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lillywunder

Bewertungen

Insgesamt 44 Bewertungen
Bewertung vom 28.08.2022
Matrix
Groff, Lauren

Matrix


ausgezeichnet

Was für ein wilder Ritt, dieses Buch! Es hat mich im Höhenflug aus meinen Lesegewohnheiten hinaus katapultiert und hinein in ein absurd spektakuläres Setting mit einer brillierenden Protagonistin.

Man darf es so sagen, in diesem Buch dreht sich alles um Marie. Marie wird mit 17 Jahren von ihrer verehrten Königin als ungeeignet für das höfische Leben erachtet und stattdessen als Priorin eines einsamen, armen Klosters in eine abgelegene Ecke Englands geschickt. Sie, die aus einer Familie von Kriegerinnen stammt, findet sich fortan unter Nonnen wieder. Was sie zunächst an den Rande der Verzweiflung bringt, birgt eine ungeheuerliche Entwicklung, welche das Kloster zu einem Imperium macht, mit Marie an seiner Spitze.

Marie ist in ihrer Persönlichkeit absolut vereinnahmend. Sie startet als Underdog, unterschätzt, ihren Namen muss sie sich erst erarbeiten, aber wie sie das tut. Sie wird geliebt für ihr Charisma, ihre Intelligenz, ihre Kreativität und gleichzeitig gefürchtet wegen ihres rebellischen Stolzes, ihrer unbändigen Wut. Langsam aber stetig baut Marie ihre Macht aus, sorgt für Reichtum und Besitz, spielt Schachzug um Schachzug, um den Einfluss des Klosters auszuweiten und sich der Kontrolle des Königshauses zu entziehen. Sie wird getrieben von der Frage, was sie auf dieser Welt hätte erreichen können, wenn man ihr nicht die Freiheit genommen hätte. Im einen Moment zeigt sie ihre Stärke durch Güte und Sanftmut, im nächsten durch einen ungeduldigen Schlag gegen die Krone. Sie ist Strategin, Kämpferin, großer Geist, Anführerin, Charismatikerin. Mit ihrem flammenden Willen ist sie ihren Gegnern immer einen Schritt voraus, beugt selbst die Natur, nimmt Land ein, macht es sich Untertan, denn Land ist Macht.

"Kraft ihrer Gedanken und ihrer Hände hat sie die Welt verändert. Sie hat etwas Neues hervorgebracht. Dieses Gefühl ist der Reiz des Erschaffens, und es durchzuckt sie lebendig und gefährlich (S. 169)".

Eine rein weibliche Gemeinschaft - Frauen, die kantig sind, sperrig, unbeugsam und unverhohlen. Die Nonnen betreiben Landwirtschaft, entwerfen und bauen riesige Anlagen, verkaufen ihre Veröffentlichungen, schalten ihre Feinde aus, bilden sich in Medizin weiter. Und müssen neben der Lichtgestalt Marie dennoch blass bleiben, können ihr nichts entgegensetzen, was ein kleiner Wermutstropfen für mich war. Dennoch, diese Welt hat allein Frauen als Bezugspunkte und das liest sich wunderbar, auch wenn der Stil eher Zeitraffer und Dokumentation ist und nur wenig Nähe zulässt. Für mich geht es hier nicht um "starke Frauen", wie es manchmal heißt, für mich geht es vielmehr um weibliche Ambitionen, um weibliche Macht, um weibliches Erschaffen, um weibliches Unternehmertum und das in einer Fülle, die wirklich eine Offenbarung ist.

Bewertung vom 28.08.2022
Intimitäten
Kitamura, Katie

Intimitäten


sehr gut

So sehr dieser Roman auf der Weltbühne angesiedelt und von kosmopolitischen Weltanschauungen durchdrungen ist, so sehr vermag es Katie Katimura auf der anderen Seite, ins kleinste Detail zu zoomen und die feinen Unterschiede im menschlichen Handeln und deren Beweggründe zu beleuchten.

Die Erzählerin ist Dolmetscherin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Sie ist vor kurzem erst aus New York zugezogen und hat ihr Leben bereits an vielen Orten der Welt verbracht. Nun also Den Haag, alles ein paar Nummern kleiner. Sie lernt den noch verheirateten Adriaan kennen und lässt sich auf eine Beziehung ein. Als Adriaan zu seiner Frau reist, um eine Scheidung auf den Weg zu bringen, wird sie mit jeder Woche die verstreicht, unsicherer. Sie versucht in Den Haag anzukommen, schließt Freundschaften und stürzt sich in den Prozess gegen einen Kriegsverbrecher, der sie nicht nur beruflich, sondern auch moralisch herausfordert.

Dieser Roman hat mich wirklich überrascht. Er schafft es auf unheimlich kluge Weise, die Abgründe zwischen Sprachen sowie zwischen Menschen, beschreibbar zu machen. Wie kann man verstehen, was die andere Person sagt, was sie wirklich meint, wie ihr Handeln zu deuten ist? Dolmetschen - die englische Bezeichnung "to interpret" hat sofort einen anderen Klang. Es geht nicht um eine stumpfe Übertragungsleistung, es geht immer auch um eine Interpretation. Der immensen Rolle der Dolmetscherleistung in einem Gerichtsprozess steht das Gefühl der Erzählerin gegenüber, fast unsichtbar zu sein, sich in den Worten zu verlieren. Sowohl beruflich als auch privat lässt sie sich auf Intimitäten ein, die es ihr schwierig machen, zu urteilen, Stellung zu beziehen, aus dem eigenen Leben ein klares Narrativ abzuleiten.

Was diesen Roman groß macht: die Präzision, mit der Katimura genau das in Worte fasst, was uns im Alltag häufig bloß als kurze Irritation begegnet. Ein kurzer Moment, in dem die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der eigenen Wahrnehmung durchscheint. In dem deutlich wird, dass unser Handeln nicht linear und kategorisch ist, sondern fließend, verschwommen, verwoben. Wie Katimura diese Komplexität in Sprache einfängt, das überzeugt auf jeder Seite.

Bewertung vom 22.05.2022
Papyrus
Vallejo, Irene

Papyrus


ausgezeichnet

Ein Must-Read für alle, die von Bücherregalen magisch angezogen werden, die dem Duft eines neuen Buches nicht widerstehen können, die sich in Bibliotheken, Bücherläden, Antiquariaten wie zuhause fühlen, die manchmal ganz ehrfürchtig werden vor den Gedanken, die sich jedem von uns neu und anders unter Buchdeckeln offenbaren und so um die Welt gehen. Ein Buch für Bücherliebende. Nicht zuletzt aufgrund der tollen Gestaltung des Diogenes-Verlag, der sich hier wirklich selbst übertroffen hat. Seidene Seiten, goldschimmernde Prägungen, ein edles Cover - ein Schatz für jedes Bücherregal.

Man muss allerdings gewillt sein, mit dem Buch auf Reisen zu gehen, denn dieses Sachbuch beansprucht mehr als 700 Seiten für sich. Irene Vallejo verfolgt in "Papyrus" die Entwicklung des Buches von den ersten Schriftzeichen an, von der Bibliothek in Alexandria bis zum Untergang des römischen Reichs. Und das ist vielleicht das einzige kleine Manko, denn der deutsche Untertitel ist ein wenig irreführend gewählt. Nicht die "Geschichte der Welt in Büchern" wird hier beschrieben, sondern wie der Untertitel im spanischen Original treffender formuliert "La invención de los libros en el mundo antiguo": die Erfindung des Buches in der Antike. Es geht um den bahnbrechenden Wandel in der Menschheitsgeschichte, Gedanken und Informationen nicht länger nur mündlich weiterzugeben, sondern sie schriftlich festzuhalten, zu vervielfältigen, zu konservieren, teilweise für Jahrtausende.

Dass die Erfindung des Buchs für Vallejo ein Highlight der Weltgeschichte war, wird auf jeder Seite deutlich. "Papyrus" informiert, stellt Zusammenhänge her, sammelt Fakten, zieht Vergleiche zur gegenwärtigen Popkultur und aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen. In erster Linie jedoch ist es seine Absicht zu begeistern, mitzureißen, die Ehrfurcht und Leidenschaft der Autorin gegenüber dem geschrieben Wort auch den Lesenden zu vermitteln und das gelingt ganz wunderbar. Kein Buch, das einen chronologisch von A nach B bringt, sondern eins, dass ein Netz spinnt zwischen den Zeiten und zwischen zahlreichen geschriebenen Seiten, die noch heute überall auf der Welt die Menschen für sich begeistern.

Bewertung vom 24.04.2022
Der Papierpalast
Heller, Miranda Cowley

Der Papierpalast


gut

Wo ist der Unterschied zwischen einer guten Serie und einem guten Buch? Dass Miranda Cowley Heller erfolgreiche Serien wie "Six Feet Under" entwickelt hat, mag dazu beigetragen haben, dass sich mir beim Lesen immer wieder diesen Vergleich aufdrängte - aber dazu gleich mehr. Der Papierpalast ist ein stark atmosphärischer Roman über eine Frau, Elle, die mit Mann und Kindern in die malerische Seelandschaft ihrer Kindheit zurückkehrt und sich dort sowohl den Gefühlen für ihre Jugendliebe als auch den gemeinsamen traumatischen Erlebnissen stellen muss. Und die Chancen stehen gut, dass das Buch auch für euch ein absoluter Pageturner wird!

Warum? Weil Story und Spannung hier so geschickt aufgebaut werden, dass ich mich beim Lesen zügeln musste, nicht schon weiter nach vorn zu blättern. Gegenwart und Vergangenheit wechseln sich in kurzen Kapiteln ab - während in der Gegenwart quasi der Tag der Entscheidung zwischen Ehemann Peter und Jugendliebe Jonas Stunde um Stunde weiter vorrückt, werden immer wieder Szenen aus der Vergangenheit eingeblendet, welche nach und nach die dramatischen Erlebnisse in der Kindheit preisgeben. Suspense at its best. Lasst euch nicht vom romantischen Cover täuschen: die dysfunktionen Familien in diesem Roman sind Orte von Vernachlässigung, Missbrauch, Vergewaltigung, Mord und ein Hinweis darauf wäre tatsächlich wünschenswert gewesen.

Während nun aber meine Finger beim Blättern nur so durch die Seiten huschten, bekam ich zunehmend das Gefühl, dass das ganze Leid der Vergangenheit letztlich in erster Linie dazu dient, die Lovestory zwischen Elle und Jonas moralisch zu rechtfertigen und glaubhaft zu machen. Dass dafür so krasse Karten gezogen, ins Spielfeld geworfen und im weiteren Verlauf einfach unbeachtet blieben, da mittlerweile schon der nächste Paukenschlag erfolgt war, schlug mir mehr und mehr aufs Gemüt. Was mich zurück zur Ausgangsfrage bringt. Während es in einer Serie gut funktionieren mag, die Zuschauenden mit Spannungsaufbau, Schockmomenten, Cliffhangern bei der Stange zu halten und durch berührende Szenen Empathie für die Liebesgeschichte zu wecken, erwarte ich bei einem guten Roman mehr. Mehr Tiefe, mehr Bedachtheit, mehr Fokus, mehr Charakterentwicklung. Und weniger reißerische Aufmerksamkeit und Fäden, die nahezu unbemerkt ins Nichts verlaufen. Ich erwarte nicht nur gute Unterhaltung (das war es), sondern auch, dass man sich nach dem Lesen ein klein wenig "reicher" fühlt (das hat mir gefehlt). Vielleicht wäre eine Verfilmung hier ja eher meins.

Bewertung vom 12.04.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Manchmal ist es mit Büchern wie mit Menschen. Man sieht die kleinen Dinge, die man an ihren kritisieren könnte, aber sie fallen einfach nicht ins Gewicht, sie ändern nichts, weil das Buch oder die Person eben schon längst den Weg ins eigene Herz gefunden hat. Dschinns hatte dorthin keinen weiten Weg, die Erzählweise von Fatma Aydemir hat mich total erreicht, berührt, eingenommen.

Aydemir erzählt die Geschichte einer Familie, die in den 1970er Jahren von der Türkei nach Deutschland zog. Der Vater, Hüseyin, kam damals als Gastarbeiter und arbeitete 30 Jahre lang bis zur Erschöpfung für seinen Lebenstraum, ein Eigenheim in Istanbul. Um dann, als er dieses Ziel endlich erreicht hat und stolz die Wohnung für seine Familie vorbereitet, alleine an einem Herzinfarkt zu sterben - die Mutter und die vier Kinder reisen zur Beerdigung hinterher.

So weit, so tragisch. Und tatsächlich spart der Roman nicht an großen Gefühlen, nein, er ist reichlich großzügig mit der Dosierung von dramatischen Familiengeheimnissen und einschneidenden Wendungen auf seinen 367 Seiten. Jedes Familienmitglied schultert ein riesiges eigenes Päckchen und mit ein bisschen Abstand zur Lektüre ließe sich durchaus kritisieren, dass dabei ungefähr kein aktueller identitätspolitischer Diskurs ausgelassen wird und dass der ein oder andere Charakter ein wenig klischeebehaftet bleibt, um allzu deutlich gesellschaftliche Missstände abbilden zu können.

Aber. Ich liebe es, wie Fatma Aydemir schreibt. Wie einfühlsam sie ihre Figuren behandelt, wie behutsam sie die Verletzungen, die Unsicherheiten, die Ängste beschreibt, mit denen die einzelnen Familienmitglieder zu kämpfen haben, während die nächste familiäre Katastrophe über sie hineinbricht. Klischees hin oder her, jeder einzelne Charakter wird hier so sehr mit Leben gefüllt, dass man gar nicht umhin kann, sie als absolut authentisch zu erleben. Jedem Familienmitglied wird ein einzelnes Kapitel gewidmet, eine eigene Stimme, die Aydemir sowohl stimmig in die im besten Sinne epische Familiengeschichte einfügt als auch in berührend lebendige Dialoge. Mal unheimlich sanft, mal erschreckend schmerzhaft ergründet Aydemir die Gründe und Abgründe einer Familie, die zu wenig miteinander spricht, und erhellt so das Thema des familiären Schweigens, welches für mich das Herz dieses wunderbaren Romans ist und spürbar durch alle Seiten pulsiert.

Bewertung vom 13.03.2022
Die Diplomatin
Fricke, Lucy

Die Diplomatin


gut

Der Klappentext verspricht einen fulminanten Roman und tatsächlich lesen sich die knapp 250 Seiten quasi in einem Zug weg. Lucy Fricke betritt mit ihrer Protagonistin, der deutschen Botschafterin Fred, das Feld der Diplomatie aus einer weiblichen Perspektive heraus. Ein hochaktuelles Thema und eine noch immer viel zu seltene Sichtweise - ein sehr spannendes Setting also.

Fred ist zielstrebig, erfahren, besonnen in ihrer Arbeit als Diplomatin und fühlt sich an ihrem aktuellen Einsatzort in Montevideo fast ein wenig unterfordert, bis ein Zwischenfall sie aus ihrer Routine reißt und schließlich zu ihrer Versetzung führt. Als es an ihrem neuen Stützpunkt in Istanbul zu einer erneuten diplomatischen Krise kommt, führt sie dieser an die Grenzen der Diplomatie und Rechtsstaatlichkeit und sie sieht sich herausgefordert, zwischen ihren beruflichen und ihren menschlichen Grundsätzen zu entscheiden.

Lucy Fricke schreibt locker, frisch und ironisch. Der lebendige Schreibstil trägt einen flott durchs Buch, verleiht der Handlung Tempo und Brisanz. Dass erfolgreiche Frauen sich noch immer mit anderen Schwierigkeiten herumschlagen müssen als Männer wird unterhaltsam und quasi nebenbei eingeflochten, ohne die Handlung zu beschweren. Insgesamt jedoch muss ich sagen, dass mir die inhaltliche Tiefe und der rote Faden gefehlt haben. Verschiedene Themen werden eingestreut, Handlungsstränge laufen gefühlt ins Leere, der Bereich der Diplomatie ist mir nicht wesentlich näher gekommen und die charakterliche Entwicklung der Protagonistin wird lediglich angedeutet. Wer einen eher seichten Einstieg ins Thema und ein paar unterhaltsame Lesestunden sucht, macht mit diesem Buch jedoch mit Sicherheit nichts falsch, denn Zeit für Langeweile bleibt hier keine.

Bewertung vom 06.03.2022
Butter
Yuzuki, Asako

Butter


ausgezeichnet

Vordergründig ist dies die Geschichte von Rika, einer jungen Journalistin aus Tokio, die im Job noch etwas reißen will und begeistert ist, als sie auf die Geschichte der Serienmörderin Manako stößt, die etliche Männer erst mit ihren Kochkünsten verführt und dann getötet haben soll. Unter der Bedingung, nur über ihre Kochkünste zu sprechen, stimmt Manako den Interviews im Gefängnis zu - und Rika gerät mit jedem Besuch mehr in einen Strudel aus Faszination und Kontrollverlust.

Asako Yuzuki gelingt es, diese ungewöhnliche Story als Basis zu nehmen für eine komplexe Auseinandersetzung mit vielen weiteren gesellschaftlichen Themen, ohne dass es aufgesetzt wirkt. Die selbstbewusste Manako, deren absolute Leidenschaft das Kochen und Essen ist, entzieht sich der Norm des strengen japanischen Schlankheitsideals und plötzlich beginnt auch Rika den immensen gesellschaftlichen Druck zu spüren, der jedes zusätzliche Kilo mit mangelnder Charakterfestigkeit und Misserfolg gleichsetzt. Manako, die durch ihre Kochkünste ihre Männer an sich binden konnte, lässt Rika über weibliche Fürsorge in ihren eigenen Beziehungen zu ihrem Freund, zu ihrem Vater, reflektieren. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Reika, die aufgrund ihres bislang unerfüllten Kinderwunsches ihren Job aufgegeben hat, versucht sie der Vergangenheit von Manako nachzuspüren und lernt dabei auch ihre persönlichen Lektionen über die Bedeutung von Freundschaft. Und last but ganz bestimmt not least ist dieses Buch nebenbei auch ein unheimlich sinnlicher Genuss - plötzlicher Heißhunger auf zarten Reis mit geschmolzener Butter ist garantiert!

Was ich beim Lesen am meisten geschätzt habe, ist die großartig beschriebene Charakterentwicklung. Die 450 Seiten bieten ausreichend Platz für ein psychologisches Katz-und-Maus-Spiel, Ausflüge in die Tiefenpsychologie, in die persönliche Vergangenheit und für die daraus folgende persönliche Entwicklung der Protagonistin. Die einzelnen Charakterzüge und Gedankengänge waren mir teils zu komplex, um sie wirklich zu durchsteigen, aber das war mir allemal lieber als das Gegenteil. Im letzten Drittel gab es die ein oder andere Länge - wenn man sich einmal akklimatisiert hat, dürfte die Handlung ruhig etwas flotter fortschreiten - für mich bricht hier aber aufgrund der Einzigartigkeit der anderen Aspekte kein Zacken aus der Krone. Wunderbar übersetzt von Ursula Gräfe.

Bewertung vom 12.02.2022
Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1
Schoch, Julia

Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1


sehr gut

Als eine besondere Stärke des autofiktionalen Erzählens erlebe ich es häufig, dass man als Leserin besonders intensiv in die Gefühlswelt der Erzählperspektive hineingezogen wird. So auch hier. Das titelgebende "Vorkommnis" geschieht bereits auf der ersten Seite: Die Erzählerin begegnet auf einer Lesung zu ihrem eigenen Buch einer Frau, die behauptet, denselben Vater wie die Protagonistin zu haben. Erst rückblickend erkennt die Erzählerin, wie dieser Moment sie geprägt hat: längst verschüttet geglaubte Familienthemen kommen zum Vorschein, Fragen nach Ehe und Mutterschaft drängen sich auf, Beziehungen werden beleuchtet und hinterfragt, die Kindheit in der DDR wird plötzlich wieder präsent.

Julia Schoch verbindet mit Leichtigkeit die Gegenwart der Erzählung mit den zurückliegenden Erinnerungen. Dabei hätte sie als Aufhänger für ihre Geschichte sicher auch ein anderes Ereignis wählen können - es geht nicht so sehr um Handlung und Spannungsbogen, das wirklich beeindruckende sind die vielen feinfühligen Beobachtungen menschlichen Verhaltens, die Art und Weise, wie es der Autorin gelingt, Gefühle in Worte zu fassen, die klugen Gedanken zur eigenen Positionierung in der Welt, in der Familie. Man bekommt ein starkes Gefühl dafür, wie die als stabil und harmonisch wahrgenommene Sicht auf das eigene Leben fast unmerklich ins Wanken gerät, wie sich eine Unsicherheit in ihre Wahrnehmung einschleicht, die sie erst mit etwas Abstand überhaupt reflektieren kann. An der ein oder anderen Stelle verliert sich der Fokus etwas, insgesamt aber sprachlich hervorragend und mit einem großen Output an klugen Gedanken. Auf die angekündigten zwei weiteren Teile dieser "Biographie einer Frau" bin ich sehr gespannt.

Bewertung vom 23.01.2022
Der letzte Sommer in der Stadt
Calligarich, Gianfranco

Der letzte Sommer in der Stadt


gut

Als absolute Rom-Liebhaberin hat mich dieser Roman von Gianfranco Calligarich, in dem die schönste Stadt der Welt eine der Hauptrollen spielt, zunächst sehr angesprochen. Eine italienische Wiederentdeckung, bereits in den 70ern erstmals erschienen, zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten und nun wieder neu aufgelegt. Leider konnte der Roman, so viel sei vorweg genommen, meine Erwartungen nicht erfüllen.

Erzähler ist der junge Leo Gazzara, der aus Mailand nach Rom zieht, angezogen von dem Treiben und sich Treiben lassen in dieser verheißungsvollen Stadt. Er zieht in die leerstehende Wohnung von Freunden, kauft einen alten Alfa Romeo, findet einen Job beim "Corriere dello Sport". Genauso wie bei den nächtlichen Spaziergängen durch die angesagtesten Viertel Roms, lässt er auch sein Leben auf sich zukommen, lässt den Dingen ihren Lauf, verbringt seine Zeit mit Freunden in der Bar oder mit Buch im Strandcafé. Dann trifft er auf Arianna und um ihn ist es genauso geschehen, wie um jegliche Stabilität in seinem Leben.

Ein Setting also, was durchaus Dolce-Vita-Flair versprühen könnte, allerdings ist es hier eher das dolce far niente, das süße Nichtstun, was die Stimmung beim Lesen prägt und immer mehr einen bitteren Beigeschmack entwickelt. Arianna, ein klarer Holly-Golightly-Verschnitt, ist verträumt-naiv und gleichzeitig emotional manipulierend. Ihr fehlt Holly's Charme und Warmherzigkeit, ich konnte keinerlei Sympathie für sie entwickeln. Und so ist auch die Beziehung zwischen den beiden, die man heute wohl als toxisch bezeichnen würde, anstrengend zu lesen. Die ständige Melancholie und Ziellosigkeit von Leo hat mich ermüdet, emotional konnte er mich nicht erreichen und dass er mein Rom mit dieser Schwermütigkeit in Verbindung bringt, nehme ich ihm ehrlich gesagt übel. Lediglich sein nüchterner Humor, seine selbstironische Erzählung retten es ein wenig raus, können mich letztlich auch nicht davon überzeugen, dass dieses Buch in meinen Regal stehen sollte.

Bewertung vom 16.01.2022
Zusammenkunft
Brown, Natasha

Zusammenkunft


ausgezeichnet

Was für ein Highlight! Es wundert mich kein bisschen, dass "Zusammenkunft" in England als das erfolgreichste literarische Debüt in 2021 gilt. Es ist als würde Natasha Brown den Finger direkt in die Wunde legen - eine einzige Bewegung von kühler Prägnanz, unerschrocken und gezielt "on point" durchgeführt. Mit nur knapp 110 Seiten ist dieser kraftvolle Kurzroman auf das Wesentliche reduziert, ganz so als wäre jeder entbehrliche Satz rigoros herausgestrichen worden, sodass nur die pure Quintessenz verbleibt. Es geht an die Substanz. An die der jungen Schwarzen Erzählerin, deren Leben ein vernichtendes Streben nach Anerkennung ist. Und an die Substanz einer postkolonialen Gesellschaft, die an ihre Mitglieder widersprüchliche, kaum einlösbare Ansprüche stellt.

Sei die Beste. Arbeite härter. Starte deine Karriere. In Oxbridge. In der Londoner Hochfinanz. Pass dich an. Arbeite an dir. Übertriff dich selbst. Bleib höflich. Nimm niemandem etwas weg. Werde Teil einer Familie. Einer Klasse. Eines Landes. Sei erfolgreich. Sei doppelt so gut. Sicher dich ab. Sei unsichtbar. Überlebe.

Der Schreibstil bricht mit Konventionen, ist aufregend, originell, sogar brillant und ebenso präzise wie poetisch. Die Erzählung klagt an, warnt, und zeigt uns auf ebenso elegante wie schonungslose Weise die brutalen Ungerechtigkeiten, mit denen eine Schwarze Frau auch heute noch konfrontiert ist. Eine "feindliche Umgebung" am Arbeitsplatz, unerfüllbare Anforderungen, rassistische Mikroaggressionen, unüberwindbare Klassenunterschiede, selbstgerechte Liberale, ein über Generationen vererbter Überlebenskampf - es schaffen oder scheitern, hier gibt es kein Entrinnen. Oder doch? Was passiert, wenn eine Frau versucht, die Kontrolle über ihre Entscheidungen wiederzugewinnen?

Kein Buch zum gemütlichen Einkuscheln mit einer Tasse Kakao, sondern eins bei dem einem der Atem stockt und das sicher noch lange nachwirkt.