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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

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Insgesamt 197 Bewertungen
Bewertung vom 17.03.2021
Der letzte Satz
Seethaler, Robert

Der letzte Satz


gut

Auf der Überfahrt von den Vereinigten Staaten nach Europa lässt der sterbenskranke Gustav Mahler, Dirigent und Komponist, Stationen seines Lebens Revue passieren. Während der Künstler sich seinem Tod immer stärker nähert, ist es ausgerechnet ein Schiffsjunge, der ihn auf dieser letzten Reise einen gewissen Halt gibt...

Ausgerechnet ein Schiffsjunge? Natürlich stehen dem Leser nicht nur Bilder aus Thomas Manns "Tod in Venedig", sondern auch die dazugehörigen Szenen der kongenialen Visconti-Verfilmung vor Augen: Tadzio in seinem Matrosen-Kostüm. Und obwohl die berührenden Dialoge zwischen dem Halbwüchsigen und Mahler mit Abstand die stärksten Szenen in Robert Seethalers "Der letzte Satz" sind, erreicht der Roman nicht einmal ansatzweise die melancholische Wucht, die mich beim erstmaligen Lesen von Manns Novelle über den Künstler Gustav von Aschenbach überwältigte.

Mit gerade einmal 128 Seiten ähnelt "Der letzte Satz" dann tatsächlich auch mehr einer Novelle als einem Roman, was mich im Grunde nicht gestört hätte, wenn der Inhalt denn insgesamt ergiebiger gewesen wäre. Problematisch ist einerseits, dass Mahler selbst in Zeiten relativer Gesundheit als permanenter Nörgler und Zweifler präsentiert wird. Einen glücklichen Moment erlebt dieser eigentlich nur beim einmaligen Schwimmen mit seiner früh verstorbenen kleinen Tochter Maria. Ansonsten zeugen die Rückblenden vom großen Leid des genialen Komponisten. Egal, in welcher Stadt er sich gerade befindet, welchen Auftrag er erfüllen muss - nichts scheint ihm zu gefallen, seinen Ansprüchen gerecht zu werden. Das kann man sicherlich so schreiben, doch dafür hätten in meinen Augen die sprachlich berührenden Momente stärker sein müssen.

Diese gibt es dann tatsächlich auf Mahlers letzter großer Überfahrt zu bewundern. Während der Dirigent sich auf seinen Tod vorbereitet, sind es die naiv-philosophischen Gegenreden des Schiffsjungen, die ihm das Leben erträglicher machen und die auch bei mir immer wieder eine Gänsehaut erzeugten. Hier zeigt sich, dass viel mehr emotionale Tiefe möglich gewesen wäre.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die große Stärke Mahlers - die Musik - praktisch überhaupt nicht vorkommt. Die Figur Mahler wischt die Frage des Schiffsjungen wie eine lästige Fliege weg: "Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald Musik sich beschreiben lässt, ist sie schlecht." Dass Seethaler es sich hier ein bisschen zu einfach macht und nicht einmal versucht, eine literarische und emotionale Bindung zu den wunderbaren Kompositionen aufzubauen, sie neu erstrahlen zu lassen, halte ich schlichtweg für bedauerlich.

Und so ist "Der letzte Satz" dann auch ein eher unbefriedigender Roman für mich gewesen, der lediglich in Ansätzen andeutet, welch großes, sprachliches Werk hier hätte entstehen können. Schade.

Bewertung vom 15.03.2021
Hundert Augen
Schweblin, Samanta

Hundert Augen


ausgezeichnet

Es kostet 279 Dollar, sieht aus wie ein Plüschtier auf Rädern und hinter seinen Augen versteckt sich eine Kamera. Sein Name: Kentuki. Ein Kentuki kann ein Panda sein, eine Krähe, ein Drache, ein Kaninchen oder eine Eule. Doch egal, welches Tier man auswählt - dahinter steckt immer ein Mensch. Ein Mensch, der ein Haus weiter wohnen kann oder am anderen Ende der Welt. Abhängig ist das Kentuki von seinem "Herrn", sprich von demjenigen, der es käuflich erworben hat. Oder ist es genau andersherum?

Samanta Schweblin erzählt in ihrem Roman "Hundert Augen" von einer Gesellschaft voller Einsamkeit, Schmerz und Wut - und das ungemein beeindruckend. Was auf den ersten Blick wie eine Dystopie wirkt, ist in Wahrheit gar keine. Zwar können wir (noch) keine Kentukis kaufen, doch ansonsten sind es Menschen von heute, die diesen Roman prägen. In der immer stärker digitalisierten Welt, in der wir heute leben, wirkt es gar nicht so unwahrscheinlich, dass man beim nächsten Besuch eines Verwandten ein kleines Stofftier auf Rädern bei ihm entdeckt.

Die Kentukis aus dem Roman sind mehr als stille Beobachter. Sie wollen ihrer Einsamkeit entkommen, indem sie am Leben eines völlig fremden Menschen teilnehmen wie Emilia aus Lima, deren Sohn wegen der Arbeit nach Hongkong gezogen ist. Sie sehnen sich nach Freiheit und nach Schnee und wollen den Tod der Mutter vergessen lassen wie der kleine Marvin, der auf Antigua lebt. Manchmal müssen sie eingreifen, um ein Verbrechen zu verhindern wie Grigor aus Kroatien, der sogar mit Kentuki-Schauplätzen handelt.

Schweblin hat ihren Roman als Episodenroman konstruiert, wobei fünf Figuren im Mittelpunkt stehen, die entweder Kentuki spielen oder sich selbst ein Kentuki angeschafft haben. Zwischendurch setzt sie immer wieder einzelne Blitzlichter von Kentuki-Geschichten, die nur einmal auftauchen, den fünf Haupterzählungen aber einen facettenreichen Unterbau liefern.

"Hundert Augen" ist dabei so klug wie unterhaltsam, ein Roman, der zum Lachen und Weinen anregt - manchmal sogar gleichzeitig. Tieftraurige Episoden wie der Suizid eines Kentukis, der ohne seinen verstorbenen "Herrn" nicht mehr weiterspielen will, bleiben dabei ebenso lange im Gedächtnis wie die auf den ersten Blick äußerst skurril wirkende Episode um Alina, die Freundin eines Künstlers, die ihre eigene Unsichtbarkeit nicht mehr aushält und ihre Wut komplett am Kentuki auslässt - mit gravierenden Folgen.

Samanta Schweblin hält den LeserInnen dabei gekonnt den Spiegel vor. Hätten wir nicht auch Lust, einem solchen kleinen Kameraden ein Zuhause zu geben? Oder machen wir das vielleicht sogar schon, indem wir uns mit Geräten unterhalten, die Frauennamen tragen und auf alles eine Antwort wissen? Oder andersherum: Wie weit würden wir eigentlich gehen, wenn wir plötzlich die Möglichkeit hätten, einen fremden Menschen nahezu rund um die Uhr zu beobachten - wobei: Haben wir diese Möglichkeit nicht in diversen Fernsehformaten schon?

Fazit: Mit "Hundert Augen" ist Samanta Schweblin ein bewegender und mitreißender Gesellschaftsroman gelungen, der die großen Fragen nach Moral, Liebe und Menschlichkeit stellt, ohne mit dem erhobenen Zeigefinger die Antworten zu geben. Ein lange nachwirkendes Ereignis.

Bewertung vom 12.03.2021
Abels Auferstehung / Paul Stainer Bd.2
Ziebula, Thomas

Abels Auferstehung / Paul Stainer Bd.2


sehr gut

Leipzig, 1920: Inspektor Paul Stainer, der die Ermordung seiner Frau Edith noch nicht verwunden hat, und sich darüber in den Alkohol flüchtet, wird in das Hotel "Fürst Bismarck" gerufen: Ein junger Künstler wurde in seinem Zimmer erstochen. Sternberg, so der Name des Toten, musste sich kurz zuvor noch in einem Fecht-Duell unter Burschenschaftlern beweisen. Finden Stainer und sein Assistent Junghans die Lösung in den Kreisen dieser Männer? Doch während die beiden noch ermitteln, hat sich der Mörder schon ein weiteres Opfer gesucht...

"Abels Auferstehung" ist der zweite Band von Thomas Ziebulas "Stainer"-Reihe, wobei ich den ersten Teil nicht kenne und somit nichts zu qualitativen Unterschieden sagen kann. Der Roman beginnt mit einem furiosen, fast rauschhaften Prolog, den ich als ungemein mitreißend und berührend empfunden habe, ohne überhaupt etwas über die beteiligten Personen zu wissen. Für mich war das schon zu Beginn des Buchs der absolute Höhepunkt, der mich staunend und bewegt zurückließ. Ein ähnliches Niveau erreicht der Krimi in sogenannten "Geständnissen", die sich in die drei Teile des Romans schieben. Hier erklärt der Mörder seine Taten zum Teil so philosophisch, dass ich sogar für ihn eine gewisse Empathie entwickeln konnte. Großartig und gewagt geschrieben!

Auch die Figurenzeichnung halte ich für insgesamt sehr gelungen. Sowohl die Ermittler, als auch viele der Nebenfiguren wurden mit ihren Stärken und Schwächen gut herausgearbeitet. Bei Stainer spürt man die permanente Zerrissenheit, sein jüngerer Kollege bildet mit ihm ein fast kongeniales Duo. Während Stainer aufgrund seiner Kriegsneurose immer mal wieder Gesichter und Dinge vergisst, springt Junghans für ihn in die Bresche und ist dabei fast so etwas wie ein Leipziger Watson. Meine Lieblingsfigur ist allerdings der Schauspieler Rainer Delius, der sich René nennen lässt - ein hinreißender Dandy, so charmant wie schmierig. Nie können sich die Figuren sicher sein, ob man ihm trauen kann. Ein wunderbar ambivalenter Charakter.

Mut beweist Thomas Ziebula auch im Umgang mit seinen Figuren - und lässt kurzerhand eine der ProtagonistInnen einfach mal umbringen, obwohl der Roman noch nicht einmal die Hälfte erreicht hat. Überraschend und gelungen.

Nach und nach führt er im Laufe des Romans drei zunächst lose Handlungsstränge immer stärker zusammen. Dabei fand ich den Strang um die Nachtclub-Besitzerin Rosa ein wenig schwächer als die beiden anderen, da ich mit der Figur nicht so warm wurde und die Handlung hier deutlich dialoglastiger war.

Gelungen fand ich auch die Einbettung der Handlung in den historischen Kontext. Ob es um den sozialen Stand der Frauen geht, die politischen Unruhen oder ganz einfach um die Atmosphäre in Leipzig zwischen Gaslaternen und dem so wunderbaren Begriff "Kraftdroschke" - hier schafft Ziebula das passende Fundament seiner Kriminalgeschichte.

Dieser selbst geht im letzten Drittel leider ein wenig die Luft aus. Mir war spätestens nach ungefähr 300 Seiten klar, wie der Hase läuft und es nervte mich ein wenig, die ansonsten so gut arbeitenden Kriminalbeamten hier doch ziemlich naiv zu Werke gehen zu lassen. Zudem nehmen gegen Ende die Dialoge noch einmal zu und es kommt zu einer mehrseitigen Verfolgungsjagd, die ich ehrlich gesagt ein wenig schneller las, da mich solche Action-Szenen in der Regel gar nicht ansprechen. Außerdem sollte Thomas Ziebula seinen LeserInnen zutrauen, die Fakten des vorher Gelesenen zu behalten, um immer mal wieder auftauchende Redundanzen zu vermeiden.

Das ist allerdings Kritik auf hohem Niveau, denn insgesamt handelt es sich bei "Abels Auferstehung" um einen atmosphärischen und unterhaltsamen Historien-Krimi, dem mit den schönen Straßenbahn-Schienen auf dem Cover und der historischen Karte Leipzigs von 1920 im Innenteil ein würdiger Rahmen geschaffen wurde. Hinzu kommt der kluge Titel des Romans, der über mehrere biblische Ecken gedacht, so Einiges andeutet, ohne zu viel zu verraten.

Bewertung vom 06.03.2021
Femina erecta
Kjaerstad, Jan

Femina erecta


ausgezeichnet

Wir befinden uns im Jahr Y-1040. Mehr als 1.000 Jahre nach dem Zusammenbruch jeglicher Zivilisation im 22. Jahrhundert - dem Punkt Y - machen sich drei chinesische Wissenschaftlerinnen auf, die Geschichte des alten Europa zu erzählen. Im Fokus: Norwegen, denn die Wurzeln der in der Chinesischen Föderation herrschenden Long-Dynastie liegen ganz im Norden des untergegangenen Kontinents.

Im Mittelpunkt des Interesses steht Rita Bohre, eine jener Urahninnen, und deren Familie. Rita ist Paläontologin und alleinerziehende Mutter dreier Kinder. Und je länger die Aufzeichnungen der Wissenschaftlerinnen andauern, umso deutlicher setzt sich ein Bild dieser vielfältigen Familie zusammen - ein Bild, das vor vielfältigen, bunten Geschichten, vor berührenden Schicksalen und vor Erfolgen und Tragödien nur so strotzt...

Es ist ein mutiger und überraschender Erzählansatz, den Jan Kjaerstad in seinem neuesten Roman "Femina Erecta", erschienen im Septime Verlag, gewählt hat. Und er landet damit einen Volltreffer. Was man zunächst als dystopische Spielerei abtun könnte, als eine Erzählstruktur, deren Notwendigkeit sich nicht gleich auf den ersten Blick erschließt, ermöglicht dem Autoren in Wahrheit viel mehr. Mit dem Abstand von rund 2.000 Jahren zur Gegenwart kann er nicht nur einen fiktiven Zeigefinger erheben und vor dem Abgrund warnen, auf den sich die Menschheit zubewegt, wenn sich die ökologischen und ökonomischen Gegebenheiten nicht ändern sollten. Nein, Kjaerstad kann auch zu seinen Figuren eine zeitliche Distanz wahren, denn ansonsten drohte leicht eine emotionale Überwältigung.

In fast 830 Seiten entsteht so ein Familienepos, das gleichzeitig Bildungs- und Historienroman ist und das äußerst geschickt Fiktion und Realität miteinander verwebt. So trifft Rita Bohre auf Fridtjof Nansen, Ritas Enkel "Blue Norwegian" lernt mal eben Joni Mitchell kennen. Immer wieder tauchen Fakten aus Norwegens Politik, Kunst, Kultur und Natur auf, und Kjaerstad spielt mit ihnen und mit den Erwartungen der LeserInnen. Mehr als einmal ertappte ich mich dabei, Informationen zu bestimmten Charakteren herauszusuchen, da ich mir nicht immer sicher war, wer nun fiktiv ist und wer wirklich existierte.

Die Sprache ist gewaltig, emotional und bisweilen mit feinsinnigem Humor angereichert. Jan Kjaerstad zeigt einerseits nämlich die Schönheit seines Landes auf - sowohl in der Natur, als auch in der Kultur - scheut sich aber auch nicht vor deutlicher Kritik an seinen Landsleuten, insbesondere den Männern. Denn "Femina Erecta", so übrigens der Titel des von Rita Bohre geplanten Buches, ist zutiefst feministisch und drückt den Respekt des Autoren vor den Frauen bewegend aus.

Und auch dass diese emanzipatorischen Frauen selbst noch Nachholbedarf in Fragen der Gleichberechtigung haben, fällt in diesem Roman nicht unter den Tisch. Ausgedrückt in der Figur "Dagny", der treuen Haushälterin Ritas, die im kompletten Roman wohl nur einen Satz sagen darf und ansonsten ausschließlich assistiert und das Essen reicht.

Marcus Bohre, eine Nebenfigur, der ein außerordentlich bewegendes Kapitel gewidmet ist, sagt in diesem Roman: "Ich habe ein neues Beurteilungskriterium gefunden, das sich alle Literaturinteressierten hinter die Ohren schreiben sollten: Welche Erzählung, welcher Roman spendet am meisten Trost?" Und tatsächlich ist "Femina Erecta" ein hoffnungsvoller und trostspendender Roman, ein Lichtblick an Menschlichkeit, ein kluges und liebenswertes Buch. Für mich hat der Roman das Potenzial zu einem Klassiker der Literatur, den man auch in 20 oder 50 Jahren noch lesen kann und der immer wieder neue Aspekte bietet - vielleicht ja auch den Menschen im Jahr Y-1040. Ein Meisterwerk!

Bewertung vom 24.02.2021
Lügentochter
Peterson, Megan Cooley

Lügentochter


sehr gut

Die 17-jährige Piper lebt mit ihren zahlreichen Geschwistern unter strenger Obhut ihrer Eltern auf dem Gelände eines stillgelegten Vergnügungsparks. Schnell wird klar, dass es sich nicht um eine Aussteiger-Großfamilie handelt, sondern um eine Sekte, deren Anführer nicht davor zurückschreckt, selbst die kleinsten Kinder einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Wie eine Jugendliche in einer solchen Sekte aufwächst und wie das Leben für sie weitergeht, wenn die vertraute Umgebung plötzlich nicht mehr existiert - davon erzählt Megan Cooley Peterson in ihrem packenden Jugendbuch "Lügentochter".

Der Roman ist in zwei Erzählstränge unterteilt, ein "Davor" und ein "Danach", die die Autorin nach und nach zusammenknüpft und dabei nur wenige Fäden offenlässt. Die großen Vorzüge des Romans sind dabei der Spannungsverlauf und die Intensität, mit der die Entwicklung der Protagonistin Piper vollzogen wird. "Lügentochter" liest sich fast wie ein Thriller und entfaltet mit unzähligen Cliffhangern eine regelrechte Sogwirkung. Die Sprache ist modern und jugendgerecht und dürfte auch eine erwachsene Zielgruppe durchaus ansprechen. Das Ereignis, das die Handlung in "Davor" und "Danach" aufteilt, wird lange Zeit nur angedeutet, aber man erkennt schnell, dass die Sekte - auf welche Art auch immer - aufgelöst wurde und Piper fortan in ihrem neuen Leben zurechtkommen muss. Fast schmerzhaft intensiv ist dabei der Weg, den man gemeinsam mit Piper geht, um nach und nach der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Letztlich ist diese um ein Vielfaches grausamer, als ich es mir noch zu Beginn des Romans erdacht hatte - und gerade das Finale ist wirklich sehr berührend.

Äußerst gelungen ist auch der Ort des Sekten-Geschehens: der verwilderte Vergnügungspark mit Aussichtsturm auf der Achterbahn, die Natur, die sich nach und nach ihre Rechte an diesem Ort zurückholt - all das sorgte bei mir für Gänsehaut und ein wenig Grusel.

Nicht ganz so stark wie die Entwicklung Pipers und der Handlungsverlauf sind Megan Cooley Peterson in meinen Augen die anderen zahlreichen Figuren geglückt, die in ihrer Intensität doch arg hinter der Hauptfigur zurückbleiben. So wurde mir nie ganz klar, was an Pipers Eltern so charismatisch sein soll. Und auch Pipers Liebe Caspian, der eigentlich die zweite Hauptfigur sein könnte, entwickelt zu wenig Profil. Er besitzt vor allem Piper gegenüber so gut wie keine Ecken und Kanten und ist eigentlich einfach nur "lieb".

Ein weiterer Nachteil ist, dass ich die ganze Zeit über schon viel mehr zu wissen glaubte als Piper selbst und sich diese Gedanken letztlich auch bewahrheiteten. Zwar ahnte ich wie oben angedeutet die ganzen Ausmaße des Grauens nicht, aber in welche Richtung der Weg führt, war relativ schnell klar. Das tat der Spannung aber keinen Abbruch, weil ich eben auch die ganze Zeit wissen wollte, wie Piper auf diese Wahrheit reagieren wird.

Insgesamt ist "Lügentochter" aber nicht nur wegen der schönen Gestaltung des magellan-Verlags sehr empfehlenswert, sondern eben auch wegen der Dramatik, die der Roman entwickelt. Im Nachwort erfahren wir mehr über die Hintergründe der Autorin und des Buches, was dem Roman nachträglich zudem noch eine große Prise Authentizität verleiht.

Bewertung vom 21.02.2021
Der Untertan
Mann, Heinrich

Der Untertan


ausgezeichnet

Das Deutsche Reich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Der kleine Diederich Heßling wächst als Sohn eines Papierfabrikanten in der fiktiven Kleinstadt Netzig auf. Zuhause sieht er sich der Gewalt des Vaters ausgesetzt, in der Schule teilt er selbst lieber gegen die Schwächeren aus - der Grundstein einer Opportunisten-Karriere, die Diederich nicht nur über das Militär und die Burschenschaften während seines Studiums, sondern vor allem auch später als Fabrik-Erbe skrupellos auslebt. Und während sich um die Jahrhundertwende im wilhelminischen Deutschland oppositionelle Kräfte bilden, entwickelt sich Diederich zu einem bedingungslosen Verteidiger des Kaisers - ohne sich um Freund und Feind zu scheren...

Heinrich Mann hat in seinem kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs fertiggestellten und 1918 erstmals veröffentlichten Roman "Der Untertan" eine blitzgescheite Polit- und Gesellschaftssatire erschaffen, die längst als Klassiker gilt. Anlässlich des 150. Geburtstags Manns hat der Reclam Verlag nun eine wahrlich prächtige Neuedition herausgegeben. Angefangen beim bedruckten Buchdeckel über das silberne Lesebändchen bis zum informativen Nachwort und dem unglaublich umfassenden Kommentar - die neue "Untertan"-Ausgabe ist ein Fest für bibliophile LeserInnen.

Das größte Plus sind dabei die detaillierten und liebevollen Illustrationen von Arne Jysch, die nicht nur das Romangeschehen an sich greifbarer machen, sondern auch einen fabelhaften Blick auf die Gesellschaft im wilhelminischen Zeitalter ermöglichen. Diederich erhält ein Gesicht, durch die Zeichnungen fühlte ich mich in einigen Szenen direkt in die Zeit zurückversetzt. Ganz ausgezeichnet gelingt es Jysch dabei, die Illustrationen gleichzeitig historisch wie modern aussehen zu lassen.

Doch nicht nur wegen der Ausstattung lohnt sich diese Neuedition des "Untertans". Heinrich Manns fast schon prophetischer Blick auf die damaligen Entwicklungen hat an Aktualität kaum etwas eingebüßt. Auch wenn heutzutage wahrscheinlich kein Autor seine gesellschaftskritischen Dialoge so ausschweifen lassen würde wie Mann es in einigen Szenen tut; auch wenn kein zeitgenössischer Autor seinen Figuren so viele Zitate aufbürden würde wie Mann es Diederich mit den ganzen Kaiser-Wilhelm-Ausführungen zumutet - es lässt sich nicht leugnen, dass sich nicht wenige Themen wie Antisemitismus, Karrierestreben und (Neo-)Faschismus auch und gerade in der heutigen Gesellschaft wiederfinden.

Deshalb sollte "Der Untertan" auch heute noch und wieder gelesen werden - nicht nur als historisches Zeugnis der Zeit vor den Weltkriegen, sondern auch mit kritischem und bissigem Blick auf die Aktualität.

Fazit: Der Reclam Verlag hat den "Untertan" in ein geradezu kaiserliches Gewand gekleidet, das große Lust machen sollte, den Klassiker wieder- oder neu zu entdecken.

Bewertung vom 14.10.2020
Der Moment zwischen den Zeiten
Orriols, Marta

Der Moment zwischen den Zeiten


ausgezeichnet

Die Ärztin Paula Cid arbeitet in einer Klinik in Barcelona auf der Frühgeborenen-Station. Während eines Treffens mit ihrem langjährigen Freund Mauro offenbart ihr dieser, dass er eine jüngere Frau kennengelernt hat und Paula verlassen möchte. Doch wenige Stunden später ist er nach einem Unfall tot. Wie geht man mit dem Verlust eines geliebten Menschen um, wenn bei diesem die Liebe offenbar verblasst war? Wie kann man weiterleben mit diesem doppelten Verlust? Darüber schreibt Marta Orriols in ihrem Debütroman "Der Moment zwischen den Zeiten".

Der deutsche Titel klingt poetisch, ist aber im Vergleich zum katalanischen Original eher schlecht gewählt. "Lernen, mit den Pflanzen zu sprechen" wäre die wörtliche deutsche Übersetzung, doch vielleicht klang das dem dtv-Verlag zu verschroben? Schade, denn die Formulierung bezieht sich auf eine zentrale Stelle dieses emotionalen Romans.

Die Lesefreude wird dadurch jedoch nicht getrübt. Gleich von Beginn an schickt Marta Orriols ihre LeserInnen auf eine intensive Achterbahnfahrt der Gefühle. Die Ich-Erzählerin Paula ist eine so emotionale Figur, dass sie eigentlich niemanden kalt lassen kann. Ich freute mich mit ihr, trauerte mit ihr, litt mit ihr, ärgerte mich über sie. Sie nervte mich, berührte mich, ging mir nicht mehr aus dem Sinn.

Gleichzeitig konnte ich mich mit Paula sehr gut identifizieren, auch wenn die Perspektive des Romans natürlich eine weibliche ist. Wer schon einmal einen geliebten Mensch betrauern musste, setzt sich mit diesem Verlust wieder auseinander, wenn er "Den Moment zwischen den Zeiten" nach bewegten und bewegenden knapp 300 Seiten aus der Hand legt.

Marta Orriols findet zudem viele kluge Sätze, über die es sich lohnt, nachzudenken. "Als Kind nimmt man vieles wahr, aber es fehlt einem die Kraft, es zu ändern", heißt es an einer Stelle. "Wenn einer stirbt, teilt sich der Freundeskreis wieder in die Freunde des Verstorbenen und die eigenen Freunde" an einer anderen.

Als besonders intensiv empfand ich die Teile des Romans, in denen sich Paula direkt an den verstorbenen Mauro wendet und konsequenterweise die "Du"-Form verwendet. Hier schreibt Orriols emotional, ohne auch nur annähernd kitschig zu werden. Ein großes Plus eines - ja - Liebesromans, denn als einen solchen würde ich "Der Moment zwischen den Zeiten" bezeichnen, auch wenn er inhaltlich weit darüber hinausgeht. Denn es geht nicht nur um die Liebe zu einem Verstorbenen, es geht um Vaterliebe und um die Liebe zum Leben allgemein.

Die Figuren wirken authentisch und glaubwürdig. Alle weisen ihre speziellen Ecken und Kanten auf, ohne dabei ins Klischee zu verfallen.

Ich habe "Der Moment zwischen den Zeiten" mit großem Gewinn gelesen. Der Roman hat mich berührt, aufgebaut - und mich zum Nachdenken gebracht. Viel mehr kann man als Leser eigentlich nicht erwarten.

In einer besonders emotionalen Szene widmet Paulas Vater seiner Tochter ein selbst komponiertes Lied und spielt es ihr als Weihnachtsgeschenk auf dem Klavier vor: "Es ist eine minimalistische, schmerzlich-schöne Melodie, die von der tiefen Anteilnahme spricht, die ich so oft in seinen Augen wahrnehme, wenn wir uns zum Essen oder auf einen Kaffee trinken, mehr noch, im Grunde drückt sie all das aus, was er mir nie zu sagen vermocht hatte, und endet mit einem Akkord voller Hoffnung."

Eine bezaubernde Beschreibung, die man mühelos auch für den kompletten Roman verwenden kann. Denn genau so ist "Der Moment zwischen den Zeiten": schmerzlich-schön, voller Anteilnahme - und trotz aller Trauer mit einer großen Prise Hoffnung.