geld zu verdienen, sind nicht dauerhaft erfolgreich, sodass bald der Exekutor vor der Tür steht und "Kuckuck-Pfändungsmarken" auf Klavier und Fernseher klebt.

Daniel muss sich für seine Konfirmation mit einer viel kleineren Feier und bescheidenerer Kleidung zufrieden geben, auch der ersehnte Frankreich-Trip mit der Schule ist nicht mehr möglich... und doch schmeißen die Eltern auch immer wieder impulsiv für scheinbar sinnlosen Konsum das Geld zum Fenster heraus, während die finanzielle Misere immer größer wird. Man will sich schließlich belohnen. Und man lebt in einer Zeit und einem sozialen Umfeld, in dem es extrem wichtig ist, zu zeigen, wer man ist und was man hat.

Aus der Nachkriegsarmut kommend haben die Eltern sich mit harter Arbeit und Fleiß ihren Wohlstand und Status bitter erarbeitet... umso schwieriger ist es, den Tatsachen des immer größer werdenden finanziellen Ruins ins Auge zu sehen... da fährt man lieber noch schnell ein letztes Mal auf Urlaub, dorthin, wo die Sonne scheint - während daheim das Haus demnächst zwangsversteigert wird und die Kaufinteressenten schon im Garten stehen.

Es ist eine Familiengeschichte von sozialem Aufstieg, Abstieg und Verleugnung. Ein Zeitporträt der 1980er Jahre in der BRD und der damals weit verbreiteten Werte. Dabei gelingt es dem Autor, seine Familie keineswegs vorzuführen oder zu verurteilen, sondern durch die vielschichtige und mehrere Jahrzehnte umfassende Betrachtungsweise und die sensible Charakterisierung der einzelnen Figuren auch Mitgefühl und Verständnis für sie zu schaffen.

Sprachlich liest sich das Buch angenehm, locker und unterhaltsam, ist vom Stil her zugänglich und interessant, und regt bei aller Leichtigkeit doch zum Nachdenken über sozialen Aufstieg und Abstieg, Ehrlichkeit vs. Verschweigen in der Familie und in der Gesellschaft und generell die gesellschaftlichen Werte in der BRD im 20. Jahrhundert an. Wer zu dieser Zeit gelebt hat, wird einiges wieder erkennen. Wer jünger ist, kann einiges lernen, was zum besseren Verständnis älterer Generationen beitragen kann. Damit ist es ein empfehlenswertes Buch für eine breite Leserschaft.

Bewertung vom 11.03.2025
Meierhenrich, Nova

Lebensschlenker


gut

Die letztlich unerfüllte Kinderwunschreise einer eher unreflektierten Frau:

Die bekannte Schauspielerin und Moderatorin Nova Meierhenrich teilt in diesem Buch ihren sehr persönlichen Kinderwunschweg. Ein Wunsch, der sich nicht erfüllt hat.
Wir lernen schon ganz am Anfang des Buches eine sehr disziplinierte, planungs- und zielorientierte Frau kennen, die meint, im Leben alles kontrollieren und steuern zu können. Nova weiß, sie will Mutter werden, und zwar am besten von einer Tochter, die sie "Luka" nennen will, nach dem Lied von Suzanne Vega. Diese Vision von ihrem Leben trägt sie seit ihrer Jugend jahrzehntelang in sich: "Und wie an allen anderen Plänen meines persönlichen Lebens-Moodboards hatte ich auch keinerlei Zweifel daran, dass irgendwann Luka zu meinem Leben gehören würde." (S. 13) Was wäre eigentlich, wenn sie mit einem Sohn schwanger geworden wäre? Wäre sie dann eine der Frauen gewesen, die beklagen, wie sehr sie unter "Gender Disappointment" leiden?
Auch ist sie bereit, diesen Weg, wenn nötig, ohne einen Partner an ihrer Seite zu gehen. "Es mag befremdlich klingen, aber ich habe schon in meinen Zwanzigern gewusst: Im Zweifel mache ich es allein. Mein Kind und ich." (S. 20). Doch noch nicht "jetzt", jetzt ist erst einmal die berufliche Karriere dran, reisen, feiern, Selbstverwirklichung. In dem Weltbild der Autorin sollte Kinder-Kriegen kein Problem sein, solange alle biologischen Parameter stimmen.
Um das sicherzustellen, lässt sie schon ab ihren frühen 30ern regelmäßig gynäkologisch ihren Anti-Müller-Hormon-Wert bestimmen. Dieser ist bei ihr ausgezeichnet, sie habe die Werte einer 10 Jahre jüngeren Frau, meinen die Ärzte, deshalb wiegt sie sich in Sicherheit, noch sehr lange problemlos Kinder bekommen zu können. Sie wartet bis zum reifen Alter von 42 Jahren, bis sie überhaupt ihre Kinderwunschreise startet, mangels passenden Partners an ihrer Seite als Solo-Mutter und mit Samenspende in Dänemark, da dieser Weg zu dieser Zeit in Deutschland rechtlich noch nicht erlaubt ist.
Sie wählt aus der riesigen Samenspenderbank den ihr am idealsten erscheinenden Spender aus, "Gordon", und unternimmt mit dessen Samen mehrere Versuche, erst einmal einer Insemination, in der Kinderwunschklinik. Schwanger wird sie nicht. Zwischenzeitlich muss sie weitere Samenhalme besorgen, doch jener von "Gordon" ist ausverkauft, was sie erst einmal in eine Krise stürzt, da sie sich innerlich schon so auf "Gordon" eingestellt hat. Doch schließlich entscheidet sie sich für einen weiteren Spender, und später noch einen weiteren, da auch dieser ausverkauft ist, und weitere Versuche. Irgendwann probiert sie dann IVF und ICSI aus, das klappt aber auch alles nicht, bis sie dann schließlich mit Mitte 40 bei einer Reise zum Nordkap mit ihrem unerfüllten Kinderwunsch abschließt.
Das macht drei Viertel des Buches aus. Danach folgen noch ein paar kurze Beiträge anderer Frauen - meist aus dem beruflichen und privaten Umfeld der Autorin - und Statements zu deren Leben als freiwillig Kinderfreie, nach einer Fehlgeburt oder als lesbische Frau im Co-Parenting mit einem schwulen Mann.
Was mich meisten geärgert hat an dem Buch, weil es Lesende, die sich noch nicht viel mit dem Thema auseinandergesetzt haben, in die Irre führen könnte, ist der geringe Wissensstand der Autorin über den Faktor Alter beim Kinderwunsch. Nicht nur am Anfang ihrer Kinderwunschreise, sondern auch noch beim Verfassen des Buches. So ist es ihr bis heute unerklärlich, warum sie letztlich kinderlos geblieben ist, obwohl sie erst mit 42 gestartet ist.
Der gute AMH-Wert lässt sie daran glauben, viel länger als andere Zeit zu haben mit dem Kinder-Kriegen. Dabei lässt sie außer acht, dass dieser nur wenig über die (mit dem Alter meist stark abnehmende) Qualität der Eizellen aussagt, sondern nur über die Quantität, und auch stark schwanken kann. Dieses Thema wird im Buch überhaupt nicht behandelt oder kritisch reflektiert, stattdessen meint sie, an unerklärter Sterilität zu leiden.
Hoffnungslos naiv war schon der Beginn der Kinderwunschreise: selbst, als sie schon den Entschluss dazu gefasst hatte, hat sie noch weitere zwei Jahre gewartet (gerade zwischen 40 und 42 gibt es einen enormen Fruchtbarkeitsabfall), um alles medizinisch und finanziell genau zu planen, bevor sie dann mit 42 überhaupt den ersten Versuch unternimmt, schwanger zu werden.
Sprachlich ist das Buch sehr umgangssprachlich geschrieben, so schreibt die Autorin beispielsweise immer wieder vom "Loslaufen", wenn es um den Start ihrer Kinderwunschreise geht: "Und so stießen wir an Weihnachten 2015 gemeinsam an, als ich ihr erzählte, dass ich losgelaufen bin. 2016 sollte DAS Jahr werden. Ich war bereit.".
In meinem Umfeld habe ich viele Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch. Diesen empfehle ich dieses Buch ausdrücklich nicht, denn sie könnten sich über einige der erwähnten Themen und die mangelnde Selbstreflexion der Autorin sehr ärgern, vor allem aber auf nicht hinterfragte Fehlinformationen stoßen, so wie die Autorin selbst.