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Rezensentin aus BW

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Insgesamt 217 Bewertungen
Bewertung vom 16.07.2021
Demnächst in Tokio
Seewald, Katharina

Demnächst in Tokio


ausgezeichnet

Im Prolog lernen wir die 95-jährige Elisabeth von Traunstein kennen, die in ihrer Küche Tee kocht.
Dann schrillt das Telefon.
Ihre Tochter Karoline, die am anderen Ende der Leitung ist, teilt ihr mit, dass sie nach Japan reisen wird.
Welch aufwühlende Nachricht!
Erinnerungen ploppen auf.
„Wie in einem Film sieht Elisabeth plötzlich die alten Bilder wieder vor sich.“ (S. 8)
…Elisabeth lebte von 1934 bis 1942 mit ihrem Mann Ernst Wilhelm in Tokio.

Schnell wird klar, dass Elisabeth Geheimnisse hat.
Schon mehrfach hat sie versucht, Karoline einzuweihen, aber erst jetzt, in hohem Alter und fast 30 Jahre nach dem Tod ihres Mannes Ernst Wilhelm, findet sie die richtigen Worte.
Elisabeth erzählt ihre Geschichte.

Es ist eine Geschichte, die „an einem ganz normalen Sommertag im Jahr nach Hitlers Machtergreifung“ (S. 12) begann.

Im Juni 1934 erfuhr die damals 18-jährige Elisabeth, dass sie heiraten muss.
Ihr Vater, Patriarch und „glühender Verfechter“ (S. 20) des Führers, hat beschlossen, dass Elisabeth den 39-jährigen Sohn seines Chefs noch am gleichen Tag ehelicht.
Widerworte lässt er nicht gelten. Vor einer Durchsetzung seines Entschlusses mit Gewalt scheut er nicht zurück.

Egoistische Gründe trieben ihn zu dieser Entscheidung:
„Ich werde endlich Kompagnon“ (S. 20). Der damit verbundene Aufstieg in höhere Kreise ist zu verführerisch. Er opfert seine Tochter.

Gleich im Anschluss an die Trauung im Standesamt verabschiedet sich Ernst Wilhelm mit den Worten: „So Gott will, sehen wir uns demnächst in Tokio.“ (S. 27) von seiner blutjungen, frischgebackenen Braut Elisabeth.

Zwei Monate später macht sich die junge Ehefrau auf den Weg nach Japan, um dort bei ihrem Mann zu leben, der inzwischen an der Botschaft in Tokio eine Stellung als Militärattaché innehat.

Ernst und Elisabeth leben eher wie Geschwister als wie Eheleute.

Die Ankunft von Alexander, einem Freund von Ernst, der Einfluss der deutschen Politik und der japanische Geheimdienst verändern das Leben und den Alltag der von Traunsteins…

Die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte hat mich gepackt.
Katharina Seewald schreibt feinfühlig, zeichnet vielschichtige und glaubwürdige Charaktere und schreibt anschaulich.
Ich stolperte über so manche schöne Formulierung, wie z. B.: „Eben hatte es noch geregnet, doch der Wind hatte aufgefrischt und trieb die Wolken auseinander wie ein bellender Hund eine Herde von Schafen.“ (S. 17)

Ich empfehle die Lektüre, die gleichermaßen spannender historischer Roman wie berührende Liebesgeschichte ist, sehr gerne!

Bewertung vom 14.07.2021
Delilah
Weihs, Sandra

Delilah


ausgezeichnet

„Delilah“ ist eine Perle voller Überraschung, Tiefgründigkeit, Metaphorik und Poesie.
Schon rein äußerlich ist dieses schmale Bändchen mit den rotbackigen Äpfeln, dem Symbol der Verführung, eine Pracht.

Penelope sitzt in ihrem Jugendzimmer und erinnert sich an ihr letztes Schuljahr im Gymnasium.
Ein Jahr, das von der Freundschaft mit Delilah, einem 6-köpfigen „Freundschaftsgespinst“ und der ersten Liebe geprägt wurde.

Zu Beginn treffen wir auf zwei sehr gegensätzliche jugendliche Freundinnen im Abschlussjahr des Gymnasiums:
Die neue Mitschülerin Delilah und die Ich-Erzählerin Penelope.

Delilah ist ein unabhängiger, unbeschwerter und selbstbewusster Anführertyp und Penelope ist ein wohl behütetes, schüchternes und selbstunsicheres Mädchen, das sich als langweilig empfindet, Schutz sucht und sich gern anlehnt.

Die beiden schlendern durch den Vorort und pausierten auf einem Findling neben dem Fluss.

Und hier, auf dem Findling am Fluss, erzählt Delilah ihrer Freundin, die von ihr manchmal „kleines Entlein“ (S. 10) genannt wird, die Geschichte ihres Namens.

Im weiteren Verlauf der Geschichte erinnert sich Penelope an die Zeit mit der charismatischen, unabhängigen und schönen Delilah.

Wir lesen vom ersten Schultag im letzten Schuljahr auf dem Gymnasium.
Bereits in den ersten Augenblicken entstand ein besonderes Band zwischen den beiden Mädchen.

Wir erfahren vom ersten Ausflug mit Delilah, die die Fähigkeit hat, die Einzelgänger und Außenseiter der Klasse zu eine Gruppe zu vereinen und Freundschaften zu stiften.

Freundschaften zwischen Jan, Penelope, Tanja, Markus und Delilah selbst als imposantes Zentrum.

Wir lesen vom gemeinsamen Äpfelpflücken im Garten von Penelopes Eltern und von einer Mathematikstunde, in der der Lehrer eine Mitschülerin aufs Übelste beleidigt und erniedrigt.
Delilah kümmert sich nur um die reifen und schönen Äpfel und
Delilah verteidigt die gedemütigte Mitschülerin.

Eines Tages stößt Jonas, ein Freund von Jan, zu der Gruppe um Delilah. Als er eine Skizze von ihr anfertigen will, gerät sie in Rage und preist stattdessen Penelope als Modell an.

Penelope wird mehr als Jonas‘ Modell.

Von da an vollziehen sich Veränderungen im Kreis der sechs Freunde und v. a. mit Delilah:
„Mit jedem Tag wuchsen wir stärker zusammen, doch Delilah entfernte sich.“ (S. 46).

Die Geschichte umspannt ein Jahr, das mit einer Begegnung beginnt, die befreiend wirkt und allerlei Entwicklungen und Veränderungen in Gang setzt.
…und am Ende steht die schmerzliche Ambivalenz.

Dieses Werk zu lesen lohnt sich.
Die poetische Sprache mit ihren anschaulichen und eindrücklichen Bildern und Metaphern lädt dazu ein, sich hineinfallen zu lassen und zu genießen.
Die Geschichte selbst animiert zum Nachdenken.
Ganz von selbst und ausgelöst durch die nachvollziehbare Darstellung komplexer Gefühlswelten, kristallisieren sich Gedanken heraus, die sich auf das eigene Leben beziehen.
Es geht dabei vor allem um Fragen rund um Freiheit und Sicherheit sowie Abhängigkeit und Unabhängigkeit.

Die 1983 geborene Sandra Weihs verwöhnt den Leser mit präzisen, glaubhaften und tiefgründigen Charakterzeichnungen.
Die Proragonisten der Geschichte erwachen in all ihrer Vielschichtigkeit zum Leben.
Sie sind individuell und haben Ecken und Kanten, auch wenn sie im Großen und Ganzen Repräsentanten von Charakteren darstellen.

„Delilah“ bekommt einen dauerhaften Platz in meinem Bücherregal.
Es ist ein Büchlein, zu dem ich gern ein zweites Mal greifen werde.

Bewertung vom 10.07.2021
Abenteuer Welpe
Rätke, Jana;Perfahl, Barbara

Abenteuer Welpe


ausgezeichnet

Mal ein etwas anderer Welpen-Ratgeber…

Dieses Buch zeigt, wie sehr der Einzug eines Welpen mit Gefühlen und Erwartungen aufgeladen ist und beleuchtet neben all dem Schönen, das ein Welpe mit sich bringt, auch die Schattenseiten, Unklarheiten und Schwierigkeiten der ersten Zeit.

Das ist schon deshalb wichtig, weil man dadurch Illusionen verliert und Enttäuschungen vermeidet bzw. vermindert.

Aber es bleibt nicht beim bloßen BELEUCHTEN.
Tipps, Tricks, Trost und Ermunterungen helfen über schwierige Momente hinweg und machen es etwas leichter, Herausforderungen zu meistern.

Übermüdung sowie unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen führen nicht selten zu Frustration, intrafamiliären Spannungen oder Konflikten in der Beziehung.

Ein sich einmischendes oder besserwisserisches Umfeld strapaziert oft die Nerven der neuen Hundebesitzer und Diskussionen mit Bekannten lassen einen manchmal fast verzweifeln.

Die Hundetrainerin Jana Rätke und die Psychologin Barbara Perfahl gehen auf Fragen zum Verhalten von Welpen ein, erklären warum sie in gewissen Situationen so und nicht anders handeln, geben Tipps, wie man das Verhalten von Welpen beeinflussen kann und verraten Trainingsansätze und Lösungswege.

Sie fokussieren die häufigsten und typischen fünf Probleme der ersten Wochen:
Stubenreinheit, Schlafplätze, Spaziergänge, das Verhalten gegenüber anderen Hunden sowie die unerwarteten Konflikte im sozialen Umfeld.

Aber auch Themen wie Autofahren, Stadtbummel, Halsband und Leine, Leinenführigkeit, Freifolge und Hundeschule werden aufgegriffen.

Ich finde die grobe Einordnung der Hundehalter in Typen sehr interessant, v. a. weil in diesem Rahmen deren realistische, derzeit unrealistische oder gänzlich unrealistische Erwartungen ins Visier genommen werden.
Diese Auseinandersetzung ist außerordentlich wichtig, um Frustrationen, negativen Gefühlen und enttäuschten Erwartungen vorzubeugen.

Äußerst wertvoll sind die zahlreichen Fallbeispiele am Ende des Buches, in denen das Problem geschildert, die Ursache herausgearbeitet und eine Lösungsmöglichkeit genannt wird. Interessant dabei ist die wechselseitige Fokussierung von Mensch und Hund.

Auf die Frage, wie man möglichst unbeschadet durch die turbulente Welpenzeit kommt, gibt es neben den Tipps „Bleiben Sie trotz aller Widrigkeiten heiter und gelassen, denn die schwierigen Momente gehen vorüber!“, „In der Ruhe liegt die Kraft“ und „Setzen Sie Prioritäten!“ noch zahlreiche andere Möglichkeiten, die helfen können, die ersten Wochen zu meistern.
…und die Idee, ab Stunde Null ein sog. Glückstagebuch zu führen gefällt mir prima. Das werde ich bestimmt umsetzen, schon deshalb, um diese interessante, turbulente, anstrengende und letztlich wundervolle Zeit nicht zu vergessen.

Mir gefällt diese etwas andere Herangehensweise äußerst gut, weil man sich durch den offenen Umgang mit schwierigen Themen ein realistisches und rundes Bild der ersten Zeit mit seinem tierischen Familienzuwachs machen kann.

Ich empfehle diesen informativen, kurzweiligen, unterhaltsamen und hochwertig gestalteten Welpenratgeber, der in einem verständlichen und lockeren Plauderton geschrieben und mit schönen Fotos und aufschlussreichen Anekdoten versehen ist, sehr gerne weiter.

Bewertung vom 08.07.2021
Windstill
Vasella, Ilia

Windstill


sehr gut

Wow!
Was für ein erschütternder Beginn.
Ein Paukenschlag, der einen schaudern lässt!
Ein Drama, das eine sommerliche Ferienidylle zerschneidet!
Marie rutscht auf der Treppe aus, fällt nach hinten und knallt mit dem Kopf auf das Metallrohr eines Sonnenschirmständers.
Marie ist auf der Stelle tot.

Die Geschichte spielt in Südfrankreich am Rand der Pyrenäen.
Es ist August.
Wir begleiten die Gäste und Bewohner eines idyllisch gelegenen Ferienhauses aus Sandstein, besser gesagt, „eines leicht vergammelten Landschlosses“ (S. 12) auf einer Hügelkuppe in den ersten Stunden nach dem fatalen Ereignis.

Der Hausherr Pierre und sein kleiner Sohn Gian, die französische Mieterin Odile und eine vom Zufall bunt zusammengewürfelte Feriengemeinschaft bewohnen derzeit das Landschloss.

Gesellige Abende mit Rotwein und gemeinsame Mahlzeiten auf der Terrasse bringen die Gäste ganz zwanglos einander näher.

Neben Pierre, seinem Sohn Gian, Odile und dem soeben zum Witwer gewordenen Franz, lernen wir Dorothea und Mauro mit ihren Zwillingen Rosa und Emil, Stephan und seine kleine Tochter Lara sowie den Jugendlichen Nick, der von seiner Mutter hergeschickt wurde, um Französisch zu lernen, kennen.

Abwechselnd begleiten wir den ein oder anderen Bewohner, haben Teil an seinen Gedanken und lernen so auch Marie aus den verschiedenen Sichtweisen heraus kennen.

Jeder hat seine eigenen Erinnerungen an die gerade Verunglückte.
Jeder hat ein eigenes und interessantes Leben.
Jeder geht anders mit dem gerade erlebten Schock um.
Jeder hängt anderen Gedanken nach.
Dem zu folgen ist unterhaltsam und abwechslungsreich.

Ilia Vasella überzeugt mit wunderbaren Landschaftsbeschreibungen und mit präzisen und eindrücklichen Schilderungen der Geschehnisse.

Mit ihrer anschaulichen und zuweilen poetischen Sprache und mit knappen, präzisen und ausdrucksstarken Bildern vermittelt sie wunderbar die spannungsgeladene Atmosphäre zwischen Glück und Idylle auf der einen sowie Tragödie und Schmerz auf der anderen Seite.

Ich wurde in diesem schmalen Bändchen mit einer außergewöhnlichen, kreativen, eindringlichen und manchmal abgehackten und bruchstückhaften Erzählweise überrascht, die zwar unaufgeregt und ruhig, aber gleichzeitig eindringlich ist, nachhallt und Denkanstöße gibt.

Wer viel Handlung, Action oder spritzige Dialoge erwartet, wird enttäuscht sein, denn hier stehen die Einblicke in die Innenwelten der Schlossbewohner sowie wunderbare Landschaftsbeschreibungen im Vordergrund.

„Windstille“ erinnert ein bisschen an ein Musaik, das sich aus mehreren Einzelstücken zusammensetzt.

Ein Mosaik, das entsteht, weil abwechselnd unterschiedliche Menschen und ähnliche Situationen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden.

Mal schwingt die Kamera ein bisschen vorwärts, mal ein bisschen rückwärts.
Ab und zu gibt es auch Ausblicke in die Zukunft und gegen Ende macht die Autorin noch einen Zeitsprung nach vorne mit Blick zurück.

Immer wieder stieß ich auf wunderschöne Formulierungen, die ich mehrmals lesen „musste“, wie zum Beispiel „Und als würde ihn diese Überlegung bereits alle Kräfte kosten, fällt er zurück in das Minenfeld seine Gedanken.“ (S. 76)

Ich empfehle den Roman von Ilia Vasella gerne weiter.
Ein besonderes und unbedingt lesenswerter Debut!

Bewertung vom 05.07.2021
Schilf im Wind
Deledda, Grazia

Schilf im Wind


ausgezeichnet

Der italienische Klassiker „Schilf im Wind“, der Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Heimatinsel Sardinien der Literaturnobelpreisträgerin Grazia Deledda (1871–1936) spielt, ist eine Wucht und die Neuauflage dieses 1913 erstmals erschienenen Werkes kann sich sehen lassen!
Der Manesse Verlag hat aus dem inhaltlichen Meisterwerk auch ein optisches Schmuckstück gemacht.

Wir begleiten die drei adligen und unverheirateten Schwestern Ruth, Esther und Noemi Pintor, die ein ehemals großes, aber inzwischen verschuldetes und heruntergekommenes Landgut in einer entlegenen und kargen Gegend Sardiniens bewohnen.
Die vierte und älteste Schwester Donna Lia floh vor vielen Jahren vor ihrem despotischen Vater unter dramatischen Umständen von der Insel und brachte Schande über die Familie.

Eines Tages besucht der junge und charismatische Don Giacinto, der Sohn ebendieser inzwischen verstorbenen Schwester, seine Tanten auf dem Landgut.

Gemischte Gefühle erwarten ihn.
Viel Hoffnung wird in ihn gesetzt und viel Vertrauen wird ihm entgegengebracht.

Wird er den Pintors helfen, das verlorene Ansehen wiederzuerlangen?

Wohl nicht…Ernüchterung und Enttäuschung lassen nicht lange auf sich warten.
Spekulationen und Gerüchte entstehen und kursieren.

Der betagte und treue Knecht Efix bewirtschaftet das Anwesen engagiert, geduldig und unentgeltlich…aus einem Schuldbewusstsein heraus.

Grazia Deledda erzählt dieses italienische Drama, das an eine griechischen Tragödie erinnert, ruhig und unaufgeregt und man kann sich in die wunderbaren, ausschweifenden und poetischen Schilderungen und Beschreibungen von Landschaft, Traditionen und Menschen hineinfallen lassen.
Es gelingt der Autorin hervorragend, die Schönheit der Natur, das Ambiente und die Atmosphäre einzufangen. Eindrucksvolle und sinnliche Sprachbilder machen dieses Werk zu einem literarischen Highlight.

Ich empfehle diesen beeindruckenden und absolut lesenswerten Klassiker, in dem es um Schuld und Sühne, Liebe und Hass, Traditionen, Gesellschaftsstrukturen, Religion, Mythen und Aberglaube geht, sehr gerne weiter!

Bewertung vom 04.07.2021
Viktor
Fanto, Judith

Viktor


ausgezeichnet

Dieser gelungene Debut- und Familienroman spielt auf zwei Zeitebenen und an zwei Schauplätzen (Niederlande und Wien) und gibt uns Einblicke in die Biografien und das jüdische Leben der 20-jährigen Studentin Geertje und ihrem Grossonkel Viktor.

Viktor, der sich nicht immer an Regeln und Konventionen hält, einen Ruf als Frauenheld hat und den Erwartungen seines Vaters nicht gerecht wird, begleiten wir von Anfang des ersten Weltkriegs bis zum Anfang des zweiten Weltkrieges.

In Geertjes Geschichte, die den Zeitraum zwischen 1975 und 1995 umfasst, geht es um das Leben der Juden nach dem Krieg und über das Gefühl der Schuld der Überlebenden.
Geertje beschäftigt sich mit den Auswirkungen der NS-Zeit auf das Leben ihrer jüdischen Vorfahren bis in die Gegenwart hinein, macht sich an Tabuthemen, bricht Schweigen und lüftet dabei Familiengeheimnisse. Das alles, ohne rechte Hilfe von Seiten ihrer Familie zu bekommen.
Während dieses Prozesses der Identitätssuche mausert sie sich zu einer selbstbewussten jungen Frau, die ihre jüdischen Wurzeln nicht leugnet.

Das Buch liest sich angenehm und flüssig. Einmal damit begonnen, konnte ich es kaum mehr aus der Hand legen.
Spannung, Humor und spritzige Dialoge fehlen nicht und helfen, die erschütternden Ereignisse zu verdauen.
Der Familienstammbaum am Anfang des Buches hilft, die Verwandtschaftsverhältnisse zu umreißen.

Ich empfehle diesen fesselnden und wissenswerten autobiographischen Roman von Judith Fanto, in dem sie sich gekonnt und feinfühlig mit ihrer jüdischen Familiengeschichte auseinandersetzt, gerne weiter!

Bewertung vom 02.07.2021
Das Land der Anderen
Slimani, Leïla

Das Land der Anderen


ausgezeichnet

Dieses Buch zu lesen, war eine Selbstverständlichkeit für mich, da mich bereits die beiden anderen preisgekrönten Werke von Frau Slimani, „Dann schlaf auch du“ und „All das zu verlieren“, überzeugten.

„Das Land der Anderen“ ist eine Familiengeschichte, eine Liebesgeschichte und eine Geschichte, in der es um innere Ambivalenzen, sowie um die Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängig geht.
Die Geschichte spielt in der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Wir lernen Mathilde kennen, die mit ihrer Familie im Elsass lebt und 1947 dem Marokkaner Amine Belhaj, der als Offizier in der französischen Armee gekämpft hat, begegnet.
Schwer verliebt folgt sie ihm in seine Heimat Marokko, wo sie schon bald desillusioniert wird.
Das Paar bekommt zwei Kinder und bewirtschaftet ein karges Stück Land am Fuße des Atlasgebirges.
Ihr Alltag ist entbehrungsreich und hart, zuweilen auch einsam.

Es macht Freude, Mathilde und ihren Ehemann, dessen Bruder Omar, der für ein freies Marokko kämpft und seine Schwester Selma, die für ein freies Leben kämpft und etliche andere Menschen kennenzulernen und zu begleiten.

Die verschiedenen Ambivalenzen mitzuerleben, gibt Denkanstöße.
Da ist die Zerrissenheit einer jungen Frau zwischen ihrer europäischen Herkunft und der aktuellen marokkanischen Heimat.
Da ist die Polarität zwischen dem Islam und dem Christentum und da ist der Widerstreit zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Ansprüchen und Erwartungen der Familie.

Die 1981 geborene französisch-marokkanische Schriftstellerin widmet sich bedeutenden Themen wie Befreiung, Unabhängigkeit, Sehnsüchte, Wünsche und Illusionen.
Sie schreibt schnörkellos und nüchtern, aber gleichzeitig steckt das Buch voller Emotionen.
Anschaulich, präzise, glaubwürdig und atmosphärisch beschreibt sie die Szenerie und das Innenleben der Protagonisten.

Es ist äußerst interessant, in diese andere und fremde Lebenswelt einzutauchen und sich mit dem patriarchalisch orientierten Gesellschaftssystem auseinanderzusetzen. Sich „ganz nebenbei“ mit der Politik, der Geschichte und der Entwicklung dieses von 1912 bis 1956 unter französischem Protektorat lebenden Landes zu befassen war äußerst aufschlussreich und bereichernd.

Schade, dass es den Roman nicht schon vor meinem länger zurückliegenden Marokkourlaub gab. Er wäre eine unterhaltsame und informative Urlaubsvorbereitung gewesen.

Ich empfehle „Das Land der Anderen“ von Leila Slimani sehr gerne weiter.

Bewertung vom 28.06.2021
Kronsnest
Knöppler, Florian

Kronsnest


sehr gut

Der 1966 geborene Autor Florian Knöppler hat seinen Debutroman in der Elbmarsch angesiedelt.
Er kennt sich in dieser Region gut aus, da er selbst seit einigen Jahren mit seiner Familie auf einem Hof in Schleswig-Holstein lebt.
Seine Geschichte spielt allerdings nicht in der Gegenwart, sondern in der Umbruchphase der späten 1920-er Jahre, in der sich tiefgreifende politische Veränderungen vollzogen und in der die Wirtschaftskrise so manch einem das Leben schwer machte.

Völlig unaufgeregt erzählt Florian Knöppler die Geschichte des 15-jährigen feinfühligen und v. a. zu Beginn unsicheren und verletzlichen Bauernsohns Hannes, der den Härten der Zeit, des bäuerlichen Lebens und den erschwerten Bedingungen mit einem nicht selten cholerischen und im Verlauf alkoholkranken Vater ausgesetzt ist.

Seinem Vater, der roh, launisch und oft jähzornig und gewalttätig ist, kann er nichts recht machen.
Seine eher zurückhaltende Mutter steht zwischen den beiden und versucht, zu vermitteln.
Die Situation zu Hause spitzt sich zu. Anscheinend war der Vater aber nicht immer so aggressiv.

Hannes, dessen Lebensweg als Landwirt vorprogrammiert ist, ist aufgrund seines eher ängstlichen und verschlossenen Auftretens den Angriffen streitlustiger Mitschüler ausgesetzt. Glücklicherweise gibt es einen wohlgesinnten Lehrer.
Tagträume, Bücher und seine Liebe zu Tieren helfen ihm über die schweren Momente hinweg und als er sich in Mara, die psychisch labile Tochter eines Großbauern, verliebt, beginnt eine Berg- und Talfahrt der Gefühle.
Hannes entfremdet sich von seinem besten Freund Thies, was das Ganze auch nicht gerade leichter macht.

Der Autor, der meines Erachtens exzellent recherchiert hat, schreibt gleichzeitig lebendig sowie in einer schlichten und nüchternen Sprache, die auch von einer gewissen Poesie getragen wird.
Wortkargheit, Reserviertheit und Pragmatismus der Leute werden auf diese Weise wunderbar gespiegelt.

Er zeichnet überwiegend glaubwürdige Figuren mit Ecken und Kanten, die man gern kennenlernt und begleitet.

Er schafft es, Spannung aufzubauen und erweckt mit stimmungsvollen Bildern Landschaft und Natur zum Leben.

Ganz besonders gut gefallen hat mir die glaubwürdige, feinfühlige und detaillierte Darstellung der familiären Problematik und des Konflikts zwischen Vater und Sohn vor dem Hintergrund einer politisch und wirtschaftlich bewegten Zeit.
Auch die feinsinnigen Natur- und Personenbeschreibungen haben mich überzeugt.
Dass es im Verlauf hin und wieder Längen gab und dass das ein oder andere nicht ganz schlüssig und nachvollziehbar war, minderte meine Freude an der Lektüre kaum.

Ich empfehle den Roman sehr gerne weiter!
„Kronsnest“ ist gleichzeitig ein interessanter historischer Roman mit aufschlussreichen zeitgeschichtlichen Aspekten, eine bewegende und fesselnde Familiengeschichte sowie eine berührende Entwicklungsgeschichte.

Bewertung vom 22.06.2021
Der große Wind der Zeit
Sobol, Joshua

Der große Wind der Zeit


ausgezeichnet

In diesem Gesellschafts- und Generationenroman lernen wir in 47 Kapiteln Libby, ihre aschkenasisch-jemenitische Familie und ihre aus Österreich und Afrika stammenden Vorfahren kennen.

Hundert Jahre Geschichte breiten sich in diesem kurzweilig und lebendig erzählten Werk vor uns aus.
Dabei werden nicht nur die Lebensgeschichten von vielen Menschen miteinander verwoben, sondern auch die Vergangenheit mit der Gegenwart gekonnt in Verbindung gebracht.

Im Vordergrund stehen dabei Libby, ihr Großvater und dessen Mutter, die unverheiratete Tänzerin Eva Ben-Chaim.

Libby ist eine Offizierin und Verhörspezialistin der israelischen Armee.
Ihre Verhöre der palästinensischen Attentäter führen zu Geständnissen, die drastische Strafmaßnahmen für die Betroffenen zur Folge haben. Nach einer beunruhigenden Begegnung mit einem mutmaßlichen Terroristen braucht sie eine Auszeit. Alles wird ihr zu viel. Sie nimmt Urlaub und fährt in den Kibbuz. Im Haus ihres abwesenden Großvaters Dave will sie wieder ihre innere Ruhe finden.
…aber zunächst findet sie Tagebücher.

Libby vertieft sich in diese herumliegenden Tagebücher ihrer Urgroßmutter Eva Ben-Chaim und taucht tief in deren Geschichte ein.
Eva Ben-Chaim, die Mutter ihres Großvaters, war in den dreißiger Jahren eine Tänzerin und Choreografin in Berlin. Sie erlebte, wie die Nazis an die Macht kamen, beobachtete den jüdischen Auswanderungsstrom und konnte sich schließlich selbst noch rechtzeitig in Sicherheit bringen.
In den dreißiger Jahren lernte Eva in der Berliner Theaterszene Berthold Brecht kennen. Laut Tagebuch hätten sie eine Liebelei miteinander gehabt.
Eva war 1942 maßgeblich am Aufbau der deutschen und arabischen Abteilung des jüdischen Kampfverbandes Palmach beteiligt, die gegründet wurde, um den befürchteten Einmarsch von Rommels Truppen in Palästina abzuwehren.

Die Familiensaga „Der große Wind der Zeit“ erzählt die Geschichte Israels der letzten 100 Jahre und sie will unaufdringlich vermitteln.
Sie appelliert an junge Israelis und Palästinenser, offen miteinander umzugehen und sich füreinander zu interessieren.

Der Roman hat mich inhaltlich und literarisch überzeugt. Er fesselte mich und erweiterte meinen Horizont.
In das Leben einer jüdischen Familie über vier Generationen hinweg einzutauchen machte mir große Freude, v. a., weil es von dem Autor Joshua Sobol so detailliert, farbig, lebendig, atmosphärisch und dialogreich erzählt wird.

Der einzige Kritikpunkt:
Ein Familienstammbaum zu Beginn wäre deutlich hilfreicher gewesen, als die bloße Auflistung dieser Vielzahl von Familienangehörigen und Nebenfiguren. Durch die Visualisierung hätte ich mir bei der Lektüre sicherlich leichter getan.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.06.2021
Drei Kameradinnen
Bazyar, Shida

Drei Kameradinnen


ausgezeichnet

In diesem Werk der 1988 in Rheinland-Pfalz geborenen Schriftstellerin Shida Bazyar geht es um Vorurteile, Ausgrenzung, Anfeindungen … Rassismus.

Die drei Kameradinnen, das sind die drei jungen Frauen Hani, Saya und die Erzählerin Kasih. Ihre Eltern sind nach Deutschland eingewandert, als sie selbst noch Kinder waren.
Sie haben sich kennengelernt, weil sie in der gleichen Siedlung aufgewachsen sind.
Inzwischen lebt und arbeitet Saya in einem anderen Land. Anlässlich der Hochzeit einer Jugendfreundin treffen sie sich wieder.
Sie verbringen einige Tage zusammen.
Etwas drastisches passiert!

Die Kamera schwenkt hin und her. In Rückblicken erfährt man von früher und dann landen wir wieder im Hier und Jetzt. Wir lernen die jungen Frauen, die in all ihrer Vielschichtigkeit und sehr authentisch beschrieben werden, gut kennen.
Die Autorin lässt auch aktuelle Geschehnisse einfließen, was ich für besonders gelungen halte.

Shida Bazyar schreibt außergewöhnlich, kühn und schonungslos. Sie beobachtet genau und erzählt originell, unkonventionell, eigenwillig und raffiniert.

„Drei Kameradinnen“ ist ein Highlight.
Es ist nicht nur spannend, aufwühlend und unterhaltsam, sondern es gibt Denkanstöße und hallt nach.
Es hat mich literarisch überzeugt und greift ein aktuelles und brisantes Thema auf.

Nachdem ich von diesem Werk so angetan bin, werde ich wohl bald ihren 2016 erschienenen Debütroman „Nachts ist es leise in Teheran“ lesen.