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Benutzername: 
Xirxe
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Hannover
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 866 Bewertungen
Bewertung vom 27.10.2021
Barbara stirbt nicht
Bronsky, Alina

Barbara stirbt nicht


sehr gut

Normalerweise sind die Hauptfiguren in Filmen und Büchern Sympathieträger – nicht so in dem neuen Buch von Alina Bronsky. Herr Schmidt, wie er konsequenterweise die gesamten 251 Seiten genannt wird, mag die Menschen nicht. Und sie ihn genauso wenig – bis vielleicht auf Lydia. Und Hanne. Und vielleicht Heike. Aber egal, Herr Schmidt ist am liebsten für sich, zusammen mit seiner Frau Barbara, die seine geliebte Ordnung für ihn aufrecht hält. Doch eines Morgens wacht er auf – und da ist nichts und niemand. Kein Kaffeeduft und keine Barbara, es

"... schien ihm plötzlich am wahrscheinlichsten, dass Barbara auf dem Weg in die Küche tot umgefallen war."

Umgefallen ist sie, doch sie lebt und liegt im Bad. Mühsam bringt er sie ins Bett, wo sie die nächsten Tage und Wochen verbringen wird. Und für Herrn Schmidt brechen neue Zeiten an. Er ist davon überzeugt, dass er sie wieder auf die Beine bringen wird (im Gegensatz zu seinem Umfeld) und übernimmt nun die Verantwortung für Küche und Haushalt. Und dass, wo er nicht einmal weiß, wie man Kaffee oder Kartoffeln kocht.

„Ach, Walter. In Wasser, im Topf.“ Er mochte es nicht, wie sie ihm Sachen erklärte. „Wo sind die Kartoffeln denn?“ „In der Speisekammer. Im Korb. Schälen brauchst du nicht.“ „Wie heiß soll das Wasser sein? Wie viel Grad?“ „Ach, Walter.“ „Wie lange drin lassen?“ „Bis es fertig ist.“ Er begann selbst innerlich zu kochen. „Wann weiß ich, dass sie fertig ist?“ „Piks sie mit der Gabel an.“

Doch wider Erwarten findet er sich allmählich zurecht und zu seiner eigenen Überraschung scheint es ihm sogar Freude zu bereiten.

Sicherlich kann man das Buch als leichte und immer wieder humorvolle (wenn auch nicht urkomische) Lektüre einer Wandlung vom miesepetrigen Egozentriker hin zum offeneren mitfühlenden alten Herrn lesen, aber das würde dieser Geschichte nicht gerecht werden. Denn fast schon nebenbei lässt Alina Bronsky immer wieder einfließen, dass es für diese mürrische und grollende Art des Herrn Schmidt durchaus einen guten Grund gibt. Die Zeit, die er als Russlanddeutscher, geboren während des 2. Weltkrieges in der Sowjetunion verbrachte, war wahrscheinlich sehr schwierig. Dort als potentielle Spione und Verräter gebrandmarkt, wurde diese Volksgruppe schikaniert, ausgebeutet und lebte in den erbärmlichsten Verhältnissen. Kein Wunder, dass sich Herr Schmidt einen Panzer zulegte, um nie mehr Schwäche zu zeigen.

„Du kannst mir gar nicht wehtun“, sagte er langsam und deutlich. „Niemand von euch kann mir wehtun.“

„Wir waren doch gerade erst weg von den Russen, und seien wir ehrlich, Barbara war damals eine von denen.“

Es ist ein Buch, dass nur vordergründig humorvoll erscheint, tatsächlich aber voller Tragik über ein recht verkorkstes Leben ist sowie ein Plädoyer, Menschen nicht nur nach dem ersten Augenschein zu beurteilen (und Anderes natürlich auch nicht ;-)).

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.10.2021
Die militante Madonna
Dische, Irene

Die militante Madonna


weniger gut

Viele unserer heutigen Stars und Sternchen würden neben Chevalier d'Éon, einem Adligen aus dem 18. Jahrhundert, regelrecht blass aussehen. Er war Botschafter Frankreichs in England, Agent, Soldat, ein Hochstapler, Büchernarr, Freimaurer und genoss es, immer wieder als Frau zu leben.

"Die Natur hat mir das großzügigste Geschenk gemacht, äußerlich beiden Geschlechtern anzugehören. Hierher rührte die öffentliche Verwirrung. Ich war mit einer Stimme gesegnet, die für einen Mann als sehr hoch und für eine Frau als sehr tief galt. Ich war groß für eine Frau und klein für einen Mann. Hatte schöne Knöchel, sowohl für einen Mann als auch für eine Frau. Meine Uniform betonte meine Stärke und Beweglichkeit, ein Ballkleid hob meine Anmut hervor, und mein Alter spielte keine Rolle. Ich war nie auch nur auf die Idee gekommen, das eine Geschlecht zugunsten des anderen aufgeben zu müssen."

Die Gesellschaft akzeptierte das mit nicht mehr Geraune als heutzutage, doch immer wieder kam es durch Wetten mit ausufernden Einsätzen darüber, welches Geschlecht der Chevalier habe, zu Eklats. Seine Freunde, der Klatschjournalist Morande sowie der Dramatiker Beaumarchais versuchten dadurch an Geld zu kommen und fädelten eine Reihe Intrigen ein.

Es ist eine illustre Lebensspanne, die Irene Dische durch den Chevalier selbst erzählen lässt, der sich direkt an sein lesendes Publikum wendet. Es wird gelogen, betrogen, intrigiert und geschmeichelt, wobei die Hauptfigur sich noch zurückhält. Doch wie seine Freunde vorgehen, nur auf den eigenen Vorteil bedacht und ohne Rücksicht auf Verluste, lässt mich nur den Kopf schütteln. Was findet er an diesen entsetzlichen Menschen, dass er ihnen über Jahre hinweg die Treue hält?

So wenig man eine Antwort auf diese Frage erhält, so wenig erfährt man über die tieferen Beweggründe der einzelnen Figuren. Die Charaktere wirken blass, die einzelnen Personen bleiben nicht im Gedächtnis. In erster Linie ist es ein unterhaltsames Panoptikum, in dessen Zentrum der Chevalier d'Éon steht; ein Buch mit Klatsch- und Tratschgeschichten aus dem 18. Jahrhundert. Heutzutage liest man so etwas in der GALA ;-)

Bewertung vom 27.10.2021
Spook Street / Jackson Lamb Bd.4
Herron, Mick

Spook Street / Jackson Lamb Bd.4


ausgezeichnet

Während die KollegInnen des MI5, dem britischen Inlandsgeheimdienst, versuchen die Hintergründe eines Bombenattentats in einem Einkaufszentrum mit über 40 Opfern aufzuklären, sitzt Jackson Lambs Truppe, die Slow Horses, unmotiviert in Slough House die Zeit ab,. Nur River Cartwright, auch er ein ‚Abservierter‘, ist eigenmächtig unterwegs: Sein geliebter Großvater, der viele Jahre die wichtigste Person im MI5 war und nun langsam den Bezug zur Realität verliert, fühlt sich verfolgt. Und das offenbar nicht zu unrecht. Als die Slow Horses die überraschende Nachricht von Rivers Tod erreicht, bricht hektische Betriebsamkeit aus: Einer von ihnen ermordet – was ist da los?

Es ist der vierte Band über die abservierten Spione in Slough House und wie bereits die Vorgänger spannend, überraschend, bitterböse und schräg und auch ohne Kenntnis der vorhergehenden Bücher verständlich. Allein die Dialoge, nicht nur von Jackson Lamb, sind schon des Lesens wert.

‚Glauben wir wirklich, dass ein Projekt, das David Cartwright vor mehr als zwanzig Jahren ins Leben gerufen hat, für Westacres verantwortlich ist?‘
‚So ausgedrückt‘, sagte Lamb, ‚klingt es wie ein Hirngespinst, das sich nur eine Alkoholikerin, ein Ex-Spion und ein Geisteskranker mit PTBS ausdenken könnten.‘
‚Wer ich sein soll, habe ich rausgekriegt, sagte sie. ‚Aber welcher von denen bist du?‘
‚Ich habe mich selbst ausgelassen. Ich wollte nur das freie Assoziieren erleichtern.‘

Wie zwei unabhängig voneinander sich entwickelnde Handlungsstränge zusammenfinden, ist schon große Erzählkunst ebenso wie die Schilderungen der Verfolgungsjagden oder der Überfall auf Sloan House. Obwohl bei diesen Actionszenen jeweils ein ziemliches Chaos herrscht, sind die Beschreibungen so detailliert, dass man beim Lesen nie den Überblick verliert.

Alles in allem ein rundum gelungener Spionagekrimi mit Spannung, Action und viel Humor. Bitte mehr davon!

Bewertung vom 27.10.2021
Diese Frauen
Pochoda, Ivy

Diese Frauen


ausgezeichnet

Innerhalb weniger Tage werden in unmittelbarer Nähe der Western Avenue in Los Angeles zwei tote Prostituierte gefunden. Dies weckt kein allzu großes Interesse seitens der Polizei; 'diesen Frauen' passiert halt so etwas. Doch Andere erinnern sich, dass vor 15 Jahren schon einmal Frauen in dieser Gegend umgebracht wurden - der Mörder wurde nie gefasst.

Während die meisten der herkömmlichen Krimis sich darum bemühen aufzuklären, wer die Tat(en) begangen hat und warum, sind hier Opfer oder die Frauen mit Bezug zu den Opfern die Hauptfiguren. Eine Überlebende; die Mutter eines Opfers; die (einzige) ermittelnde Polizistin; ein künftiges Opfer; eine Künstlerin, die das Thema Gewalt gegen Frauen in ihren Werken nutzt und deren Mutter. Alle Sechs schildern ihre Erfahrungen mit Gewalt: der sie direkt ausgesetzt waren oder die sie als Dritte miterleben mussten, jedoch nie als die Ausübenden.

Ivy Pochoda lässt die Frauen deutlich zu Wort kommen, teils auch derb und vulgär, was die Atmosphäre jedoch umso überzeugender wirken lässt. Es ist ein Blick in eine Welt, in der die Männer die Macht haben und Frauen dies tagtäglich zu spüren bekommen: durch Arroganz, Ignoranz und schlimmstenfalls Gewalt. "Die Männer da draußen machen jede Menge abgefuckte Scheiße. Und meistens kommen sie damit durch. Und überhaupt, wer zum Teufel würde mir zuhören - einer Frau, die für zwanzig Dollar Schwänze lutscht?" Aber auch die Polizistin erfährt keinen Respekt - die Anerkennung für das Überführen des Täters erhalten ihre männlichen Kollegen.

Dieses Buch ist nur nebenbei ein Krimi - in erster Linie ist es eine Anklage gegen eine Welt, in der Frauen jederzeit Gewalt in jeder Form ausgesetzt sind. Klasse!

Bewertung vom 27.10.2021
Dunkelblum
Menasse, Eva

Dunkelblum


ausgezeichnet

Und schon wieder ein Buch über die Nazivergangenheit - hat man doch bereits -zigmal gelesen, mag so Manche/r denken.
Aber dieses Buch ist etwas Besonderes und unbedingt lesenswert, auch wenn der Inhalt vielleicht nicht ganz so überraschend sein mag.

Dunkelblum ist eine fiktive Kleinstadt in unmittelbarer Nähe der Grenze zu Ungarn, dort "wissen die Einheimischen alles voneinander, und die paar Winzigkeiten, die sie nicht wissen, die sie nicht hinzuerfinden können und auch nicht einfach weglassen, die sind nicht egal, sondern spielen die allergrößte Rolle: Das was nicht allseits bekannt ist, regiert wie ein Fluch."
Meist sind es Dinge aus der Vergangenheit, damals als der Horka der Schrecken des Ortes war. Während der Naziherrschaft konnte dieser ohne Folgen seinen sadistischen Neigungen nachgehen und als die Russen das Sagen hatten, brachte er es sogar zum Polizeichef. Doch nun, es ist 1989, beginnt die junge Generation sich für längst Vergangenes zu interessieren: Die jüngste Tochter des Biobauern plant mit dem Dorfchronisten ein Heimatmuseum und beginnt, unangenehme Fragen zu stellen. Und aus der Hauptstadt reisen Studierende an, um den örtlichen jüdischen Friedhof zu restaurieren. Als auf einer Wiese ein Skelett gefunden wird und die Presse davon Wind bekommt, wird das Interesse an Dunkelblums Vergangenheit immer größer, die wider Willen der BewohnerInnen deutlich bis in die Gegenwart reicht.

Eva Menasse präsentiert uns hier eine Vielzahl von Menschen eines Ortes, die aufgrund ihrer Herkunft alle miteinander verbunden sind, im Guten wie im Schlechten. Einen solchen Mikrokosmos zu entwerfen haben bereits Andere vor ihr gemacht (beispielsweise Juli Zeh in Unterleuten oder Raphaela Edelbauer in Das flüssige Land), doch nicht mit derart feinen Verflechtungen innerhalb eines sozialen Netzes und ebenso wenig mit diesem wundervoll schwarzhumorig-ironischen Tonfall.
"Unserer Frau Balaskó hat sie gesagt, sie sucht nach Dunkelblumer Kriegsverbrechern, stell dir das vor, Kriegsverbrecher, bei uns! Das Mädel ist Anfang zwanzig, früher haben sich die jungen Leute für was anderes interessiert, für Tanzen und Flirten . . .".

Auch wenn die Geschichte auf der des realen Ortes Rechnitz beruht, ist es keine Aufarbeitung der dortigen Geschehnisse. Es geht um den Umgang mit der Vergangenheit Jahrzehnte danach: Verdrängung, Rechtfertigung, Verleugnung ... Und was mit den Menschen geschehen ist und geschieht, wenn sich die Wahrheit ans Licht drängt. Ein grandioses Buch!

Bewertung vom 07.10.2021
Die Überlebenden
Schulman, Alex

Die Überlebenden


ausgezeichnet

Irgendwo in Schweden, ein Holzhaus am See - man könnte meinen, man sei bei Astrid Lindgren. In dieser Idylle verbringen die Eltern mit ihren drei Söhnen gemeinsam die Sommer, doch der Schein trügt.
"Sie saßen immer nebeneinander, Schulter an Schulter, denn beide wollten aufs Wasser schauen. Die weißen Plastikstühle ins hohe Gras gebohrt, ein schiefer kleiner Holztisch, auf dem die fleckigen Biergläser in der Abendsonne glänzten. (...) Im Gras zwischen ihnen eine Kühltasche, die den Wodka bereithielt."
Während Vater und Mutter sich dem Alkohol hingeben, überlassen sie ihre Söhne weitestgehend sich selbst. Was zu Beginn wie die unbeschwerte freie Kindheit dreier Jungen anmutet, ist deren teilweise verzweifeltes Bemühen, die Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu erlangen.
Doch ich greife vor. Die Geschichte beginnt mit dem Erscheinen eines Polizisten, der wegen eines Notrufes bei diesem Holzhaus erscheint, wo er drei Männer vorfindet.
"Sie weinen, halten sich im Arm. Sie tragen Anzug und Krawatte. Neben ihnen im Gras steht eine Urne."
Es sind die drei erwachsenen Brüder, die den Wunsch ihrer kürzlich verstorbenen Mutter erfüllen wollen, ihre Asche an diesem See zu verstreuen. Ausgehend von dieser Szene geht Alex Schulman kapitelweise zurück in die Vergangenheit, abwechselnd mit Kapiteln aus der Kindheit der Jungen, die ihrerseits in die Zukunft führen bis zu dem Punkt, der den endgültigen Bruch der Familie bedeutet und wo die beiden Erzählstränge zusammenlaufen.
Von Beginn ist die scheinbar so heile Welt eine trügerische, denn bereits im ersten Kapitel der Kindheit zeigt sich eine Gleichgültigkeit der Eltern, die sogar das Leben der Kinder gefährdet. Jeder der Jungen versucht auf seine Weise damit klar zu kommen: Nils, der Älteste, zieht sich fast vollständig von allem zurück; Pierre, der Jüngste, ist ständig rastlos und ungestüm; und Benjamin, der Ich-Erzähler, nimmt eine Beobachterposition ein, häufig mit dem Versuch zu vermitteln. Als ein Unglück geschieht, ist der letzte Zusammenhalt in der Familie dahin.
Obwohl die Handlung eher ruhig verläuft, entsteht durch die Intensität von Schulmans Beschreibung der Lebenssituation der Jungen wie auch deren Erleben in der Natur und der Familie durchweg eine solche Spannung, die durchaus eines Kriminalromans würdig ist. Lediglich das Ende, das mit einer schockierenden Wendung aufwartet, hinterlässt einen etwas schalen Nachgeschmack - es wirkt etwas zu aufgesetzt, zu sehr à la Hollywood. Doch es ist nur ein kleiner Einwand bei diesem ansonsten anrührenden, hervorragend geschriebenen und auch psychologisch überzeugenden Buch.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.10.2021
Alphabet
Page, Kathy

Alphabet


ausgezeichnet

Seit acht Jahren ist der 29jährige Simon in Haft, verurteilt zu lebenslänglich wegen Mordes an seiner damaligen Freundin. Im Gefängnis lernt er Lesen und Schreiben, das er bis dahin nur bruchstückhaft beherrscht und holt den mittleren Schulabschluss nach. Er beginnt Brieffreundschaften mit Frauen, wobei er nicht weiß, dass eine davon erst 14 Jahre alt ist. Als deren Vater erfährt, dass seine minderjährige Tochter mit einem Mörder korrespondiert, wird ihm das Schreiben untersagt und den Brief, in dem er erstmalig seine Tat schildert, erhält seine neue Betreuerin Bernadette. Diese sieht Weiterentwicklungsmöglichkeiten bei dem jungen Mann und vermittelt ihm einen Platz in einem Therapie-Programm einer Sondereinrichtung für Gewaltstraftäter in Wentham.

Dort herrschen andere, bessere Bedingungen. Während im Gefängnis untereinander das Recht des Stärkeren dominiert und die Vollzugsbeamten unter widrigen Bedingungen und häufig voller Geringschätzigkeit für die Inhaftierten diese 'beaufsichtigen', gelten in Wentham Respekt und Wertschätzung für den einzelnen Menschen, egal welchen Verbrechens sie sich schuldig gemacht haben. Bei Simon machen sich Veränderungen bemerkbar, nicht nur in Form von aufkommendem Bildungshunger, sondern auch in puncto Selbstreflexion in Bezug auf seine Tat, die er bisher erfolgreich verdrängt hat.

Kathy Page hat diese Entwicklung Simons so überzeugend dargestellt, dass man seinen Gedankengängen, seinen Versuchen, seine Aggressionen in den Griff zu bekommen oder Vertrauen zu fassen, ohne Zweifel nachvollziehen kann. Auch ihre Darstellung des Gefängnisalltags macht ersichtlich, ohne dass sie dies ausdrücklich kommentiert, wie destruktiv sich Haftstrafen ohne Resozialisierungsmaßnahmen auf die Gefangenen auswirken. Auch wenn Simons Geschichte in den 1980ern Jahren spielt, ist das Thema aktuell, da immer wieder über die Sinnhaftigkeit solcher Maßnahmen diskutiert wird. Ebenfalls deutlich erkennbar werden die An- und Überforderungen an das Gefängnis- und Therapiepersonal. Insbesondere in den Gefängnissen ist ein Mangel an Allem zu verzeichnen; Gefangene werden ausschließlich verwaltet und das zu den möglichst niedrigsten Kosten. Schlechtes Essen, mangelhafte Unterbringung, unzureichende Versorgung mit allem Anderen führen zu einer ständig gespannten Atmosphäre, mit der die schlecht bezahlten Vollzugsangestellten tagtäglich zurecht kommen müssen. Während das Therapiepersonal über solche Defizite nicht klagen kann, obliegt ihnen jedoch die Verantwortung, eine Prognose abzugeben, ob ein Mensch künftig in die Freiheit entlassen werden kann, ohne eine Gefahr für Andere darzustellen.

Es ist ein sehr vielschichtiger Roman mit einem Einblick in eine Welt, von der die Meisten von uns nur in den Nachrichten hören, lesen oder sehen. Kathy Page hat uns diese Welt aufgrund ihrer einjährigen Erfahrung als Writer in Residence im Her Majesty's Prison Nottingham nahe gebracht.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.09.2021
Sarah Jane
Sallis, James

Sarah Jane


ausgezeichnet

Sarah Jane war Herumtreiberin, Soldatin, Köchin, Cop, Sheriff. So wie sie ihre Berufe wechselte, wechselte sie ihren Wohnsitz, auch heraufbeschworen durch unglückliche Beziehungen verschiedenster Art und Weise. Stets auf der Suche nach einem Ort, wo sie bleiben kann, sich sicher fühlt, landet sie schließlich in Farr, einer Kleinstadt „irgendwo in der Mitte des Landes“ und wird ein Cop. Als ihr Chef verschwindet, wird sie umstandslos zum Sheriff befördert und versucht neben dem Alltagsgeschäft auch das Verschwinden ihres früheren Vorgesetzten aufzuklären.

Obwohl es irgendwann noch einen Toten gibt, dessen Person vielleicht mit Sarah Janes Vergangenheit in Zusammenhang zu stehen scheint, ist das Buch kein Krimi. Es ist die Geschichte von Sarah Janes Leben, von dem sie rückblickend erzählt. Auch wenn sie praktisch ihr ganzes Leben schildert, bleibt Vieles im Ungefähren, denn immer wieder bricht sie ab, um Gedanken zu folgen, die nahezu philosophischen Charakter haben.

"Alle Geschichten sind Geistergeschichten, über verlorene Dinge, verlorene Menschen, Erinnerungen, Heimat, Leidenschaft, Jugend, über Dinge, die darum ringen, von den Lebenden gesehen und anerkannt zu werden."

Von den schlimmsten Erlebnissen scheint sie fast gleichgültig zu berichten und wirkt erst einmal nicht wie eine Protagonistin, der man gerne folgt. Doch je mehr man von ihr und über sie liest, desto näher kommt sie einem, denn hinter dieser scheinbar so leidenschaftslosen Erzählerin verbirgt sich eine intelligente und sehr empathische Person. Aufmerksam hört sie den Menschen zu, die sonst offensichtlich von niemandem Zuwendung erfahren und nimmt sich voller Respekt und Achtsamkeit Zeit für sie und ihre Anliegen.

Es ist eine Geschichte über das Leben von Menschen, die sich am Rande der Gesellschaft bewegen und trotzdem irgendwo, irgendwie dazugehören wollen. Zumindest ein bisschen.

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.09.2021
Die Tote mit der roten Strähne
Kent, Kathleen

Die Tote mit der roten Strähne


sehr gut

Bettys Einstand als Serienheldin ist stürmisch: Gerade mal nach fünf Monaten bei der Polizei in Brooklyn wird sie mit ihrem Kollegen zu einem Schusswechsel gerufen, sie entdecken vier Leichen und einen durchgeknallten Amokläufer. Elf Jahre später beginnt sie ihre Arbeit in Dallas, Texas und ist weitere zwei Jahre später, September 2013, die leitende Ermittlerin bei der Überwachung eines großen Kokaindeals. Doch der Einsatz geht schief, es gibt mehrere Tote und die Schützen können fliehen. Auf der Jagd nach den Tätern und dem Verantwortlichen für den Kokainhandel gibt es weitere Opfer und es sieht so aus, als ob Betty dabei direkt ‚angesprochen‘ wird.

Die rothaarige schlagfertige Betty, die niemandem etwas schuldig bleibt, ist eine Bereicherung in der Flut der Krimineuerscheinungen. Mit ihrer Frau ins offenbar ultrakonservative Texas gezogen, fällt sie nicht nur mit ihrer Erscheinung (1,80m, wilde rote Locken) auf, sondern auch durch ihren unkonventionellen Umgangston. Mit Empathie für die Benachteiligten und fähig, Vorurteile zu revidieren, ist sie knallhart in der Sache.

Der Fall selbst scheint zu Beginn ein üblicher Drogendeal zu sein, der ‚etwas‘ aus dem Ruder läuft. Doch nach und nach zeichnet sich ab, dass hier offenbar noch andere Interessen bestehen als nur ein größerer Kokainverkauf. Erst nach mehr als zwei Dritteln des Buches wird offensichtlich, was wirklich dahintersteckt und das ist so abgedreht, dass ich doch hin und wieder den Kopf schütteln musste. Dennoch, spannend ist es auf jeden Fall (und teilweise auch eklig-blutig) und die Auflösung hinterlässt noch eine kleine Spur von Unsicherheit: Hat der Anfang vielleicht doch etwas mit dem Ende zu tun?

Bemerkenswert sind manche der Bilder, die die Autorin erzeugt:

"… die Hitze hockt jetzt schon auf meinem Kopf wie ein fettes, mit Spiegelschuppen bedecktes Monster, das mir mit feuchtheißer Zunge in die Ohren und den Nacken hinunterfährt." Seite 17

"… ein riesiges Ohrenstäbchen auf Steroiden, …" Seite 19

Alles in allem ein guter Auftakt einer neuen Serie – den zweiten Band gibt es ja bereits in Englisch und vermutlich auch demnächst auf Deutsch. Ich werde ihn mir vormerken.

Bewertung vom 30.09.2021
Shuggie Bain
Stuart, Douglas

Shuggie Bain


ausgezeichnet

Glasgow, Anfang der 80er. Der fünfjährige Shuggie Bain lebt mit seinen Eltern und seinen beiden Halbgeschwistern bei den Großeltern in deren 3-Zimmer-Wohnung. Sein Vater Shug, ein stadtbekannter Schürzenjäger, fährt Nachts Taxi, seine geliebte schöne Mutter Agnes ertränkt ihren Frust in Alkohol. Als Shug seine Familie in eine Wohnung in einer Bergarbeitersiedlung außerhalb von Glasgow einquartiert und danach verschwindet, scheint Agnes‘ Abstieg nichts mehr aufzuhalten.

Zehn Jahre umfasst der erzählte Zeitraum, in dem Shuggie zu einem jungen Mann heranwächst. Sein Leben ist bestimmt vom Alkohol, dem seine Mutter immer mehr verfällt und der ihn bereits als Kind mit acht, neun Jahren zu ihrem Beschützer und Betreuer werden lässt. Seine älteren Geschwister versuchen Abstand zu nehmen und mit 14 Jahren ist Shuggie allein mit Agnes, die das Kindergeld vom Dienstag meist schon am gleichen Tag für Alkohol wieder ausgegeben hat.

Es ist eine deprimierende Zeit, nicht nur in dieser Familie. Die 80er Jahre sind geprägt durch Thatchers Reformen, die ganze Stadtteile in die Arbeitslosigkeit stürzten, worauf der Alkohol- und Drogenmissbrauch so um sich griff, dass er im ganzen Stadtbild sichtbar wurde und das Schlechte im Menschen zum Vorschein brachte: Überfälle, Vergewaltigungen, Missbrauch, Mord. Shuggie und Agnes bekommen das am eigenen Leib zu spüren: Jeder ist sich selbst der Nächste und der so wenig männliche Junge ist als Opfer ebenso prädestiniert wie seine schöne, fast immer betrunkene Mutter. Dennoch versucht er sie stets voller Liebe und Hingabe zu beschützen und zu versorgen, was ihm angesichts seines jungen Alters vergleichsweise gut gelingt.

Es ist eine traurige und düstere Geschichte, die nur wenige Lichtblicke aufweist und drastisch vor Augen führt, was Alkoholismus nicht nur bei Abhängigen, sondern insbesondere bei deren Kindern anrichtet. Und trotzdem ist es immer wieder auch eine Lektüre voller Wärme und Mitgefühl, die man nur ungern aus der Hand legt, was an Douglas Stuarts außergewöhnlicher Sprache liegt. Er schafft bemerkenswerte Bilder, die auch das Grauen in Schönheit verwandeln.

"…, aber als sie jetzt neben Leek stand, ließ sie die bernsteinfarbene Süße des Starkbiers in ihr Herz laufen." Seite 229

"Agnes packte ihn am Pulloverkragen. Shug griff nach seinem Geldgürtel und küsste sie energisch mit der Zunge. Er musste die kleinen Knochen ihrer Hand zerquetschen, damit sie losließ. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte sie vollkommen brechen müssen, bevor er sie endgültig verließ. Agnes Bain war ein zu kostbares Exemplar, um sie der Liebe eines anderen zu überlassen. Er durfte nicht mal Scherben übrig lassen, die ein anderer später einsammeln und kleben könnte." Seite 131

Ein beeindruckendes Buch, das zu Recht den Booker Preis 2020 erhalten hat.