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Benutzername: 
cosmea
Wohnort: 
Witten

Bewertungen

Insgesamt 31 Bewertungen
Bewertung vom 01.04.2025
Frau im Mond
Jarawan, Pierre

Frau im Mond


sehr gut

Der Libanon ist kompliziert
In Pierre Jarawans neuem Roman “Frau im Mond“ geht es um eine Fülle von historischen Ereignissen und Themen, die mit dem Libanon zu tun haben, aber auch um eine Familiengeschichte über drei Generationen. Die Zwillinge Lilit und Lina el Shami sind Nachkommen libanesischer Auswanderer in der dritten Generation und wurden nach dem Tod ihrer Eltern von ihrem Großvater Maroun in Montréal aufgezogen. Eines Tages beschließt Lilit, in den Libanon zu reisen und dort Nachforschungen über ihre Großmutter Anoush anzustellen, die sie nicht mehr kennengelernt hat. Anoush hatte den Genozid an den Armeniern überlebt und kurze Zeit in einem Waisenheim im Libanon gelebt. Sie begegnet Maroun als junges Mädchen im kanadischen Montréal und dann Jahre später noch einmal. Sie werden ein Paar und bekommen die Tochter Dana. Sie und Ehemann Jules werden später die Eltern der Zwillingsmädchen. Lilith beschäftigt sich auch mit der Lebanese Rocket Society, denn ihr Vater hat zusammen mit Freunden jahrelang Raketen gebaut. Er wollte dazu beitragen, dass die erste Rakete vom Libanon aus in den Weltraum geschossen wurde. Am 4. August 1966 zündet die Gruppe eine Rakete, und genau 54 Jahre später gibt es eine riesige Explosion im Beiruter Hafen. Beide Ereignisse sind Teil des historischen Rahmens des Romans.
Jarawan schreibt eine sehr komplizierte, detailreiche Geschichte über drei Generationen, zwei Städte auf zwei Kontinenten, ein Raketenprojekt, politische Umbrüche, den Genozid an den Armeniern und seine Folgen, das Ende des Osmanischen Reichs und die aktuelle politische Situation im Libanon in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts inklusive Korruption, Energieproblemen, Inflation und daraus folgend wachsender Armut eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung. Die Vielzahl der Themen spiegelt sich im bunten Cover, das eine große Zahl der angesprochenen Themen abbildet. Die grobe Einteilung in drei Stufen lässt an Raketen denken, um die es ja immer wieder geht, die von 50 bis 0 rückwärts gezählten Kapitel stellen einen Countdown dar. Der umfangreiche Roman mit seinen vielen Themen, den ständig wechselnden Zeitebenen und der ungeheuren Personenvielfalt liest sich nicht leicht, ist aber hochinteressant und unbedingt empfehlenswert.

Bewertung vom 01.04.2025
Die unversöhnliche Vergangenheit
Hartung, Alexander

Die unversöhnliche Vergangenheit


gut

Das Vergangene ist nie vergangen
Im 7. Band von Alexander Hartungs Reihe um den Privatermittler Nik Pohl verschafft sich eine bewaffnete Frau Zugang zum Aktenraum der Staatsanwaltschaft und droht damit, eine Bombe zu zünden, sollte sich die Polizei einmischen. Wenig später exploriert die Bombe, und die Frau ist tot. Es stellt sich heraus, dass es sich um eine ehemalige Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft handelt. Wonach hat sie gesucht? Es geht um einen längst abgeschlossenen Fall. Der verurteilte Täter ist längst gestorben, aber die Frau verlangt Gerechtigkeit. Es gibt weitere Tote, u.a. einen pensionierten Staatsanwalt. Der ehemalige Polizist Nik Pohl und seine Freunde – der Pathologe Balthasar und IT-Spezialist Jon suchen nach Hinweisen, um einem erbarmungslosen Killer auf die Spur zu kommen. Dabei hat Nik immer wieder Kontakt mit seinem ehemaligen Chef Naumann, der in diesem schwierigen Fall gern die Hilfe der drei Freunde in Anspruch nimmt, weil sie unkonventionelle Wege gehen können und auch nicht vor strafbaren Handlungen zurückschrecken, wenn die Zeit drängt. Nik Pohl gerät bei den Ermittlungen in Lebensgefahr und bemüht sich, nicht nur sein Leben schützen, sondern auch seinem Freund Balthasar und dem ehemaligen SEK-Mann Marius Schadt das Überleben zu sichern.
Ich kenne die anderen Bände der Reihe nicht, finde diesen aber weder besonders interessant noch spannend. Auch sprachlich überzeugt mich der Roman mit seiner Vielzahl von vorsichtig formuliert unüblichen Ausdrücken und Konstruktionen nicht. Schade.

Bewertung vom 25.03.2025
Der irische Fremde
Moor, Matthias

Der irische Fremde


sehr gut

Gefährliche Suche nach der Wahrheit
Mary Shean begegnet am Osloer Flughafen einem Mann, den sie 25 Jahre zuvor am Elternhaus in Irland gesehen hat, als sie ihre Eltern tot auffand. Sie wurde von ihrer Tante in Frankfurt aufgezogen und ist nie wieder nach Irland zurückgekehrt. Mary engagiert eine Privatdetektivin, die Informationen über den Fremden vom Flughafen beschaffen soll, dessen Namen sie auf seinem Flugticket erkennen konnte. Sie will die traumatische Erfahrung nicht länger unterdrücken, sondern endlich die Wahrheit erfahren. Mary hat sehr unterschiedliche Erinnerungen an den Tag und glaubt inzwischen, dass die offizielle Version von einem Unfall durch austretendes Gas im Haus nicht stimmt und es sein könnte, dass ihre Eltern ermordet wurden. Sie mietet ein Zimmer im Ort und findet dort in Jenna eine Freundin, die ihr in dieser schwierigen Zeit beisteht. Mary befragt u.a. ihren Kindheitsfreund Owen, seinen Vater, den Ortspolizisten und ihre Psychiaterin, die sie damals behandelt hat. Schon bald merkt sie, dass ihre Nachforschungen nicht erwünscht sind und sie in eine Welt von Lügen und Geheimnissen eindringt, was sie schließlich sogar in Lebensgefahr bringt, denn das Schicksal ihrer Familie hängt mit den Aktivitäten der Provisional IRA und den The Troubles genannten, fast 30 Jahre dauernden bürgerkriegsähnlichen Unruhen in Nordirland zusammen, die erst durch das Karfreitagsabkommen von 1998 weitgehend beendet wurden. Durch diesen historischen Hintergrund wird der Roman noch interessanter und spannender.
Ich habe den Roman gern gelesen, obwohl der letzte Teil mit den zahlreichen Handlungsumschwüngen, möglichen Tätern und Varianten zum Tod von Marys Eltern schon etwas verwirrend ist. Ein ungewöhnlicher Krimi und sicher nicht mein letztes Buch von Matthias Moor.

Bewertung vom 23.03.2025
Was ich von ihr weiß
Andrea, Jean-Baptiste

Was ich von ihr weiß


sehr gut

Sie konnten zusammen nicht kommen
Jean-Baptiste Andreas Roman “Was ich von ihr weiß“ beginnt im Jahr 1986 in einem Kloster, wo der inzwischen 82jährige Mimo – Michelangelo Vitaliani – seit vierzig Jahren wohnt. Er hat nur noch wenige Tage zu leben. Der Roman ist ein Rückblick Mimos auf sein Leben, in dem er zum großen Teil als Ich-Erzähler in Erscheinung tritt. Mimo hat als Sohn einer verarmten Familie und als Kleinwüchsiger von 1,40 m Größe einen schweren Start im Leben. Der „Zwerg“ wird erst viel später als erfolgreicher Künstler Ruhm und Anerkennung finden. Zunächst schickt seine Mutter den 12jährigen Sohn nach Italien in den Ort Pietra d´Alba in Ligurien, zu einem Onkel, der nicht mit ihm verwandt ist, sondern einfach nur ein Mann, der der Familie einen Gefallen schuldet. Dieser Mann – selbst völlig untalentiert – lässt Mimo ohne Lohn in seiner Bildhauerwerkstatt schuften und hungern. Es dauert trotzdem nicht lang, bis Mimos Talent als Bildhauer erkannt wird, er die ersten Skulpturen erschafft und Reparaturen an Kunstwerken durchführt. Der Junge lernt schon bald die gleichaltrige junge Viola Orsini kennen, jüngste Tochter einer reichen Adelsfamilie. Sie ist hochintelligent, vergisst nie etwas Gelesenes und bringt Mimo die Welt der Literatur und der Wissenschaft nahe. Viola will frei sein, im wörtlichen Sinne fliegen, aber dann stürzt sie mit der mit Freunden gebauten Konstruktion vom Dach ihres Hauses und überlebt schwerverletzt. Mimo und Viola bleiben ein Leben lang befreundet, begegnen einander und trennen sich wieder für Jahre. Sie können wegen ihrer zu unterschiedlichen Herkunft niemals ein Paar werden. Das lassen die gesellschaftlichen Konventionen nicht zu. Der Roman erzählt die Geschichte ihres Lebens vor dem historischen Hintergrund, der zwei Weltkriege und vor allem die Jahre des Faschismus einschließt bis zur Entstehung der Republik.
Andreas historischer Roman ist sehr detailreich und nicht frei von Längen. Ich habe ihn trotzdem gern und zügig gelesen und empfehle ihn Lesern, die sich für Geschichte und Kunst interessieren.

Bewertung vom 12.03.2025
Die Magnolienkatzen
Morishita, Noriko

Die Magnolienkatzen


sehr gut

Das Glück liegt nicht in weiter Ferne
Die Schriftstellerin Noriko ist nach dem Tod des Vaters zu ihrer Mutter gezogen. Sie ist in den 50ern, unverheiratet, kinderlos und leidet unter einer Schreibblockade. Eines Tages finden die beiden Frauen eine Straßenkatze mit fünf Jungen in ihrem Garten – an der Stelle, wo einst der Ehemann und Vater eine Magnolie gepflanzt hatte. Noriko und ihre Mutter haben früher Hunde gehalten, Katzen mögen sie nicht besonders. Die Mutter sagt sogar, dass sie sie hasst. Sie versuchen sofort, die sechs Katzen loszuwerden, vergeblich. Sie wollen sie aber auch nicht ihrem Schicksal überlassen und nehmen sie bei sich auf mit der Absicht, sie abzugeben, wenn sie etwas älter sind.
Die Autorin beschreibt, wie sich der Alltag mit den sechs Gästen gestaltet, wie Freunde und Bekannte immer wieder vorbeikommen und Katzennahrung, Streu und Spielzeug vorbeibringen. Alle sind fasziniert von den sehr unterschiedlichen niedlichen Tieren. Allmählich vollzieht sich auch bei Noriko und ihrer Mutter eine Veränderung der Einstellung. Sie schließen die Tiere ins Herz und behalten letztlich Mutter Mimi und ihren Sohn Taro. Noriko beschreibt das Wesen der neuen Mitbewohner sehr eingehend, deutet ihre unterschiedlichen Laute und ihre Körpersprache. Das Zusammenleben mit den geliebten Tieren verändert die beiden Frauen und vor allem auch Norikos Einstellung zum eigenen Leben und zu der Frage, was Glück bedeutet. Sie begreift, dass das Glück nicht in weiter Ferne liegt, sondern im Hier und Jetzt zu finden ist. Sie ist sich bewusst, dass sie eines Tages großen Schmerz empfinden wird, wenn die Katzen nicht mehr leben, sie, die ihnen einst aus Furcht vor der daraus resultierenden emotionalen Bindung nicht einmal Namen geben wollte.
Morishita ist ein sehr schönes Buch über die Liebe zwischen Mensch und Tier gelungen. Allerdings fand ich Chloe Daltons "Hase und ich" noch um einiges eindrucksvoller und berührender.

Bewertung vom 09.03.2025
Hase und ich
Dalton, Chloe

Hase und ich


ausgezeichnet

Das Privileg einer außergewöhnlichen Erfahrung
Die Polit-Beraterin und Autorin Chloe Dalton hat sich zur Coronazeit in ihre Scheune auf dem Land zurückgezogen. Eines Tages findet sie ein mutterloses Feldhasenjunges. Sie transportiert es schließlich vorsichtig in ihr Haus und füttert Spezialnahrung mit der Pipette. In der Folgezeit liest sie Fachliteratur, um nichts falsch zu machen. Die versucht nie, das Wildtier zu vermenschlichen oder zu zähmen, gibt ihm nicht einmal einen Namen. Ihr neuer Mitbewohner bekommt so viel Freiraum, wie er oder sie benötigt. Das Tier wächst schnell und seine Retterin schafft bald die Möglichkeit, dass Hase ungehindert kommen und gehen kann. Der Leser verfolgt mit Erstaunen, in welchem Umfang Dalton bereit ist, sich auf Hases Bedürfnisse einzustellen und ihre eigenen als zweitrangig zu betrachten.
Die Geschichte zeichnet circa drei Jahre im Leben von Dalton und Hase nach. Das Tier wird nicht nur erwachsen, sondern bekommt in der Folge auch dreimal Nachwuchs, beim zweiten Mal im Haus. Die Autorin hat sich nicht nur sehr gründlich in der Fachliteratur informiert, sondern auch Poesie und Prosa aus fernen Jahrhunderten gelesen, wie die umfangreiche Auswahlbibliographie am Ende des Buches zeigt. Ihre Erfahrungen widersprechen häufig den dort dargelegten Aussagen.
Was das Buch so besonders macht, ist Chloes Weg der Selbstfindung und veränderten Einstellung zu Natur und Tierwelt. Sie stellt ihre eigene frühere Lebensweise total in Frage und weiß nun, was ein gutes Leben ausmacht. Sie sieht, wie der Mensch den natürlichen Lebensraum der Tiere immer weiter zerstört und riesige Erntemaschinen Wildtiere töten, dass Tiere wie der Feldhase nicht nur natürliche Feinde wie Fuchs, Dachs, Wiesel und große Vögel haben. Berührend ist auch, dass Dalton angesichts der geringen Lebenserwartung der Feldhasen jetzt schon weiß, dass Hase in naher Zukunft nicht mehr da sein wird und sie über den Verlust ihrer stillen und würdevollen Gefährtin große Trauer empfinden wird. Mir hat diese herzerwärmende, zum Nachdenken anregende Geschichte sehr gut gefallen. Sie hat mich auch sprachlich vollkommen überzeugt.

Bewertung vom 09.03.2025
Die Kammer
Dean, Will

Die Kammer


ausgezeichnet

Ein mörderischer Job
Im Mittelpunkt von Will Deans Thriller “Die Kammer“ steht die Ich-Erzählerin Ellen Brooke, einzige Frau in einem Team von sechs Sättigungstauchern. Die Geschichte beginnt mit dem ersten Arbeitstag des Teams in seinem neuen Job. Die Taucher sollen in der Nordsee auf dem Meeresgrund Bohrmaschinen und Ölleitungen warten und reparieren. Dafür steigen sie auf dem Schiff Deep Topaz in die Kammer und von da aus in ihren jeweiligen Schichten in die Taucherglocke hinab. Als Ellen nach ihrem ersten Einsatz in die Kammer zurückkehrt, liegt einer ihrer Kollegen im Sterben. Sie können ihn nicht retten. Die Arbeit in der Tiefe wird sofort abgebrochen, aber an Bord oder an Land können die Überlebenden dennoch nicht gehen. Erst müssen sie sich der tagelangen Dekompression unterziehen. Ein sofortiges Auftauchen bedeutet den Tod. So leben die Taucher auf engstem Raum in der Kammer, die so klein ist, dass sie nur die Hand ausstrecken müssen, um die anderen zu berühren. Eine Privatsphäre gibt es nicht. Sie werden ständig durch Kameras beobachtet, und das Personal auf dem Schiff hört jedes Wort. Dann gibt es weitere Tote. Die Kollegen begegnen einander zunehmend mit Misstrauen, wissen sie doch genauso wenig wie der Leser, ob einer von ihnen der Mörder ist oder ob die Bedrohung von außerhalb kommt.
Der Autor beschreibt kenntnisreich die fremde Welt des Tiefseetauchens mit ihren psychischen und physischen Belastungen. Die Taucher müssen mit Ängsten, Panikattacken und Albträumen fertigwerden und kämpfen mit diversen Traumata aus der Vergangenheit. Mir hat dieser fesselnde Locked Room Thriller sehr gut gefallen, lässt sich doch die klaustrophobische Atmosphäre in der Kammer sehr gut nachempfinden. Ein sehr empfehlenswertes Buch.

Bewertung vom 04.03.2025
Die Brandung - Leichenfischer
Kliewe, Karen

Die Brandung - Leichenfischer


gut

Seltsame Frauenmorde
In Karen Kliewes Ostsee-Krimi “Die Brandung – Leichenfischer“ wird im deutsch-dänischen Grenzgebiet eine Frauenleiche gefunden, kurze Zeit später eine zweite. Beide Frauen wurden nach einem uralten Wikinger-Ritual mit nachgemachten Grabbeigaben bestattet. Die Gräber liegen in öffentlich zugänglichem Gebiet. Dennoch gibt es keine Zeugen für die aufwändigen Grabungsarbeiten. Die deutschen und dänischen Ermittler arbeiten zusammen, finden aber lange keine brauchbare Spur. Es gibt im Laufe der Geschichte verschiedene Verdächtige, aber es handelt sich immer wieder um falsche Fährten. Die Ermittler stehen auch deshalb stark unter Druck, weil weitere junge Frauen vermisst werden und nicht klar ist, ob sie irgendwo gefangen gehalten und dann ebenfalls ermordet werden. Ein weiteres ausgehobenes Grab hat man immerhin schon gefunden.
Die Geschichte wird mit ständig wechselnden Perspektiven an verschiedenen Orten erzählt, wobei der Leser auch wegen der kaum überschaubaren Personenvielfalt etwas den Überblick verliert. Am besten gefällt mir dabei die Figur der dänischen Archäologin Fria Svensson, die zeitweise mit dem deutschen Kommissar Ohlsen Ohlsen zusammenarbeitet. Erst eine Zeugenaussage von einem Schrottsammler, der ein Auto im Wald fotografiert hat und das von einer Kriminalpsychologin erstellte Täterprofil bringt die Ermittlungen schließlich voran. Besonders spannend fand ich diesen Krimi nicht. Die Geschichte ist etwas wirr und wirkt sehr konstruiert und realitätsfern. Warum ist der Täter/ die Täterin solche Risiken eingegangen? Besonders überzeugend wirkt auch sein/ ihr Motiv nicht.
Mich hat der Ostsee-Krimi, in dem die Ostsee weiter keine Rolle spielt, enttäuscht, und ich sehe keine Veranlassung, weitere Titel dieser Reihe zu lesen.

Bewertung vom 02.03.2025
Ein ungezähmtes Tier
Dicker, Joël

Ein ungezähmtes Tier


ausgezeichnet

Wie sieht es hinter der Fassade aus?
In Dickers Roman “Ein ungezähmtes Tier“ stehen zwei Ehepaare im Mittelpunkt. Das sehr reiche, glamouröse Paar Sophie und Arpad Braun hat zwei Kinder und bewohnt ein luxuriöses Anwesen in der Nähe des Genfer Sees, umgeben von Wald. Nicht weit von ihnen entfernt lebt der Polizist Greg Liégean mit seiner Frau Karine und den beiden Kindern in wesentlich bescheideneren Verhältnissen. Arpad und Greg kennen sich vom örtlichen Fußballclub, bei dem sie ehrenamtlich bei Veranstaltungen mitwirken. Greg ist so fasziniert von Sophie, dass er zum Stalker geworden ist und durch sein Fernglas und später mit Hilfe einer heimlich installierten Überwachungskamera intimste Momente beobachtet. Beide Paare kommen bei der Feier von Sophies 40. Geburtstag zusammen. Danach sind die beiden Frauen befreundet. Gleichzeitig bereiten in einem zweiten Handlungsstrang zwei zunächst unbekannte Einbrecher einen Einbruch in einen Genfer Juwelierladen vor, der knapp zwei Wochen nach Sophies Geburtstag stattfinden soll. Greg ist mit seiner Truppe maßgeblich daran beteiligt, den Überfall möglichst zu verhindern und die Täter auf frischer Tat zu ertappen.
Die Geschichte wird mit vielen Rückblenden in die Vergangenheit erzählt, wodurch erst allmählich die Verstrickung der Protagonisten in das aktuelle Geschehen aufgeklärt wird. Die Uhr läuft, und die Spannung steigt bis zum großen Finale. Gleichzeitig wird deutlich, dass alle zentralen Charaktere etwas zu verbergen haben: Arpad eine dubiose Vergangenheit mit Kontakten zum gesuchten Mehrfachtäter Philippe Carral, Sophie ihre lange Bekanntschaft mit diesem Mann, der bis jetzt unbescholtene Polizist Greg sein Fehlverhalten im privaten und dienstlichen Bereich, und Karine erhält lange um jeden Preis die Fassade einer guten Ehe und glücklichen Familie aufrecht.
“Ein ungezähmtes Tier“ hat Züge eines Psychothrillers und liest sich ungeheuer spannend. Mir hat auch der neue Roman des Schweizer Autors sehr gut gefallen, und ich empfehle ihn ohne Einschränkung.

Bewertung vom 02.03.2025
Die Fletchers von Long Island
Brodesser-Akner, Taffy

Die Fletchers von Long Island


sehr gut

Für immer ein Dibbuk im Getriebe
In ihrem Roman “Die Fletchers von Long Island“ geht es um die sehr reiche jüdische Familie Fletcher auf Long Island. In den 40er Jahren hat es Zelig Fletcher mit knapper Not aus Polen auf ein Schiff und in die USA geschafft. Dort hat er eine Polyesterfabrik aufgebaut, die ihn reich gemacht hat und inzwischen von seinem Sohn Carl geleitet wird. Carl war verheiratet, hatte zwei Kinder – Nathan und Bernard genannt „Beamer“ – als er 1980 vor seinem Haus entführt wird. Gegen eine Lösegeldzahlung von 250.000 Dollar wird er fünf Tage später frei gelassen. Zwei der Entführer werden aufgrund von markierten Scheinen gefasst, aber den Drahtzieher findet man genauso wenig wie den Löwenanteil der gezahlten Summe.
Die Autorin beschreibt mit Hilfe eines allwissenden Erzählers, wie es für die Familie weitergeht. Carl wird nie wieder derselbe sein, und auch seine Frau Ruth und seine Kinder sind für immer traumatisiert. Bei einem solchen Trauma gib es kein Danach. Ruth verbringt den Rest ihres Lebens Leben damit, ihren Mann zu beschützen. Keines der drei Kinder – die Tochter Jenny wurde erst drei Monate nach der Entführung geboren – bekommt sein Leben in den Griff. Nathan ist ein erfolgloser Anwalt mit einer Angststörung, Beamer schreibt Drehbücher, die kein Produzent haben will und in denen es immer um Entführungen geht und bezahlt Sex-Arbeiterinnen und eine Domina, um sich erniedrigen und schmerzhaft bestrafen zu lassen, und Jenny hat viele Jahre lang keine Freunde oder auch nur nennenswerte soziale Kontakte. Sie engagiert sich schließlich bei einer Gewerkschaft, weil sie sich für den Reichtum der Familie schämt und schuldig fühlt und verschenkt ihr Geld. Sympathisch ist keiner von ihnen. So schrecklich das ist, was ihnen widerfuhr, fällt dem Leser Empathie nicht leicht.
Die Autorin zeigt, wie schwer es vor allem für die drei Kinder ist, Ziele für sich zu finden und ein erfolgreiches Leben zu führen. Bei dem vorhandenen Reichtum ist es ja auch zunächst nicht notwendig, sich irgendwelche Gedanken über die Zukunft zu machen. Außerdem gibt es in der Geschichte eine Fülle von Details zum jüdischen Leben, zu religiösen Praktiken und zu allen Arten von jüdischen Sitten und Gebräuchen. Taffy Brodesser-Akner ist ein interessanter Roman gelungen, stilistisch brillant, an dem mich lediglich die epische Breite stört.