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Zauberberggast
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München

Bewertungen

Insgesamt 145 Bewertungen
Bewertung vom 30.08.2023
Sonne über Gudhjem / Lennart Ipsen Bd.1
Kobr, Michael

Sonne über Gudhjem / Lennart Ipsen Bd.1


sehr gut

Wenn ich mal abschalten möchte und keine Lust auf anspruchsvollere Literatur habe, lese ich sehr gerne einen Krimi. Bei mir müssen es allerdings klassische "Whodunits" sein, also nicht allzu düster und blutig. Und ja, wenn ich einen etwas humorvolleren Whodunit lesen möchte, dann greife ich sehr gerne zu den Kluftinger-Krimis von Klüpfel und Kobr, mein "guilty pleasure" was das Lesen angeht. Dieses Mal hat Michael Kobr sowohl Kluftinger als auch seinen Autorenkollegen Volker Klüpfel unten im Allgäu links liegen lassen und hat sich schreibend in den Hohen Norden begeben, genauer gesagt auf die dänische Insel Bornholm. Sein erster Solo-Roman "Sonne über Gudhjem" spielt also dort, wo er wohl seit Jahren gerne selbst Urlaub macht. Kobr ist also gewissermaßen ortskundig, was beim Verfassen eines Regionalkrimis natürlich von Vorteil ist.

Lennart Ipsen, der 47-jährige Ermittler des Romans, ist zur Hälfte Däne und zur Hälfte Deutscher. Nach vielen internationalen Stationen u.a. bei Interpol, hat er sein Zuhause in Kopenhagen verlassen, um bei der Polizei in Rønne auf der Insel Bornholm, die er als Kind öfter besuchte, anzuheuern. Nach der Trennung von seiner Frau Andrea, die jetzt mit den beiden gemeinsamen Töchtern auf Rügen lebt, soll es ein Neuanfang für Lennart werden. Kaum angekommen und in Erwartung eines hyggeligen Daseins auf der an Schwerverbrechen armen Insel, steht aber auch schon der erste Mordfall ins Haus. Ein Schweinebauer wurde in seiner eigenen Räucherkammer ermordet aufgefunden.

Wir haben es hier mit einem ganz klassischen Regionalkrimi und Whodunit zu tun. Es gibt ziemlich viele Verdächtige, denn der Tote war nicht gerade ein Sympathieträger. Als LeserIn kann man bis zur Auflösung am Ende wunderbar miträtseln. Außerdem erfährt man viel über dänische Eigen- und Besonderheiten. Vor allem die Kulinarik des skandinavischen Landes kommt im Buch nicht zu kurz, zumal das Opfer des Verbrechens ein Lebensmittelproduzent war. Von Schinken über "Karl Johan" (dänisch für Steinpilze), Sanddorn, Lakritz und Honig sowie natürlich (geräucherter) Fisch reicht die breite Palette an in Dänemark beliebten Lebensmitteln, auf die im Roman eingegangen wird. Auch einem Sternerestaurant dürfen wir einen Besuch abstatten.

Wie schon bei Kluftinger nimmt das Privatleben des Kommissars einen gewissen Stellenwert in der Handlung ein. Anders als der schrullige Allgäuer ist Ipsen charakterlich aber eher Mainstream. Ein Workaholic natürlich, aber das haben ja viele Kommissare gemeinsam. Tatsächlich wird auch auf die Ermittler der klassischen und aktuellen Krimiliteratur eingegangen (S. 196f.). Ipsen tritt auch als Leser von Krimis auf, denn er kennt seine Dupin, Maigret & Co. Ansonsten sind die beiden Kolleginnen Tao und Britta sehr sympathisch, allenfalls Britta ist durch ihr alternatives Auftreten als polizeiliche Ermittlerin etwas ungewöhnlich.

"Sonne über Gudhjem" ist ein schöner, solider Regionalkrimi und natürlich perfekt als Lektüre im Dänemark-Urlaub.

PS: Das doppelte Lesebändchen in den Farben der dänischen Flagge ist eine tolle Idee (und sehr praktisch).

Bewertung vom 25.08.2023
Treacle Walker
Garner, Alan

Treacle Walker


ausgezeichnet

Eine unvergleichliche Novelle

Im Sommer 2022 ging ein Raunen durch die Literaturwelt als "Treacle Walker" auf die Longlist des Booker Prize gesetzt wurde. Das Raunen wurde im Herbst 2022 zu einem Staunen, als das Buch schließlich auf der Longlist erschien. Den Preis gewonnen hat Garner an seinem 88sten (!) Geburtstag zwar nicht, aber er setzte dennoch ein Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass auch Bücher, die nicht dem literarischen Mainstream entsprechen, um es vorsichtig zu formulieren, von der Booker Jury gewürdigt werden.

Der Roman ist ein literarisches Experiment.
Als LeserIn kommt man sich vor, als wäre man in einen Tornado geraten, der einen einmal kräftig durchschüttelt und dann hoch in die Luft wirbelt und erst wieder loslässt, wenn man eins der verrücktesten Leseerlebnisse seines Lebens durchlebt, durchliebt und durchlitten hat. "Treacle Walker" ist alles, nur nicht Mainstream. Es ist Fantasy, die durch die Schönheit und die Verrücktheit der Sprachbilder, die sie benutzt, dem Leser/der Leserin einen Pfeil durchs Herz schickt.

Worum es geht, ist eigentlich kaum zu beantworten. Das Vergehen der Zeit, das Menschsein, Metaphysik und Folklore und noch vieles andere mehr wird hier kondensiert auf wenigen Seiten verhandelt. Ein Wanderheiler - Treacle Walker - kommt zu Joe, einem Jungen, dessen eines Auge von Krankheit gezeichnet ist. Was danach passiert, ist in eine kohärente Handlung nicht mehr fassbar. Man darf an diese Fantasy-Novelle nicht mit der falschen Erwartungshaltung herangehen. So viel ist sicher: Es wird anders sein als alles, was Leser*in vorher gelesen hat.

Tatsächlich habe ich sowohl das englische Original als auch die Übersetzung von Bernhard Robben für Klett Cotta gelesen. Dieses Buch ist stellenweise unübersetzbar. Nicht nur weil die Handlung kaum nachzuvollziehen ist, sondern auch weil es Begriffe und Redewendungen gibt, die eigentlich nicht in eine andere Sprache übertragbar sind. Ein Beispiel aus Kapitel VIII: "I have been through Hickety, Pickety, France and High Spain", Robben übersetzt: "Ich war Ri Ra Rutsch mit der Kutsch in Frankreich und Hochspanien". Der Übersetzer versucht "Treacle Walkers" Sprachmelodie anhand einer deutschen Redewendung nachzuahmen und reüssiert damit. Noch eine Stelle: "It was a tune with wings, trampling things, tightened strings", übersetzt: "Eine Melodie mit Schwingen, durch Minnen von Sinnen, ein helles Singen" (S. 105). Dann gibt es so Worte wie "dobber", übersetzt "Bucker" (S.71), die in beiden Sprachen rätselhaft bleiben. Robben gebührt mein höchster Respekt, denn dieses Buch zu übersetzen ist eine unglaubliche literarische Leistung an sich.

Alan Garners Novelle hat den Autor endgültig in den Olymp der Literaturgeschichte verfrachtet. Ich bin mir sicher, wenn in Jahrzehnten eine Liste über die bedeutendsten literarischen Werke unserer Zeit existiert, dann wird "Treacle Walker" draufstehen. Großes Kino.

Bewertung vom 10.08.2023
Die Erfindung des Lächelns
Hillenbrand, Tom

Die Erfindung des Lächelns


sehr gut

Obwohl ich selbst schon wie Millionen andere im Louvre vor der "Mona Lisa" stand und versucht habe, einen Blick durch die Menschenmenge auf sie zu erhaschen, habe ich mir nie wirklich Gedanken über die Provenienz des wohl berühmtesten Gemäldes der Welt gemacht. Dass Napoleon sie in seinem Schlafzimmer aufhängen ließ und dass sie 1911 gestohlen wurde und zwei Jahre lang als verschollen galt, wusste ich bis vor Kurzem gar nicht. Anscheinend war es der Raub, durch den die "Gioconda" den Status des berühmtesten Gemäldes der Welt erst endgültig manifestierte.

Tom Hillenbrand, den ich bislang nur von seinen Kulinarik-Krimis kannte, hat dieses Ereignis zum Zentrum seines historischen Romans gemacht.
Wie er im Nachwort sagt, orientierte sich der Autor am tatsächlichen Geschehen rund um den Raub. So erzählt er aus der Perspektive des Diebes, des italienischen Handwerkers Vincenzo Perrugia. Dieser arbeitete manchmal als Glaser im Louvre. Diese Gelegenheit und die Überzeugung, dass das Bild in sein Heimatland Italien gehöre, machten ihn zum Dieb.

Der Autor versammelt in seinem ambitionierten Gesellschaftsroman illustre Künstlerpersönlichkeiten der Realhistorie. Manchen begegnen wir nur flüchtig, wie Amedeo Modigliani, George Braques oder Henri Matisse. Sie sind in der Handlung lediglich Statisten. Ein anderer aber, ungleich berühmterer Maler, ist Protagonist, nämlich der 1911/1912 noch ganz junge Pablo Picasso. Zusammen mit dem Dichter Guillaume Apollinaire, der ebenfalls als Figur vorkommt, wurde er tatsächlich des Raubes der "Mona Lisa" verdächtigt.

Auch die Tänzerin Isadora Duncan ist eine Protagonistin im Roman. Sie beginnt eine Affäre mit der russischen Schneiderin Jelena, die außerdem Kommunistin ist. Jelena wird Mitglied der "Bonnot Bande", die 1911/1912 tatsächlich anarchistische Anschläge in Frankreich begann.

Hillenbrands Protagonisten und Protagonistinnen stellen sich existenziell bedeutsame Fragen: Was ist der Preis des Kampfes um eine gerechte Verteilung aller Güter? Imitiert das Leben die Kunst oder ist es umgekehrt? Welchen Wert haben unverkäufliche Bilder? Und: Sollte ich nicht lieber weniger Absinth trinken? ;-)

Der Aufhänger, Raub der "Mona Lisa", befindet sich in diesem Roman im Spannungsfeld sehr vieler Themenbereiche, die angeschnitten werden. Zunächst wären da die "-Muse(n)": Anarchismus/Kommunismus, Okkultismus/ Spiritismus, Expressionismus/Kubismus. Dazu kommen noch der Ausdruckstanz, den Isadora Duncan betreibt sowie die neuesten Verfahren der Kriminologie wie die Bertillionage. Außerdem geht es um die Museumsgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts (Zustand des Louvre, Verfahren der Museologie), Schriftstellerei, Journalismus und Wirtschaftsgeschichte der Zeit.
Es werden also sehr viele Themenbereiche hier in den Raum bzw. den Roman geworfen. Das fand ich teilweise ein bisschen "too much". Alles wird nur angerissen und nicht wirklich ausgezählt, obwohl der Roman sehr lang ist. Manches hätte ich gerne noch eingehender verfolgt, vieles halte ich für redundant.

Obwohl es um einen Raub geht, es (Spoiler) einige Tote gibt und allerlei Verbrechen und es mit Juhel eine Ermittlerfigur als Protagonisten gibt, würde ich "Die Erfindung des Lächelns" nicht im eigentlichen Sinne als historischen Krimi bezeichnen. Es ist in meinen Augen vielmehr ein "historischer Gesellschaftsroman noir".

Man merkt, dass in diesem Buch sehr viel Herzblut und Recherchearbeit stecken. Mit Sicherheit geht man aus der Lektüre klüger heraus, als man zuvor gewesen ist. Wer gerne romanhafte Wimmelbücher mit sehr viel "Überbau" liest, dem sei dieser - in meinen Augen mit Themengebieten überfrachtete - opulente Roman empfohlen. Literarischen Minimalisten würde ich aber eher sagen: Finger weg vom Mammutwerk über "La Gioconde"!

Bewertung vom 17.07.2023
Der treue Spion / Offizier Gryszinski Bd.3
Seeburg, Uta

Der treue Spion / Offizier Gryszinski Bd.3


ausgezeichnet

Wer bereits die ersten beiden Bände um Major Wilhelm Freiherr von Gryszinski gelesen hat, wird wie ich sicherlich schon gespannt auf diesen dritten Band gewartet haben. Tatsächlich ist seit dem (vorab) Erscheinen von Band 2 ("Das wahre Motiv") nur ein knappes Jahr vergangen. Diese Tatsache lässt mich staunend und der Autorin Uta Seeburg absoluten Respekt zollend zurück, ist doch "Der treue Spion" sowohl was das Erzählerische als auch die Recherchearbeit und historische Authentizität angeht wieder von allerhöchster Qualität.

Diesmal begleiten wir den preußischen Ermittler in München bei einer äußerst delikaten politischen Mission. Ein französischer Diplomat namens Henri Fouqué ist über Nacht spurlos verschwunden, sein letzter Aufenthaltsort war das Münchner Luxushotel "Vier Jahreszeiten". Dort logiert auch ein dubioses russisches Paar, das sich äußerst verschwenderisch verhält und auffällig agiert. Natürlich lässt auch ein Mord im Dunstkreis des Verschwindens Fouqués nicht lange auf sich warten. Im Zuge dessen begleiten wir Gryszinski und seine Gattin diesmal sogar bis nach Paris (und später sogar noch weiter). Während wir im letzten Band mit den Gryszinskis tief in die Kunst- und Kulturszene Schwabings abgetaucht sind, ziehen wir jetzt mit ihnen u.a. durch die Pariser Literaten- und Künstlercafés. Dabei treffen der "Feierabend-Bohemien" und seine schreibende Ehefrau auf Größen der französischen Literatur wie Émile Zola und Marcel Proust. Ich finde es kann - wenn es wie hier gut gemacht ist - immer eine besondere Dynamik entstehen, wenn fiktive Personen auf historische Persönlichkeiten treffen. Hier hat die Autorin es sich nicht nehmen lassen, dass Marcel Proust sich von Gryszinski zu nichts weniger als seinem literarischen Lebenswerk inspirieren lässt. Das ist weder wahr noch bringt es den Plot in irgendeiner Weise weiter, aber es entlockt manchen Literaturkundigen unter den Lesenden sicher ein kleines Schmunzeln.

Überhaupt Literatur und literarisches Schreiben: Man merkt einfach, dass Uta Seeburg promovierte Germanistin und mit der Literatur des späten 19. Jahrhunderts bestens vertraut ist. Ihre Prosa wirkt nicht wie eine Heutige, sondern sie schreibt wie ein/e Autor/in des literarischen Realismus. Mir fallen Flaubert, Fontane oder auch der junge Thomas Mann ein, mit denen ich ihre Prosa vergleichen möchte. Man merkt einfach nicht, dass hier eine Autorin des 21. Jahrhunderts auf 1896/1916 blickt und das spricht absolut für Uta Seeburg denke ich.

Apropos 1916. Ja, diesmal haben wir es nicht nur mit einer, sondern mit zwei erzählten Zeitebenen zu tun - sehr spannend, wie ich finde. Einmal eben die Geschehnisse um den ermittelnden Gryszinski im Jahr 1896 und dann wird abwechselnd parallel aus der Perspektive seines Sohnes Fritz erzählt. Dieser ist im Jahr 1916 an der Front in Verdun, mitten im Ersten Weltkrieg, als Meldegänger rekrutiert. Von dort aus wird er als Spion auf eine abenteuerliche Reise quer durch Europa geschickt, wo er nichts weniger als die Affaire Fouqué zwanzig Jahre nach ihrem Geschehen nochmal aufarbeiten muss. Dabei gerät er selbst in große Gefahr…

Eigentlich sind Spionageromane nicht so wirklich mein Ding. Das ganze Bespitzeln, Misstrauen und Versteckspiel muss ich eigentlich nicht haben. Aber: Uta Seeburg hat mich vom Gegenteil überzeugt. Sie kann halt einfach erzählen. Und mit Gryszinski hat sie einen so sympathischen Protagonisten erschaffen, dass wir uns einfach eine immer neue "Topfrunde" mit ihm wünschen. Und Frau Brunner, die wie immer aus dem Nichts auftaucht, mahnend guckt und sich insgeheim freut, dass ihre Speisen so gut ankommen.

Bewertung vom 13.07.2022
Das wahre Motiv / Offizier Gryszinski Bd.2
Seeburg, Uta

Das wahre Motiv / Offizier Gryszinski Bd.2


ausgezeichnet

Major Wilhelm Freiherr von Gryszinski ermittelt wieder im München des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Nachdem wir den zurückhaltenden Sympathieträger bereits in "Der falsche Preuße" kennenlernen durften, geht es nun im zweiten Band der historischen Krimireihe um das "wahre Motiv". Diesmal taucht der im neuen bayerischen Umfeld zunächst etwas zugeknöpft wirkende Ermittler in die Münchner Kunstszene um 1900 ein. Es begegnen unserer fiktiven Hauptfigur illustre reale Persönlichkeiten der Kulturgeschichte - vom Malerfürsten Franz von Lenbach, über SchriftstellerInnen wie Franziska zu Reventlow, Frank Wedekind und Oskar Panizza, um nur einige zu nennen, bis hin zum Prinzregenten Luitpold höchstselbst. Geschickt verwebt die Autorin die fiktive Kriminalhandlung mit dem Mikrokosmos "Schwabylon", wie das Künstlerviertel um 1900 scherzhaft und doch ehrfürchtig genannt wurde. Obwohl sich der Schwerpunkt der Handlung auf Schwabing konzentriert, sind wir zusammen mit Gryszinski an vielen Orten der Stadt unterwegs. Der topographische "Schnitzeljagdcharakter" des Romans hat mit bereits im ersten Band sehr gut gefallen. Ein wilder Ritt durch München bei der ein doch recht zahmer aber hochsympathischer adliger Ermittler unfassbare artifizielle Morde aufzuklären versucht. Wieder lernt man ganz nebenbei viel über damalige Gepflogenheiten. Das Buch ist gespickt mit kulturgeschichtlichem Faktenwissen. Bewundernswert- ich ziehe meinen Hut vor der Autorin, die außerdem noch überaus sprachgewandt ist. Sie kann den Bayerischen Sprachduktus genauso authentisch wiedergeben wie den naserümpfenden Dünkel der preußischen Adelswelt imitieren. Kunst kommt halt von Können, wie Karl Valentin so schön sagte.
Alles in allem macht das Buch Lust auf Band 3 der Reihe.

Bewertung vom 23.09.2021
Barbara stirbt nicht
Bronsky, Alina

Barbara stirbt nicht


sehr gut

Der trockene Humor von Alina Bronsky ist genau mein Fall. Ich schätze ihre messerscharfe Beobachtungsgabe was Alltagsunzulänglichkeiten im Allgemeinen und menschliche Schwächen im Besonderen betrifft. Während sie im "Zopf meiner Großmutter" stark satirische Töne anschlug, ist "Barbara stirbt nicht" hingegen relativ zahm. Zwar ist der Protagonist Herr Schmidt ein liebenswerter Sancho Pansa, der tapfer gegen die Windmühlen seines unfreiwilligen späten "Hausmann-Daseins" kämpft, aber er wird zu keiner Zeit von der Autorin bloßgestellt.

Es geht in dem Buch viel darum, welche Lieblingsrezepte von Barbara sich ihr Ehemann Walter aneignen muss, während seine Frau in einem mysteriösen Zustand zwischen Krankheit und Rekonvaleszenz verweilt. LeserInnen werden über die eigentliche Natur von Barbaras Zustand im Unklaren gelassen.

Den ganzen Roman durchzieht eine eigentümliche Melancholie, eine Sehnsucht nach dem vergangenen Gestern. Bronsky zeigt an ihrem Protagonisten Herrn Schmidt exemplarisch auf was das plötzliche Bewusstsein über das Vergehen der Zeit mit uns Menschen macht. Gestern noch waren wir jung und heute sind es nicht mal mehr unsere Kinder. Herrn Schmidt, der bis zu Barbaras Krankheit in den Tag hinein gelebt zu haben scheint, trifft diese Erkenntnis wie ein Schlag. Was soll er nun anfangen mit den Resten seines alten Lebens? Wie soll er umgehen mit der bruchstückhaften Gegenwart? Und noch dazu mit der verschwiegenen Familientragödie, die erst im letzten Drittel des Buches ans Licht kommt?

Das offene Ende ist mir persönlich etwas zu abrupt, lässt viele Fragen offen, die ich noch an den Roman gehabt hätte. Leider erfahren wir nicht, unter welcher Krankheit Barbara eigentlich leidet. Ich hätte Herrn Schmidt und Barbara gerne noch eine Weile weiter begleitet. Bronsky wägt ihre LeserInnen bis zum Ende in der trügerischen Sicherheit sie würden auf ein tragikomisches versöhnliches Ende zusteuern, nur um sie dann ohne Vorwarnung an der Autobahnraststätte auszusetzen. Das ist mein Hauptkritikpunkt an diesem schönen, traurigkomischen Roman, der ein Gefühl der Unvollständigkeit zurücklässt.

Bewertung vom 04.07.2021
Real Life
Taylor, Brandon

Real Life


sehr gut

Schwere Lektüre mit Stellen der Leichtigkeit
"Booker Prize"-Lektüren sind selten "leichte Lektüren". Hier wird literarische Qualität ausgezeichnet, die Themen sind meistens existenziell und tiefgreifend. So reiht sich auch Brandon Taylors Debütroman in diese Tradition mit ein, mit dem er es 2020 auf die Shortlist der renommierten Auszeichnung schaffte.
Passt der Titel "Real Life", das wahre bzw. echte Leben (in der deutschen Übersetzung wurde der Originaltitel dankenswerterweise beibehalten) zu seinem Buch? Zumindest seziert Taylor in seinem Roman - wie sein Protagonist Wallace es mit Würmern bzw. Nematoden macht - das alltägliche Dasein eines Biochemie-Doktoranden an einer amerikanischen Universität im Mittleren Westen und inszeniert damit das scheinbar echte Leben seines Protagonisten Wallace. Dieser sinniert über seine Vergangenheit, über Gegenwart und Zukunft, er liebt, er leidet, er lebt - und das alles als Individuum in einer Gesellschaft. Denn Wallace muss sich nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit anderen auseinandersetzen - mit ihrer Freundlichkeit, ihren Problemen, ihren Komplexen, etc. Ausserdem ist Wallace ein schwarzer schwuler Mann in einer vermeintlich post-rassistischen, post-homophoben Welt. Immerhin ist der Mikrokosmos des Campus und der mit ihm assoziierten Gesellschaft ein solcher Ort - zumindest an der Oberfläche. Denn Wallace muss erleben, dass seine Hautfarbe und seine sexuelle Orientierung für andere trotz der liberalen Grundstimmung im intellektuellen Milieu nach wie vor eine Rolle spielen.
"Real Life" ist ein zutiefst menschliches Buch darüber, wie wir mit Schuld und Traumata umgehen, aber auch darüber ob es ein Überwinden derselben gibt, Versöhnung und das "Danach". Vor allem aber auch geht es um Selbstfindung und dem Umfang mit der eigenen Depression und den Dämonen der Vergangenheit.
Die Lektüre war stellenweise erhellend schön, wenn es um die Beschreibung bestimmter Stimmungen ging. Dennoch war mir der Grundtenor zu düster, die Leiden zu schwer, der Fatalismus der jungen Menschen zu viel. Zu viel Verfall, zu viel "Memento mori"-Metaphorik (illustriert ab toten Tieren), zu viel sinnlose Gewalt. Dass der Booker Prize keine "Feelgood Romane" auszeichnet, dürfte jedem klar sein. Und am Ende gibt es ja auch einen Hoffnungschimmer. Trotzdem hätte ich mir mehr Stellen dieser Leichtigkeit angesichts der menschlichen und gesellschaftlichen Abgründe auch im Plot gewünscht. Zum Highlight hat mir also ein kleines Quäntchen gefehlt, aber dennoch ein hervorragender Roman.

Bewertung vom 04.07.2021
Tiere im Einsatz / Wieso? Weshalb? Warum? Bd.16
Erne, Andrea

Tiere im Einsatz / Wieso? Weshalb? Warum? Bd.16


ausgezeichnet

Als meine fünfjährige Tochter das frisch ausgepackte Buch sah, sagte sie direkt begeistert: "Oh, ein Buch mit Klappen", da sie die "Wieso? Weshalb? Warum?"-Reihe natürlich kennt und wir schon viele Titel zuhause haben. Sie schnappte es sich, blätterte es durch und erkundete direkt die besagten Klappen, die bei ihr besonders hoch im Kurs stehen. Staunend lernte sie etwas über die Existenz von Polizeipferden (haben zusammen noch nie eins "live" gesehen, obwohl sie in unserer Stadt durchaus vorkommen), Blinden-,Such- und Rettungshunden, etc. Das Thema Tiere als Helfer des Menschen hatten wir tatsächlich vorher noch nie so wirklich angesprochen, deswegen hatten wir Nachholbedarf.

Das Buch ist wie immer ganz kindgerecht aufgebaut und regt spielerisch dazu an, Wissen erwerben zu wollen. Wie immer passt das Buch perfekt für die Altersspanne 4-7. Für jüngere Kindern sind eher die Bilder und Klappen interessant, mit älteren Kindern kann man mehr in den Text einsteigen und auch die Stellen vorlesen, die die Kleinen noch nicht ganz verstehen würden. Schließlich werden in diesem Buch auch negative Themen wie Drogendelikte, Einbruch, Unfälle und Krankheiten diskutiert, aber wirklich nur am Rande. In der Hauptsache konzentriert sich das Buch auf das positiv besetzte Thema "Tierische Helfer" in all seinen Facetten. Und wie so oft bei "Wieso? Weshalb? Warum?" können auch die Eltern noch etwas dazulernen (von der "Esel-Müllabfuhr" hatte ich davor z.B. auch noch nichts gehört), so dass es beim Vorlesen nicht langweilig wird.

Alles in allem also mal wieder ein sehr lohnenswerter neuer Band der Reihe, vor allem für kleine Tierfreunde.

Bewertung vom 03.07.2021
Madame le Commissaire und die panische Diva / Kommissarin Isabelle Bonnet Bd.8
Martin, Pierre

Madame le Commissaire und die panische Diva / Kommissarin Isabelle Bonnet Bd.8


gut

Skurriler Band der Reihe, Parisflair inklusive
Nachdem ich alle Bände der "Madame le Commissaire"-Reihe gelesen habe, kann ich sagen, dass nicht jeder Band von der gleichen Qualität ist. Bei welcher Reihe ist das schon so? Nachdem mir der letzte Band ("...und die Frau ohne Gedächtnis") leider nicht so gut gefallen hat, bin ich ohne große Erwartungen an "...und die panische Diva" herangegangen. Ich wurde positiv überrascht, obwohl es sicher nicht der beste Band dieser Reihe ist (das ist für mich "...und der tote Bürgermeister").
Wie schon im letzten Band mit der "Frau ohne Gedächtnis" hat Madame le Commissaire Isabelle Bonnet am Anfang des Buches keinen aktuellen Mordfall in der Provence aufzuklären. Da erfährt Isabelle über deren in Fragolin lebende Zwillingsschwester Juliette, dass sich die Pariser Diva Colette Gaspard - mit Zweitwohnsitz in der Provence - von einem Stalker bedroht fühlt. Isabelle lässt sich - etwas widerwillig - darauf ein, für ein paar Tage ihren Bodyguard zu spielen. Womit sie nicht gerechnet hat: Isabelle muss sich nach kurzer Zeit schon ihrer eigenen Vergangenheit stellen und ihre alte Heimat Paris, Schauplatz ihres großen Traumas, aufsuchen.
Der Fall an sich ist schon sehr skurril und sicher nicht sehr "realistisch". Aber das erwarte ich auch nicht unbedingt von einem leichten Sommerkrimi. Die Unterhaltung muss stimmen und wenn dann noch ein wenig Spannung hinzukommt, bin ich ganz zufrieden.
Sehr angenehm fand ich dass sich das Geplänkel mit Apollinaire in einem erträglichen Rahmen bewegt und Isabelle auch nicht wie im letzten Band gedanklich alles kommentiert was er sagt. Auch fand ich den Ortswechsel sehr erfrischend - Isabelle und ihr Umfeld haben mir in Paris sehr gefallen. Eine schöne Abwechslung zu den übrigen Bänden, die ausnahmslos in Südfrankreich spielen. Auch die Ménage-à-trois mit Rouven und Nicolas wurde schön ausgearbeitet und ins Geschehen integriert. Isabelle wirkt in diesem Band nicht mehr ganz so hart, sie zeigt viele menschliche Facetten.
Fazit: Wenn man nicht zu verbissen nach einer "realistischen" und blutigen Krimihandlung sucht und überdies Romane schätzt, die (teilweise) in Paris spielen, dann kann ich diesen Band der Reihe um Madame le Commissaire empfehlen. Für Fans sowieso!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.