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Adelebooks
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Bremen

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Insgesamt 147 Bewertungen
Bewertung vom 14.06.2025
Berkel, Christian

Sputnik


gut

Coming of Age Geschichte im Theatermilieu der Nachkriegszeit zwischen Frankreich und Deutschland

Sputnik - ist eine autofiktionale Coming of Age Geschichte des Schauspielers Christian Berkel.
Im ersten Teil werden Kindheit und Jugend im Nachkriegsdeutschland beleuchtet. Recht speziell sind hier zunächst die Reflexionen aus der Perspektive des imaginären Fötus Sputnik sowie der frühen Babyjahre. Auch wenn dies realistisch beschrieben sein mag, konnte ich damit nicht viel anfangen. Wesentlich besser haben mir dann jedoch die Beschreibungen der Kinderjahre und Jugendzeit gefallen. Sputnik wächst in einem künstlerisch-literarisch geprägten Elternhaus des Bildungsbürgertums auf, kein Fernseher dafür frühe Sprachbildung (mit der Mutter spricht er früh nur Französisch), Theaterbesuche und Hörspiele auf Schallplatte zu Hause. Und obwohl Sputnik seine künstlerischen Neigungen früh frei entdecken darf, fühlt er sich seltsam eingeschränkt. Da ist die dramatische Vergangenheit seiner Eltern, die Mutter als Jüdin verfolgt von den Nazis, der Vater im russischen Lager, die auch im Familienalltag immer wieder subtil durchscheint. Da ist seine Identität als Halbjude, die ihm nie bewusst vermittelt wurde und sich doch Stück für Stück für ihn zusammensetzt. Und da ist der durchaus bedrückende, wie für den Heranwachsenden gleichsam verwirrende Hintergrund vor dem dies alles geschieht: ein Nachkriegsdeutschland, dass sich weder an Krieg noch Judenverfolgung erinnern möchte und doch antisemitische Vorurteile sorgsam pflegt. Bei Sputnik führt all dies zu einem Gefühl von Bedrückung und dem Eindruck nie wirklich ganz zu sein. Trost spendet stets das Theater, schon früh verbringt er seine Wochenenden in den Berliner Kammerspielen.

Ein echtes Freischwimmen ist im zweiten Teil schließlich die Zeit als Heranwachsender in Paris, in dem Sputnik ab der 7. Klasse die Schule besucht. Zwar wirkt auch hier die Kriegszeit nach - Sputnik wird nun in jugendlichem Leichtsinn als Nazi verfemt. Und trotzdem erlebt er hier fern von seinem Elternhaus und der befremdlichen Stimmung im Nachkriegsdeutschland erstmals echte Freiheit. So mäandernd wie er im schillernden Paris seine Jugend entdeckt, sich in der Liebe, Erotik, und mit Drogen ausprobiert, so unbeirrt verfolgt er auch hier seinen Wunsch Schauspieler zu werden.

Im Dritten Teil kehrt Sputnik schließlich mit 16 Jahren zurück nach Berlin. Der Roman fokussiert hier auf die Zeit als Jungschauspieler in Film und Theater in Augsburg und Düsseldorf. Sehr interessant fand ich die Einblicke in die Schulddebatte im Nachkriegsdeutschland und die Diskussionen um die RAF und Stammheim, auch und gerade zwischen den verschiedenen Generationen und den künstlerisch-intellektuellen und bürgerlichen Milieus in die der Roman blickt.

Ich habe die Vorwerke des Autors, Ada und der Apfelbaum, nicht gelesen und hatte zwischenzeitlich das Gefühl, dass mir dadurch etwas fehlt, um die Protagonisten der Rahmenhandlung, im Fall der Vorwerke seine Schwester Ada und seine Mutter Sala (der Apfelbaum) besser einordnen zu können.

Der Roman ist flüssig geschrieben und lässt nachvollziehbar werden, wie die Liebe zum Theater bei Sputnik früh geweckt und seither stetig gewachsen ist. Für mich hatte die Erzählung jedoch einige Längen, die zentralen Identitätskonflikte aufgrund seiner Herkunft verlieren zwischen ersten Küssen, Masturbation, Drogenkonsum und Rebellionen fast ihre Bedeutung ohne sich zu einer kohärenten Gesamterzählung zu entwickeln.

So bleibt es für mich leider ein etwas durchwachsenes Leseerlebnis. Für Fans des Autors, die mehr über seinen bewegten Lebensweg erfahren wollen, ist es sicher eine lohnende Lektüre.

Bewertung vom 03.06.2025
Eui-kyung, Kim

Hello Baby


ausgezeichnet

Als Frau in Korea - Zwischen beruflichem Erfolg, Mutterschaft und gesellschaftlichen Erwartungen

Hello Baby - so heißt der Gruppenchat von sechs Frauen, alle Patientinnen der Angel Baby Klinik in Seoul, alle zwischen Ende 30 und Mitte 40, alle bisher ungewollt kinderlos. Die 44 jährige Munyeong versucht mit IVF schwanger zu werden, und findet in Jiun, Sora, Hyekyoung, Unha und Jeonghyo Gleichgesinnte. Geteiltes Leid mag hier angesichts von schmerzhaften Vorbereitungen und Eizellenentnahmen, erfolglosen Befruchtungen und Fehlgeburten kaum halbes Leid sein, doch die ähnlichen Erfahrungen und das Verständnis füreinander geben den Frauen in der Gruppe halt.

Über die verschiedenen Hintergründe der Frauen, beruflich, regional und auch mit Blick auf den finanziellen und sozialen Status, vermittelt der Roman einen erstaunlich weiten Einblick in die koreanische Gesellschaft und natürlich die diversen weiblichen Rollenbilder und Zwänge darin. Hier skizziert die Autorin eine Gesellschaft in der, gerade in der jüngeren Generation Mutterschaft negativ gedeutet zu sein scheint, als Belastung und ein Stören der wirtschaftlichen Produktivität. Dem steht jedoch gleichzeitig ein Druck von der Generation der Mütter und Schwiegermütter gegenüber Enkel „zu produzieren“. Und dazwischen steht die einzelne Frau mit ihren Träumen, Wünschen und eigenen Bedürfnissen.

Sensibel herausgearbeitet sind auch die Beziehungsmuster in denen die Frauen mit ihren Partnern agieren. Im Vergleich der jeweiligen Geschichten fällt auf wie unterschiedlich die Männer mit der Kinderwunschsituation, eventuell eigener Unfruchtbarkeit und den Belastungen der IVF Behandlung, auch für ihre Frauen, umgehen.

Hello Baby ist nüchtern und sensibel zugleich erzählt, schnörkellos gibt die Autorin Einblicke in die körperlichen und mentalen Belastungen der IVF und beweist dabei ein Gespür und Empathie für die Momente, in denen sie tiefer in die Gedanken der Frauen, Beziehungsmuster und gesellschaftlichen Zwänge in denen diese Agieren eintauchen muss.

Die vielfältigen Einzelschicksale verwebt die Autorin in eine berührende, erhellende, erschütternde und letztlich auch spannende Gesamterzählung. So wird Hello Baby zu einem hervorragend geschriebenen Roman über Frauen in der koreanischen Gesellschaft, gefangen zwischen den Erwartungen an sich selbst, der Familie, Schwiegerfamilie und eines gewissen Zeitgeistes. Ganz klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 26.05.2025
Labba, Elin Anna

Das Echo der Sommer


sehr gut

Eine Geschichte der Diskriminierung des Volks der Sámi

Inga ist 13 Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und Tante die alljährliche Reise ins Sommerquartier der Samen am See antritt. Was die drei Frauen dort vorfinden ist jedoch nicht das Dorf und ihre Kote am See, sondern vielmehr liegt ihre Kote, wie das ganze Dorf, nun im See, denn die schwedische Regierung hat den See weiter gestaut und das Dorf der Sámi so abermals unter Wasser gesetzt. Ausgehend von diesem rücksichtslosen Akt der Diskrimierung, der einem ganzen Dorf und seinen Bewohnern das Heim und die Lebensgrundlage nimmt, erzählt Elin Anna Labba die Geschichte eines Volkes, ihres Volkes. Im Mittelpunkt dabei Inga und ihre Mutter Ravdna.

Schnell wird deutlich, dass diese Geschichte zwei Seiten hat, da ist die Naturverbundenheit und Bräuche des Volkes, die von der Autorin wundervoll und eingängig beschrieben werden. Und gleichzeitig ist die Geschichte eine der Diskriminierung und Ausgrenzung durch die schwedische Gesellschaft und Regierung, die dem Volk, das zu leben, was es ausmacht, im Einklang mit seinen Werten und Traditionen, immer schwerer bis unmöglich macht. Dabei stützt sich der Roman auf wahre Begebenheiten zur Ausgrenzung der Sámi in Schweden und dem Entzug ihrer Lebensgrundlage und ihres Lebensraumes, was den Schilderungen und der Geschichte Ingas und Ravdnas zusätzliche Brisanz verleiht und ihr Erleben um so bedrückender macht.

In einer poetischen Sprache lässt die Autorin so in die Geschichte und Lebensrealität der Sámi eintauchen. Für mich war der poetische Ton phasenweise etwas zu viel, was die Qualität des Romans angesichts seiner Stärken in der authentischen, einfühlsamen Vermittlung der Lebensrealität von Inga und Ravdna jedoch kaum schmälert.

Bewertung vom 26.05.2025
Suter, Martin

Wut und Liebe


ausgezeichnet

Kurzweilig, unterhaltsam und überraschend

Camilla und Noah sind ein junges Paar Anfang 30, noch immer verliebt und doch nicht völlig zufrieden und glücklich. Noah schlägt sich mehr schlecht als recht als Künstler durch und wartet bisher vergebens auf den ersehnten Durchbruch, der nicht nur Anerkennung sondern ihm und auch Camilla ein selbstbestimmteres, freieres Leben ermöglichen könnte. Und so blieb es bisher an Camilla mit einem Brotjob in der Buchhaltung, der sie alles andere als erfüllt, das gemeinsame Leben zu finanzieren. Es mag daher nicht völlig verwundern, dass sie einiges Tages zu dem Entschluss kommt, dass sie zwar Noah liebt, aber nicht das Leben mit ihm und sich deshalb konsequenter Weise von ihm trennt - jetzt wo sie noch jung und schön ist und die Chance auf eine Versorgerehe mit einem wohlhabenden Gönner hat. In seiner Verzweiflung darüber lernt Noah in einer Bar die ältere, wohlhabende Witwe Betty kennen, die nach dem Tod ihres Mannes nichts sehnlicher herbeiwünscht, als den, den sie dafür verantwortlich sieht, für den Tod ihres geliebten Pat büßen zu sehen.

Mit diesen Zutaten entspinnt Suter eine kurzweilige Erzählung nicht nur über Wut und Liebe, sondern auch Freundschaft, die Kunstwelt, Wahrheit, Lüge und Täuschung und letztlich die Frage worauf es im Leben ankommt. Der Roman lebt insbesondere von den starken Frauenfiguren darin, die die Handlung zu bestimmen scheinen und sich trotz einiger Metoo-Attitüden der männlichen Figuren gekonnt ihren Weg bahnen. Die handelnden Personen hatten für mich keine größere Tiefe, und das brauchten sie auch nicht, der Roman lebt von seiner Handlung, geschickten Wendungen und einer überraschenden Pointe - und liefert so ausgezeichnete Unterhaltung!

Der Schreibstil ist angenehm flüssig, die Dialoge authentisch und klug, der Ton manchmal ironisch bis humorvoll. Mir hat der Roman kurzweilige Lesestunden beschert und dafür gebe ich gern 5 Punkte!

Bewertung vom 26.05.2025
Ruban, Paul

Der Duft des Wals


gut

Willkommen im Horror-AI-Urlaub

In der Duft des Wals verweist bereits der Titel auf das Zentrum der Erzählung. Ein angeschwemmter Walkadaver, der einen furchtbaren Duft ausströmt, bildet die Kulisse des Urlaubs in einem luxuriösen All inclusive Resort in México.

Hierhin haben sich Judith und Hugo mit ihrer Tochter Ava zurückgezogen in einem verzweifelten Versuch ihre zerrüttete Ehe zu retten. Celeste, die Stewardess auf dem Flug der Familie, residiert ebenfalls im Hotel und kämpft mit ihren ganz eigenen Dämonen. Waldemar träumt als langjähriger Angestellter im Hotel von einer Beförderung. Aus Perspektive der 5 Personen, die abwechselnd erzählen, begleitet der Roman einen Urlaub in einem typischen AI Resort und doch wird nichts daran typisch verlaufen.

Mir hat gefallen, wie der Roman mit den Klischees von AI Resorts spielt, Armbändchen, Animateure und Romanzen dieser mit Gästen, Clubdisco etc. Obwohl oder gerade weil sich die Ereignisse innerlich und äußerlich dramatisch entwickeln, fehlte mir letztlich jedoch die Tiefe in der Erzählung. Gerade diese soll vermutlich über die jeweilige Innenperspektive der verschiedenen Figuren in eigenen Kapiteln erzeugt werden, gelingen tut dies jedoch nur in Ansätzen. Die Entfremdung von Judith und Hugo und deren Auswirkungen auf Ava werden nachvollziehbar dargestellt und doch bleiben die Figuren skizzenhaft ohne, dass ich eine Nähe zu ihnen aufbauen konnte. Sowohl in der Anzahl der Figuren als auch der dramatischen Ereignisse will der Roman auf (zu) wenigen Seiten zu viel. Und so plätschert die Handlung etwas dahin, ohne dass die Leserin tiefer darin involviert wird, daran vermag auch die dramatische Zuspitzung am Ende nichts verändern. Insgesamt ist der Duft des Wales ein nettes Stück für Zwischendurch, jedoch leider ohne, dass es länger bei mir nachhallen wird.

Bewertung vom 26.05.2025
Brodesser-Akner, Taffy

Die Fletchers von Long Island


sehr gut

Eine große jüdisch-amerikanische Familie - scharfsinnig und bitterböse erzählt

An einem vermeintlich unschuldigen Morgen im März des Jahres 1980 im beschaulichen Middle Rock erfährt das Leben der Familie Fletcher eine ungeahnte Wendung. Vater Carl wird auf dem Weg in seine Fabrik entführt. Damit wird ein Strudel von Ereignissen ausgelöst, die das Leben der Familie, trotz des glimpflichen Ausgangs der Entführung, nachhaltig prägen werden.

Ausgehend von der Entführung des Familienpatriarchen erzählt Taffy Brodesser-Akner, die Geschichte der Familie Fletcher. In den Fokus rückt sie dabei die Kinder der Familie, Nathan und Beamer, beide noch Kleinkinder zum Zeitpunkt der Entführung, und Jenny, die Jüngste, die erst nach dem Ereignis auf die Welt kam und doch nicht weniger dadurch geprägt wurde. Über die Entwicklung der Geschwister und die Einblicke in deren Berufs- und Familienleben macht die Autorin zugleich die Geschichte der gesamten Familie in wesentlichen Aspekten seit der Entführung nachvollziehbar. Brodesser-Akner zeigt auf, wie die totgeschwiegene Entführung zunächst unmerkliche Spuren und Narben hinterlässt, die im weiteren Verlauf der Geschichte und damit im Leben der Familie aufzubrechen drohen und die Familienmitglieder, ganz unterschiedlich, noch Jahrzehnte später belasten. Dabei beweist sie ein Gespür für die feinen Unterschiede in Charakter, Lebensweg und individueller Betroffenheit aus der Entführung und zeigt so eine Varianz im Umgang und Erleben familialer Traumata auf. Bereits früh im Roman wird deutlich, dass all der Reichtum der Familie, Glück und Zufriedenheit nicht garantieren kann. Der Umgang mit Traumata in der Familie zeigt wiederum eine Kontinuität, die immer wieder mit Verweisen zum Holocaust und der Flucht der Großeltern nach Amerika hergestellt wird.

Im extremen Gegensatz zu den schweren Themen der Geschichte steht der Stil und Ton Brodesser-Akners. Die Autorin spielt freigiebig mit Klischees und Stereotypen über jüdisch-amerikanisches Leben und jüdische Traditionen, wie auch Neurosen und ganz besonders die Spleens der Upperclass. Komisch und scharfsinnig seziert sie in sarkastischem Ton das verschwenderische Leben der Reichen und Schönen von Beauty-OPs, die die Patientinnen zuweilen näher an Amphibien als an Beauty bringen bis hin zum Umgang mit Hausangestellten.

So sehr mich dieser Stil und Ton phasenweise unterhalten haben, fehlte mir dadurch jedoch zuweilen die Tiefe und Ernsthaftigkeit in der Erzählung. Insgesamt lässt mich der Roman etwas zwiegespalten zurück. Eine scharfsinnige Gesellschaftsanalyse und humorvolle, zuweilen bitterböse Erzählweise stehen Abzügen in der Tiefe gegenüber. Letztlich ist und bleibt der Roman wirklich sehr gute Unterhaltung - nicht mehr und nicht weniger!

Bewertung vom 03.05.2025
Valla, Kristin

Ein Raum zum Schreiben


ausgezeichnet

Drei Reisen

Dieses Buch ist eine wunderschöne Reise und das auf so viele Arten! Eine Reise nach Frankreich, die die Autorin unternommen hat, um dort ein Haus, einen Ort für ihr Schreiben zu finden. Eine Reise in die Vergangenheit und Gegenwart weiblicher Autorinnen, die alle, ähnlich wie die Autorin, einen Ort nur für sich erworben, geschaffen und eingenommen haben, um ihrer Kreativität nachzugehen und diesen Teil ihres Seins komplett entfalten zu können. Und - Ein Raum zum Schreiben- ist auch eine Reise der Autorin zu sich selbst, der Schriftstellerin Kristin Valla.

Mit Anfang 40 muss Kristin Valla mit Überraschung und einer gewissen Bitterkeit feststellen, dass sie zwar zwei erfolgreiche Romane vor über 10 Jahren veröffentlicht hat, seitdem jedoch von Ehe, Kindern und der Erwerbsarbeit als Journalistin so eingenommen war, und das durchaus nicht unglücklich, dass ihr dieser Teil von sich, die Schriftstellerin, auf seltsame Weise abhanden gekommen zu sein scheint. Diese Erkenntnis löst einen vollkommen unerwarteten Prozess aus, in dem die Autorin schließlich einen Kredit aufnimmt und sich auf die Suche nach einem Ort zum Schreiben, einem Ort nur für sich macht.

Die Reflexionen Vallas und Beschreibung der Reise, der Hausbesichtigungen und schließlich ihrer Einnahme des neuen Ortes, wechseln sich immer wieder ab mit Gedanken und Szenen zu anderen Schriftstellerinnen aus Vergangenheit und Gegenwart, die vor ähnlichen Herausforderungen wie sie selbst standen. In den Überlegungen der Autorin wird deutlich, wie sehr selbst aufgeklärte Frauen noch immer von gesellschaftlichen Strukturen geprägt sind, die sie in ihrer eigenen freien Entwicklung bremsen. Die Reise(n) an der uns Valla teilhaben lässt, ist nicht weniger als eine Dekonstruktion dieser Strukturen, Schicht für Schicht legt die Autorin ihre wahren Bedürfnisse und Wünsche frei, und dies in erster Linie für sich selbst! Dass sie damit nicht allein ist, zeigen die Verweise auf andere Schriftstellerinnen und ihre Herausforderungen als (schreibende) Frauen. Die Hürden bei der Suche und dem Einrichten, Renovieren und Einnehmen des Hauses, spiegeln dabei oft auch die gesellschaftlichen Hürden, denen sich Valla und viele Schriftstellerinnen vor ihr gegenüber sahen.

Ein Raum zum Schreiben ist ein ebenso persönliches, wie kluges Buch!

Bewertung vom 28.04.2025
Caldwell, Chloé

Women


gut

EIN ENTDECKUNGSROMAN, DER LEIDER IN EINE DYSFUNKTIONALE BEZIEHUNG UND STEREOTYPE ABDRIFTET

Women wird als Klassiker der queeren Literatur gefeiert und so ging ich gespannt und mit einigen Vorschusslorbeeren für das Buch an die Lektüre. Darin erzählt die namenlose Ich-Erzählerin, eine junge Schriftstellerin, wie sie sich zum ersten Mal, und zu ihrer eigenen Überraschung, in eine Frau verliebt. Finn, ist wesentlich älter, lebt in einer langjährigen lesbischen Beziehung und ist von der Ich-Erzählerin als Schriftstellerin eingenommen. Diese Aufmerksamkeit schmeichelt der Ich-Erzählerin und damit beginnt ein Kennenlernen in dem beide schnell Gemeinsamkeiten entdecken und eine echte Faszination füreinander entwickeln. Die Beziehung, die die beiden eingehen ist von Beginn an impulsiv und intensiv, und leider ab einem bestimmten Punkt alles andere als das, was man gemeinhin als gesund beschreiben würde.

Gelungen beschrieben ist für mich das Entdecken der sexuellen Orientierung und die Liebe zu einem Menschen jenseits des Geschlechts und internalisierten, heteronormativen Erwartungen der eigenen Sozialisation. Die Ich-Erzählerin reflektiert immer wieder wie wenig sie über queere Geschichte und Rechte weiß und wie wenig sie in ihrer eigenen Sozialisation damit konfrontiert wurde. Und so ist die Anziehung, die sie für Finn empfindet überraschend und überwältigend zugleich.

Als eher störend habe ich empfunden, dass die Geschichte letztlich stereotype Bilder über Weiblichkeit reproduziert. Die impulsiven, emotionalen Frauen, die sich dramatisch streiten und all das wird explizit als Norm einer lesbischen Beziehung dargestellt. An der Stelle erklärt sich für mich der Kultcharakter um den Roman nicht, denn aus dieser Perspektive zeigt und feiert er lediglich ungesunde Beziehungsmuster und reproduziert Stereotype über Weiblichkeit und lesbische Beziehungen.

Als Entdeckungsroman der sexuellen Orientierung funktioniert die Erzählung für mich hingegen sehr gut. So ergibt sich ein durchwachsenes Bild von Women für mich mit 3 Sternen.

Bewertung vom 05.04.2025
Hoven, Elisa

Dunkle Momente


ausgezeichnet

Jedes Verbrechen hat seine Geschichte - über die Hintergründe einer Tat

Eva Herbergen ist Strafverteidigerin, engagiert, fachlich versiert, glücklich verheiratet mit dem Literaturprofessor Peter. Die neun Fälle von denen in diesem Roman berichtet wird, zeigen, wie ihre Arbeit, die vermeintliche Gewissheit von Recht und Unrecht, Wahrheit und Lüge immer wieder auf den Prüfstand stellt, ein Drahtseilakt, der Eva rückblickend, trotz bester Intentionen nicht immer gelingen mag, ihr Verhalten darin zuweilen grenzwertig und grenzüberschreitend.

Die beleuchteten Fälle sind sehr vielfältig von Wirtschaftskriminalität über Erbmorde, Vergewaltigung, Tötungen aus Eifersucht und/oder Angst. Was sie eint ist der aufmerksame Blick in die Hintergründe der Straffälle und die Biografien der Täterinnen und Täter, zuweilen ein Verschwimmen von Täter und Opfer. Dabei blickt die Autorin nicht nur in die Tiefen der menschlichen Psyche sondern auch von gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, einfach und eindeutig, so wird nach wenigen Fällen deutlich, gibt es im wahren Leben und so auch Kriminalfällen kaum.

Der Roman ist kurzweilig und gut geschrieben. Die Fälle wirken jedoch teilweise skizzenhaft, im Fokus stets die Wendung und Überraschung. So liefert der Roman trotz überraschender Entwicklungen der Fälle oft mehr (ethische) Fragen als (juristische) Antworten. Ein gelungener juristischer Roman, der zum Nachdenken über Recht und Gerechtigkeit anregt.

Bewertung vom 05.04.2025
Kapitelman, Dmitrij

Russische Spezialitäten


ausgezeichnet

Aufwachsen zwischen Leipziger Platte, Ukraine und Fernsehrussland

Der Autor ist Sohn russischer Eltern, geboren und aufgewachsen zunächst in Kyjiw, kam er als Kind mit seiner Familie schließlich nach Leipzig. Obwohl auch seine Mutter selbst nur wenige Momente ihres Lebens in Russland verbracht hat, trägt sie das Land in sich als russische Welt, die sie überall mit hin nimmt. Die Familie und das Umfeld in dem Kapitelmann aufwächst und lebt ist eine seltsame Camouflage postsowjetischer Prägung aus urkrainischer, moldauischer, jüdischer, russischer Kultur und dem Nachwende-Ostdeutschland.

Genau diese, zum Teil widersprüchliche, Welt zu porträtieren, macht es sich Dimitrij Kapitelman in Russische Spezialitäten zur Aufgabe. Dabei liefert er ebenso schmerzhafte, wie heitere Einsichten in ostdeutsche Nostalgie und postsowjetische Identitäten. Auch das gespaltene Verhältnis des Autors zwischen Heimat in der russischen Sprache und Europa und die Ablehnung und Distanz zum russischen Angriffskrieg werden nicht nur in Kapitelman selbst sondern auch innerhalb der Familie hart verhandelt, ganz besonders mit seiner Mutter, die mit dem Leben in ihrer eigenen Parallelwelt - dem Fernsehrussland - jegliche russische Propaganda willig inhaliert und ihren Sohn versucht damit zu indoktrinieren. Die liebende und geliebte Mutter und gleichzeitig Unterstützerin des Angriffskriegs - ein Widerspruch, den der Autor nicht zusammenbringt und ihn zu zerreißen droht.

Im zweiten Teil berichtet der Autor von seiner Reise nach Kyjiw. Was er dort erlebt, ist eine Mischung aus Bombenalarm, Zerstörung, Rekrutierung und dem Versuch in all dem eine Form von Leben und Normalität im Krieg, trotz Krieg, zu finden. So ist auch dieser Teil, wie schon der Teil zuvor, nicht ausschließlich düster, sondern im Gegenteil versucht der Autor mit seinem Sprachwitz, seiner intelligenten Beobachtungsgabe und dem Sinn für Absurditäten, jedoch nicht ohne Eindringlichkeit, die Ambivalenz des Lebens zwischen Leben und Tod, Krieg und Alltag authentisch einzufangen. Dabei wird seine Reportage von den persönlichen Beziehungen zu Freunden, die nach wie vor in der Ukraine leben und natürlich auch der ehrlichen Selbstbeobachtung und -Befragung bereichert.

Heimat, Muttersprache, Freundschaft und Familie sind zentrale Begriffe, die in der Biografie des Autors zum ersten Mal durch seine Emigration von Kyjiw nach Leipzig und ein weiteres Mal mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine herausgefordert werden. Ihn bei der Auseinandersetzung damit, in Russische Spezialitäten zu begleiten, ist in jeder Hinsicht lesenswert!