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Der Medienblogger
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- Alles rund um Medien Für alle Serienjunkies, Leseratten, Kinoliebhaber, Eurovisionfans und Lautaufdreher genau das Richtige. Website: http://medienblogger.wixsite.com/jstreb.

Bewertungen

Insgesamt 132 Bewertungen
Bewertung vom 23.11.2020
Die Wälder
Raabe, Melanie

Die Wälder


gut

Den Bratapfel-Tee aufgießen, die in leere Glasflaschen gesteckten Kerzen anzünden, die Lichterkette anschalten, den Vorhang vor die klirrende Kälte ziehen – und dann steht mir und einer perfekten Herbstlektüre nichts mehr im Wege. Ob das Buch trotz einiger negativen Rezensionen seinen Anspruch als atmosphärischer Thriller erfüllen kann?


Der Wald als mysteriöser Ort des Schreckens

Schnell wird klar, dass der Wald Geheimnisse und Schrecken birgt. "Geh niemals alleine in den Wald", wird die ein oder andere besorgte Mutter mit erhobenem Zeigefinger zu ihren Jüngsten gesagt haben. Sie ist sich der Gefahr des düsteren, verlorenen Orts bewusst. Die Abgeschiedenheit des Spielorts, der Schrecken, den die Hauptfiguren mit dem Wald verbinden, noch nicht abgeschlossene Kriminalfälle und Blutspuren zwischen den Bäumen – all diese Elemente verdichten sich zu einem stimmungsvollen Ganzen, dem man sich nur schwer entziehen kann.


Melanie Raabe hat einen mitreißenden Schreibstil, der schnell süchtig macht. Es ist ein spannendes Buch für Zwischendurch, da es sich gut "weglesen" lässt und nicht viel Aufmerksamkeit erfordert. Geschickt verwebt sie zwei Zeitebenen ineinander und ergänzt handlungstechnische Entwicklungen durch entsprechende Anekdoten aus der Vergangenheit.


Freundesclique à la der "Club der Loser"
Die dreiköpfige Clique, die nach dem überraschenden Tod ihres ehemaligen Freundes wieder zu ihrem Heimatort zurückkehrt und endgültig mit dem Schrecken abschließen möchte, erinnert in Stücken dem "Club der Loser" aus Stephen Kings «Es». Sie sind älter, reifer geworden; tragen in ihrem Herzen aber noch dieselbe verbitterte Angst wie vor all den Jahren.


Die Handlung wird aus zwei verschiedenen Perspektiven wiedergegeben, um den Leser:innen zu jeder Zeit ein vollständiges Bild über die Gefühlswelten der Protagonist:innen zu ermöglichen. Nina bleibt für mich jedoch bis zum letzten Kapitel ein blasser und nur wenig charismatischer Charakter. Auf viele Informationen über Eigen- und Leidenschaften wartet man vergeblich: Diese hätten sie als Figur lebendig und vielschichtig erscheinen lassen.


Wo bleibt der Nervenkitzel?

Das Problem am vorliegenden Buch: Die Handlung verläuft zu linear. Ich hätte mir gewünscht, dass «Die Wälder» mutiger vorgeht und die schnell vorhersehbaren Pfade verlässt. Aber nein, das Buch hat nur wenige Überraschungen zu bieten; die Suche nach schockierendem Nervenkitzel ist in diesem Thriller vergeblich.


Das Ende zieht sich stark in die Länge; die letztendliche Wendung bahnt sich schon lange im Voraus an und konnte mich nicht wirklich begeistern. So ist es die gemächlich herankriechende Ungemütlichkeit und Kälte, die von den Wäldern ausgeht und die das Buch kurzweilig machen. Einige Ausbrüche aus gewohnten Umständen hätten die Handlung aber undurchsichtiger, komplexer und anspruchsvoller gemacht. So ist es eine leichte Kost für Zwischendurch, die ich schnell wieder vergessen haben werde.



«Die Wälder» sind ein ungemütlicher, schaurig-atmosphärischer Ort – schade daher, dass die Handlung so stereotyp und vorhersehbar daherkommt.

Bewertung vom 22.10.2020
Sag was!
Steffan, Philipp

Sag was!


weniger gut

Sollen menschliche Eigenheiten unterbunden werden, steht eine Ideologie über Wertepluralismus und Toleranz, ist die Demokratie in unserem Land gefährdet. Es häufen sich immer wieder Fälle, in denen Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Sexualität, Religion und des Aussehens eine andere Behandlung zuteil wird – wenn Unterschiede zwischen Personen als ein bedrohliches und spaltendes Element und nicht als etwas, was uns alle miteinander verbindet, gesehen wird. Dabei sind wir alle unterschiedlich und das ist auch gut so: Es macht uns menschlich.

Verschiedenen Gruppen den Dialog miteinander ermöglichen, den versöhnlichen Schritt aufeinander zu wagen: das könnte eine Lösung für die stets verbreitete Angst vor dem Fremden sein. Wir sehen meist nicht die Individuen, sondern ein von Vorurteilen und Erwartungen gestütztes Schubladenbild. Wann müssen wir das Gespräch mit einer im Fremdenhass festgefahrenen Person aufsuchen, wenn jeder sonst schweigt? Wann habe ich selbst die Verantwortung, für meine Überzeugungen einzutreten und die Demokratie als hohes Gut zu verteidigen? "Sag was!" versucht, genau diese Fragen zu beantworten.

Mit der Grundaussage kann ich mich voll und ganz identifizieren: Gegen Rechtpopulismus müssen wir gebündelt vorgehen und dafür sorgen, dass die Freiheit einers jeden gewahrt bleibt. Trotzdem muss manfrau von Situation zu Situation die Notwendigkeit abwägen, ob und inwiefern sich ein Einklinken in die politische Debatte lohnt.

Mit gut achtzig Seiten Länge bleibt das vorliegende Buch aber in weiten Strecken thematisch zu sehr an der Oberfläche. Weitgehende Teile des Inhalts lassen sich durch gesunden Menschenverstand erschließen, wenn man bei den Gesprächsregeln in der Grundschule etwas aufgepasst hat. Mir erschließt sich die Frage nach der Zielgruppe nicht: An wen richtet sich dieser Ratgeber? Zudem hätte ich mir mehr und ergiebigere Quellen gewünscht, um die Argumentationslinie deutlicher nachvollziehen zu können. Somit wirken viele Ausführungen sehr spekulativ.

Zudem häufen sich einige inhaltliche Probleme in "Sag was!": Autor Philipp Steffan bringt einige Beispiele an, die die Notwendigkeit aufführen, Asylbewerberinnen in unsere Gesellschaft einzugliedern. Dieses solidarische Verhalten ist an sich ja gut und richtig. Indem er sich jedoch in gut 75% aller inhaltlichen Beispiele auf die fälschlicherweise als "Flüchtlingswelle" bezeichneten Gesellschaftsgruppe bezieht, diffamiert er sie als einziges Problem unseres Miteinanders: Und genau das ist falsch.

Zudem, und da möchte ich inhaltlich meine vollste Zustimmung ausdrücken, ist "Sag was!" auch ein Plädoyer für die Verwendung gendergerechter Sprache. Es ist 2020 längst an der Zeit, allen Geschlechtern den gleichen Platz zum Entfalten in unserem alltäglichen Vokabular einzuräumen. Dabei ist ein Gendersternchen für mich weniger als Einschränkung, sondern mehr als eine Erweiterung unseres sprachlichen Horizonts zu werten. Daher fällt es umso negativer auf, wenn man*frau sieht, wie inkonsequent und ignorant hier vorgegangen wurde: Das generische Maskulinum ist häufig die einzige verwendete Form.

Kurz gesagt: Viel gewollt, wenig gewonnen. Informationstechnisch konnte ich nur wenige neue Erkenntnisse gewinnen; teilweise schreckten mich die Darstellungen sogar eher ab. Leider gibt es für mich daher heute keine Leseempfehlung.


«Sag was! Radikal höflich gegen Rechtspopulismus»
ist eine missglückte und nur wenig ergiebige Hilfestellung für die rhetorische Verteidigung unserer Demokratie.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.10.2020
Aus schwarzem Wasser
Freytag, Anne

Aus schwarzem Wasser


weniger gut

Anne Freytag gehört momentan zu den gefragtesten deutschen Schriftstellerinnen der Jugendliteratur. Mit Werken wie "Den Mund voll ungesagter Dinge" oder dem kürzlich erschienenen "Das Gegenteil von Hasen" trifft sie mit ihrem poetischen Schreibstil den Ton der heutigen Generation und gibt den jungen Leser*innen das Gefühl, sie und ihre Gefühlswelt ernst zu nehmen. Jetzt bewegt sie sich zum ersten Mal in fremdes Genre-Gewässer: Sie legt mit "Aus schwarzem Wasser" ihren ersten Thriller vor.

Die ansprechende äußere Gestaltung und der Klappentext weckten sofort mein Interesse. Die Auseinandersetzung mit dem zerstörerischen Einfluss des menschlichen Wirkens auf die Umwelt ist nach wie vor aktuell; der Genre-Mix aus politischem Thriller und Mystery-/ Fantasy-Einschlägen sehr innovativ. Die Voraussetzungen klingen vielversprechend. Nun bin ich aber, und das gebe ich zu Beginn dieser Besprechung gerne zu, ziemlich enttäuscht vom vorliegenden Werk. Und das hat mehrere Gründe.

Die Autorin verstrickt sich in ein zunehmend undurchdringbares Gebilde aus zwischenmenschlichen Beziehungen, Perspektivwechseln und chronologischen Sprüngen. Das Lesepublikum kann keiner Figur oder Zeitebene hundertprozentig vertrauen, da Freytag scheinbar beliebig in andere Jahrzehnte oder Lände springt. Da fällt es mir zugegeben ziemlich schwer, am Ball zu bleiben und die Übersicht zu behalten. Die Charakterausarbeitung ist nicht gut gelungen: die meisten der Figuren sind eindimensional, unilateral und erwecken oftmals den Eindruck, hinter ihrer Funktion für die Handlung unterzugehen.

Zudem werden einige fundamentale Fachbegriffe, deren Bedeutung einen zentralen Aspekt der Plotentwicklung ausmacht, nicht erklärt. Der*die Leser*in wird, ironischerweise ganz dem Titel entsprechend, ins kalte Wasser geworfen. Das ist insofern ziemlich schade, als dass hinter der gesamten Handlung offensichtlich einiges an recherchetechnischer Arbeit steckt. Ohne dieselbe Ausgangslage an biologischem Wissen jedoch tue ich mir schwer, den dargebotenen fachlichen Argumentationen zu folgen und ganz in die Handlung einzutauchen.

Insgesamt würde ich mir mehr Überraschungen und Raffinesse vonseiten der Autorin wünschen. Wohin sich die Handlung letztendlich entwickelt, ist leider schon früh erkennbar. Außerdem ist das Buch mit einer gewaltigen Länge von 600 Seiten deutlich zu lange geraten. Erzähltechnisch plätschert "Aus schwarzem Wasser" lange in einem gemächlichen Tempo dahin und schafft es nicht, die Aufmerksamkeit richtig zu packen. Oftmals fühlte ich mich, als würde ich eher in dem Buch schmökern als in vollem Umfang in das Szenario einzutauchen.

Trotz all dieser handlungstechnischen Mankos leistet Freytag hier handwerklich wieder gute Arbeit: Ihr Schreibstil ist lyrisch und lebendig zugleich. Ihre Kritik am Umgang der Regierung mit dem Klimawandel und den noch nicht ergriffenen Gegenmaßnahmen ist anschaulich; sie schildert mögliche Auswirkungen überzogen drastisch, um ihr Lesepublikum wachzurütteln und eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Es wird deutlich: Wir müssen uns und unser Konsumverhalten ändern.

«Aus schwarzem Wasser» ist ein innovativer Genre-Mix, der leider zu lange keine Fahrt aufnimmt und in eine verworrene Handlung ausartet. Für mich leider enttäuschend.

Bewertung vom 22.09.2020
Mein Bruder heißt Jessica
Boyne, John

Mein Bruder heißt Jessica


sehr gut

Eigentlich ist der Begriff "Transsexualität" missverständlich: Er ist weniger Ausdruck von Liebe und sexuellen Verlangens, sondern beschreibt vielmehr die Kluft zwischen dem äußerlich feststellbaren körperlichen und dem eigentlichen identitären Geschlecht. Transsexuelle Menschen fühlen sich oftmals, als seien sie im falschen Körper geboren und nehmen Vorkehrungen vor, um das Aussehen ihrer Identität anzupassen. "Mein Bruder heißt Jessica" ist der Versuch, jungen Leser*innen die Thematik und den damit verbundenen inneren Zwiespalt bewusst zu machen.


Der weltweit vor allem durch "Der Junge im gestreiften Pyjama" bekannte Autor John Boyne erzählt hierbei aus einer interessanten Perspektive. Hauptfigur ist der 13-jährige Junge Sam Waver. Sein großer Bruder Jason ist für ihn ein Fundament im Alltag: jemand, der für ihn da ist, wo ihn die Eltern aufgrund der Karriere vernachlässigen und wo er wegen seiner Leseschwäche verlacht wird. Umso größer ist daher seine Erschütterung über das plötzliche Outing der Person, die ihm im Leben am nächsten steht.


Der Prozess, der hier eigentlich im Vordergrund steht, ist hier also weniger Jasons öffentliche Bekundung seines wirklichen Geschlechts und die Jahre intensiven Selbsterkundens zuvor. Das Buch fokussiert sich stark auf sein Umfeld und den Umgang mit der Transsexualität: Sams Schwierigkeiten, mit der wahren Identität seiner Schwester Jessica umzugehen, wirken in Anbetracht seiner behüteten Kindheit, in denen er nur selten Kontakt zu Ungewohntem, Fremdem und Buntem pflegte, erschreckend authentisch. Dieses Betrachten der ernsten Thematik aus kindlichen Augen erzielt eine lobenswerte Sensibilisierung des jungen Zielpublikums.


Die übrigen Figuren sind allesamt gut ausgearbeitet, gehen jedoch teilweise hinter der Funktion, verschiedene Standpunkte zu verdeutlichen, unter. Die sehr karrierefokussierten Eltern beispielsweise reagieren zunächst geschockt und wenig verständnisvoll, müssen sich aber im weiteren Handlungsverlauf zwangsläufig mit der wahren Identität ihres Kindes auseinandersetzen. Dabei wirken sie wenig souverän und fahrig.


Die Szenen, in denen sie sich mit Jessica auseinandersetzen, stechen besonders stark hervor. Sie tritt hier als eine authentische und innerlich reife Person auf, die ihren Eltern mit einem bewundernswerten Maße an Selbstbeherrschung die Augen zu öffnen versucht. Leider werden einige fundamentale Konfliktszenen und ehrliche Auseinandersetzungen vor allem mit dem jüngeren Bruder Sam zu Leiden der Handlung herausgekürzt: Hier hätte man mehr emotionale Tiefe erreichen können, um den langsamen Weg zur Akzeptanz deutlicher herauszuarbeiten.


Der Autor verliert sich in einem unglaubwürdigen, mit zu viel Kitsch hingeschusterten Ende, das sich zu deutlich von dem realistischen Handlungskorsett entfernt und einfach nicht schmecken möchte. Ein wenig mehr erzählerische Geduld, die einzelnen Stränge zu einem versöhnlichen Schlussbogen zu schlagen, wäre hier wünschenswert gewesen.


Der Titel mit dem falsch verwendeten Pronomen lässt zunächst stutzen und weckt so geschickt Neugier auf das Buch. John Boynes angenehm zu lesender Schreibstil nimmt die jungen Leser*innen ab der ersten Seite an die Hand. Aufgrund des gut zu meisternden Leseniveaus möchte ich "Mein Bruder heißt Jessica" unbedingt als Schullektüre mit Aufklärungsauftrag empfehlen, da sie eine wichtige Hilfestellung für den Umgang mit Transsexualität darstellt und eine interessante Perspektive einnimmt. Beispielsweise der anregende Austausch im Unterricht und die dadurch geschaffene Identifikationsfläche sind positive Folgen.



«Mein Bruder heißt Jessica»
ist ein wichtiges Buch, das junge Leser*innen für Transsexualität sensibilisiert. Es eignet sich durch seine Perspektive gut als Schullektüre.

Bewertung vom 18.09.2020
Cryptos
Poznanski, Ursula

Cryptos


gut

Würde ich gefragt werden, welche Bücher mich zum Lesen bewegt haben, so würden mir sofort die Werke der österreichischen Schriftstellerin Ursula Poznanski in den Sinn kommen. Seit ihrem Debüt "Erebos" fiebere ich jedes Jahr im August begeistert ihrer Jugendthriller-Neuerscheinung entgegen. Unter ihren sehr temporeichen Handlungen verborgen konstruiert die Autorin scharfsinnig gesellschaftliche Zukunftsvisionen: Mit ihren brandaktuellen Szenarien sorgt sie hierbei für großen Abwechlsungsreichtum innerhalb ihrer Bibliographie.

In dem neu erschienenen Roman "Cryptos" widmet sie sich den Auswirkungen des Klimawandels auf die menschliche Zivilisation in einer ungewiss weit entfernten Zukunft: Das alltägliche Leben findet größtenteils nur noch in Kapseln statt, die dich in eine alternative Realität führen. Du erhältst die Illusion, zu essen, zu trinken, zu gehen: Währenddessen liegt du aber regungslos in einer Maschine, die dir die nötigen Lebensgrundlagen automatisch zuführt. Nur für deine Ausscheidungen musst du diese verlassen und selbst das ist für viele Menschen ein sehr unbequemer und unangenehmer Schritt – sie sind die eigene Umgebung nicht mehr gewohnt.

Die Idee einer in fremde, digitale Welten fliehenden Bevölkerung ist nicht sonderlich neu. Zu Beginn des Buchs benötigt die Autorin sehr lange, um ihre Leser*innen in das Szenario einzuführen. Ich fühlte mich teilweise von den ganzen Erklärungen erschlagen und brauchte erstaunlich lange, bis ich mich in die Handlung involviert fühlte: Bei ihren Vorgängern schaffte Poznanski dies deutlich zügiger.

Dennoch bietet die Grundidee hinter "Cryptos" einige interessante Ansätze, die mir gut gefielen: Der Klimawandel und seine Folgen sind hier äußerst realistische und greifbare Grundaspekte innerhalb dieser sonst doch recht utopischen Geschichte. Einige Fragen blieben für mich bis zum Ende offen. Mehr Hintergrundinformationen hätte ich mir etwa über die genaue Funktionsweise der Kapseln oder die zeitliche Entwicklung von unserer Gegenwart bis hin zum Status quo des Buchanfangs gewünscht, um den Konflikt etwas besser nachvollziehen zu können.

Recht angenehm und unkompliziert: So tritt die Hauptfigur Jana in dem vorliegenden Roman auf. Sie sticht weder besonders positiv durch ein inspirierendes Profil noch negativ durch etwaiges unlogisches Verhalten heraus. Sie bleibt ein etwas blasser Charakter, der zwar nicht nervt, mit dem ich persönlich mich aber nicht so gut identifizieren konnte.

Leider erreicht "Cryptos" während seines Verlaufs nicht das Tempo, das man von Poznanski-Büchern gewohnt ist. Es ist per se nie langweilig, lädt aber eher zum Schmökern als zum Verschlingen ein. Einige Schlenker in der Handlung weniger hätten das erzählerische Korsett angenehm gestrafft und nicht den Eindruck unterstützt, die Autorin würde teils etwas den Faden verlieren.

Das Ende konnte mich zunächst überhaupt nicht überzeugen: Fast alle der aufgeworfenen Fragen blieben offen; für die angesprochenen Problemstellungen blieb sogar der Versuch komplett aus, eine anständige Lösung zu finden. So hatte ich nach Beendigung der Lektüre einen faden Beigeschmack, da sich die Handlung nicht rund und abgeschlossen anfühlte.

Es ist nun aber schon eine Weile her, seit ich "Cryptos" beendet habe, und ich gebe zu: Je länger ich es wirken ließ, desto mehr überzeugte das Ende mich. Die Autorin konfrontiert ihr Lesepublikum geschickt mit den klimatischen Herausforderungen, die uns alle betreffen. Es gibt keine perfekte Lösung, die uns aus dieser Katastrophe herausführt. Genau zu diesem resignierenden Schluss kam ich, als ich das Buch noch einmal Revue passieren ließ.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.09.2020
Ein Lächeln sieht man auch im Dunkeln (eBook, ePUB)
Popescu, Adriana

Ein Lächeln sieht man auch im Dunkeln (eBook, ePUB)


sehr gut

Die Münchner Autorin Adriana Popescu bereitete mir mit ihren letzten zwei Erscheinungen aus der jugendlichen Belletristik einige unter die Haut gehende Lesemomente. Ihr Erfolgsrezept: vielschichtige Charaktere und ihre Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und den inneren Kämpfen. Diesen Monat erscheint ihr neuestes Werk "Ein Lächeln sieht man auch im Dunkeln" im cbt-Verlag.

Samuel, Marie und Theo: So heißen die drei Hauptfiguren des vorliegenden Romans. Jede von ihnen besitzt persönliche Probleme, Hoffnungen und Ängste, mit denen sie sich auseinandersetzen. Das macht sie besonders authentisch und greifbar, denn die Sorgen und die daraus resultierende Verletzlichkeit sind jederzeit nachvollziehbar. Wer bin ich; was ist meine Position im Leben; wie wird es durch meine Entscheidungen beeinflusst; wie soll ich weitermachen, wenn tief in mir etwas verletzt wurde – all das sind Fragen, die zum Alltag der jungen Generation dazugehören und die den Leser*innen große Identifikationsfläche bieten.

Die Kapitel sind kurz, der Schreibstil von der ersten Seite an mitreißend: Adriana Popescu weiß genau, wie sie ihr Lesepublikum in den Bann schlagen kann. Sie ermöglicht jederzeit einen Perspektivwechsel und somit den steten Einblick in die innere Handlung der Protagonisten. Somit fühlte ich mich rasch in die Geschichte involviert und konnte mich gut mit dem Figurenensemble sympathisieren.

Zudem hält die Autorin den Leser*innen geschickt Hintergrundinformationen vor, um sie am Ball zu behalten und die Aufmerksamkeit auf sich zu richten: Das wirkt, man*frau möchte das Buch überhaupt nicht mehr loslassen, ehe man hinter die Geheimnisse der Figuren gekommen ist. Im weiteren Verlauf wird die Bedeutsamkeit von Entscheidungen deutlich, die oftmals den Menschen und sein Umfeld langfristig prägen. Die vielen Orts- und Personenwechsel machen die Handlung zusätzlich kurzweilig.


Durch genau beobachtete Details verdeutlicht Popescu in ihrem neu erschienenen Roman die Liebe und Fürsorglichkeit unter den einzelnen Figuren. Die drei Hauptfiguren machen einen großen inneren Prozess durch, dessen Verlauf oft sehr glaubwürdig erscheint. Es gibt starke Fortschritte, ja, aber auch viel Scheitern, viele Rückfälle und resignierende Momente. Für mich stach Theo trotz seines geistig instabilen Zustands durch seine bewundernswerte Selbstreflektion heraus: Ihm sei bewusst, dass sich seine Familie manchmal wie Sisyphos fühlen muss, wenn sich seine Panikattacken mal wieder, zu oft wiederholten.

Genau hier gerät die Handlung jedoch teilweise in eine spannungsarme Flaute: Sie dreht sich einige Male zu oft im Kreis und bremst somit das Erzähltempo aus. Ja, diese Repititivität kann auch stilistisch das eigene Scheitern darstellen. Dann hätte ich mir aber gewünscht, dass die Autorin etwas aus der üblichen Struktur ausbricht und auch mal den recht vorhersehbaren Pfad überraschend verlässt. Viele Entwicklungen und Verbindungen sind dann doch zu berechenbar: Fünfzig bis hundert Seiten weniger hätten dem Buch gut getan.

Letztendlich kann ich euch das Buch trotz der Schwächen im letzten Drittel uneingeschränkt ans Herz legen: "Ein Lächeln sieht man auch im Dunkeln" ist ein warmherziges Plädoyer für menschlichen Zusammenhalt und Rücksichtnahme. Es ist okay, Fehler zu begehen, Hilfe zu brauchen und zu scheitern – und mit genau dieser inspirierenden Botschaft legitimiert Adriana Popescu mit erzählerischer Leichtigkeit die persönliche Unvollkommenheit. Wichtig ist es, sich mitzuteilen, um nicht von der Schwere der eigenen Sorgen erdrückt zu werden.



«Ein Lächeln sieht man auch im Dunkeln»
zeigt einfühlsam, dass es okay ist, sich Hilfe zu holen und nicht weiter weiß. Dass es auch okay ist, mal falsche Entscheidungen zu treffen. Eine sehr inspirirerende Lektüre!

Bewertung vom 01.09.2020
Malamander - Die Geheimnisse von Eerie-on-Sea / Eerie-on-Sea Bd.1
Taylor, Thomas

Malamander - Die Geheimnisse von Eerie-on-Sea / Eerie-on-Sea Bd.1


ausgezeichnet

Es gibt diese Geschichten, die dich von Klein auf begeistern, in ihren Bann ziehen und in eine magische Welt entführen. Du möchtest dich mit den Figuren befreunden und mit ihnen lachen, Geheimnisse flüstern, Abenteuer erleben. An diese magischen Bücher denkst du noch viele Jahre später zurück, weil sie dich in diesem Moment geprägt und eine Kerbe in deinem Leben hinterlassen haben. Genau hier merke ich die Kraft, die mit Literatur einhergeht: Wenn ich mich Jahre später noch daran erinnere, wie sehr mich die Geschichte damals packte.


Ich wünschte, ich hätte schon damals "Malamander" lesen können. Und ich wünsche im selben Atemzug, dass dieser Roman noch ganz vielen jungen Leser*innen spannende Stunden bereiten wird. Denn das, was uns Thomas Taylor mit diesem Buch bietet, ist in meinen Augen all das, was ich mir von einem spannenden Kinderabenteuer erhoffe.


Die Stadt mit dem seltsamen Namen, Eerie-on-Sea, hat eine einzigartige Atmosphäre, die mich ab der ersten Seite überzeugen konnte: Der eisige Wind, die schneidend kalte Luft, die schäumenden Wellen. Der Autor beweist in vielen kleinen witzigen Ideen seinen Fantasiereichtum und lädt zum Ausharren in dieser skurrilen Umgebung ein. Ich erwischte mich mehrfach während der Lektüre dabei, dass sich bei der ein oder anderen urkomischen Erfindung ein Lächeln auf meinen Lippen bahnte.


Violet und Herbert sind zwei knuffige und sofort liebenswerte Charaktere, die sich mit ihrer kindlichen Naivität sofort in die nächste temporeiche Situation stürzen. Die Suche nach sich selbst und der eigenen Identität ist hierbei ein geeignetes Korsett für die Handlung und gibt beiden Figuren eine glaubwürdige emotionale Basis. Aber ich amüsierte mich auch herrlich über die schrillen Nebenfiguren und ihren grotesken Eigenheiten.


Der Malamander eignet sich gut als bedrohliches, nie ganz greifbares Mysterium, das die Neugier der Leser*innen durchweg auf sich zieht. Etwas langsamere und eher hektische Szenen halten hier einen guten Ausgleich, um eine kurzweilige und mitreißende Geschichte zu konstruieren, deren Erzähltempo niemals abbricht. Vor allem in Anbetracht der recht kurzen Buchlänge (von nicht einmal 300 Seiten) kann ich das Buch sowohl jüngeren als auch älteren Leser*innen dringend ans Herz legen. Einige Fragen bleiben am Ende des Romans offen und machen bereits jetzt große Lust auf die Fortsetzung, die im Englischen bereits erschienen ist... ich kann es kaum noch erwarten, sie endlich in Händen zu halten!


«Malamander: Die Geheimnisse von Eerie-on-Sea»
ist ein atmosphärisches und skurriles Kinderabenteuer à la "Eine Reihe betrüblicher Ereignisse". Ich freue mich bereits jetzt auf Band zwei!

Bewertung vom 07.08.2020
Wer ist Edward Moon? - Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises 2020
Crossan, Sarah

Wer ist Edward Moon? - Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises 2020


ausgezeichnet

Kennt ihr diese Bücher, die euch ganz unerwartet treffen und nicht mehr loslassen? Die euch schockieren, fesseln und zu Tränen rühren und ihr könnt Wochen, Monate danach noch immer nicht aufhören, an sie zu denken? Für mich ist "Wer ist Edward Moon?" so ein Buch: ich hatte während des Lesens Gänsehaut, spürte eine tiefe Traurigkeit in mir und fühlte mich von der Macht der Worte überwältigt. So möchte ich im Folgenden weniger den Anspruch einer Rezension erheben, sondern vielmehr dem Roman meine Liebe bekunden.


Einen ehemals vertrauten Bruder, der seit einem Jahrzehnt im Gefängnis sitzt und dessen Todesdatum bereits festgelegt ist, zum ersten Mal wieder zu besuchen, ist ein Grundszenario, das mich seit der ersten Seite gepackt hat. Dieser innere Zwang, jeden Moment maximal zu genießen, weil Zeit das einzige ist, worauf es jetzt noch ankommt, die sogar Konflikte und Uneinigkeiten überwindet, da sie für Ed bald abläuft, erzeugt im Lesepublikum eine derart klaustrophobische Wirkung, dass mir bei dem bloßen Gedanken an die geplante Hinrichtung das Herz höher schlug.


Joe tritt hier als äußerst glaubwürdiger Charakter auf, dessen Gefühlslage und düsteren Gedanken jederzeit verständlich sind. Seine Furcht, etwas falsch zu machen, vor der Wahrheit, vor dem Tag X, die daraus resultierende Wut und Resignation sind nahezu greifbar. Seine ehemalige starke brüderliche Verbindung zu Ed ist ein rührendes zentrales Motiv, das voller so viel Liebe steckt und zunehmend bitter in der Kehle stecken bleibt, wenn man realisiert, dass jede gemeinsame Sekunde gezählt ist. Das erzeugt eine beklemmende Atmosphäre, die sehr ungemütlich werden kann.


Geschickt verwebt die Autorin die Handlungsstränge der Gegenwart mit der Vergangenheit, um durch das persönliche Leben langsam das Mysterium um Edward Moon aufzuschlüsseln. Die Nebencharaktere, häufig aus dem engeren Familienkreis, sind ebenfalls gut ausgearbeitet und haben eigene Ecken und Kanten, eigene Fehler und eigene Hoffnungen, Träume.


Der vorliegende Roman wird in Versform wiedergegeben. Mit dieser geringen Wortanzahl reduziert sich die Autorin auf das Nötigste und schafft es, mich mit einem Satz, mit einem Wort derart ins Mark zu treffen, dass ich während der Lektüre im Bus Tränen vergießen musste. "Wer ist Edward Moon?" ist ein Musterbeispiel für die Kraft von Sprache, selbst mit wenigen Worten so viel auszulösen.


In diesem Buch wird dein Gerechtigkeitssinn vollkommen auf den Kopf gestellt und die zunehmende, langsam herankriechende Aussichtslosigkeit greift wie eine Klaue um dich, der du nicht entkommen kannst: Mit kritischer Bissigkeit hinterfragt die Autorin die Selbstlegitimation der texanischen Judikative. Der triste Schauort zeugt von einem Hoffnungsdefizit; ich werde so wütend wegen dieser befremdlichen Sinnlosigkeit, Menschen des stumpfen Rachegedankens und des Abschreckungswillens wegen das Leben zu nehmen.


«Wer ist Edward Moon?»
ist ein aufrüttelndes, schockierendes Buch, das unter die Haut geht und nicht mehr loslässt. Ich möchte eine uneingeschränkte Leseempfehlung aussprechen.

Bewertung vom 30.07.2020
Und jetzt bin ich hier
Andrews, Jessica

Und jetzt bin ich hier


sehr gut

Selbstfindung ist ein populärer Zentralgedanke der zeitgenössischen Belletristik. Viele Autor*innen haben sich daran versucht, das Wort "ich" in seine Bestandteile auseinanderzunehmen, die eigene Identität zu entdecken und an ihr festzuhalten. Ist Persönlichkeit an Bedürfnisse, Verlangen und Ängste geknüpft? Wie stark prägen uns Mitmenschen im Handeln, Denken und Fühlen? Wer bin ich und was möchte ich erreichen? Dieser leicht umgewandelten Frage nach dem Sinn des Lebens widmet sich auch Jessica Andrews in ihrem Debütroman "Und jetzt bin ich hier".



Die englische Schriftstellerin hat einen charakterstarken, unvergleichlichen Schreibstil, durch den sie ihre große Beobachtungsgabe und ihr Fingerspitzengefühl für Nuancen und Details unter Beweis stellt. Die Stimme der Protagonistin klingt ehrlich, authentisch und ungefiltert. Sie nutzt geschickt grammatikalische Strukturen als Ausdruck für Zuneigung und dem Grad der persönlichen Nähe zu Figuren.



Der Text ist in zahlreiche, bruchstückhafte Mosaikteilchen gegliedert; die Kapitel beschäftigen sich mit je einer Assoziation, einem sinnlichen Eindruck oder einem bestimmten Verlangen. So gleicht das Buch teilweise mehr einer losen Aneinanderreihung epischer Anekdoten als einer konsequent fortlaufenden Handlung; es lädt zunächst eher zum Schmökern ein, als einen angenehmen Lesefluss zu ermöglichen. Es packte mich recht lange nicht und ich brauchte eine Weile, um mit dieser Struktur zurecht zu kommen.



Die Autorin zieht einen geschickten Kontrast zwischen der stets pulsierenden und hektischen Stadt London und der trägen Natur Irlands. Zudem laufen mehrere verschiedene Handlungsstränge parallel nebeneinander, sodass hier räumliche und zeitliche Ebenen aufeinanderprallen. Das ist sehr klug gemacht.



Lucys Suche nach sich selbst ist ein authentischer Ausgangspunkt für den Roman, und durch den ruhigen, bedachten Erzählstil fühlte ich mich als Leser, der gerade in einer ähnlichen Lebenssituation steckt, ernstgenommen. Die liebevolle Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist ein rührender Dreh- und Angelpunkt des Werks, der eine der wenigen Konstanten sowohl in der Handlung als auch im Handeln der Protagonistin ist.



Ich finde, dass das Buch teilweise ein wenig stringenter auf ein Ziel hätte hinarbeiten können. Teilweise treibt die Protagonistin zu lange nur im Strudel des Lebens, und durchgeht keinen persönlichen Fortschritt. Dadurch bleibt sie dem Lesepublikum lange befremdlich fern. Hier hätte ich mir mehr Mut zum Ausbrechen aus gewohnten Parametern gewünscht, um uns mehr mit auf den Weg zu geben. "Und jetzt bin ich hier" ist oftmals weniger tiefgründig, als es hätte sein können.



Insgesamt ist es aber ein schönes, angenehm zu lesendes Buch, das in mir ein bestimmtes Gefühl in der Brust ausgelöst hat. Der Schreibstil ist sehr inspirierend, die Landschaften lösen in mir Kopfkino-Effekt aus. Ja, es wird nicht das gesamte Potenzial ausgeschöpft, aber für mich reicht es hier dennoch für eine kleine Leseempfehlung.



«Und jetzt bin ich hier»
ist ein fantastisch geschriebenes Werk voller feinfühlig formulierter Beobachtungen über die Suche nach sich selbst.