Bestandsaufnahme statt Zukunftsvision im globalen Dorf.
Ein einsames Dorf, irgendwo im beginnenden Nirgendwo. Eine riesige Hecke, hoch wie ein Leuchtturm, in baumloser Weite. Leerstehende Häuser. Eine Pension ohne Gäste. Dort leben nur noch wenige Erwachsene, zwei kleine Kinder und ein Hund. Auf der Landkarte nur noch als winziger grüner Strich zu entdecken. „Das geht nicht nur uns so. Auch andere Orte verschwinden, Inseln gehen unter, Berge zerbröseln zu Steinklumpen, Klümpchen, zu Staub.“ Alles schwindet. Nur die Hecke wächst. Hinter der großen Hecke vermutet die kleine Pina die Welt. Was tut sie? Was ist der Plan? Gibt es überhaupt einen?
Ihre Mutter arbeitet auf einem Forschungsschiff in der Arktis.
Gianna Molinaris Wissenschaftler, Meeresbiologen, Geologen u.a. versuchen, die Erde, die Natur, rückwärts zu verstehen, denken aber nicht vorwärts. Zumindest wird keine Zukunftsvision angedeutet. Oder soll der Verweis auf die Zugvögel uns sagen, einst werden Beduinen unsere Lehrmeister sein? Ihre Figuren erzählen ständig, sie stellen sich dies und jenes vor zu tun, aber sie verändern nichts. Weil sie keine Zukunft haben? Weil sie resignieren?
Antworten gibt die Autorin nicht. Wir tragen das Wissen um den Zustand unserer Erde in uns.
Gianna Molinari vermengt viele Zutaten für eine Geschichte, die ein Roman werden sollte, wie für eine Bouillabaisse àla Arctica. Jeweils ein paar Gramm Inspirationen aus Nils Holgersson, dem Kleinen König, der Insel der besonderen Kinder, aus Dokumentarfilmen, Zeitungsmeldungen aus den Rubriken, Wissenschaft, Kurioses und Vermischtes u.a.m. Doch das Ergebnis blieb für das große Format dann doch zu klein. Wie die Kinder im Dorf mit der Hecke. Alles ist wie von einem Schlafrock umhüllt und hat beim Verzehr einen dumpfen, trägen, ermatteten, hoffnungslosen Sound.
Die abstrakte Symbolik auf dem Cover war für mich nicht kaufanregend.
Während der Lektüre verstand ich sie allerdings sehr gut. Sie hätte durchaus eindeutiger sein können, denn unser Umwelt-und Klimaproblem ist längst nicht mehr abstrakt.
Ein Roman wie ein Blick in den Spiegel der Zukunft.
Resteuropa Ende des 21. Jahrhunderts. Westresteuropa liegt unter grauen Wolken und leidet durch ewigen Regen. Ostresteuropa ist eine Steppe unter knallblauem Himmel und leidet durch ewige Trockenheit. Ein Gürteltier überquert die Straße, die von autonomen Elektroautos befahren wird.
Die Meeresspiegel steigen an. Jütland ist untergegangen. So haben sich Nord-und Ostsee zu einem Meer vereint.
Frauen befinden sich meist in höheren Positionen, Männer fast nur in Dienstleistungsjobs.
Die Menschen sind emotions- und empathielos geworden. Sie sind nicht mehr in der Lage zu trauern. Sie können ihre verstorbenen Angehörigen nicht mehr beweinen und stellen Vorweiner ein, die durch Agenturen vermittelt werden. Diese Menschen mussten wegen schlechter Lebensbedingungen aus ihren Ländern nach Resteuropa flüchten. Verstorbene werden nicht mehr beerdigt. Die Erklärung dafür ist nicht sehr überraschend. Ihre Asche wird verstreut. Je überzeugender und ansteckender der Vorweiner bei den Zerstreuungsfeiern weint, desto angesehener wird der Beweinte im Nachhinein in der Gesellschaft.
Bov Bjerg erzählt diese düstere Zukunftsvision mit sehr feinem Humor und augenzwinkerndem Sprachwitz, dass es eine sehr unterhaltsame Freude war, diesen Roman zu lesen. Auch, wenn einiges noch etwas unausgegoren wirkte.
Die Buchgestaltung (Cover, Einband, Vorsatz) in den Farben Schwarz, Rot, Gold finde ich passend und gelungen. Rundherum empfehlenswert.
Weltstar Ute Lemper scheint uns mit ihrer Autobiografie zuzurufen: Willkommen! Bienvenue! Welcome! in den Erinnerungen meines Lebens.
Und ihr künstlerisches und privates Leben ist so umfangreich, dass dieses Buch uns natürlich nur ein paar wenige, aber sehr interessante Einblicke geben kann.
In 60 Jahren hat sie eine Menge Zeitgeschichte miterlebt, hat viele unterschiedliche Künstler*innen aus verschiedenen Ländern und Kontinenten getroffen und kreativ in gegenseitiger Inspiration mit ihnen zusammengearbeitet.
La Lemper präsentiert mit diesem Buch eine Zeitreise durch ihre Erinnerungen, die beim Lesen so einiges an zeitgeschichtlichen Erlebnissen im eigenen Gedächtnis antippen.
Das Buch empfand ich dort am besten, am stärksten, am eindrucksvollsten, wo Passagen aus ihrer ersten Autobiografie „Unzensiert“ (1995) eingeflochten wurden.
Ihre kreative und teilweise poetische Sprache, die allerdings zu oft ins Kitschige abgleitet, trübt die Lektüre etwas, passt aber zu der Künstlerin die sie ist.
Kein standing Ovation, aber herzlicher Applaus.
„Chef‘s Special“ ist eine Kochshow, die in Los Angeles für das landesweite amerikanische Fernsehen gedreht wird und ein geeignetes Setting, um unterschiedliche Menschen zusammenzuführen.
Dahlia Woodson ist frisch geschieden, hat ihren Job gekündigt, ist so gut wie pleite und möchte unbedingt die Siegprämie von einhunderttausend Dollar gewinnen. Die Romanfigur der Dahlia Woodson ist etwas crazy, leicht überdreht, redet viel und schnell und tappt öfter mal in ein paar Fettnäpfchen. Im Grunde ist sie eine unglückliche Seele, die krampfhaft versucht, mit der zur Schau gestellten Coolness und ihrem Humor, von ihrer Unsicherheit und ihren Problemen abzulenken.
London Parker ist die erste nonbinäre Person, die an dieser TV-Show teilnimmt und sich öffentlich outet, in dem London die zutreffenden Pronomen nennt.
Dahlia und London lernen sich mit der Zeit immer besser kennen und kommen sich nicht nur an den Kochinseln im Fernsehstudio näher.
Das Thema LGBTQIA+ ist ein zentraler Punkt im Rezept für diese RomCom, die mit pikanten und erotischen Zutaten, gewürzt mit Humor und Esprit, für Leser*innen jeden Alters bekömmlich ist.
Vielleicht erleben wir es ja noch, dass unterschiedliche Menschen mit verschiedenen Identitäten akzeptiert werden und dass Einordnungen in Kategorien nicht mehr nötig sind.
Nach über 2000 Jahren Menschheitsgeschichte sollte es kein Problem sein, Personen mit denen von ihnen gewählten und bestimmten Namen und Pronomen anzusprechen. Das Leben und Lieben wäre für alle einfacher und angenehmer. Der Originaltitel „Love & Other Disasters“ wäre ohnehin treffender für die Geschichte, die Anita Kelly sehr flott, humorvoll und einfühlsam erzählt.
Anita Kelly dankt im „Abspann“ Hetty Windley „ … für ein Cover, das mir den Atem geraubt hat, und dafür, dass meine beiden so verdammt heiß aussehen.“
Und: LGBTQIA+-Flagge zeigen! ist eine schöne Idee für die Cover-Gestaltung und des HarperCollins Verlages.
All jenen, die Appetit auf diesen Roman bekommen haben, wünsche ich eine genussvolle Lektüre.
Vom Zusammenwachsen des Schreibens mit dem Leben.
Wie viel autobiografisches der Autorin steckt in ihren Büchern? Eine der immer wiederkehrenden Fragen, die wir uns stellen. Wollen wir es wirklich wissen und wenn ja, wie befriedigend können Antworten darauf sein?
Judith Hermann hat sich für die Frankfurter Poetikvorlesungen darauf eingelassen und erzählt in einer klaren und authentischen Sprache vor allem „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben.“
Auch Schreibende brauchen ihre privaten Schutzräume und so projizieren sie ihre Wünsche, Träume und Imaginationen auf ihre Figuren, die ein stellvertretendes, ein eigenes Leben entwickeln, in dem Wahres und Fiktives miteinander verwoben wird, so dass eine Symbiose von Leben und Schreiben entsteht, bei der man am Ende den Unterschied zwischen Erlebtem und Erdachtem nicht mehr benennen kann. Das muss man auch gar nicht, denn in der Literatur kommt es nicht auf die eine Wahrheit an, sondern auf Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit, auf das nachvollziehbare Gefühl, das vermittelt wird.
Das Geschichtenerzählen ist seit jeher in unserem Sozialleben tief verwurzelt. Welche Geschichte man wie erzählt, hat vor allem mit einem selbst, seinem Gegenüber und dem Augenblick, einem bestimmten Zeitpunkt im Leben, einem besonderen Anlass zu tun. Was man nicht direkt sagen kann, kleidet man in Geschichten, vor allem, wenn man einen der seltenen Momente verpasst hat, in denen man sich hätte alles sagen können.
Das Cover, ein Ausschnitt des Gemäldes „Squall“ des amerikanischen Malers Andrew Wyeth, vermittelt ein beruhigendes Gefühl, obwohl sich draußen über dem Meer ein Unwetter zusammenbraut. Eine wunderbare, fast poetische Metapher für das Zurückziehen an einen sicheren Ort, von dem aus man die Unbill der Natur beobachten kann, genauso wie man im stillen Zimmer ein Buch aufschlägt und sich lesend in die Welt des Schreibenden hinein begibt.
Ein anregendes, ein interessantes, ein empfehlenswertes Buch.
Die Biografien vieler Menschen ähneln sich. Historische Geschichte und Familiengeschichten wiederholen sich ebenso wie Konflikte zwischen Menschen, Familien und Gesellschaften über viele Generationen immer wieder.
Sabrina Janesch erzählt in ihrem Roman „Sibir“ spannend, einfühlsam und authentisch das ereignis- und erlebnisreiche Leben des Josef Ambacher, das stellvertretend für unzählige vertriebene, verschleppte, geflüchtete Menschen, die Opfer von Kriegen und Willkür wurden, steht.
Die Autorin beschreibt die Verschleppung deutscher Zivilisten durch die Rote Armee, die diese Menschen 1945 in Viehwaggons nach Sibirien transportierte und wie diejenigen, die diese wochenlange Fahrt überlebt haben, in der Kasachischen Steppe unter Aufsicht der Sowjets versuchten weiter zu leben. Wer sich nicht an die Regeln hielt, wurde in einen Gulag (Straf- und Arbeitslager) geschickt.
Durch das Abkommen Konrad Adenauers mit Nikita Chruschtschow durften die Zivil-und Kriegsgefangenen 1955 nach Deutschland ausreisen.
Als 1990/91 nach dem Zerfall der Sowjetunion Russlanddeutsche Aussiedler im deutschen Mühlheim ankommen, in dem Josef Ambacher mit seiner Familie lebt, werden Erinnerungen wach.
Knapp 30 Jahre später wird Josef Ambacher dement und seine Tochter versucht ihm einige Erinnerungen an seine Kindheit zu entlocken, um sie aufzuschreiben und diese Zeit zu rekonstruieren. Die Zeitzeugen sterben langsam aus. Umso wichtiger ist es, so viele Details wie möglich aufzubewahren und weiter zu reichen.
Ich bin begeistert von diesem sehr guten Buch zu einem wichtigen und interessanten Thema. Leseempfehlung!
Für das Cover hätte ich mir ein Motiv der Steppe Kasachstans gewünscht, denn die hat den Protagonisten nie losgelassen.
Iris Sayram, Journalistin und Rechtsanwältin, hat einige ihrer Erinnerungen über ihre Kindheit und ihr Aufwachsen in den 1980er und 90er Jahren aufgeschrieben.
Wie das Cover vermuten lässt, steht ihre Mutter im Mittelpunkt, der sie das Buch auch gewidmet hat.
Mutter Irmtraud, Jahrgang 1939, deren Vater auf Bildung keinen Wert legte, musste nach sieben Jahren in der Schule arbeiten gehen, um die Familie finanziell zu unterstützen. Das sollte sich durch ihr gesamtes Leben ziehen.
Zwei frühen Ehen scheiterten, zu ihren Kindern aus diesen Beziehungen verlor sie jeglichen Kontakt. Als sie trotz Jobs obdachlos war, lernte sie in Köln Mustafa kennen, durch den sie ein Zimmer bei dessen Vermieterin bekam. Er war einer der ersten Gastarbeiter aus der Türkei und arbeitete zunächst bei „Ford“. Später gleitet er ins Zockermilieu hinüber und hat kein regelmäßiges Einkommen mehr.
Die beiden verliebten sich ineinander und bekamen Tochter Iris. Die kleine Familie lebte in finanziell armen Verhältnissen. Die Eltern, besonders die Mutter, versuchte unermüdlich dafür zu sorgen, dass es der Tochter an nichts fehlte. „Für euch“ mache ich das, sagte die Mutter oft. Und aus Bewunderung für das Durchkämpfen durch ein so schwieriges, trauriges Leben, mit tragischen Ereignissen, und aus Dankbarkeit für ihre Eltern, schrieb Iris Sayram dieses Buch „Für euch“.
Sie erzählt in einer einfachen Alltagssprache, selbstironisch-und kritisch, ohne wehleidig zu werden, wie aus einer, die eigene Seele schützenden, Abwehrhaltung heraus. Denn, obwohl Kinder nichts dafür können, wer, was und wie ihre Eltern sind, sind sie ihr peinlich gewesen. Und es ist ein berechtigter Stolz zu spüren, dass sie, obwohl niemand ihr das zugetraut hatte, Abitur, Studium und finanzielle Selbständigkeit erreicht hat.
Ein Buch, das uns aufzeigt, auch in scheinbar ausweglosen Situationen, kann man Lösungen finden und sollte nicht zu schnell aufgeben.
Trotz all der Dramatik hat man durch den flüssigen Erzählstil eine gute Lesezeit.
Die Lebensrevue eines Mannes ummantelt von 100 Jahren Jahren historischer Geschichte.
Am Beispiel der Lebens- und Familiengeschichte des Roland Baines, eines einfachen Mannes und alleinerziehenden Vaters eines Sohnes, erzählt Ian McEwan sehr ausführlich und spannend über die großen Ereignisse eines Jahrhunderts. Er zeigt auf wie sich das persönliche Leben der Menschen und die Auswirkungen politischer Entscheidungen, Umweltkatastrophen u.a. gegenseitig beeinflussen.
Nach der Lektüre fragte ich mich: Entstand dieser Roman aus Wut, Verzweiflung und Unverständnis darüber, dass die Menschen nichts aus der historischen Vergangenheit lernen und Gesellschaften und die Umwelt immer weiter zugrunde richten? Sollte das Buch eine Bestandsaufnahme sein, eine Zwischenbilanz, um aufzuzeigen, seht her, wir wissen über alles bescheid und handeln dennoch wie ignorante Egoisten, die entweder völlig desinteressiert sind oder aus Angst vor der Zukunft die Hände in den Schoß legen, in der Hoffnung, es wird schon nicht so schlimm werden?
Ist das unsere „… ein neues Zeitalter der Unvernunft.“? Denn wir wissen, Geschichte wiederholt sich und geht uns auch heute etwas an.
Bei all dem verständlichen Pessimismus, verwehrt Ian McEwan uns dann doch nicht einen kleinen versöhnlichen Hoffnungsschimmer, wenn wir bereit sind ein paar Lektionen zu lernen und Verantwortung für uns selbst und andere zu übernehmen.
Ein Roman, den man sehr empfehlen kann.
Ein Leben in der eigenen Familie wie unter Fremden.
Von den Büchern „Was fehlt dir“, „Der Freund“ und „Sempre Susan“ hat mir „Eine Feder auf dem Atem Gottes“ von Sigrid Nunez am besten gefallen.
Dieser sehr poetische Titel scheint so gar nicht zum Erzählten zu passen.
Die Autorin beschreibt wie ihre Mutter sich manchmal in Situationen, in denen sie zu verzweifeln schien, fragte, wie bin ich nur hierher geraten (in diese Ehe, in dieses Land, in die jeweilige Situation), als sei sie wie eine Feder dorthin geweht worden. (Inspiriert vom Zitat: „Eine Feder auf dem Atem Gottes“ von der Heiligen Hildegard von Bingen.)
Es fühlt sich gar nicht gut an, wenn man in einer disharmonischen Familie aufwächst, die Eltern sich ständig streiten, weil sie unzufrieden mit ihren Leben und dem finanziell ärmlichen Dasein in Amerika sind, diesem Land, in das sie in den 1950er Jahren eingewandert sind und das ihnen, dem Vater auch sprachlich, immer fremd bleiben sollte. Die Mutter ist Deutsche, der Vater halb Chinese, halb Panamaer. Und so flüchtet sich die Tochter, die sich in dieser Familie auch nicht heimisch fühlt, in Träume, Geschichten und in das Ballett-Tanzen.
Davon erzählt Sigrid Nunez in ihrem autobiografischen Roman sehr eindrucksvoll, in einer sehr klaren Sprache, die nichts beschönigen und nichts vertuschen will. Sie schreibt Geschichten aus ihren Erinnerungen und Recherchen und manchmal nur fragmentarisch über Erlebnisse, an die sie sich nicht mehr vollständig erinnern kann, die das Gesamtbild sehr gut ergänzen. Beim Lesen überträgt sich die Traurigkeit der Protagonistin auf ihre LeserInnen.
In einer Familie aufzuwachsen, mit sehr unterschiedlichen Eltern, in der Zuneigung und Verständnis füreinander fehlen, prägt das die Kinder auf eine nicht zuträgliche Weise.
Dies ist nicht nur ein persönliches, sondern auch ein gesellschaftlich relevantes Problem.
Ich kenne das Original („A Feather On The Breath Of God“, HarperCollins, 1995) nicht, hatte aber an manchen Stellen im Text das Gefühl, dass die Übersetzung nicht besonders gut gelungen ist.
Nachdem ich mit dem Cover zunächst nichts anfangen konnte, hatte ich während des Lesens dann eine Idee, wie ich die Abbildungen darauf interpretieren könnte, was ich hier nicht erläutern werde, weil ich jedem die Freude lassen möchte, die eigenen Gedanken schweifen zu lassen.
Diese Lektüre ist sehr inspirierend, eigene Erinnerungen aufzuschreiben.
Melbourne. Hitze. 40 Grad Celsius. Buschfeuer bedrohen die Menschen, deren Häuser, die Stadt.
Drei Frauen unterschiedlicher Generationen sitzen im klimatisierten Theater und sehen das Beckett-Stück „Glückliche Tage“. Endzeitstimmung. Die Szene spiegelt die Umwelt-und Klimakatastrophe vor der Tür. Die Frauen im Publikum lassen ihre Gedanken schweifen. Sehen die Szenen auf der Bühne, eine Frau ist eingegraben, nur ihr Oberkörper ragt aus einem Grashügel heraus, aus ihren jeweiligen Blickwinkeln ihrer Lebenserfahrungen.
„… weil sie heute vielleicht gehört wird, also wird sie stillhalten und sprechen. Sie wird unter der Erde stillhalten und gegen das Unglück anreden, das sie ereilt hat.“
Die einen reden gegen das Unglück öffentlich an, die anderen unterschreiben diverse Online-Petitionen. Sesselaktionismus.
Der ganze Themenkatalog der globalen Probleme unserer Zeit kommt im Buch zur Sprache. Klimawandel, Umweltverschmutzung, Rassismus, Feminismus, Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch …
„Der Klimawandel ist die moralische Schlüsselfrage der Epoche.“
Die Zuschauer inszenieren sich in der Pause zwischen den beiden Akten selbst, als hätten sie vergessen, was sie soeben gesehen und erlebt haben. Sie folgen einer gesellschaftlich anerkannten Dramaturgie. Man trinkt Champagner, hält Smalltalk, knüpft Verbindungen, die für die Karriere und den guten Ruf nützlich sein könnten.
Mir gefällt die Idee, das Beckett-Stück als roten Faden zu nehmen, an dem entlang die Geschichte erzählt und über die Themen philosophiert wird.
Die Autorin stellt Fragen und gibt auch Antworten, was nicht nötig gewesen wäre, weil die Leserinnen und Leser sie sich längst selbst gestellt haben. Ich hätte gerne einen eigenen Interpretationsspielraum und möchte nichts vorgeben bekommen.
Insgesamt hätte ich mir eine umfangreiche Wortwahl und eine Sprache, die literarischer ist, gewünscht.
Der unterhaltsame, der sehr heutige Roman endet wie das Beckett-Stück. Was wird aus uns? Wie wird es weitergehen? Wird es weiter gehen?
Ich leihe mir das Zitat von Bertolt Brecht, das durch Marcel Reich-Ranicki berühmt gewordene Schlusswort: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen/Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
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