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Sophie

Bewertungen

Insgesamt 167 Bewertungen
Bewertung vom 14.04.2024
Sozio, Astrid

Der rechte Pfad


weniger gut

Unheimlich zäh

„Der rechte Pfad“ von Astrid Sozio klingt vom Klappentext her wie ein kraftvolles Buch mit einem starken Thema, viel psychologischer Spannung und einer intensiven Figurenentwicklung. Hinter diesen Erwartungen bleibt der Roman mit seinen vielen Längen und seiner teils monotonen, wiederholenden Erzählweise jedoch leider deutlich zurück.

Die Handlung von „Der rechte Pfad“ ist dabei durchaus vielversprechend: Auf zwei Zeitebenen erzählt der Roman die Geschichte von Benni, den ein traumatisches Ereignis zurück in das Dorf geführt hat, in dem er als Kind die Schulferien verbracht hat. Als Kind verstand er noch nicht, dass er sich in einer sektenartigen, politisch deutlich nach rechts lehnenden Umgebung bewegte, und wusste die tragischen Ereignisse dieser Zeit nicht recht einzuordnen. Als Erwachsener zieht ihn etwas zurück an diesen Ort, und er muss mit der rückblickenden Einordnung dieser Erlebnisse zurechtkommen und zugleich seinen teils nostalgisch verklärten Blick in der Gegenwart geraderücken.

Was der Stoff für ein spannendes und intensives Buch hätte sein können, zieht sich leider in diesem Roman enorm in die Länge. Auf Handlungsebene passiert kaum etwas, und das, was geschieht, wird unter so vielen Wiederholungen, verklausulierten Gefühlsschilderungen und Alltagsbeschreibungen versteckt, dass weder auf Handlungs- noch auf psychologischer Ebene eine Spannungskurve entsteht. Als es irgendwann doch zur Eskalation kommt, ist es zu spät, um als Leser*in noch einmal einzusteigen, nachdem man sich geistig eigentlich bereits von dem Text verabschiedet hat. Ganz offensichtlich möchte „Der rechte Pfad“ kein reißerisches Buch sein, was bei dem brisanten Thema durchaus ein ehrenwertes und nachvollziehbares Anliegen ist. Der Text verliert sich jedoch in so viel Subtilität, dass für Lesende kaum noch etwas übrig bleibt, an dem sie sich orientieren können.

Trotz der hochinteressanten Grundidee kann dieser Roman leider nicht überzeugen und verliert sich vor allem in enormen Längen und einer sehr zähen Erzählweise.

Bewertung vom 14.04.2024
Faber, Henri

Gestehe


gut

Unterhaltsam, aber nicht Fabers stärkste Leistung

Wie man es von Henri Faber gewohnt ist, wartet „Gestehe“ mit einem schaurigen Mord, Mindgames und zahlreichen überraschenden Wendungen auf. Im Vergleich zu seinen anderen Thrillern fällt „Gestehe“ jedoch deutlich zurück.

Ein grausiger Leichenfund in Wien ruft Inspektor Jacket auf den Plan, Publikumsliebling und Polizeiheld. Die Öffentlichkeit ist begeistert, als der Star-Ermittler, der in Wahrheit seit Jahren keinen Fall gelöst hat, das Heft in die Hand nimmt. Weniger begeistert ist der unerfahrene, aber blitzgescheite Polizist Mo, der ihm dabei zur Seite gestellt wird. Für Mo ist offensichtlich, dass bei Jacket etwas nicht stimmt. Während er also fleißig Beweise zusammenträgt und Indizien sammelt, versucht Jacket seinerseits, die Wahrheit über den Mord herauszufinden, der mehr mit ihm zu tun zu haben scheint, als ihm lieb ist. Immer wieder muss er dabei seine eigenen Erinnerungen hinterfragen.

Der Mordfall, der den Plot von „Gestehe“ ins Rollen bringt, ist, wie man es vom Autor kennt, ausgesprochen rätselhaft und regt ab den ersten Seiten zum Spekulieren an. Immer neue Details über diesen Fall und Jackets Vergangenheit kommen ans Licht und eröffnen die verwegensten Lösungsmöglichkeiten. Spannung ist also garantiert. Allerdings wirkt das Wechselspiel aus falschen Fährten und echtem Fortschritt hier längst nicht so raffiniert wie in Fabers früheren Thrillern. Manch eine Enthüllung ließe sich gar als plump charakterisieren. Für Thriller-Fans, die gern eine Chance haben, mitzuermitteln und der Lösung früher auf die Spur zu kommen als die Ermittler, ist das eine Enttäuschung. Das Feuerwerk an überraschenden Wendungen, das bis auf die letzten Seiten nie abbrennt, unterhält trotzdem.

Nicht Fabers raffiniertester Thriller, aber trotzdem ein Buch, das Spannung aufkommen lässt und Spaß macht.

Bewertung vom 18.03.2024
Unger, Lisa

Der heimliche Beobachter


gut

Starker Start, enttäuschende Auflösung

In „Der heimliche Beobachter“ stellt Lisa Unger zwar unter Beweis, dass sie (sehr spannend!) schreiben kann, und bietet gute Unterhaltung, kann jedoch mit dem Gesamtverlauf der Handlung nicht überzeugen.

Das Setting von „Der heimliche Beobachter“ ist denkbar spannend: Eine kleine, eng verzahnte Gruppe von Menschen zieht sich für ein ungestörtes Wochenende in ein einsam gelegenes Cottage zurück. Jede und jeder von ihnen bringt eigene Altlasten mit, die nach und nach aufgedeckt werden, während zugleich eine Bedrohung von außen die ohnehin schon angespannte Stimmung aufheizt. Das Buch startet mit einer starken Exposition, die die verschiedenen Figuren plastisch hervortreten lässt und unzählige Geheimnisse, Lügen und Verstrickungen anreißt, die uns Lesende dem Ende entgegenfiebern lassen. Ohne zu viel verraten zu wollen, erweist sich leider mehr als ein Handlungsstrang als nahezu überflüssig für die Auflösung.

Lisa Unger gelingt es zu Anfang, ohne Action oder Blut, sondern allein aufgrund der Charakterisierung ihrer Figuren eine angespannte Atmosphäre heraufzubeschwören, die dafür sorgt, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann. Die Frage, wie die Hintergründe der Figuren mit dem Geschehen in der Gegenwart zusammenhängen, bleibt über weite Teile des Romans bestehen und weckt Vorfreude auf eine clevere Auflösung, die alle Fäden zusammenführt. Darauf wartet man jedoch vergeblich. Das ist vor allem deshalb so schade, weil gerade das erste Drittel des Romans so besonders vielversprechend daherkommt. In Bezug auf Stil und Erzähltempo trifft Lisa Unger genau den Nerv, den ein guter Psychothriller treffen muss. Mithilfe mehrerer Perspektiven gibt sie nach und nach neue Informationshäppchen, die neue Möglichkeiten von Zusammenhängen eröffnen und immer neue Theorien entstehen lassen. Über lange Strecken hinweg bleibt die Spannung hoch – und fällt dann rapide ab.

„Der heimliche Beobachter“ kann trotz starker Anlagen und viel psychologischer Spannung aufgrund der enttäuschenden Auflösung nicht auf voller Länge überzeugen.

Bewertung vom 18.03.2024
Hjorth, Vigdis

Ein falsches Wort


sehr gut

Keine leichte Kost

„Ein falsches Wort“ von Vigdis Hjorth beginnt recht harmlos und steigert sich dann mit einer auffallend distanzierten Erzählweise in die Geschichte eines Traumas hinein. Oft bedrückend, manchmal poetisch und mit jeder Seite weniger aus der Hand zu legen.

Die Protagonistin Bergljot hat eigentlich vor vielen Jahren mit ihrer Familie gebrochen, kann sich jedoch nicht vollständig entziehen. Als nach dem Tod ihres Vaters ein Erbstreit unter den anderen drei Geschwistern aufflammt, wird sie ungewollt in einen zunächst banal erscheinenden Konflikt gezogen, der sie jedoch letztlich dazu zwingt, sich erneut mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Einer Vergangenheit, die niemand in der Familie anerkennen möchte. Immer wieder aufs Neue muss Bergljot sich von ihrer Familie lossagen, die sie nie richtig gehen lassen, aber auch nicht wieder bei sich aufnehmen will – nur zu ganz bestimmten Konditionen.

Der Roman beginnt leise und unspektakulär, entwickelt aber nach und nach eine gewaltige Sogwirkung. Zunächst ist es die Neugier auf die Enthüllung des lange gehüteten Geheimnisses, die uns Lesende mitreißt. Anschließend ist es der verzweifelte Wunsch nach einem Abschluss, nach Verständnis und Anerkennung, der uns mit Bergljot mitfühlen und hoffen lässt. Die vollständige Identifizierung mit Bergljot wird nur durch die oft distanzierte Erzählweise mit viel indirekter Rede erschwert. Diese stilistische Eigenheit ist nicht ganz leicht verdaulich. Trotzdem entwickelt „Ein falsches Wort“ einen enormen Tiefgang und macht Bergljots zunehmende Verzweiflung im Angesicht himmelschreiender Ungerechtigkeit auf bedrückende Weise greifbar. Ganz im Gegensatz zu Bergljots Rolle in der Handlung ist sie die einzige Figur, um die es im Roman geht, sodass eine Charakterstudie zustande kommt, die keinen Platz für Nebenfiguren lässt. Mit Bergljot gehen wir Lesenden dafür so stark auf Tuchfühlung wie kaum sonst einmal.

„Ein falsches Wort“ ist ein eindrücklicher, ernster Roman mit viel Tiefgang. Eine klare Leseempfehlung für Menschen, die anspruchsvolle Literatur schätzen und bereit sind, sich auf eine ungewöhnliche Erzählweise einzulassen.

Bewertung vom 18.03.2024
Herwig, Malte

Austrian Psycho Jack Unterweger


gut

Lässt Raum für mehr

„Austrian Psycho“ ist kein typisches True-Crime-Buch: Anstatt dem Täter chronologisch zu folgen oder ein Verbrechen rückwirkend aufzuklären, widmet sich das schmale Bändchen dem Wirken und der Wirkung des österreichischen Serienmörders Jack Unterweger nach seiner Verurteilung und seinem Gefängnisaufenthalt. Eine interessante Entscheidung des Autors Malte Herwig, die gleichwohl einige Fragen offenlässt.

In drei Teilen dröselt Malte Herwig Unterwegers Weg vom verurteilten Mörder zum gefeierten Autor und zurück zum verurteilten Mörder auf und hinterfragt, wie es dazu kommen konnte (und wie authentisch dieses geradezu märchenhafte Narrativ überhaupt ist). Dabei schreibt Herwig teilweise nicht als er selbst, sondern nimmt die Rolle eines Autors ein, der Unterweger wie so viele im deutschsprachigen Literaturwesen auf den Leim gegangen ist – jemand, der an seine Rehabilitation glaubt und nicht zuletzt Unterwegers literarische Fähigkeiten nicht infrage stellt. Dabei steht, so deckt Herwig auf, gerade Unterwegers schriftstellerisches Können durchaus auf dem Prüfstand, wenn man genau hinsieht und die Menschen betrachtet, die Unterweger zu seinem Status verholfen haben. Dass der Journalist Herwig diesen fiktiven Ich-Erzähler, der Unterwegers Geschichte erzählt, dann mit Belegen konfrontiert, die Unterwegers Schuld oder seine Lügen nachweisen, macht die Erzählweise so interessant.

„Austrian Psycho“ ist ein ungewöhnlich erzähltes Sachbuch, das nicht durch eine detaillierte Nacherzählung von Gräueltaten zu schocken versucht, sondern die gesellschaftliche Reaktion auf einen Serienmörder in den Fokus nimmt. Das verleiht dem Werk deutlich mehr Seriosität als vielen anderen Vertretern seines Genres. Durch diesen Ansatz und die sehr knappe und vom fiktiven Erzähler persönlich gefärbte Erzählweise bedingt klaffen jedoch auch größere Lücken in Unterwegers Biografie. Gerade der Einstieg ins Buch fällt schwer für Lesende, die von Unterweger zuvor nichts gehört haben und nun quasi mitten in die Geschichte geworfen werden. Insgesamt erzählt das Buch eher episodenhaft mit vereinzelten Schlaglichtern auf bestimmten Personen und Ereignissen und gibt kein vollständiges Bild von Unterweger wieder.

Ein originell konzipiertes True-Crime-Sachbuch, das jedoch einige Fragen offenlässt.

Bewertung vom 18.03.2024
Thiele, Markus

Zeit der Schuldigen


gut

Tatsachenbasierter Krimi, der in großen Bögen erzählt wird

Mit „Zeit der Schuldigen“ verarbeitet Autor Markus Thiele einen wahren Kriminalfall und stellt die Frage, ob vor Gericht tatsächlich immer Gerechtigkeit hergestellt werden kann. Während diese zugrunde liegenden Überlegungen durchaus interessant sind und zum Nachdenken anregen, kann die Krimihandlung nicht ganz auf demselben Niveau mithalten.

Auf verschiedenen Zeitebenen und durch die Perspektiven vieler beteiligter Figuren erzählt Markus Thiele die Geschichte der 17-jährigen Nina, die 1981 mutmaßlich von ihrem deutlich älteren Verehrer vergewaltigt und ermordet wurde. Der Verdächtige ist rasch ausgemacht, doch vor Gericht reichen die Beweise nicht. Jahrzehntelang kämpft Ninas zuvor abwesender, nun jedoch reuevoller Vater für eine Wiederaufnahme des Verfahrens und eine Verurteilung des Schuldigen. Dabei stehen ihm ein Polizeikommissar und seine Nachfolgerin sowie eine Journalistin zur Seite.

Die Grundidee von „Zeit der Schuldigen“ ist eine ebenso packende wie aktuelle: Das Buch stellt unser Rechtssystem infrage und zwingt uns Lesende zu einer Auseinandersetzung mit Themen wie Rache und Vergeltung im Lichte der deutschen Justiz. Während Ninas Perspektive, die Perspektive des Opfers, durchaus zum Tragen kommt, wird das Verbrechen selbst zunächst nicht auserzählt, sodass Unsicherheit über die Täterschaft des Verdächtigen besteht. Ist es da gerechtfertigt, dass nicht nur Ninas Angehörige, sondern auch wir Lesenden ihn bereits verurteilt haben? Umgekehrt liegen so viele Beweise gegen ihn vor, dass man sich fragen muss, wie dies nicht für eine Verurteilung ausreichen kann. Diese Frage tritt im Roman stärker zutage als die Suche nach der Wahrheit und die Aufdröselung des Verbrechens selbst, was eine interessante Abwechslung im Genre darstellt. Trotzdem kann der Roman nicht ganz überzeugen: Zu viele Stimmen kommen zu Wort, zu weit holt das Buch aus – eine Spannungskurve über mehrere Jahrzehnte hinweg zu halten, ist vielleicht per se ein hoffnungsloses Unterfangen. Der Roman bemüht sich um eine so vollständige Darstellung, dass das Pointierte fehlt. Gerade dadurch liest er sich häufiger wie ein aufgepeppter Tatsachenbericht als ein Roman. Diese dokumentarische, distanzierte Erzählweise lässt keinen echten Zugang zu den Figuren und ihren Emotionen zu.

Trotz dieser Schwächen stellt der Roman durchaus eine anregende Lektüre dar und lädt vor allem dazu ein, sich mit dem echten Fall, auf dem er basiert, näher zu befassen und in die deutsche Rechtsgeschichte abzutauchen. Eingeschränkte Empfehlung für Lesende, die diese Thematik zu schätzen wissen.

Bewertung vom 18.03.2024
Haßler, Deike

Fensterbrettgarten


sehr gut

Ansprechend gestalteter Ratgeber mit vielen Tipps

Der Ratgeber „Fensterbrettgarten“ von Deike Haßler gibt Einsteiger*innen Tipps und Hilfestellung fürs Gärtnern im kleinen Rahmen – zwar insgesamt doch mehr für den Balkon als für die Fensterbank, aber doch mit einigen Anregungen für Großstadt-Gärtner*innen.

Das Sachbuch führt praxisorientiert auf, welches Arbeitsmaterial benötigt wird, auf welche Umweltfaktoren wie Standort und Bewässerung zu achten ist und welche Pflanzen sich wo besonders gut eignen. Praxistipps zu Themen wie Bewässerung in Urlaubszeiten oder Erkennen und Umgang mit Schädlingen, die Großstadtmenschen häufig begegnen, runden die Anleitung für den eigenen Minigarten ab. Daneben widmet sich das Buch der Vorstellung verschiedener Pflanzen mit ihren Eigenheiten und stellt auch einige Ideen zu ihrer Verwendung vor, beispielsweise das Trocknen von Kräutern.

Mit dem „Fensterbrettgarten“ kann man vor allem gut arbeiten, wenn man einen Balkon besitzt – für das Gärtnern auf der Fensterbank sind viele der Tipps dann doch nicht so gut geeignet. Dafür hat die Autorin allerdings viele hilfreiche Übersichten und Anregungen zusammengestellt: etwa, welche Pflanzen sich im selben Balkonkasten gut vertragen oder wie man die Sache mit der Bewässerung löst, wenn man einige Tage verreist ist. Auch Überblicksgrafiken wie die zum idealen Standort und zur optimalen Aussaatzeit gängiger Pflanzen sind enorm hilfreich, um für die eigenen Bedingungen die ideale Bepflanzung zusammenzustellen. Insgesamt liest sich der Ratgeber locker und gut verständlich, wenn auch hier und da etwas floskelhaft.

Fazit: ein hilfreicher Ratgeber für Menschen, die auch mit wenig Platz und Erfahrung in der Stadtwohnung gärtnern möchten. Ein Balkon ist allerdings doch von Vorteil.

Bewertung vom 28.02.2024
Fforde, Jasper

Rot / Die Farben Bd.2


ausgezeichnet

Ein Feuerwerk skurrilen Humors in einer bizarren Welt

Wer den ersten Teil von Jasper Ffordes Farben-Reihe mit dem Titel „Grau“ noch nicht gelesen hat, sollte das schleunigst nachholen, bevor er sich in „Rot“ stürzt. Nicht nur hängen die beiden Teile eng zusammen und die Kenntnis von Band 1 hilft dem Verständnis von Band 2, man würde sich auch eines unermesslichen Lesevergnügens berauben, wenn man Band 1 ausließe.

In „Rot“ tauchen wir Lesenden tiefer in die bizarre Welt von Chromatacia ab, die Jasper Fforde in „Grau“ vor uns ausgebreitet hat: eine hierarchische Gesellschaft, aufgeteilt nach der Fähigkeit ihrer Mitglieder, bestimmte Farben zu sehen, und mit einem strengen Regelwerk, das kaum Individualismus zulässt und bedingungslos zu befolgen ist – ganz gleich, wie widersprüchlich und absurd eine Regel auch sein mag. An Absurditäten mangelt es in „Rot“ wahrhaftig nicht: Auf jeder Seite verbirgt sich eine neue Kuriosität. Mal bringen die bizarren Entwicklungen uns Lesende zum Lachen, mal bleibt es im Halse stecken. Denn das Leben in Chromatacia ist für die Hauptfiguren Eddie und Jane wahrhaftig kein Zuckerschlecken. Wild entschlossen, sich der Diktatur zu stellen und das Geheimnis hinter der bizarren Weltordnung zu lüften, stürzen sich die beiden in einen Kampf, der aussichtslos scheint. Und das, ohne je den Humor zu verlieren.

Bizarrer Humor ist das auszeichnende Kriterium von Jasper Ffordes Romanen, und so brilliert auch „Rot“ mit absurden Entwicklungen und wunderbaren Figuren, die selbst im Angesicht des drohenden Todes (der ungefähr einmal pro Kapitel eintritt) noch trockene Kommentare von sich geben können. Dem Fingerspitzengefühl des Autors ist es zu verdanken, dass die Gefahren des Romans trotzdem nie banalisiert werden. Eddie und Jane nehmen die faschistische Gesellschaft von Chromatacia zwar mit Humor, aber sie lassen uns Lesende nie vergessen, dass die Diktatur gestürzt werden muss. Der gekonnte Genre-Mix aus Dystopie, Urban Fantasy und Gesellschaftssatire mit einer Prise Science-Fiction lässt die Welt von Chromatacia in den schillerndsten Farben zum Leben erwachen. Ffordes brillantes Worldbuilding in Kombination mit seiner prägnanten Figurenzeichnung und seinem fabelhaften Humor lassen „Rot“ zu einem Buch werden, dessen Fortsetzung man gar nicht genug entgegenfiebern kann.

„Rot“ ist ein furioser Roman, der vor teils feinsinnigem, teils absurd-komischem Humor nur so sprüht. Nie wurde das Leben in einer Diktatur so lustig dargestellt, ohne ihren Schrecken ins Banale verkommen zu lassen.

Bewertung vom 19.02.2024
Langer, Andreas

Schneekinder


sehr gut

Ein phantastischer Entwicklungsroman für junge Lesende

Selten schneidet ein Buch mit einer jungen Zielgruppe (ab 11 Jahren) so offen so viele ernste Themen an wie „Schneekinder“ von Andreas Langer: Krieg, Flucht, Tod und Verrat sind allgegenwärtig während der beschwerlichen Reise einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen durch das ans mittelalterliche Island angelehnte Jorland.

Der Krieg in Jorland hat die Kinder und Alten allein in den Dörfern zurückgelassen. Auf sich selbst gestellt, kämpfen sie in der rauen Natur täglich ums Überleben. Doch als eine tödliche Gefahr aus einem nahen Berg die 14-jährige Elin dazu zwingt, mit einer Gruppe verängstigter Kinder die Flucht durch Eis und Schnee anzutreten, spitzt die Lage sich zu. Nicht nur das, was ihnen folgt, bereitet der Gruppe Schwierigkeiten: Mehr und mehr brodeln interne Konflikte an die Oberfläche, die die Gemeinschaft zu zerreißen drohen. Elin, die ungewollt zur Anführerin wird, muss schwierige Entscheidungen treffen und lernen, über sich selbst hinauszuwachsen. „Schneekinder“ ist somit nicht nur eine phantastische Abenteuergeschichte, sondern zugleich ein Roman über das Erwachsenwerden.

Dem Roman gelingt es über lange Strecken hinweg, eine bedrückende und zugleich märchenhafte Atmosphäre aufrechtzuerhalten, die die großen Themen Krieg und Flucht anschaulich illustriert: Grundbedürfnisse wie Kälte und Hunger stehen neben moralischen Fragen nach Solidarität und Menschlichkeit in existenziellen Krisen. Die Gruppendynamik, die stets präsent ist, bietet daneben viel Raum für zwischenmenschliche Konflikte: Fremdheit und Empathie, Anführerschaft, Generationenkonflikte, Neid und nicht zuletzt Solidarität sind hier Thema. So viele Konflikte (und gerade so viele ernste Konflikte) auf engem Raum, dicht an dicht mit phantastischen Elementen, bedrohlichen oder überraschenden Begegnungen im wilden Jorland sowie der drohenden Gefahr im Rücken lassen den Roman manchmal etwas überfrachtet wirken – insbesondere überfrachtet mit Traumatischem: Manch eine Figur scheint einzig und allein deshalb aufzutauchen, um eine weitere Dimension des Schreckens zu veranschaulichen. Nichtsdestotrotz ist „Schneekinder“ ein beeindruckendes Buch: Offen, aber nicht schonungslos zeigt der Roman auf, was Angst mit Menschen machen kann. Die Schilderung durch die Augen der jugendlichen Protagonistin Elin, die viel zu schwere Entscheidungen treffen muss, hat etwas Anrührendes. Dass ihr Bruder Kjell daneben noch einen eigenen Handlungsstrang bekommt, der eher dem klassischen Abenteuerroman gleicht, wirkt dadurch fast nur noch wie Beiwerk.

„Schneekinder“ ist ein ehrgeiziger Jugendroman, dem vieles hervorragend gelingt, der stellenweise jedoch etwas zu viel möchte. Das besondere Setting und die überzeugende Hauptfigur machen ihn dennoch trotz kleiner Schwächen zu einem Roman, den man nicht so schnell wieder vergessen wird.

Bewertung vom 11.02.2024
Shapiro, Dani

Leuchtfeuer


sehr gut

Zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Wer chronologisch erzählte Geschichten mag, sollte die Finger von Dani Shapiros „Leuchtfeuer“ lassen. Wen ein wenig Sprunghaftigkeit jedoch nicht stört und wer Wert auf glaubhafte Figuren und eine emotional berührende Handlung legt, wird diesen Roman sicher genießen.

Auf den unterschiedlichsten Zeitebenen und durch die Augen der unterschiedlichsten Figuren erzählt Dani Shapiro die Geschichte einer Familie, deren Schicksal von nur einem tragischen Ereignis geprägt ist: Ein schrecklicher Verkehrsunfall in den Teenagerjahren der Geschwister Theo und Sarah bestimmt nicht nur ihren Lebensweg vorher, sondern zugleich auch den ihrer Eltern Ben und Mimi. Anstatt die Last gemeinsam zu tragen, kämpft jeder von ihnen allein und auf seine Weise mit den Schuldgefühlen. Für Ben scheint sich schließlich ein Lichtblick am Horizont in Gestalt des Nachbarsjungen Waldo zu zeigen – ist es möglich, das Schicksal anderer auch auf positive Weise zu formen?

„Leuchtfeuer“ behandelt Themen wie Schuld und Trauma und stellt die Frage in den Mittelpunkt, wie sich damit umgehen lässt – und wie nicht. Durch den ganzen Roman zieht sich das Thema des „Alles-mit-sich-selbst-Ausmachens“, das keiner der betreffenden Figuren guttut. Auf behutsame Weise lässt Dani Shapiro ihre Figuren erleben, dass die Verbundenheit mit anderen Menschen ein mächtiges Heilmittel sein kann. Die Erzählweise, die stetig zwischen Zeitebenen und Perspektiven hin und her springt, unterstreicht diese Aussage anschaulich. Zugleich ist es aber auch diese sprunghafte Erzählweise, die bisweilen eine große Distanz zwischen uns Lesenden und den Romanfiguren aufkommen lässt: Hat man sich gerade in eine Figur hineingefühlt, wechselt die Erzählung ganz woandershin. Hier und da hätte es dem Roman gutgetan, dichter an den Figuren zu bleiben, die ansonsten so überzeugend und lebensnah wie selten gezeichnet sind.

Abgesehen von dieser leichten Schwäche kann „Leuchtfeuer“ auf ganzer Linie überzeugen als ein Roman, der eine zutiefst menschliche Saite in seinen Leser*innen zum Klingen zu bringen vermag. In poetischen Worten und mit einem feinen Gespür für die menschliche Psyche zündet Dani Shapiro ein wahres literarisches Leuchtfeuer.