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BPLaufs
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Saarbrücken

Bewertungen

Insgesamt 22 Bewertungen
Bewertung vom 25.07.2015
This Idea Must Die
Brockman, John

This Idea Must Die


ausgezeichnet

Theorien, Konzepte, kühne Ideen wie Einsteins Relativitätstheorie, so meinte der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper, sind wie Scheinwerfer, die es uns erst ermöglichen, in der Wüste der Dunkelheit, die uns umgibt, etwas wahrzunehmen. Manches Licht wird jedoch im Laufe der Jahre blaß oder der Lichtkegel wird derart eng, daß Wesentliches oder Gefahrvolles im Schatten verbleibt. Eine Theorie kann schal und alt werden, ihre Energie und Kraft, Neues zu erkennen, verlieren, ja sie kann sogar den Fortschritt behindern (»blocking progress«). In dem sehr anregenden Reader "This Idea Must Die" wurden 175 exponierte Forscher aus einem breiten wissenschaftlichen Spektrum von der Mathematik und Physik über die Medizin und Psychologie bis zur Linguistik und Philosophie versammelt, um auf durchschnittlich 4 Seiten konzise zu begründen, weshalb manche Idee in Rente geschickt oder gar der assistierten Sterbehilfe überantwortet werden sollte. Auf 540 Seiten kommen da einige (nach Ansicht der Autoren) stumpf gewordene Werkzeuge des Denkens unter die Räder: teils solche, von denen man es schon vermutete wie das »IQ«-Konzept, der »radikale Behaviorismus« oder der »Malthusianismus«, andere, denen man gern noch eine gewisse Zukunft zugestanden hätte wie etwa dem »Altruismus« oder aus umweltpolitischen und -pädagogischen Gründen dem »CO2-Fußabdruck«. Einige weitere Beispiele für Theorien, Naturgesetze und Hypothesen, welche die Autoren gern dem Friedhof überlassen würden, sind: »Statistische Signifikanz«, »Standardabweichung«, »Raumzeit«, »Evidence-based Medicine«, »Neuronale Korrelate des Bewußtseins« oder das Konzept des »Freien Willens«, das »Rationale Individuum« (der Wirtschaftswissenschaften) und das populäre Gerede von »linker vs. rechter Gehirnhälfte«. 
Sympathisch macht den Reader, daß auch Autoren zu Wort kommen, welche die Totgesagten noch nicht dem Krematorium übergeben wollen, von der Wissenschaft (allein) keine Maximierung unseres Glücks erwarten oder wie der Schriftsteller Ian McEwan die ganze Begräbnisgesellschaft für eine Ansammlung arroganter Besserwisser halten. Ernsthafte Theorien, auch solche, die sich später als falsch herausstellten, seien es wert, als Erbe der Menschheit im Gedächtnis bewahrt zu werden. Weder Shakespeare noch Bacon auf den Müllhaufen der Geschichte! 

Mit Hilfe des ausführlichen Namen- und Sachregisters kann jeder sich seinen Interessen gemäss bevorzugte Themen herauspicken. Ein gelungeneres Kompendium über Tendenzen der gegenwärtigen Wissenschaften (der englischsprachigen Welt), das auch vom interessierten Laien verstanden werden kann, wird man schwerlich finden. Es handelt sich um den jüngsten Band einer Reihe, die sich der Idee der »Third Culture« verpflichtet fühlt, über die man sich unter edge.org näher informieren kann.

Bewertung vom 23.07.2015
Mythen des Alltags
Barthes, Roland

Mythen des Alltags


ausgezeichnet

Nicht das schlechteste Motiv, dieses Buch von Roland Barthes zu kaufen, wäre die Verführung durch das Cover, welches mehrfach den legendären Citroën DS zeigt; schließlich geht es auch um Dinge des Alltags. Das Stück »Der neue Citroën« ist eines der berühmtesten des ca. 300 Seiten starken Taschenbuchs. Allerdings geht es nicht um dieses Gefährt an sich, von dem die Ü50 heute noch schwärmen, sondern um die »Déesse«, die Göttin, als materielles Zeichen. Barthes versteht sich als Semiotiker, also Zeichenleser, und er betrachtet seine Welt Mitte der 50er Jahre als les- und interpretierbares Universum von Zeichen, um die damit verknüpften kollektiven Vorstellungen als Mythen zu entziffern. Barthes, von Michel Foucault gefördert, erblickt solche alltäglichen Mythen nicht nur im Automobil, sondern im Kinofilm, in der Fotografie, in Reiseführern, in der Waschmittelreklame, im Spektakel des Catchens und im Striptease; und natürlich in der Sprache des Kleinbürgers. 
Man muss das Buch nicht von vorn bis hinten durcharbeiten, dazu wären die zwischen 1954-56 entstandenen Texte zu schade. Besser man nimmt sich die Pralinen einzeln vor, wozu sie auch ursprünglich gedacht und gemacht sind und verschlingt nicht die ganze Schachtel. Eine viertelstündige Bahnfahrt oder eine kurze Pause im Café reichen aus, um garantiert klüger, gewitzter und kritischer dem sogenannten gesunden Menschenverstand, dem »Wachhund« des Kleinbürgers, zu begegnen und die konservative Rede von der »Natur der menschlichen Verhältnisse« besser zu durchschauen als nach gewissen TV-Talkshows. Auch wenn nicht alle Essays des Buches zumal für deutsche Leser noch unmittelbar zugänglich sind: einige sind dafür hochaktuell. Etwa der über den Streik und die betroffenen Bürger; auch sollte niemand die Dauerausstellung »The Family of Man« im Schloss Clervaux in Luxemburg besuchen, ohne Barthes' provokante Kritik an dieser von der UNESCO geadelten Feier der conditio humana gelesen zu haben. 
Barthes, der breit gebildet und produktiv war, sich auch für das Theater, Musik, Literatur und Malerei interessierte, starb 1980 mit 65 Jahren an den Folgen eines Unfalls. Laut Verlag sind in dieser Ausgabe erstmals alle Texte auf deutsch gesammelt. Und auch wenn Barthes selbst im Vorwort von 1970 seine Mythologies als zu grobkörnig kritisierte, bleibt ihre Lektüre doch bis heute eine vergnügliche intellektuelle Herausforderung.
Die sehr gut lesbare Übersetzung von H. Brühmann wird mit einigen nützlichen Fußnoten für den deutschen Leser ergänzt.