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SimoneF

Bewertungen

Insgesamt 500 Bewertungen
Bewertung vom 05.07.2024
Hat irgendjemand Oscar gesehen?
Connor, Leslie

Hat irgendjemand Oscar gesehen?


gut

Aurora und Oscar sind auf den ersten Blick ziemlich unterschiedlich, und dennoch sind beide beste Freunde. Während Aurora impulsiv und energiegeladen ist, laut und viel redet, spricht Oscar nicht, ist sehr zurückgezogen und lebt in seiner eigenen Welt. Beide gehen in eine Klasse, und Aurora kümmert sich rührend und sehr fürsorglich um Oscar. Im neuen Schuljahr jedoch kommen beide in unterschiedliche 6. Klassen, und eines Tages ist Oscar plötzlich verschwunden. Der ganze Ort sucht fieberhaft nach ihm, allen voran Aurora.
Im Buch wird das nicht explizit erwähnt, aber es ist anzunehmen, dass Aurora ADHS hat und Oscar eine Form von Autismus. Die Idee, neurodiverse Protagonist/innen in den Mittelpunkt zu stellen, hat mir sehr gut gefallen. Auroras Charakterisierung finde ich sehr gelungen. Da ein wesentlicher Teil des Buches aus ihrer Perspektive erzählt wird, konnten mein Sohn und ich uns gut in sie hineinversetzen, und sie war uns auf Anhieb sympathisch. Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck, ist fürsorglich und offen. Etwas schade fanden wir, dass Oscar im Buch ein wenig kurz kommt, insbesondere auch seine Sicht der Dinge und seine Emotionen. Die Autorin erzählt im Buch aus verschiedenen Blickwinkeln, und es ist ein bisschen verwunderlich, dass ausgerechnet Oscar hier den geringsten Anteil hat. Hierdurch verschenkt das Buch leider etwas an Potential, das autistische Spektrum jungen Leser/innen begreiflich zu machen.
Generell ist die Thematik des Buches für jüngere Kinder, die das Buch alleine lesen und bisher noch keinen Kontakt zu neurodiversen Kindern hatten, nicht ganz einfach zu verstehen, gerade im Bezug auf Oscar. Mein Sohn und ich haben das Buch zusammen gelesen, und ich konnte ihm so vieles erklären. Auch aufgrund der komplexeren Erzählweise mit verschiedenen Rückblenden würde ich das Buch eher für etwas ältere Kinder ab 11 oder 12 Jahren empfehlen oder es entsprechend begleiten.
Etwas unrealistisch fand ich die idealisierte Heile-Welt-Darstellung, in der es quasi keine Konflikte gibt. Aurora eckt mit ihrer Art gelegentlich etwas an, aber im Grunde gibt es keine größeren zwischenmenschlichen Probleme, Oscar ist zwar meist für sich, er wird von den Mitschüler/innen aber auch nicht getriezt. In der Realität wäre das vermutlich leider nicht ganz so schön. Nun kann man das Buch als Beispiel einer Welt ansehen, wie sie sein sollte, in der neurodiverse Kinder ganz selbstverständlich dazugehören. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass Kinder, die selbst betroffen sind, und in ihrem Leben auf weniger verständnisvolle Mitmenschen treffen, ernüchtert sind, wenn ihnen das Buch nur ein Ideal zeigt. Hier hätte es ermutigend wirken können, wenn Konflikte und Lösungsansätze thematisiert worden wären.

Bewertung vom 05.07.2024
Signum / Stormland Bd.2
Lindqvist, John Ajvide

Signum / Stormland Bd.2


ausgezeichnet

Nachdem mich „Refugium“ richtig gefesselt hat, war ich sehr gespannt auf die Fortsetzung. Diese schließt inhaltlich an Teil 1 an, und man sollte diesen im jeden Fall zuerst gelesen haben.

Kim hat inzwischen seinen Peiniger aus der Kindheit gekidnappt, hält ihn in seinem Keller gefangen und foltert ihn, während Julia im rechtsextremen Milieu ermittelt. Hierdurch erhält die Handlung eine weitere, gesellschaftliche und politische Ebene, die gerade leider sehr aktuell ist.

Der Schreibstil ist packend und spannend geschrieben, mit vielen spektakulären Szenen, und ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht. Lindqvist verfolgt mehrere Handlungsstränge parallel, so dass der Thriller sehr abwechslungsreich ist und auch noch viele weitere Ansätze für den dritten Band bietet.
Einige Szenen sind ziemlich brutal geraten, das war für mich stellenweise grenzwertig. Ich hätte die Schilderungen nicht in allen Details gebraucht, das war schon extrem. Faszinierend finde ich nach wie vor die Hauptfiguren Kim und Julia, die mir zwar beide nicht wirklich sympathisch sind, aber sehr interessante Charaktere darstellen. Sie überschreiten allerdings immer wieder die Grenzen der Legalität, was es mir als Leserin schwer macht, sie zu mögen.

Ich bin nun sehr gespannt auf den dritten und letzten Teil!

Bewertung vom 02.07.2024
Freundschaft und Vergeltung
Krausser, Helmut

Freundschaft und Vergeltung


gut

„Freundschaft und Vergeltung“ ist mein erstes Buch von Helmut Krausser, auf das ich nach Daniel Kehlmanns Lobeshymnen über den Autor sehr gespannt war.

Anthony Brewer, ein pensionierter englischer Rechtsanwalt, war 1965 ein 17-jähriger Schüler des englischen Internats Raven Hall. In der Weihnachtszeit verschwanden damals auf mysteriöse Weise vier Menschen. Die Polizei tappte im Dunkeln, die Vermissten tauchten nie wieder auf, und Anthony lässt dies über die Jahre nicht zur Ruhe kommen. Bereits 1985 stellt er erste Nachforschungen an, und nach seiner Pensionierung nimmt er 2016 die Suche wieder auf.

Auch wenn der Plot nach einem Krimi klingt, würde ich das Buch nicht als solchen ansehen, und echte Krimifans werden vermutlich eher enttäuscht sein. Auch wenn zunächst vordergründig die Lösung des Falles im Fokus steht, wird im Laufe des Romans immer mehr deutlich, dass es eigentlich um ganz andere Themen geht – das testosterongeladene Klima an Knabeninternaten, die Kraft der Illusionen, die eigene Lebensbilanz und das Altern geht.

Ich tat mich zunächst schwer, emotionalen Zugang zu der Geschichte zu finden - als zu selbstgefällig und unsympathisch empfand ich die Charaktere, und zu abstoßend das von zu viel Testosteron geprägte Vokabular und die Atmosphäre am Knabeninternat. Insbesondere die zentrale Figur Christan Bradshaw nervt durch ihre sexistische, spätpubertäre und selbstgefällig-großspurige Art massiv. Die Einstellung sowohl der Schüler als der männlichen Lehrkräfte zu sexueller Nötigung gegenüber Frauen ist erschreckend. Das mag 1965, lange vor #MeToo, noch Realität gewesen sein, ist aber dennoch beim Lesen schwer erträglich. Generell würde ich dieses Buch klar als einen „Männerroman“ bezeichnen.

Krausser Schreibstil ist flüssig zu lesen, das Buch ist spannend und wendungsreich geschrieben, strukturell geschickt aufgebaut mit einer Mischung aus Rückblenden, Augenzeugenberichten, Polizeiprotokollen und Anthonys Leben in der Gegenwart. Insbesondere das Spiel mit den Erwartungen und Illusionen hat mir sehr gut gefallen.

Ich lege dieses Buch mit gemischten Gefühlen zur Seite. Zu viele Fragen bleiben für mich unbeantwortet, um zufrieden mit dem Buch abschließen zu können, und eine echte Nähe zu den Figuren konnte ich nicht entwickeln. Der Ich-Erzähler Anthony war für mich nicht griffig genug, um die Auswirkungen der damaligen Ereignisse auf sein späteres Leben konkret nachvollziehbar zu machen, hier bleibt mir das Buch zu vage. Insgesamt hatte ich mir angesichts der Vorschusslorbeeren deutlich mehr erwartet und das Buch wird mir nicht nachhaltig im Gedächtnis bleiben.

Bewertung vom 30.06.2024
VIEWS
Kling, Marc-Uwe

VIEWS


sehr gut

Bisher habe ich von Marc-Uwe Kling nur seine Kinderbücher gelesen und die Känguru-Chroniken als Film gesehen (letzterer war so gar nicht mein Fall), doch die Leseprobe von VIEWS hat mich sofort neugierig gemacht. Ein Thriller, mal ein ganz anderes Genre von Kling – warum nicht?

Das Buch hat mich dann so sehr gepackt, dass ich es in einem Rutsch ausgelesen habe. Kling schreibt eingängig, flüssig und mit einem scharfen Blick auf den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft. Trotz der schweren und explosiven Thematik blitzt auch immer wieder sein trockener Humor hervor.

Die Geschichte ist packend erzählt und gesellschaftlich, politisch und technologisch brandaktuell, und somit nicht nur ein Thriller, sondern vielmehr auch ein hochbrisanter Roman zur Gegenwart, der sehr zum Nachdenken anregt. Auch wenn Kling aus der Perspektive von Yasira, Hauptkommissarin beim BKA in Berlin, erzählt, so bleibt das Privatleben der Kommissar/innen weitestgehend im Hintergrund, sofern es nicht den Fall berührt. Der Autor verzichtet angenehmerweise komplett auf skurrile Ermittlerfiguren mit schrägen Macken, sondern fokussiert voll und ganz auf den Fall.

Kling entwickelt einen spannenden Plot mit überraschenden Wendungen, der im letzten Drittel allerdings sehr gehetzt wirkt, und ich hatte das Gefühl, dass dem Buch 100-150 weitere Seiten sehr gut getan hätten. Ich frage mich wirklich, warum Kling es bei gerade einmal 272 Seiten beließ, und mit einen recht überstürzt erscheinenden Schluss endet, der mich eher unbefriedigt zurücklässt. Zum einen fällt inhaltlich das Niveau des bis dahin so vielversprechenden Thrillers doch deutlich auf Genre-Durchschnitt ab, und zum anderen bleiben leider interessante Fragen ungeklärt. Auch über das „Danach“ hätte ich gerne noch mehr erfahren, da die weiteren Reaktionen – polizeiintern, ermittlungstechnisch, gesellschaftlich und politisch - für mich keineswegs eindeutig sind.

Bewertung vom 22.06.2024
Janes Roman
Cusset, Catherine

Janes Roman


sehr gut

Janet Cook, Professorin für Französische Literatur an der (fiktiven, an Yale angelehnten) Devayne University in Old Newport, findet eines Tages im Eingang ihres Hauses ein Paket ohne Absender, das ein Manuskript eines Romans über ihr Leben beinhaltet. Der Autor oder die Autorin des Manuskripts weiß erstaunlich detailliert über Janes Alltag und ihr Liebesleben Bescheid. Jane ist während der Lektüre gleichermaßen fasziniert wie beunruhigt und verdächtigt abwechselnd bald alle Personen ihres Umfelds, der/die anonyme Verfasser/in des Manuskripts zu sein…
Der Roman wurde bereits 2001 erstmals auf Deutsch veröffentlicht und erscheint nun in einer Neuausgabe im Eisele Verlag. Die Handlung spielt in den Jahren 1991 bis 2000.


Die erste Textebene um Jane, die mit einem Mix aus Neugier, Unbehagen, Scham und Faszination den anonym verfassten Text liest und herauszufinden versucht, wer diesen geschrieben haben könnte, umrahmt die Binnenerzählung des Manuskripts, die Janes Leben in den letzten neun Jahren akribisch und bis ins Intimste beschreibt. Diese sich abwechselnden Textebenen sind geschickt konstruiert und miteinander verwoben, wobei die Rahmenhandlung wesentlich weniger Raum einnimmt. Hier hätte mich an einigen Stellen eine noch detailliertere Reflexion des Manuskripttextes durch Jane interessiert, die hier mit einer Interpretation ihrer Gefühlswelt durch einen geheimnisvollen Dritten konfrontiert wird.


Jane bleibt für mich eine schwer zu fassende Figur. An vielen Stellen fühlte ich mit ihr, an anderen wollte ich sie einfach nur wachrütteln oder ihr ins Gewissen reden. Im realen Leben wäre ich mit ihr wohl nicht warm geworden. Ihre Verlustängste, ihre Bindungsunfähigkeit und ihr selbstzerstörerisches Verhalten, gepaart mit der Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, und einer übersteigerten emotionalen Sensibilität, sind auf die Dauer sehr frustrierend und anstrengend.


An vielen Stellen wirkt der Roman aus heutiger Sicht etwas antiquiert, insbesondere was die Rolle der Frau, die Bewertung sexueller Übergriffigkeit und die Sorglosigkeit bezüglich ungeschützten Verkehrs angeht. Hier hat sich das Bewusstsein in den letzten Jahrzehnten glücklicherweise deutlich verändert, und Janes Einstellung wäre heute wohl eine andere. Schockiert war ich, dass im Roman an zwei Stellen noch das N-Wort verwendet wird, wenn auch in literaturwissenschaftlichem Kontext. Einen anderen Begriff hätte ich hier wünschenswert gefunden. Auch andere Ausdrücke, wie das nur in Teilen Süddeutschlands bekannte „sapschig“ irritieren (zumal es im Dialekt nicht mit „p“ sondern „b“ geschrieben wird) und werfen ein etwas unglückliches Licht auf die Übersetzung, ebenso wie einige Flüchtigkeitsfehler in Grammatik und Inhalt.


Mit Fortschreiten des Romans wächst die Spannung, wer denn nun hinter dem Ganzen steckt, und das Ende ist überraschend konstruiert, auch wenn ich auch hier wieder Janes Einstellung nur teilweise nachvollziehen kann und einige ihrer Gedanken kritisch sehe.
Insgesamt ein sehr unterhaltsamer, spannender und geschickt konstruierter Beziehungsroman, der viele Ansätze für Diskussionen bietet, aber teilweise etwas aus der Zeit gefallen wirkt.

Bewertung vom 16.06.2024
3 Streifen, 4 Ringe, 1 Apfel
Bonelli, Armin

3 Streifen, 4 Ringe, 1 Apfel


ausgezeichnet

Marken begleiten uns von frühester Kindheit an, und meine ersten Erinnerungen zu diesem Thema reichen in die Grundschulzeit der späten 80er Jahre zurück, als wir uns im Klassenzimmer heftig darüber stritten, ob nun der Amigo-Ranzen cooler ist als Scout (na klar!) und Pelikan oder Geha die besseren Füller hat. Dank der inkompatiblen Patronen waren hier die Fronten besonders verhärtet, schweißte doch schon die Möglichkeit, sich nur „markenintern“ mit Tinte aushelfen zu können, eng zusammen. Und wer gar mit LAMY schrieb, verkörperte auf dem Dorf sowieso den Gipfel der Extravaganz und kam garantiert aus dem Waldorf-Kindergarten.

Armin Bonelli spürt in „3 Streifen, 4 Ringe, 1 Apfel“ (ein genialer Titel!) dem Mythos der Marken nach: Wie entstehen Marken, woher kommt unsere Liebe zu bestimmten Marken, die mitunter nahezu religiöse Züge annimmt, welche Sehnsüchte sprechen sie an und wie lassen wir uns durch Marken manipulieren?

Der Autor verbindet informative Fakten, anschauliche Beispiele und wissenschaftliche Studienergebnisse und lockert die Thematik immer wieder durch eigene Erfahrungen auf. Dank des kurzweiligen Schreibstils liest sich das Buch sehr angenehm und flüssig. Es brachte mich dazu, mein eigenes Konsumverhalten, das ich als sehr markenkritisch bezeichnen würde, zu hinterfragen und zeigte mir auf, wo ich unbewusst in die Manipulationsfalle der Marken tappe. Entsprechend fand ich auch das Kapitel „Manipulation“ ganz besonders spannend und hätte hierzu gerne noch mehr gelesen (vielleicht in einem nächsten Buch?).

Am Ende des Buches stellt der Autor noch zehn verschiedene Markentypen vor inklusive eines kleinen Tests, anhand dessen man seine eigene Markentyp-Kombination bestimmen kann. Diese traf bei mir erstaunlich gut zu.

Aufgrund der gelungen Mischung aus interessanten Sachinformationen und unterhaltsamer Lektüre eignet sich das Buch auch sehr gut als Geschenk an alle, die sich für die Mechanismen hinter den Markenversprechen interessieren. Unbedingt lesenswert!

Bewertung vom 15.06.2024
Seinetwegen
Del Buono, Zora

Seinetwegen


gut

Knapp 60 Jahre nach dem Tod ihres Vaters bei einem Autounfall macht sich Zora del Buono in ihrem autofiktionalen Buch auf die Suche nach dem damaligen Unfallverursacher. Ihre Mutter ist an Demenz erkrankt, in ihrem Umfeld ist niemand mehr da, den sie nach den Ereignissen damals fragen könnte. Als Leserin habe ich mich gefragt, warum sie mit ihrer Recherche so lange gewartet hat. Del Buono versucht zwar, hierfür Begründungen zu liefern, doch es bleibt für mich nur schwer nachvollziehbar. Während der Recherche schwankt sie zudem immer wieder zwischen ihrem Wunsch nach Gewissheiten und der Scheu vor neuen Erkenntnissen. Auch wenn ich dies aus meinem Familienkreis bezüglich einer ähnlichen Situation kenne, habe ich Schwierigkeiten, dies zu verstehen. Das ist vermutlich Typsache.

Einen großen Teil des Buches nehmen Kindheitserinnerungen und ihre Gedanken zu frühkindlicher Bindung und Verlust ein sowie ihre diesbezüglichen Gespräche mit drei langjährigen Freunden während diverser Kaffeehausbesuche. Auch ihre Empfindungen und Assoziationen während ihrer Recherchereise in die Umgebung des Unfallortes gibt sie viel Raum. Beides ist zuweilen durchaus interessant und regt zu Nachdenken an, manchmal wurden mir die Abschweifungen aber doch zu viel (etwa in die Homosexuellenszene Berlins der späten 80er Jahre oder zu den letzten Hexenverbrennungen der Schweiz 1782) und ich hätte ich mir etwas mehr Fokussierung gewünscht. Da seit dem Unfall knapp 60 Jahre vergangen sind, ist es nicht verwunderlich, dass del Buonos Erkenntnisse bezüglich des Unfallverursachers eher dürftig bleiben.

Am eindrücklichsten bleibt mir der dünkelhafte Tenor alter Gerichtsakten und eines Leserbriefes aus den 1960er Jahren in Erinnerung, in denen der Eindruck entsteht, dass der Wert eines Menschenlebens von seiner gesellschaftlichen und beruflichen Stellung abhängt. Hier hat sich in den vergangenen Jahrzehnten glücklicherweise einiges getan.

Ein interessantes Buch für alle, die sich generell für den Themenkomplex frühkindlicher Prägungen und Verlusterfahrungen und deren Wirkungen bis ins Erwachsenenalter interessieren. Wer vor allem eine emotionale Suche nach Erkenntnissen über den Vater oder den Unfallverursacher erwartet, wird eher enttäuscht sein.

Bewertung vom 13.06.2024
Lebensmitteallergie
Riedel, Susanne M.

Lebensmitteallergie


ausgezeichnet

Die Autorin Susanne Riedel verbindet ihre Gedanken, Alltagsbeobachtungen und Erlebnisse in kurzen Kapiteln zu einem sehr unterhaltsamen Buch für alle, die die Fünfzig am Horizont sehen oder bereits überschritten haben. Es ist locker-leicht und humorvoll geschrieben und eignet sich perfekt als gemütliche Lektüre für zwischendurch. Ich habe es auf einen Satz an einem Nachmittag durchgelesen und musste an mehreren Stellen laut lachen. Trotz der kleinen Melancholie, die sich angesichts des Alterns einstellt, schließt man das Buch mit einem guten Gefühl und einem Lächeln im Gesicht.

Bewertung vom 12.06.2024
Mord stand nicht im Drehbuch
Horowitz, Anthony

Mord stand nicht im Drehbuch


gut

Mit "Mord stand nicht im Drehbuch" als viertem Band setzt Anthony Horowitz seine Reihe um den ehemaligen Kriminalbeamten Daniel Hawthorne fort, der als Berater der Polizei arbeitet und bei komplexen Fällen hinzugezogen wird. Ich kenne bereits den dritten Teil, doch da die Fälle in sich abgeschlossen sind, ist es problemlos möglich, die Bücher unabhängig voneinander zu lesen oder zu hören.

Wie immer tritt der Autor Anthony Horowitz als autofiktionaler Ich-Erzähler auf, der in Watson- bzw. Hastings-Manier den eigenwilligen, aber brillanten Detektiv Daniel Hawthorne bei seinen Ermittlungen begleitet und darüber schreibt. Das Konstruktionsprinzip der Fälle und der Schreibstil erinnern stark an Doyles Sherlock-Holmes-Reihe oder Agatha Christies Hercule-Poirot-Romane, was nicht verwunderlich ist, nachdem Horowitz selbst mehrere neuere Sherlock-Holmes-Romane verfasst hat sowie die Drehbücher zur Poirot-Fernsehserie. Diese Ähnlichkeit ist gleichzeitig die Stärke wie auch die Schwäche seiner Romane. Für Liebhaber dieses Genres sind Horowitz‘ Romane wunderbar wendungsreiche Geschichten, bei denen es auf kleinste Details ankommt, gespickt mit feinem Humor und originellen Protagonisten. Allerdings werden diese nach bekanntem Muster gestrickten Krimis für geübte Leser auch schnell durchschaubar. So war mir bei diesem Fall bereits sehr früh klar, wer der wahre Täter sein würde.

Hawthorne wurde mir auch in diesem Band nicht wirklich sympathisch, er bleibt jedoch eine interessante Figur mit Geheimnissen. Auf die Dauer etwas nervig fand ich seine ständige Anrede „Sportsfreund“ für Anthony Horowitz (die sich auch durch die früheren Bände zieht).

Insgesamt wirkte die Geschichte, bei der Horowitz selbst ins Visier der Ermittler gerät, doch recht konstruiert und nicht ganz rund, und das dahinterstehende Prinzip allzu durchsichtig. Für mich war dies ein etwas schwächerer Band der beliebten Horowitz-Reihe, aber dennoch ein unterhaltsamer Krimi für Zwischendurch.

Das Hörbuch wird wie immer von dem wunderbaren Uve Teschner eingesprochen, dessen angenehmer Stimme ich immer wieder gerne lausche.

Bewertung vom 12.06.2024
Ich stelle mich schlafend
Ohde, Deniz

Ich stelle mich schlafend


gut

Da ich das Debüt „Streulicht“ bisher nicht gelesen habe, war „Ich stelle mich schlafend“ mein erster Roman von Deniz Ohde. Die Grundthematik des Buches hat mich sehr angesprochen – wohl jede Frau wird in ihrem Leben mit Grenzüberschreitungen konfrontiert. Und anstatt uns selbstbewusst abzugrenzen, reagieren wir oft zögerlich, geben uns selbst die Schuld, schämen uns – denn schließlich wurden wir häufig noch dazu erzogen, brav und „pflegeleicht“ zu sein und uns und unsere Bedürfnisse im Zweifel um der Harmonie willen zurückzunehmen.
Der Einstieg in die Geschichte war zunächst etwas sperrig und es dauerte ein bisschen, bis ich mich zurechtgefunden habe. Auch die Figuren waren für mich emotional schwer greifbar und es gelang mir nur bedingt, mich in sie hineinzuversetzen, insbesondere bei Yasemin und Vito. Vielleicht hätte ich sie besser verstehen können, wenn die Biografien ihrer Figuren etwas stärker ausgearbeitet worden wären. So habe ich mich immer wieder gefragt, warum Yasemin so passiv agiert und sie starr in ihrer Opferrolle verharrt. Teilweise hat mich das beim Lesen regelrecht wütend gemacht und ich hätte sie am liebsten wachgerüttelt. Um auf Beziehungs- und Rollenmuster aufmerksam zu machen, überzeichnet Ohde ihre Figuren für mein Empfinden zu stark, so dass sie wenig glaubhaft wirken und alles ein bisschen „too much“ ist.
Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass Deniz Ohde zu viel auf einmal wollte und die Geschichte überfrachtet hat. Gerade gegen Ende quetscht sie auch noch politische Botschaften ins Buch, die an sich zwar wichtig sind, aber dazu beitragen, dass das Buch stark konstruiert wirkt. Um sicherzugehen, dass ihre Botschaft wirklich beim Leser/der Leserin ankommt, erklärt sie diese sicherheitshalber detailreich – hier hätte sie ihren Leser/innen gerne etwas mehr zutrauen und Raum für Interpretation lassen dürfen.
Leider konnte der Roman meine hohen Erwartungen nicht erfüllen und mich haben andere Bücher zu diesen Themenbereich stärker bewegt, etwa „Geordnete Verhältnisse“ von Lana Lux.