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Buchbesprechung
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Bad Kissingen
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

Bewertungen

Insgesamt 359 Bewertungen
Bewertung vom 13.01.2024
Die daheim blieben
Hermann, Georg

Die daheim blieben


sehr gut

REZENSION – Auch nach 120 Jahren kennen viele Leser die Titel der einstigen Bestseller „Jettchen Gebert“ (1906) und „Henriette Jacoby“ (1908), auch wenn der Autor längst in Vergessenheit geraten und sein Name heute kaum noch bekannt ist. Umso mehr ist es dem Wallstein Verlag hoch anzurechnen, vor drei Jahren eine Neuausgabe der Werke von Georg Hermann (1871-1943), dem man nach seinem literarischen Vorbild schon zu Lebzeiten den Ehrentitel „jüdischer Fontane“ gegeben hatte, gestartet und die Reihe im September mit seinem letztem, im Jahr 1939 begonnenen und nun dank der Herausgeberin Godela Weiss-Sussex wenigstens als Fragment erstmals veröffentlichten Roman „Die daheim blieben“ als fünften Band fortgesetzt zu haben.
In diesem eigentlich auf vier Kapitel angelegten, aber nach den ersten beiden unvollendet gebliebenen und deshalb bisher auch unveröffentlichten Roman beschreibt der „Chronist deutsch-jüdischen Lebens“ das Schicksal der assimilierten jüdischen Familie Simon in Berlin unter der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten. Im ersten Kapitel treffen sich die Angehörigen dreier Generationen der wohlhabenden bildungsbürgerlichen Familie des Berliner Papiergroßhändlers Heinrich Simon an einem Sonntagvormittag im März 1933 in dessen Haus, um das 75-jährige Bestehen des Familienunternehmens zu feiern.
Das familiäre Leben innerhalb der Mauern des Hauses Simon scheint von politischen Veränderungen noch unbelastet. „Ich habe mich mein Lebtag nie um Politik gekümmert … und so werde ich es auch den Rest meines Daseins machen“, ist Heinrichs Devise. Doch während man in den Zimmern und Salons das üppige Büffet genießt, als hätte sich das Leben für Juden in Deutschland überhaupt nicht verändert, marschieren jugendliche SA-Trupps durch das Villenviertel: „Und sie sangen Lieder voll heldischen Geistes dazu. Denn der deutsche Mann kann zwar nicht singen, aber er tut es dennoch laut und ergiebig und gern, weil es ihn am Denken hindert.“
Doch der Schein der Unberührtheit trügt: In einer engen Kammer treffen sich der Patriarch und seine Brüder heimlich, um über die eventuelle Notwendigkeit der Emigration zu sprechen. Es zeigt sich, dass die junge Generation diese längst plant, während die Alten noch zögern, das von Vorfahren Erarbeitete und Erreichte kampflos aufzugeben. Sie trösten sich damit, dass der Nazi-Spuk doch sicher bald vorbei sein werde.
Im zweiten Kapitel macht der Autor einen Zeitsprung von zwei Jahren: Am 15. September 1935, an dem die Nazis ihre Rassengesetze verabschieden, kommen die wenigen noch in Deutschland verbliebenen Familienmitglieder wieder im Haus der auf sieben Zimmer halbierten Wohnung des Patriarchen zusammen. Während jetzt auch die letzten Angehörigen ihre Auswanderung in Angriff nehmen, will der alte Simon mit Ehefrau Agnes in Berlin zurückbleiben. Georg Hermann schildert sehr authentisch die sich innerhalb von nur zwei Jahren radikal veränderte Lebenssituation dieser deutsch-jüdischen Oberschicht, für die das Tragen einer Kippa ein „Rückfall in die Prähistorie“ ist. Dennoch ist man in diesen Kreisen stolz, nicht nur Deutscher, sondern auch Jude zu sein. Denn was wäre die deutsche Kultur ohne die vielfältigen Beiträge jüdischer Wissenschaftler, Dichter und Denker?
Es sind vor allem die „leise“, fast im Plauderton gehaltene Erzählweise mit gelegentlichen ironischen Spitzen sowie die Szenerie dieser zwei Kapitel, die das Buch so lesenswert machen. Hermann beschränkt das Geschehen in beiden Fällen ausschließlich auf die Wohnung des Patriarchen, als könne man Politik und die wachsende Bedrohung aussperren und von der Familie fernhalten. Doch erfahren wir vor allem in den intellektuell gewichtigen und spannend zu verfolgenden Gesprächen dieser humanistisch gebildeten Familie fast beiläufig von der immer bedrohlicher werdenden Gefahr.
Ebenso lesenswert wie das Roman-Fragment ist auch das Nachwort von Herausgeberin Godela Weiss-Sussex. Darin erzählt die Germanistik-Professorin nicht nur die Geschichte ihrer literarischen „Fundsache“, sondern gibt uns, die wir vielleicht gerade noch die Romantitel „Jettchen Gebert“ und „Henriette Jacoby“ kennen, einen vergleichenden Überblick über das Gesamtwerk des Schriftstellers, der nicht wie sein Protagonist Heinrich Simon in Berlin „daheim blieb“, aber dennoch im Alter von 72 Jahren von den Nazis aus seinem holländischen Exil deportiert und 1943 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet wurde.

Bewertung vom 19.12.2023
Die Erfindung des Lächelns
Hillenbrand, Tom

Die Erfindung des Lächelns


sehr gut

REZENSION – Wohl jeder kennt das Anfang des 16. Jahrhunderts von Leonardo da Vinci gemalte Porträt der „Mona Lisa“ mit ihrem vieldeutigen Lächeln. Kunstkenner wissen zudem, dass dieses Gemälde im August 1911 vom italienischen Handwerker Vincenzo Peruggia (1881-1925) aus dem Pariser Louvre gestohlen und von ihm erst im Dezember 1913 in Florenz dem Direktor der Uffizien ausgehändigt wurde. Aber hatte es Peruggia wirklich die ganze Zeit nur bei sich versteckt gehabt? Ist das seitdem wieder im Louvre zu besichtigende Gemälde tatsächlich das echte oder doch nur eine perfekte Kopie von Pablo Picasso?
Diesen Fragen geht Schriftsteller Tom Hillenbrand (51) in seinem im September beim Verlag Kiepenheuer & Witsch veröffentlichten Roman „Die Erfindung des Lächens“ nach. Zum Glück kennt niemand die genaue Antwort, was dem Autor ausreichend Gelegenheit gibt, auf 500 Seiten nach Herzenslust in einer unterhaltsamen Mischung zwischen Fakten und Fiktion zu schwelgen. Erleichtert wird ihm dies durch die Tatsache, dass der Raub der „Mona Lisa“ in Paris gegen Ende der Belle Époque stattfand – jener Zeit, in der sich in Paris, dem Zentrum der europäischen Welt, Lebenskünstler und bildende Künstler aller Länder in Künstlercafés auf dem Montmartre und der Opéra Garnier oder zu dekadenten Grandes Fêtes im Bois de Boulogne und in absinthgetränkten Spelunken an der Place Pigalle trafen.
Diese wilde Zeit – „Normale Menschen sind langweilig. Verrückte hingegen haben immer etwas Sympathisches.“ – lässt Hillenbrand, den wir seit 2011 eher als Autor preisgekrönter Krimis um den Luxemburger Starkoch Xavier Kieffer oder ebenfalls prämierter dystopischer Science-Fiction-Romane wie zuletzt „Montecrypto“ (2021) kennen, nun in einem historischen Roman auf spannend zu lesende und zugleich amüsante Weise aufleben, während er uns die Spur der verschwundenen „Mona Lisa“ verfolgen lässt, die – zuvor im Louvre als nur eines unter vielen anderen Renaissance-Gemälden – tatsächlich erst durch ihr Verschwinden im Jahr 1911 weltbekannt wurde.
Auch in Hillenbrands Roman stiehlt der Italiener Vincenco Peruggia das Gemälde aus dem damals nur nachlässig bewachten Louvre. Commissaire Juhel Lenoir bekommt den Auftrag, die „Mona Lisa“ wiederzufinden. Im Rahmen seiner Ermittlungen lernen wir den 30-jährigen Maler Pablo Picasso (1881-1973) während seiner kubistischen Phase und dessen aus Rom stammenden Freund Guillaume Apollinaire (1880-1918) kennen, wortgewaltiger Dichter und Kunstkritiker italienisch-polnischer Abstammung. Zeitweilig wurden tatsächlich auch diese beiden des Gemälde-Diebstahls verdächtigt. Gleichzeitig treibt in Paris die anarchistische Bonnot-Bande ihr kriminelles Unwesen, benannt nach ihrem Anführer Jules Bonnot (1876-1912), die nicht nur Banken ausraubt, sondern auch vor Mord und Totschlag nicht zurückschreckt. Man muss zwangsläufig einen Vergleich mit der organisierte Kriminalität unserer Tage ziehen, die, technisch auf höchstem Niveau ausgestattet, der Polizei immer weit voraus scheint, wenn man bei Hillenbrand liest: „Wieder hatten sich die Ganster eine Filiale der Société Générale ausgesucht, wieder flohen sie mit dem Auto. … Zwei Gendarmen nahmen die Verfolgung auf – einer auf dem Fahrrad, der andere auf dem Pferd.“ Im weiten Dunstkreis dieser Anarchisten bewegt sich unbewusst auch die amerikanische Isadora Duncan (1877-1927), die dem britischen Okkultisten und Satanisten Aleister Crowley (1875-1947) verfallen ist. Alle kommen sie bei Hillenbrand irgendwann in den zeitweiligen Besitz des gestohlenen Gemäldes.
Es macht nicht nur Spaß, den in lockerem Tonfall geschriebenen Roman „Die Erfindung des Lächelns“ als unterhaltsamen Krimi zu lesen und gleichzeitig viel über jene politisch, künstlerisch und gesellschaftlich turbulente Epoche in Paris voller Aufbruchstimmung in das neue, temporeiche Zeitalter unserer Moderne zu erfahren. Spaß macht es auch zu spüren, dass wohl selbst der Autor seine Freude am Schreiben gehabt zu haben scheint. „Alles in diesem Buch ist genau so passiert, abgesehen von den Dingen, die ich mir ausgedacht habe. …. Welche? Das müssen Sie schon selbst herausfinden“, schreibt er in seinem Nachwort. „Wenigstens Sie wissen nun ja, wie sich die Sache wirklich zugetragen hat“, will er uns weismachen. Doch tatsächlich kennt nur die „Mona Lisa“ die wahre Geschichte dieser zwei Jahre ab 1911. Ist es vielleicht ein wissendes Lächeln, das sie uns seit 1913 wieder im Louvre zeigt. Für uns gilt deshalb: „Wichtig ist nur die Legende, die durch das Bild geschaffen wird, nicht das Bild selbst.“ Aber lesen sollte man Hillenbrands Mischung aus gut recherchierten Fakten und phantasiereicher Fiktion dennoch unbedingt – und sei es auch nur zur besten Unterhaltung.

Bewertung vom 14.12.2023
Eisiges Land
Kvæven, Tore

Eisiges Land


ausgezeichnet

REZENSION – Allzu oft greifen Leser gern zu Neuerscheinungen bereits bekannter Schriftsteller in der trügerischen Hoffnung, damit nicht enttäuscht werden zu können. Doch nur selten kann ein solches Buch wirklich überraschen, kennt man doch schon frühere Werke des Autors. Deshalb empfehle ich oft und immer wieder gern, hin und wieder nach dem Roman eines noch völlig unbekannten Autors zu greifen und sich von dessen Inhalt und Sprache einfach überraschen zu lassen. Eine solche literarische Überraschung ist zweifellos der aus mehreren Gründen faszinierende, im November im Piper Verlag veröffentlichte Roman „Eisiges Land“ des norwegischen Schriftstellers Tore Kvæven (54), hauptberuflich Schafzüchter und ehemals Dorflehrer. Sein bereits 2018 in Norwegen erschienene Wikinger-Roman wurde meines Erachtens völlig zu Recht mit allen wichtigen norwegischen Literaturpreisen, vor allem dem renommierten Brageprisen, ausgezeichnet.
Allein schon Ort und Zeit der Handlung faszinierten mich, zumal sich Kvæven damit von gängigen historischen Romanen auf dem deutschen Buchmarkt abgrenzt: Der Norweger versetzt seine Leser ins mittelalterliche Grönland der 1290er Jahre. Es ist jene Zeit, in der sich der Niedergang der Wikinger schon abzeichnet und im düster klingenden Originaltitel des Romans „Når landet mørknar“ – auf Deutsch etwa „Wenn das Land dunkler wird“ – besser zum Ausdruck kommt. Es ist eine Zeit des Umbruchs: Wir lesen vom jungen Christentum auf Grönland im Widerstreit mit dem heidnischen Götterglauben, von Kämpfen zwischen Grönländern und eindringenden Inuit, zwischen Kavdlunaken und Skrälingern.
Nach der Landnahme Grönlands durch Erik den Roten im Jahr 985 hatten es die Grönländer trotz des schwierigen Lebensumfelds durch regen Seehandel mit Norwegen und sogar Vinland, dem späteren Amerika, zu wirtschaftlicher Blüte gebracht, was die Siedler des ausgehenden 13. Jahrhunderts allerdings nur noch aus überlieferten Erzählungen wissen. Denn längst ist dieser Schiffsverkehr abgebrochen. Es gab kein Baumaterial für eigenen Schiffbau, weshalb man ohne jeglichen Handelskontakt nur noch von dem leben konnte, was Grönland, seine karge Landschaft und das Meer hergaben.
In Kvævens Roman lernen wir den jungen Wikinger Arnar Vilhjalmsson kennen, Sohn eines Bergbauern, der an seiner ersten Walrossjagd teilnehmen darf. In den nächsten Jahren widersetzt sich der junge Wikinger auf dem Weg zum erfolgreichen Hofbesitzer nicht nur den Geboten seines Stammesführers und bricht mit den tradierten Gesetzen der Wikinger, sondern geht zudem ein Liebesverhältnis mit der jungen Eir ein, die bereits einem anderen versprochen ist. Deshalb kommt es unweigerlich zum Kampf zwischen beiden auf dem Blutanger, wo schon immer Stammesfehden blutig ausgetragen wurden.
Doch es ist nicht allein die Handlung das Wesentliche und Spannende am Roman, zumal dieser ohnehin erst im zweiten Teil wirklich an Dramatik gewinnt. Das eigentlich Faszinierende ist die anschauliche und in Einzelheiten gehende Schilderung der Lebensumstände und des gewöhnlichen Alltags der Siedler zu jener Zeit in Grönland. Der Autor lässt uns am Walfang und an Walrossjagden der Fjordbewohner ebenso wie am Landleben der Schaf- und Viehzüchter in den Bergen teilnehmen. Wir erfahren, wie die Häuser und Hütten gebaut wurden, wie die Wikinger darin gelebt und wie sie ihre Werkzeuge, Arbeitsgeräte und Waffen gebaut haben. Es ist faszinierend, wie der Autor es schafft, eine Vielzahl eigentlich trockener Sachinformationen so geschickt in die Handlung einzubauen, ohne der Handlung die Spannung zu nehmen, sondern dadurch eher lebendiger werden zu lassen.
Vor allem aber ist es der feinsinnige, atmosphärische, gelegentlich fast poetische Sprachstil, der Kvævens empfehlenswerten Roman zu einer besonderen Lektüre macht, wobei selbstverständlich dessen wirklich gelungene Übertragung ins Deutsche der erfahrenen Übersetzerin Gabriele Haefs zu verdanken ist. Nach „Eisiges Land“ kann man deshalb nur hoffen, dass der Piper Verlag auch Kvævens bereits 2011 veröffentlichtes Debüt „Hard er mitt lands lov“ (Hart ist das Gesetz meines Landes) ihr zur Übersetzung gibt, der zu Beginn der Besiedlung Grönlands im Jahr 1010 spielt, also 300 Jahre früher zur Zeit des Wikingers und Amerika-Entdeckers Leif Eriksson.

Bewertung vom 14.11.2023
Dünnes Eis
Essmann, Theres

Dünnes Eis


ausgezeichnet

REZENSION – Eine ungemein berührende, wirklich zu Herzen gehende Geschichte behandelt, ohne irgendwo in Klischees und Kitsch abzugleiten, der Roman „Dünnes Eis“ der deutschen Schriftstellerin Theres Essmann (56), im August erschienen beim Dörlemann Verlag. Es ist nach dem schmalen Lyrikband „Das Gewicht der Berührung“ (2002) und ihrer Novelle „Federico Temperini“ (2020) erst das zweite Prosawerk der als Poesietherapeutin mit Worten und Lauten, Gedanken und Gefühlen, mit Sinnen und Sinnlichkeit arbeitenden Autorin. Essmann verbindet in ihrer Romanhandlung das Schicksal gegenwärtiger Flüchtlinge mit den Erlebnissen und Erfahrungen ostdeutscher Flüchtlinge gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ist eine überaus ernsthafte Geschichte um Täter und Opfer, um Schuld und Sühne, um Trauer und Einsamkeit. „Dünnes Eis“ ist ein Roman, der uns zeigt, wie Kriege Menschen psychisch zerstören und auch nach ihrem offiziellen Ende ein Leben lang nachwirken. Zugleich zeigt der Roman aber auch Versuche der Versöhnung.
Wir lernen Marietta kennen, die fast 100-jährig zwar nicht allein, aber doch einsam in ihrer Seniorenresidenz lebt, nachdem ihre Zimmernachbarin und Freundin Gisela kürzlich verstorben ist. Ihr neuer Nachbar ist Herr Tacke – ein mürrischer und zurückgezogen wirkender Mann. Er sei ein alter Nazi, munkelt man. Nur langsam gelingt es Marietta, einen nachbarschaftlichen Kontakt zu ihm herzustellen. Eine Kontaktaufnahme anderer Art schafft sie in ihrer Begegnung mit dem kleinen Enis, einem Jungen aus der nahen Flüchtlingsunterkunft, der sie an ihren eigenen Sohn erinnert: Johann wurde damals (1945) als Sechsjähriger in Ostpreußen von russischen Soldaten erschossen. Beide Begegnungen zwingen die Seniorin, sich mit ihren im Innersten vergrabenen, doch auch nach Jahrzehnten nicht verwundenen Schuldgefühlen auseinanderzusetzen.
„Weil ich geschrien habe: Lauf weg! lief Johann weg. Weil Johann weglief, hat der Russe ihn erschossen.“ Zwar hatte der Russe geschossen, aber zeit ihres Lebens gab sich Marietta die Schuld am Tod ihres Sohnes. Doch hatte sie tatsächlich geschrien? Oder plagen sie falsche Erinnerungen? „Aber als ich hilflos mitansehen musste, wie Johann zu Boden ging, ist mein Herz zerrissen. Wie sollte ich damit weiterleben? Mit einem zerrissenen Herzen? Also habe ich versucht, den Riss zu flicken. Mit dem Faden des Verstandes. Ich musste mir erklären, warum mein Kind starb.“
Jetzt versucht sie, den kleinen Enis zu trösten, über den sie erfahren hat, dass er die Ermordung seiner beiden Eltern miterleben musste und seitdem traumatisiert und verstummt ist. „Heutzutage spricht jeder von Traumatisierung“, vergleicht Marietta mit 1945 unter sowjetischer Besatzung. „Damals, unmittelbar danach, fragten die Frauen sich gegenseitig: Und du? Musstest du auch ran? … Meistens aber sagte keine etwas. Und ich?“ Auch Marietta hatte geschwiegen und jeden Gedanken daran vermieden. Damals mussten die Opfer – ob Zivilist oder junger Soldat wie Herr Tacke – selbst sehen, wie sie mit ihren Schreckensbildern im weiteren Leben klarkamen. „Manchmal reicht ein Riss, dünn wie ein Haar, damit etwas Verhärtetes aufbricht.“ Zum Beispiel konnte Marietta die h-Moll-Messe von Bach nicht ertragen, die Lieblingsmusik ihres verstorbenen Mannes. „Sie zieht mich dorthin, wo ich nicht sein kann. …. Auf dünnes Eis?“
„Dünnes Eis“ ist ein in Sprache und Charakteren beeindruckender Roman voller Mitgefühl und Menschlichkeit, wie es heutzutage nur wenige gibt. Theres Essmann greift ein altes Thema auf und zeigt uns dessen ungebrochene Aktualität. Sie schafft es nachvollziehbar, in ihren Protagonisten die Grenzen zwischen Täter und Opfer aufzubrechen und die Frage nach Schuld aus wechselnder Perspektive zu stellen. „Dünnes Eis“ von Theres Essmann packt seine Leser und wirkt wohl bei allen noch recht lange nach.

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Bewertung vom 01.11.2023
Vielleicht der schönste Sommer
Holmgren, Eleonore

Vielleicht der schönste Sommer


sehr gut

REZENSION – Vor zwei Jahren wurde der Debütroman „Sista sommaren“ von Eleonore Holmgren in Schweden zum Bestseller. Jetzt erschien bei der dtv Verlagsgesellschaft die ins Deutsche übersetzte Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einer 86-Jährigen Witwe und einem 20-jährigen Kleinkriminellen unter dem Titel „Vielleicht der schönste Sommer“. Tatsächlich wird dieser Sommer auf der schwedischen Schären-Insel Lindö für beide aus unterschiedlichen Gründen zu einem Höhepunkt im Leben.
Der 20-jährige Adam wurde wegen seines Umgangs mit Kriminellen von seiner Mutter aus der Wohnung geworfen. Auch Freundin Sara und Kumpel Abbe wollen ihn, der ziellos und verantwortungslos durchs Leben stolpert, nicht aufnehmen. So streunt Adam über die Insel Lindö, steigt in kalter Frühlingsnacht in ein scheinbar leerstehendes Haus ein – und steht am nächsten Morgen unerwartet der Hauseigentümerin, der 86-jährigen Britta, gegenüber. Die wiederum hatte sich in den Kopf gesetzt, noch einmal einen Sommer in ihrem geliebten Landhaus verleben zu wollen, obwohl Tochter Susanne ihr dies nach dem letzten Sturz mit Knochenbruch ausdrücklich verboten hatte. Nach kurzem Kreuzverhör lässt Britta den jungen Mann bei sich wohnen. Allerdings muss er ordentlich anpacken, ihr im Haushalt helfen sowie Haus und Garten aufräumen: „Das war ein Gewinn, für sie beide. So hatte er Zeit, sich Gedanken zu machen, und konnte ihr bei einigen anstrengenden Sachen helfen, die im Haus erledigt werden mussten.“
Das Buch „Vielleicht der schönste Sommer“ ist nicht nur ein gut geschriebener Unterhaltungsroman, der dank seiner sommerlichen Atmosphäre uns Lesern in dunklen und kalten Wintermonaten „sonnige Lesemomente“ beschert, wie das Cover vorzugeben scheint. Hinter der herzerwärmenden Geschichte um die alte Britta und den jungen Adam verbirgt sich eigentlich eine tragische Erzählung um das heute oft schwierige Miteinander der Generationen.
Es geht einerseits um die Selbstverantwortung der Senioren und deren selbstständiges Leben, andererseits um die unbewusste, meist ungewollte Bevormundung durch deren berufstätige Kinder, die ihr schlechtes Gewissen durch übermäßige Absicherung des alleinlebenden Elternteils beruhigen wollen. So will Tochter Susanna eigentlich nichts Ungewöhnliches, sondern in der Stadtwohnung ihrer Mutter nur einen Notruf installieren und den Pflegedienst organisieren: „Aber Mama weigert sich, überwacht zu werden, wie sie sagt. Sie findet, dass ich mich einmische und sie wie ein Kind behandle. … Aber ich möchte mir einfach nicht länger Sorgen machen müssen. Nicht jedes Mal aufspringen müssen, wenn das Telefon läutet. Oder unruhig werden, wenn es nicht läutet.“ Auch als Adam nach einigen Tagen in Brittas Haus feststellt, dass die 86-Jährige sich nur von Fertigkost ernährt, und sie deshalb über die Bedeutung guten Essens für Senioren aufklärt, wird sie zornig: „Durfte man denn gar nichts mehr selbst bestimmen, wenn man alt wurde? Der eine meckerte wegen des Essens, die andere wollte bestimmen, wo sie wohnen sollte.“ Doch bald genießt sie gern Adams Kochkünste.
Das gut organisierte Zusammenleben der 86-Jährigen mit dem erst 20-Jährigen ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen: Britta profitiert von Adams handwerklichem Geschick und seiner jugendlichen Kraft, während sie dem jungen Mann durch Übertragung von Aufgaben und Pflichten den richtigen Weg ins Erwachsenenleben zeigt und ihm die Übernahme von Verantwortung beibringt: „Als wir uns kennenlernten, warst du egoistisch und respektlos. Du hast keine Verantwortung übernommen, sondern die Schuld lieber bei anderen gesucht. … Du bist deutlich reifer geworden, Adam.“
Holmgrens Debütroman ist nicht nur ein angenehmer Unterhaltungsroman für dunkle Winterabende, sondern kann zugleich als freundschaftlicher Ratgeber gelesen werden, der uns hilft, noch einmal über den verantwortungsvollen Umgang mit unseren alten Eltern nachzudenken. Eine Fortsetzung hat Eleonore Holmgren unter dem Titel „Brittas Arv“ (Brittas Erbe) in Schweden bereits im Juni 2022 veröffentlicht.

Bewertung vom 27.10.2023
Sekunden der Gnade
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


sehr gut

REZENSION - Das amerikanische Reizthema der Rassentrennung sowie die in vergangenen Jahren wieder zunehmende Segregation an US-Schulen bilden den Hintergrund zu dem im August beim Diogenes Verlag erschienenen Roman „Sekunden der Gnade“ des amerikanischen Schriftstellers Dennis Lehane (58). Zwar wurde bereits 1954 nach der Klage einer afroamerikanischen Mutter die Rassentrennung an den Schulen der Vereinigten Staaten grundsätzlich aufgehoben, doch waren es erst drei Jahre später die „Little Rock Nine“, die neun schwarzen Schüler aus Little Rock (Arkansas), die unter starkem Schutz der Nationalgarde die „weiße“ Little Rock Central High School besuchen durften.
Um die unterschiedlichen sozialen Milieus in den Schulen zusammenzuführen, richteten in den nachfolgenden Jahren viele Städte – oft erst auf Druck der Bundesregierung und der Gerichte – spezielle „Busing“-Programme ein: Schüler aus überwiegend von Schwarzen bewohnten Innenstädten wurden mit Bussen in die Schulen der vorwiegend von Weißen bewohnten Vorstädte gefahren und weiße Kinder und Jugendliche in die von Schwarzen besuchten Schulen der Innenstädte. Im September 1974 wurde Boston, die Heimatstadt des 1965 in der vom Arbeitermilieu irischer Einwanderer geprägten Vorstadt Dorchester geborenen Autors Dennis Lehane, zu einem Widerstandszentrum weißer Vorstadtbewohner gegen das vom Bürgermeister angeordnete „Busing“. Lehane schreibt im Nachwort: „Ich habe die ganze gewalttätige Show hautnah miterlebt.“ Die Einwohner setzten sich vor allem aus rassistischen Gründen gegen diese Integrationsmaßnahmen zur Wehr, gaben allerdings vor, das Absinken des Bildungsniveaus an ihrer Schule zu fürchten. Hören wir nicht aktuell auch in Deutschland nach Anstieg der Schülerzahlen aus Flüchtlings- und Einwandererfamilien immer wieder gerade dieses Argument?
Vor diesem sozialpolitischen Hintergrund des Jahres 1974 spielt der Roman „Sekunden der Gnade“: Die Weißen einer Bostoner Vorstadt sind in Aufruhr aus Angst vor den angekündigten schwarzen Jugendlichen. „Weeze würde sich im Grab umdrehn, wenn sie an der South Boston High School eine Horde Darkies durch denselben Gang laufen sähe wie ihre Enkeltochter.“ Eines Nachts kommt die 17-jährige Jules Fennessy nach einem Treffen mit Freunden nicht nach Hause zurück. In derselben Nacht kommt ein schwarzer Junge ums Leben, als er von vier weißen Jugendlichen vor einen einfahrenden Zug gestoßen wird. Haben beide Vorfälle etwas miteinander zu tun? Gehörte Jules zu diesen Vier? Ihre Mutter Mary Pat sucht sie überall und fragt bei Freunden und Bekannten nach Jules. Zunächst will ihr niemand etwas sagen. Doch dann erfährt sie, dass ihre Tochter in mafiösen Verbrecherkreisen verkehrt hat. Schließlich muss sie erkennen, dass man ihr, die schon einen geliebten Mann und ihren ältesten Sohn verloren hat und vom zweiten Mann verlassen wurde, nun auch noch das Letzte genommen hat, was ihrem Leben Sinn gab. In tiefem Schmerz nimmt sie Rache.
„Sekunden der Gnade“ ist aus mehreren Gründen interessant: Einerseits beschreibt Dennis Lehane aus eigenem Erleben sehr plastisch das soziale Miteinander, die Gefühlswelt der Bewohner sowie den Lebensstandard der weißen Arbeiterschicht: „Bess ist ein zweifarbiger 1959er Ford Country. Sein Heck hängt durch wie ein alter Hundearsch … und den Auspuff halten nur zerfranstes Metzgergarn und schieres Glück.“ Zum Anderen erfährt man viel über die gesamtpolitische Stimmung zu jener Zeit in den USA sowie über das Bemühen schulischer Integration von Schwarz und Weiß. Drittens verbindet Lehane alles in einer spannenden Handlung, geschrieben in lockerer, oft bildhafter Sprache, die schon allein das Buch zu guter Lektüre macht.
Im abschließenden Nachwort warnt Dennis Lehane: „Rassismus ist ein widerwärtiges, krebsartiges Vorurteil, das von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird. Eine Seuche, die demjenigen, der sie in sich trägt, ebenso viel Schaden zufügt wie seinen Opfern.“ Blickt man sich heute auf den Straßen unserer Großstädte um, erschrickt man, wie aktuell dieser Roman trotz seines historischen Hintergrunds auf uns wirken kann.

Bewertung vom 08.10.2023
Die Bank am Rande des Waldes
Fourier, Stefan

Die Bank am Rande des Waldes


sehr gut

REZENSION - Ein Gespräch über das Glück und den Sinn des Lebens schildert Autor Stefan Fourier (74) in seinem schmalen Büchlein „Die Bank am Rande des Waldes“, im September beim Verlag tredition erschienen. Auf nur 56 Seiten im handlichen A6-Format verarbeitet der promovierte Physiker und Sachbuch-Autor, inzwischen aber als Romancier, Märchenerzähler und Aphoristiker bekannte Schriftsteller seine im eigenen Leben „auf persönlichen Irrwegen, in beruflichen Höhen und Tiefen und weiteren gemeisterten Schicksalsschlägen“ selbst gemachten Erfahrungen und bringt die daraus gewonnenen Einsichten in einer märchenhaften Geschichte in kurzen Sätzen leicht verständlich und nachvollziehbar auf den Punkt.
In einer depressiven, ihn lähmenden Lebenskrise macht sich der Erzähler auf zu einem Spaziergang in die Einsamkeit des Waldes. „Alles, was mich ausmachte, steht in Frage. Schwerpunkte haben sich verschoben, Freunde und Bekannte schwinden. Jeder folgt seinem eigenen Lebensweg. Meiner ist abgebrochen. Was kommt jetzt?“ Er zweifelt am Sinn seines Daseins und vermisst das Glück, das ihn bisher doch begleitet zu haben schien. Er hatte es zu was gebracht, konnte Ehefrau und Kindern alles bieten, was er meinte, ihnen bieten zu müssen. Doch jetzt ist ihm bewusst: „Geld, Auto, der ganze Besitz machen allein noch keinen Sinn. Irgendwie hat mich das zufrieden gemacht, irgendwie aber auch wieder nicht.“
In einer Wanderpause setzt sich ein alter Mann – ist es Gott, der Schöpfer? – zu ihm auf die Bank und verwickelt ihn in ein philosophisches Gespräch. Es geht darin um die Frage, was im Leben wirklich Sinn macht und was wahres Glück ist. Auch der Alte hat kein Patentrezept für den Erzähler, da jeder für sich selbst definieren muss, was Sinn macht und Glück bedeutet. Aber er weiß anderen Rat. „Mit deinem Tun schaffst du Sinn, nicht mit Grübeln“, fordert ihn der Alte heraus. „Die Frage ist doch, wie viel du bereit bist zu wagen.“ Denn der Erzähler wagte bisher keinen Neuanfang, zweifelte am möglichen Erfolg, zweifelte an sich selbst. „Vielleicht blockiere ich mich dadurch, dass ich sicher sein will, sofort den richtigen Treffer zu landen, gleich die Sache zu finden, die sinnvoll ist, die mich glücklich macht“, bekennt er einsichtig, hoffte er doch bisher immer auf eine Sinn- und Glücksgarantie – ein Charakterzug, der sich bei uns allzu häufig offenbart: Statt etwas Neues zu wagen, wissen viele von uns oft schon vorher, dass es nicht klappen wird und warum es nicht klappen kann. Besser – sinnvoller – wäre es stattdessen, die Sinnsuche als Innovation, die Glückssuche als Entdeckungsreise zu verstehen: „Man versucht etwas Neues, und es kann funktionieren, muss es aber nicht.“ Im negativen Fall wagt man eben etwas anderes.
Im Lauf ihres Gesprächs zeigt der Alte dem Erzähler einige Ansätze zum aktiven, selbstbestimmten Handeln auf. Denn der Weg ist das Ziel. Er ermuntert den am Leben verzweifelnden und in seiner Depression an sich selbst zweifelnden Erzähler, dem der Erfolg abhanden gekommen ist, zu mehr Zuversicht und Vertrauen: „Nicht dem Erfolg sollst du vertrauen. Das ist ein unsicherer Kandidat. Dir selbst musst du vertrauen. Misserfolge kannst du nicht verhindern, aber du kannst sie verkraften, wenn du dir selbst vertraust.“
Fouriers kurze, in nur einer Stunde leicht zu lesende Geschichte macht uns auf märchenhafte Weise Mut. Sie vermag sicherlich Menschen in ähnlicher Situation etwas zu helfen, sie zumindest aufzumuntern und zu hoffnungsvollem Handeln und Neuanfang zu motivieren. Deshalb eignet sich dieser kleine Band nicht nur zum Selbstlesen, sondern auch als Geschenk für gute Freunde und Angehörige, von denen man weiß oder hofft, dass sie für Ratgeber dieser Art empfänglich sind.

Bewertung vom 05.10.2023
Der Schlafwagendiener
Mayr, Suzette

Der Schlafwagendiener


sehr gut

REZENSION – Völlig zu Recht wurde der im August beim Wagenbach Verlag veröffentlichte Roman „Der Schlafwagendiener“ bereits in Kanada mit dem Giller Prize ausgezeichnet, dem renommiertesten Literaturpreis des Landes: Auf engstem Raum, in einem einzigen Schlafwagen eines Luxuszuges während einer viertägigen Fahrt quer durch Kanada von Montreal im Osten nach Vancouver im Westen, zeichnet Suzette Mayr (56) auf nur 240 Seiten ein in seiner Komplexität gelungenes Sittenbild des wohlhabenden kanadischen Bürgertums gegen Ende der 1920er Jahre in all seiner Oberflächlichkeit und Überheblichkeit – und dies aus Sicht des jungen, schwarzen Schlafwagendieners R. T. Baxter, wegen seiner Hautfarbe und Homosexualität gleich doppelt stigmatisiert, missachtet und gefährdet.
Noch vom vorigen Einsatz übermüdet, muss Baxter außerplanmäßig die Fahrt nach Vancouver als Schlafwagendiener übernehmen, muss während der kommenden vier Tage und Nächte jeden Wunsch seiner reichen weißen Fahrgäste ausführen, darf sich nicht den kleinsten Fehler erlauben. Denn Gründe für sofortige Entlassung gibt es viele: Illoyalität, Unehrlichkeit, Unmoral, Unbotmäßigkeit, Unfähigkeit, grobe Nachlässigkeit, Unaufrichtigkeit – ausnahmslos nicht überprüfbare, subjektive Kriterien, bei denen Baxter den Fahrgästen und ihren Launen ausgeliefert ist.
Baxter arbeitet und lächelt unablässig, auch wenn es ihm, der intellektuell über manchem Fahrgast steht, gelegentlich schwerfällt. Er braucht doch jeden Dollar, um sein Studium fortsetzen zu können. Baxter träumt davon, Zahnarzt zu werden. „Er erzählt niemandem, dass er die Universität zwei Jahre lang besucht und wieder verlassen hat. Wie es aussieht, um in Zügen für Weiße Klosetts zu putzen.“ Als schwarzer Schlafwagendiener zählt er bei den weißen Fahrgästen nicht. Man nennt ihn nicht bei seinem richtigen Namen, sondern nur „Diener“ oder „George“. Nicht einmal die Damen im Waschraum fühlen sich durch ihn gestört: „Er ist nicht mehr als ein Möbelstück.“ Baxter steht am untersten Ende der Gesellschaft. Es ist fast, als existiere er nicht. Würde seine Homosexualität bekannt, käme er sofort ins Gefängnis.
Nachdem der Zug von einer Schlammlawine aufgehalten wurde, verdichtet sich die Spannung zwischen den ungeduldiger werdenden Fahrgästen. Nur Baxter, der als Schlafwagendiener auch nachts kaum schlafen durfte, darf sich seine totale Erschöpfung nicht anmerken lassen. Doch gelegentlich fällt er in Sekundenschlaf: „Er reibt sich immer wieder die Augen, die rosa und feucht sind wie piepsende Vogelmünder und wenigstens ein einziges Würmchen Schlaf ergattern wollen. … Er ist ein Schlafwagendiener. Ein schläfriger Wagendiener. Schläfriger Diener im Wagen. Wagen schläfrig. Diener. Schlaf.“
Baxter hält sich an die Empfehlung seines schwarzen Ausbilders: „Setz dieses besondere Lächeln auf, … aber gib nicht den Onkel Tom. Nicht grinsen. Singe, tanze, mache Zaubertricks, wenn sie dich darum bitten. Vielleicht auch noch was anderes, falls es genug Geld bringt, aber spiel nicht den Onkel Tom.“ Als man Baxter schließlich nur noch „Boy“ nennt, kann er seine Verachtung den Weißen gegenüber, kaum noch verbergen: „Boy. Baxter hebt mühsam die erschöpften Augenlider und nimmt die beiden in den Blick, ein höhnisches Grinsen glitscht über sein Gesicht wie ein Krake aus der Tiefsee, in seiner Brust löst der Hass eine tektonische Verschiebung aus.“
Suzette Mayr offenbart in einem beeindruckenden Kammerspiel – der Roman ließe sich tatsächlich sehr gut auf die Bühne bringen – das Kastendenken jener Zeit zwischen Weiß und Schwarz, die damaligen Gesellschaftsunterschiede und Vorurteile sowie die sich daraus ergebenden Konflikte, die auch nach hundert Jahren wenn auch in abgeschwächtem Maß noch heute nicht nur in Kanada zu entdecken sind. Die Autorin hätte vielleicht den ersten Teil etwas verdichten und dadurch mehr Tempo in die Erzählung bringen sollen, das erst im zweiten Teil stärker anzieht. Dennoch gilt: Mayrs in kurzen, wechselnden Szenen treffend charakterisierten Figuren faszinieren ebenso, wie der Roman insgesamt – nicht zuletzt dank seiner Übersetzerin Anne Emmert – auch sprachlich überzeugt: „Die Schläfrigkeit trieft an Baxter hinunter, sammelt sich in einer Pfütze, bildet Treibsand, in dem seine Füße immer wieder steckenbleiben, lässt ihn weiße Flecken sehen, wo keine sind.“

Bewertung vom 27.09.2023
Malinverno oder Die Bibliothek der verlorenen Geschichten
Dara, Domenico

Malinverno oder Die Bibliothek der verlorenen Geschichten


sehr gut

REZENSION – Es sind die einfachen, unscheinbaren Menschen in den kleinen kalabrischen Städtchen, die das literarische Universum des italienischen Schriftstellers Domenico Dara (52) abbilden. Spielten die ersten zwei Romane „Der Postbote von Girifalco“ und „Der Zirkus von Girifalco“ noch in seinem dörflichen Geburtsort, verlegte der Autor den Handlungsort seines dritten, im Juli im Verlag Kiepenheuer & Witsch veröffentlichten Romans „Malinverno, oder Die Bibliothek der verlorenen Geschichten“ in das fiktive kalabrische Städtchen Timpamara – einen jener Orte, „an denen der Geist der Literatur in der Atemluft liegt“. Hier leben die Menschen von und mit der Literatur, seitdem hier im 19. Jahrhundert die erste Papierfabrik Kalabriens entstand. In Timpamara benennt man sogar die Kinder nach literarischen Figuren oder Schriftstellern.
Unzählige Seiten alter Bücher werden täglich bei der Papierpresse aufgewirbelt und fliegen durchs Dorf: "Überall in Timpamara, auf Fensterbrettern und Bänken, auf Kofferräumen und Müllsäcken, ja sogar auf den Hüten der Damen, konnte eine Seite aus einem Roman landen. Wenn sie jemand aufhob, sie las, und wenn sie ihm nicht gefiel, warf er sie nicht weg, sondern legte sie irgendwo ab, im Blumenkasten auf dem Bürgersteig oder, mit einem Stein beschwert, auf einer Stufe, damit jemand anderes sie aufhob..."
„Malinverno“, betitelt nach Astolfo Malinverno, dem hinkenden Bibliothekar des Ortes, ist eine sehr empathisch geschriebene Geschichte um die Liebe zur Literatur, zur Heimat und zu den dort lebenden Menschen, über deren Leben und Schicksale uns der junge Bibliothekar erzählt. Manches schmückt er auch gern aus: „Die Details habe ich hinzugefügt, denn es war immer schon mein Laster, Geschichten, Wörter und Träume um die Leute herum zu bauen.“ Malinverno ist ein begeisterter Geschichtensammler und Erzähler, also die Idealbesetzung für die Bibliothek.
Doch eines Tages beauftragt ihn der Bürgermeister, auch noch den Friedhof zu übernehmen, was Malinverno zunächst beunruhigt: „Mit Veränderungen war ich noch nie gut zurechtgekommen, … darum versuchte ich, mich auf die einzige mir bekannte Art abzulenken. Ich holte 'Madame Bovary' aus der Tasche.“ Erst allmählich kann sich der Bibliothekar mit seinem Zweitjob als Friedhofswärter anfreunden: „Mein Hände öffneten die Tür der Bibliothek und das Tor zum Friedhof, sie ordneten die Bände auf den Regalen und die Blumenkränze, schrieben etwas ins Ausleih- und ins Sterberegister. Aber es gab noch einen anderen Grund, der die beiden Welten miteinander verband: Für mich waren und sind diejenigen Bücher vollkommen, die mit dem Tod des Protagonisten enden.“
Als er ein namen- und datenloses Grab mit dem Foto einer bildschönen Frau entdeckt, verliebt er sich in dieses Bildnis, das ihn an Gustave Flauberts Figur Emma Bovary erinnert. Mysteriös wird es, als eines Tages eine Frau namens Ofelia auf dem Friedhof erscheint, die das genau Abbild dieser Fotografie ist: „Herausgetreten aus der Fotografie und vor meinen Augen Mensch geworden.“ Die Grenzen zwischen Literatur und Wirklichkeit scheinen sich aufzulösen. Als dann noch ein geheimnisvoller Unbekannter auf dem Friedhof erscheint, nimmt Domenico Daras Geschichte nach etwas zu langer Anlaufphase langsam Fahrt auf und auch an Spannung zu: Friedhofswärter Malinverno beginnt, den geheimnisvollen Vorgängen auf den Grund zu gehen.
„Malinverno“ ist ein poetisch-romantischer Roman, in dem sich der Autor in leichter Sprache und mit Verweisen auf Werke klassischer Literatur mit dem Leben, der Liebe und dem Tod befasst. Seinen Protagonisten Astolfo Malinverno – diese Figur muss man einfach ins Herz schließen – nutzt er geschickt als Medium. „Malinverno, oder Die Bibliothek der verlorenen Geschichten“ ist vor allem für Freunde besonderer Literatur ein empfehlenswertes Buch.

Bewertung vom 08.09.2023
Kalmann und der schlafende Berg
Schmidt, Joachim B.

Kalmann und der schlafende Berg


gut

REZENSION – Kalmann, der selbsternannte Sheriff von Raufarhöfn, gehört sicher zu den ungewöhnlichsten Figuren deutscher Belletristik. Vor drei Jahren stellte uns der seit 2007 in Island lebende Schweizer Schriftsteller Joachim B. Schmidt (42) in seinem Roman „Kalmann“ den unter Vormundschaft seiner Mutter stehenden 34-Jährigen mit Down-Syndrom vor. Er lebt als letzter Haifischfänger allein im Häuschen seines Großvaters an Islands Nordküste. Während die meisten Dorfbewohner ihn, der nicht einmal die Hauptschule geschafft hat, herablassend als „Dorftrottel“ behandeln, reagieren Wohlmeinende auf ihn voller Mitgefühl.
Doch Kalmann, der uns sein aufregendes Leben selbst erzählt, kann auf Spott oder Mitgefühl verzichten: Er steht dank seines geradlinig strukturierten Denkens mit beiden Beinen weitaus sicherer und selbstbewusster im Leben als mancher seiner Mitmenschen. Unerschrocken sorgt er für Ordnung, wo andere Probleme fürchten – so auch wieder im zweiten Band „Kalmann und der schlafende Berg“, der im August im Diogenes Verlag erschien: „Ich rappelte mich auf, nahm den Cowboyhut vom Haken und steckte mir den Sheriffstern an die Brust.“
Kalmann wohnt inzwischen bei seiner Mutter in Akureyri und arbeitet dort als Hilfe beim Supermarkt. „Jemand muss dafür sorgen, dass auf dem Parkplatz Ordnung herrscht. Und dieser jemand bin ich.“ Auch hier ist Kalmann ein Ordnungshüter. „Korrektomundo! Ein Sheriff eben.“ Doch eines Tages wird er von seinem ihm völlig unbekannten „Samenspender“ Quentin Boatwrite in die amerikanische Provinz eingeladen. Dort in den USA überschlagen sich die Ereignisse: Kalmann gerät unversehens in den Sturm auf das Capitol. „Ich hätte stehenbleiben sollen, ich weiß. Mein Fehler. … Aber ich wurde von den Massen mitgerissen wie Treibholz.“ Nach einem strengen Verhör beim FBI wird Kalmann kurzerhand ins Flugzeug gesetzt und zurück nach Island geschickt, wo er nach Ankunft wegen der Corona-Pandemie in einem Hotel in Quarantäne bleiben muss. So kann er erst später seinen Landsleuten von seinem USA-Erlebnis erzählen - von den „verrückten Leuten, denen ich da begegnet war. … Abgesehen davon, dass ich vom FBI festgenommen wurde, gefiel es mir in den Vereinigten Staaten sehr gut.“
In Island erfährt Kalmann, dass sein kürzlich verstorbener Großvater vielleicht umgebracht wurde. Er soll im Kalten Krieg für die Sowjets spioniert haben. Doch nicht einmal Polizistin Birna glaubt an Mord. Also muss der „Sheriff von Raufarhöfn“, den Freunde auch „Kalli Kaliber“ nennen, auch diesen zweiten Fall selbst aufklären.
Während der erste Kalmann-Roman ausschließlich in Island spielte und durch seine atmosphärisch stimmige Handlung und seine ebenso stimmigen Figuren überzeugte, hat Autor Schmidt in diesem zweiten Band mit anteiliger Verlagerung der Handlung in die USA und mit Einbindung der Capitol-Erstürmung diese Stimmigkeit leider gestört. Hinzu kommt das Sammelsurium an Themen ohne Zusammenhang: Umweltverschmutzung, Corona, Trumps Präsidentschaft, Spionage im Kalten Krieg. Mit dieser Themenvielfalt hat der Autor seinem Roman eher geschadet.
Aber zum Glück gibt es ja Kalmann, der für Ordnung sorgt. Er hält alle Handlungsfäden in der Hand und ist noch derselbe liebenswerte Mensch, den wir aus dem ersten Band kennen. Viele seiner Dorfbewohner belächeln den „Dorftrottel“ in arroganter Selbstüberschätzung und Überheblichkeit. Doch Kalmann weiß: „Niemand möchte der Dümmste sein. Aber jemand muss der Dümmste sein, und wenn man so ist wie ich, ist es das Klügste, es nicht abzustreiten.“ Diese unleugbare Logik, von der sich Kalmann leiten lässt, ist es, die nicht ihn, sondern alles Geschehen um ihn herum wirr und verrückt erscheinen lässt, und wir uns fragen müssen: Wer ist hier eigentlich der Dumme? Der selbsternannte Sheriff von Raufarhöfn wird in seiner schlichten Natürlichkeit in „Kalmann und der schlafende Berg“ wieder so verständnisvoll und mitfühlend beschrieben, dass man diesen Sonderling einfach ins Herz schließen muss und diesmal gern manche inhaltliche Schwäche des Buches verzeiht.