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leseleucht
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Alfter

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Insgesamt 187 Bewertungen
Bewertung vom 13.06.2025
Beaumont, Sophie

Zweite Chancen à la carte (eBook, ePUB)


gut

3 Frauen in Paris
In Paris treffen sich die Wege der Künstlerin Gabi in der Schaffenskrise und der verlassenen Ehefrau Kate in der Lebenskrise, beide aus Australien, in der Kochschule von Sylvie, in der Unternehmenskrise. Sylvies Unternehmen erhält anonym schlechte Bewertungen auf google und tripadvisor, bekommt Lieferungen, die nicht bestellt, aber bezahlt werden wollen. Und die Gerüchteküche streut in den Medien Hinweise auf mangelnde Hygiene und pekuniäre Schwierigkeiten. Wer will ihrem Lebenswerk auf so perfide Weise schaden?
Alle drei Frauen kämpfen mit ihren inneren oder äußeren Dämonen und sind auf der Suche nach sich selbst. Gut, dass sie schnell willige Tröster finden, aber auch in ihren Mitstreitern in der Kochschule haben sie eine willkommene Ablenkung. Und natürlich hilft auch gutes Essen über vieles hinweg.
Was mir an dem Roman gut gefallen hat, war die unvergleichliche Stimmung von Paris, die dem Leser hier sehr lebendig vor Augen geführt wird. Auch die Vielzahl an unterschiedlichen Charakteren macht das Buch unterhaltsam. Einige der Handlungsstränge sind sehr fein und behutsam angelegt, aber andere auch sehr klischeehaft und überdramatisiert. Da wird es dann doch bisweilen ein wenig zu zuckersüß, wie das Cover schon suggriert.

Bewertung vom 13.06.2025
George, Nina

Die geheime Sehnsucht der Bücher


sehr gut

Die wilden Büchermädchen von Paris
Die literarische Buchapotheke von Monsieur Perdu geht in die zweite Generation. In diesem dritten Band zieht er eher aus dem Hintergrund die Fäden und überlässt die Bühne – im Wortsinne – zwei jungen Mädchen mit einer nicht so einfachen Familiengeschichte: Marie ist bereits als Vorleserin für Kinder auf dem Bücherschiff etabliert. Sie begegnet einem anderen Mädchen, das mit ihr nicht nur die Liebe zu Büchern und zum Lesen teilt: Françoise, deren ‚Mutter‘ völlig weltfremd zurückgezogen in einem Pariser Appartement wohnt und es Françoise überlässt, sich nicht nur um ihr eigenes Leben zu kümmern. Die hat es schwer und vor allem die Sorge, dass man ihr drauf kommen könnte, dass ihre ‚Mutter‘ eigentlich nicht in der Lage ist, eine Tochter aufzuziehen. Da hört sie von Monsieur Perdu, der mit Büchern Menschen heilt.
Darüber hinaus ist es auch die zweite Buchhändler:innengeneration, die hier das Ruder – auch im Wortsinne – in die Hände nimmt: Pauline Lahbibi, die vor allem auf ihren Büchertouren mit der Vespa das Leben anderer Menschen auf die richtige Spur bringt. Sie kann allen helfen, nur nicht sich selbst. Sie, die nach einer enttäuschten Liebe und geplagt von den Gefühlen der Ausgrenzung aufgrund ihrer afrikanischen Abstammung, sich in die Welt der Bücher zurückgezogen hat, wie vor ihr einst Perdu und dann auch Marie und Françoise, kann sich nur ganz langsam ihrem Freund und Hafenpolizisten Emile öffnen. Und dann bekommt er ein famoses Jobangebot, aber nicht in Paris. Und dann ist da noch der Adoptivenkel einer ihrer Kundinnen, der ihr allein schon durch seine Herkunft verbunden zu sein scheint und auf einmal muss sie Entscheidungen treffen, obwohl sie doch nur will, dass alles so bleibt, wie sie es für sich eingerichtet hat, ohne dass es besonders weh tun könnte.
Das Buch ist eine fulminante Liebeserklärung an das Lesen und die Bücher. Doch sind es eigentlich nicht die Bücher, die heilen, sondern es sind die Menschen, die sich über die Bücher verbunden fühlen. Aber die Bücher geben den Anstoß, sich zu öffnen, sich Menschen anzuvertrauen oder sich mit Menschen anzulegen, wie die beiden wilden Büchermädchen von Paris, die den Erwachsenen zeigen, wie sehr sie ihre unschuldige Welt mit ihren Problemen und Sorgen und Nöten belasten können und wie sehr sie sie damit alleine lassen. Gut, dass es da die Bücherheldinnen und die Heldinnen in den Büchern gibt, die sich gegenseitig Mut und Unterstützung geben können.
Die Figuren sind äußerst liebenswert, alle auf ihre exzeptionelle Weise. Und das macht es auch so interessant, dieses Buch um den Bücherkosmos des Monsieur Perdu. Es strahlt sehr viel französisches Flair aus und erinnert bisweilen an „Die wunderbare Welt der Amelié“. Es ist berührend, sehr traurig und erschütternd, dann aber auch wieder voller Wärme und Lebensfreude. Es feiert das Anderssein, zeigt aber auch seine Schattenseiten. Bisweilen wird es etwas viel in all dem Gefühl und den Extremen, den Rückblicken auf Perdus eigenes Lebensschicksal, der Zerrissenheit Paulines und dem Hin und Her und Auf und Ab der Gefühlswelt seiner Figuren.
Genauso überbordend kann das Sprachspiel werden. Auf der einen Seite finden sich wunderschöne Metaphern wie die „Wälder der Zeit“ oder die Menschen als Büchern, denen allen eine Rolle in der Lebensbibliothek zugedacht ist. Auf der anderen Seite wirkt der Stil bisweilen sehr exzentrisch oder exsaltiert. Da ist manchmal doch weniger mehr.

Bewertung vom 13.06.2025
DiCamillo, Kate

Der Sommer der unmöglichen Dinge


sehr gut

Mehr als ein Auftrag für Ferris

Ferris hat alle Hände voll zu tun. Und dabei haben die Sommerferien doch gerade erst begonnen. Ferris heißt eigentlich Emma Phineas Wilkey und kommt bald in die 5. Klasse. Ihre Familie ist ein wenig gewöhnungsbedürftig und hält Ferris ganz schön auf Trab. Da ist ihre kleine Schwester, die einmal Bankräuberin werden will und auch sonst alles Mögliche anstellt, um mit ihren sechs Jahren nicht gerade als brav zu gelten. Ihr Vater vermutet eine Waschbären-Invasion im Haus. Onkel und Tante haben gerade eine Ehekrise, sodass der Onkel in den Keller von Ferris Elternhaus gezogen ist und Ferris nun zu Vermittlungszwecken herangezogen wird. Ferris Oma geht es in letzter Zeit nicht besonders gut und sieht Geister, unheilvolle Vorboten, die Ferris Angst und Bange machen. Dieser Geist wartet, so Ferris’ Oma, auf die Wiederkehr ihres Mannes. Dafür muss Ferris den alten Familienkronleuchter wieder zum Brennen bringen. Und auch Ferris alte Lehrerin ist einsam und ein wenig verloren nach dem Tod ihres Mannes. Zum Glück ist Ferris nicht allein mit all diesen Problemen, sondern hat Billy Jackson, ihren besten Freund, an ihrer Seite, für den alles im Leben Musik ist.
Kate DiCamillo hat eine sehr skurrile Familien- und Figurenkonstellation geschaffen, die schon ein wenig gewöhnungsbedürftig ist zu Anfang. Man kann sich schon ein wenig überfordert fühlen mit den schrägen Figuren, zwischen denen Ferris doch recht verlassen wirkt. Insbesondere Ferris’ kleine Schwester ist eigentlich keine Figur, die man in einem Jugendbuch erwartet, sondern vielleicht eher in einem Horrorroman. Doch es lohnt sich, den sehr mit sich selbst beschäftigten Figuren eine Chance zu geben. Und Ferris Oma sowie ihre Freundschaft mit Billy stimmen dann auch wieder versöhnlich. So wird am Ende aus den schrägen Typen doch noch eine Gemeinschaft, die einander hilft und die einzelnen aus ihrer Einsamkeit befreit. So hat das Licht des Kronleuchters nicht nur wegweisende Funktion für den verschollenen Mann des Geistes, der im Haus sein Unwesen treibt. Und am Ende bleibt eine berührende Geschichte über Freundschaft und Verlust, über den Umgang mit den Macken der anderen und den Wert der Gemeinschaft.

Bewertung vom 01.06.2025
Eng, Tan Twan

Das Haus der Türen


sehr gut

Gut erzählt
Beim Lesen von „Das Haus der Türen“ hat man immer einen Kinofilm, am ehesten aus der Schwarz-Weiß-Ära, vor Augen. Die Erzählweise ist sehr plastisch und atmosphärisch. Es geht um das Leben der in Malaysia aufgewachsenen Engländerin Lesley. Im Rückblick erzählt sie von ihrer Begegnung mit dem Autor Willie Somerset Maugham, einem Freund ihres Mannes, der sie auf einer Asienreise dort besucht. Diesem erzählt sie – wiederum im Rückblick – von ihrem Leben in Malaysia und vor allem von ihrer Begegnung mit dem chinesischen Revolutionär Sun Wen. Diese bringt ein wenig Abwechslung in die langweilige Beziehung zu ihrem Ehemann Robert. Genauso wie die gefährliche Affäre ihrer besten Freundin, die diese fast an den Galgen gebracht hätte. Aber auch Lesleys Leben ist voller geheimnisvoller Beziehungen, wie das ihres Mannes. Doch beide müssen den Schein ihrer Ehe wahren in den 20er Jahren britischer Kolonialzeit. Ein gefundenes Fressen für den Autor Maugham, der aufgrund finanzieller Nöte, hungrig nach neuem Erzählstoff ist. Und der heimliche Beziehungen nur zu gut kennt, ist er doch mit seinem Sekretär Gerard liiert, eine gefährliche Liason, die im damaligen England mit Zuchthaus bestraft wurde.
Die Geschichte wechselt zwischen ruhigeren, gefühlvollen Abschnitten, untermalt mit beschaulichen Beschreibungen der Landschaft und der malayischen Gesellschaft sowie dem fast krimihaften Geschehen um Lesleys Freundin, die sich, weil sie auf ihren Geliebten geschossen haben soll, vor Gericht verantworten muss.
Über weite Teile habe ich das gut lesbare Buch mit Interesse gelesen, aber auch mit Distanz. Die Figuren, das Geschehen habe ich als Beobachterin wahrgenommen, aber ohne eine persönlichen Bezug. Die Story hat mich, abgesehen von der Krimihandlung, wenig gepackt. Das Verhalten der Figuren ist mir zwar plausibel, hat mich aber, ohne dass ich sagen könnte, warum, nicht wirklich tangiert. Auch die zeitgeschichtlichen und biografischen Hintergründe fand ich interessant, aber gleichzeitig habe ich mich immer nach einem Erzählziel gefragt. Lediglich das Ende hat bei mir einen traurigen und melancholischen Nachhall erzeugt. Die Hauptfigur, Lesley, hat sich eingerichtet in ihrem Leben und bestimmt kein bedauernswertes Leben geführt, aber zugleich doch vieles vermissen bzw. aufgeben müssen, das sich nicht wieder- oder nachholen ließe. Sie jammert nie, was sie bewunderungswürdig macht, aber das Gefühl, dass etwas fehlt, bleibt.

Bewertung vom 10.05.2025
Hofmann, Madeleine

Trost


weniger gut

Falsche Wahl
Ich hatte etwas anderes erwartet, als ich das Buch „Trost“ von Madeleine Hofman las, nicht in erster Linie ihre Geschichte als Krebspatientin, die sie veranlasste Trost an den unterschiedlichsten Stellen im Hier und Jetzt zu suchen. Ich hatte mir eher auch eine Auseinandersetzung mit der langen Geschichte der Trostliteratur in Religion und Philosophie erhofft, die neu belebt wird für die Gegenwart. Doch stattdessen sind die Quellen für Trost hier für mich häufig zweifelhaft: Sitcoms, Biografien von krisengeplagten Stars, aber auch Künstler:Innen oder Wissenschaflter:Innen, die Lifestyle-Trends nachspüren oder -forschen: Achtsamkeit, Selbstfürsorge, Waldbaden und die immer gleich gehörten Modewörter.
Die Erkenntnis ist dementsprechend schlicht: Trost ist individuell, ist überall und nirgends zu finden, in Worten, in der Musik, in der Gesellschaft, in der Einsamkeit, in der Fiktion, in der Realität. Er ist nicht konstant – wie sollte er auch, da Leben nicht konstant verlaufen – sondern muss immer neu gesucht werden.
So sei es, aber fast ärgerlich finde ich, dass unter den meisten dieser life-stylischen Trostansätze, die in dem Buch bunt durcheinandergewürfelt und redundant angeführt werden, da das Buch keine Systematik des Trostes bietet, sondern durch die „Systematik der Krankheit“ der Autorin strukturiert ist, die wirklich erschütternden Ereignisse wie Tod als Resultat einer Krankheit, Kinderlosigkeit als Konsequenz einer medizinischen Behandlung, Verlust von Beruf, Zukunftsperspektive, Angehörigen, Heimat usw.usf. irgendwie verschütt gehen. Und dass die Trostansätze sehr häufig auf einer privilegierten Lebensweise beruhen, die es ermöglicht, Tage auf dem Sofa vor den 10 Staffeln „Friends“ zu verbringen, nach Italien zu reisen, auf Sizilien Kochkurse zu besuchen, zweimal im Jahr ans Meer zu verreisen, eine Ausbildung via online-Tutorial zu Waldbademeisterin zu machen. Die Autorin hat Schlimmes erlebt und durchlitten und mir selbst ist mein Empfinden beim Lesen dieses Buches unangenehm. Das beschriebene Leid im Buch hat meine volle Sympathie, aber die Trostlösungen, die hier angeboten werden, finde ich ob der vielen Leidgeschichten in der Welt bisweilen etwas seicht und selbstbezogen. Für mich verdeutlicht dies besonders folgende Passage aus dem Buch: Die Autorin zitiert aus dem Buch der Reporterin Ronja Wurmb-Seibel, die auch aus Afghanistan berichtete. Über das Schicksal des Landes durch die Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 empfindet sie große Trauer und „bedankt sich für die Unterstützung, die sie in dieser Zeit aus ihrem Umfeld erfahren hat“ (Anmerkung: Sie befand sich zu dieser Zeit nicht mehr vor Ort.): „zuhören, im Arm halten, zusammen weinen, ans Meer wandern, […] Tee bringen, Essen kochen, Tränen trocknen, Musik aufdrehen.“ Ist die Frage zynisch, ob dies insbesondere den Frauen in Afghanistan auch als Trost gereicht hätte?
Hat sich der Mensch heute so sehr von seinem Menschsein entfremdet, dass er eine wissenschaftliche Theorie des „Waldbadens“ braucht, um die wohltuende Wirkung eines einfachen Spaziergangs zwischen Bäumen zu begreifen, einen Studiengang, der ihm in medizinischen und seelsorgerlichen Berufen beibringt, wie Zuhören geht, dass ich bei einem Gespräch mit einem Krebskranken, der mir sein Leid klagt, nicht an meine unbeantworteten Emails oder den Einkaufszettel fürs Abendbrot denke? Wenn dem so ist, dann brauchen wir folglich das vorliegende Buch und können getrost die Lektüre von Seneca, Boethius und Co. für Fortgeschrittene in den verstaubten Bücherschränken lassen.

Bewertung vom 05.05.2025
Bonacina, Anna

Erdbeersommer mit Aussicht


sehr gut

Wie ein süßes Stück Erdbeerkuchen im Sommer
Der Roman macht gute Laune und viel Vergnügen. Er liest sich leicht und beschwingt. Er ist eher witzig als romantisch, wenn er zu romantisch wird, ist eher dann doch eher etwas kitschig. Aber der Humor siegt.
Priscilla ist eine von der Liebe enttäuschte Liebesromanautorin, die versucht, mit dem Aufenthalt in dem idyllischen Dörfchen Tigliobianco ihrer Schreibblockade zu entkommen. Cesare Burello ist erfolgreicher, gutaussehender und charmanter Arzt, der versucht, mit dem Besuch in seinem Heimatort Tigliobianco den liebestollen Venezianerinnen zu entkommen. Beide finden dort nicht gerade die Ruhe und Abgeschiedenheit, die sie suchen, sondern etwas für sie völlig Unerwartetes. Und das alte Rezept einer legendären Erdbeertorte.
Mit viel Witz, Charme und einer Prise liebevoller Ironie kreiert die Autorin ihre Figurenwelt von Tigliobianco, die dem Dörfchen seinen wundervollen Reiz verleihen und für viel Furore in dem Örtchen sorgen. Man schließt die meisten von ihnen sofort in sein Herz und empfindet allein beim Lesen den Zauber des italienischen Lebens auf dem Land. Die Lektüre versetzt einen direkt in Urlaubsstimmung und lässt den Leser für ein paar Stunden in gute Laune. Damit ist es ein wirksames Mittel gegen Alltagsstress und -sorgen, gegen Liebes- und Kummer aller Art, auch wenn man dafür in Kauf nehmen muss, dass der Autorin doch hie und da die Gefühle ein bisschen durchgegangen sind. Ein Roman über die Liebe geht eben doch nicht ganz ohne Herz-Schmerz.

Bewertung vom 04.05.2025
Siehl, Harald

Die innere Ordnung


sehr gut

Zwischen Interessant und Merkwürdig
Vera ist im Nachkriegsdeutschland der 50er Jahre alleinerziehend und muss sich und ihren Sohn mit zwei Jobs über Wasser halten. Der Mann ist im Krieg geblieben. Da lernt sie den Verwaltungsbeamten Eberhard kennen. Ihn umgibt eine gewisse Anziehungskraft, aber auch eine Ahnung von einer dunklen Vergangenheit während des Kriegseinsatzes unter den Nazis. Auch sein Interesse an Vera ist gleich geweckt. Die Heirat erfolgt schnell, genauso der soziale Aufstieg, der den Luxus von Eigenheim, Auto, Gymnasium und Studium für den Sohn, Urlaub in Italien usw. mit sich bringt. Aber über allem schwebt die Angst vor der Enthüllung eines dunklen Geheimnisses aus der Vergangenheit. Nicht nur öffentlich, sondern auch für sich selbst fürchtet Vera die Aufdeckung von etwas, das sie ahnt, aber nicht recht greifen kann. Und zugleich ist da das Gefühl einer Art Mitschuld, weil sie selbst in Akzeptanz dieser dunklen Vergangenheit nun ein besseres Leben führt. So will sie lieber nicht wissen, die Augen geschlossen und an ihrem gut situierten Leben festhalten.
Damit beschreibt der Autor des Romans „Die innere Ordnung“ durchaus treffend die Situation in vielen Familien, die die Schuld der Vergangenheit verdrängen zugunsten des guten Leben im Jetzt und Hier. Er offenbart dem Leser die Gefühlslage der Protagonistin durchaus nachvollziehbar, wenn auch bisweilen etwas befremdlich. Das Interessante an der Machart des Romans ist die Perspektive, die ausschließlich die Sicht- und Fühlweise Veras bietet. So bleibt Eberhard für den Leser genauso undurchsichtig und sein Bild so verschwommen wie auf dem Cover. Sein Geheimnis bleibt bestehen. Aber da auch Vera nicht alle Gefühle zulässt, bleibt auch von ihr nur ein rudimentäres Bild, ein bisschen wie ein Klischée: eine pragmatisch zupackende Frau, die aus den Trümmern eine neue Existenz erstehen lässt und dafür bereit ist, über bestimmte Dinge hinwegzusehen. Dabei geht es nicht um Selbstverwirklichung und Lebensglück, sondern rein um eine gesellschaftlich gesicherte Existenz. Ich glaube, für Leser ist das aus heutiger Sicht schwer nachzuvollziehen. Wenn man die Mentalität der 50er und 60er Jahre nicht kennt, wird man mit dem Lesen so seine Schwierigkeiten haben, dann bleibt alles recht farb- und fühl- und gesichtslos. Und es ist auch schwer auszuhalten, dass das Geheimnis nicht gelüftet wird, damit bleibt am Ende irgendwie ein leerer Nachhall.

Bewertung vom 28.04.2025
Valla, Kristin

Ein Raum zum Schreiben


sehr gut

Ein Zimmer für sich allein - teuer erkauft
Die norwegische Autorin Kristin Valla stellt nach 10 Jahren Familienleben fest, dass sie sich eigentlich nicht mehr wie eine Schriftstellerin fühlt, da sie seitdem kein Buch mehr veröffentlicht hat. Grund dafür scheint auch zu sein, dass sie in ihrem Familienheim keinen Rückzugsort für sich zum Schreiben findet. Gelegentliche Ausweichmanöver in Ferienhäuser oder Hotels bringen ihr nicht den benötigten Freiraum für ihr Schaffen. Also beschließt sie, sich ein Haus zu kaufen. Ausgerechnet in einem abgelegenen Dorf in Frankreich. Ziemlich weit weg. Und ausgerechnet ein ziemlich heruntergekommenes Exemplar. Ziemlich problematisch, da viele Reparaturen anstehen und Schwierigkeiten zu überwinden sind. Während ihres langen Leidensweges zu einem Zimmer – oder eher einem Haus – für sich allein sinniert die Autorin über weibliche Abhängigkeiten und Freiheiten, über das Schreiben und das Einrichten von Häusern. Dabei lässt sie auch immer wieder den Blick schweifen auf das Leben berühmter Schriftstellerinnen vor ihr, in deren Tradition sie sich sieht, wie Toni Morrison, Daphne du Maurier oder Agatha Christie, aber auch eher unbekannteren Autorinnen aus dem Skandinavischen Raum. Mit ihnen teilt sie das Verlangen nach einem Rückzugsort und die Begeisterung für das Neubeleben alter Häuser, mit Hilfe dessen sie auch ihr eigenen Leben neu zu sehen beginnt.
Das Buch ist insgesamt sehr interessant. Die Leute, die Valla während ihrer Aufenthalte in Frankreich kennenlernt, aber keine schriftstellerischen Ambitionen haben, weisen dennoch interessante Lebensläufe auf, die zumindest etwas mit Häusern zu tun haben. Besonders fesselnd jedoch sind für mich die Einblicke in das Leben der verschiedenen Schriftstellerinnen, die auf der einen Seite sehr unterschiedliche Existenzen führten, unter anderem auch durch ihre soziale Herkunft. Diese eint aber die Berufung zum Schreiben und der Faible für Häuser, wie ich es einmal bezeichnen möchte, da es bei allen nicht nur um einen Raum geht, in dem man ungestört arbeiten kann, sondern auch um die Ausgestaltung dieser Häuser. So bleibt es meist auch nicht bei einem Haus, wie im Fall Agatha Christies, die gleich acht davon ihr eigen nennt. Da gibt es völlige Ruinen, die in langjähriger Arbeit von Grund auf zu erneuern sind, oder ungewöhnliche Orte, wie eingemauert Zellen oder Türme, in die man sich zurückziehen kann. Da gibt es existentielle Nöte, weil eigentlich das Geld nicht reicht für das eigene Zuhause oder weil sich Bauvorhaben als komplexer erweisen, als gedacht. Aber immer vermitteln diese Lebensentwürfe den Willen, sich die Freiheit zu verschaffen, dem eigenen Lebensentwurf – und wenn nur temporär – folgen zu können. Wir lesen von ungemein willensstarken Frauen mit unkonventionellen Lebensverläufen, die ungemein inspirierend sind.
Dagegen wirkt die Geschichte der Autorin selbst auf mich bisweilen ein wenig ermüdend weinerlich und überreflektiert um sich selber kreisend. Sie kauft ein Haus, um darin zu schreiben, um dann doch nicht darin zu schreiben, sondern es mit allen möglichen Türklinken, Wasserhähnen, blauen Badewannen usw. auszustatten, um dann, davon inspiriert, letztlich wieder zu Hause zu schreiben. Die Familie, der Mann und die beiden Söhne, müssen sich mit dem Selbstverwirklichungstrip der Frau bzw. Mutter irgendwie arrangieren. Das wirkt alles sehr mühsam, angestrengt und teuer erkauft.

Bewertung vom 26.04.2025
Kreienbrink, Matthias

Scham


ausgezeichnet

Aufschlussreich
Eigentlich kennt man das Gefühl sich zu schämen nur zu gut. Man weiß, wie es sich anfühlt, man weiß, welche Situationen es auslösen können. Und zwar so genau, dass es einen selbst bis in Träume hinein verfolgen oder es beim Denken an bestimmte Situationen antizipieren kann. Vieles davon findet sich auch in der Monographie gleichlautenden Titels von Matthias Kreienbrink. In vielen beschriebenen Situationen kann man sich also gut wiederfinden. Trotzdem bringt der Autor viel Neues und Aufschlussreiches in seiner logisch aufgebauten Darstellung. Er beginnt mit einer ersten Annäherung an das Thema und verfolgt es dann durch unser gesamten Leben von der Geburt bis in den Tod. Dabei zeigt er Konstanten, aber auch Veränderungen in der Gefühlswelt des Schämens auf, die unter anderen durch die neuen Medien bedingt sind. Seine Quellenlage reicht von Schriften aus dem Mittelalter bis hin zum vor nicht allzu langer Zeit erschienen Buch Rushdies über das Messerattentat auf ihn. Dabei überrascht er den Leser immer wieder, in welchen Zusammenhängen das Thema zu finden ist. Nicht nur das breit aufgestellte Spektrum an Blickwinkeln auf das Gefühl der Scham machen die Lektüre so reizvoll und lohnenswert, sondern auch die keinesfalls störende subjektive Herangehensweise und die Vielzahl an illustrierenden Beispielen, die einen großen Gewinn darstellen. Es ist ein Buch, das einlädt, sich mit seinen eigenen Schamgefühlen auseinanderzusetzen, aber vor allem auch nachdenklich macht darüber, wie das Beschämen anderer zum nicht tollerierbaren Machtinstrument werden kann. Der Autor zeigt die Notwendigkeit der Scham als gesellschaftskonstituierendes Element auf und gewinnt ihr neben der kritischen Auseinandersetzung mit ihren negativen Aspekten somit auch positive Seiten ab. Insgesamt hat das Buch einen ermutigenden Charakter, die eigene Würde und die der anderen zu respektieren, für die man sich keinesfalls zu schämen hat.

Bewertung vom 16.04.2025
Andrea, Jean-Baptiste

Was ich von ihr weiß


gut

Die letzte Seite bringt die Lösung.
Mimo und Viola sind zwei ungewöhnliche, unkonventionelle Figuren, die sich in Andreas Roman „Was ich von ihr weiß“ schicksalhaft begegnen. Mimo ist kleinwüchsig und wird nach dem Tod seines Vaters, eines Bildhauers, von der Mutter zurück nach Italien zu einem Onkel geschickt, der ihn als Gehilfen in seiner Bildhauerwerkstatt ausbeutet. Nicht nur gegen seine Körpergröße auch gegen die Missachtung seines Onkels und die Widrigkeiten des Schicksals muss Mimo sein Bildhauertalent behaupten. Dabei unterstützt ihn Viola, Tochter aus guten Hause, aber eben ein junges Mädchen mit zu viel Verstand, das zu viele Bücher liest und auch noch versteht. So hat sie bald den Traum vom Fliegen, soll aber doch einfach nur im Interesse ihrer Familie an eine vielversprechende Partie verheiratet werden. Beide müssen gegen die Konventionen und die Vorurteile ankämpfen. Dabei geben sie sich gegenseitig Stärke, verraten sich aber auch. Ihre Wege trennen und begegnen sich immer wieder vor der schicksalhaften Kulisse eines Italiens während zweier Weltkriege und dem dazwischen liegenden Aufstieg des Faschismus.
Ich fand das Buch unheimlich mühsam zu lesen. Verschiedenste, zum Teil skurrile Episoden reihten sich aneinander, ohne das ich lange wusste, wohin das Ganze führen sollte. Spannungsaufbauendes Element waren lediglich die immer wieder eingestreuten Kurzkapitel aus einer Erzählgegenwart, in der der Protagonist Mimo in einer Zelle eines Kloster am Ende seines Lebens auf den Tod wartet, in eben dem Kloster, in dem eine seiner Schöpfungen, eine Piéta, aufgrund ihrer unerklärlichen Wirkung als gefährlich eingestuft, verborgen gehalten wird.
Auch zu den Figuren habe ich keinen Zugang gefunden. Entweder waren sie sehr typenhaft, wie der einfach strukturierte ältere Bruder von Viola, der opportunistisch auf den Aufstieg der Faschisten setzt, oder der Dorfirre Emmanuele, der in seiner Art sehr liebenswürdig wirkt, oder der unempathisch und unsympatische Ehemann von Viola. Oder die Figuren sind so merkwürdig wie die Gestalten eines Gruselkabinetts, der unheimliche Zirkusdirektor, der Mimo gleich zu Anfang übers Ohr haut, oder Mimo selber, der die Hälfte des Buches in einem Alkoholrausch zubringt, indem er Vergessen oder Selbstbestrafung zu suchen scheint. Auch Viola, hier muss man leider den Eindruck ihres Mannes teilen, wirkt nicht gerade zurechnungsfähig in ihrem Kontakt mit einer ausgewachsenen Bärin, ihrer Flugversuch oder der Mordattacke auf ihren Mann. Es gibt ja durchaus Frauen in ihrer Zeit, die sich von ihrer Familie zu emanzipieren wussten. Bei Viola hat man immer den Eindruck, sie warte auf einen Mann, der sie aus den Fesseln der Konventionen befreit. Dabei schenkt sie ihnen zu leicht ihren Glauben und muss sich dann verraten fühlen, wenn ihre Ausflüge in die große Freiheit schon am nächsten Bahnhof wieder enden. Die für mich interessanteste Figur ist noch die des jüngsten Bruders von Viola, hinter dessen stiller Freundlichkeit sich viel verbirgt, was sich im Laufe des Romans entfalten kann.
So musste ich mich recht durch den Roman mühen, auch wenn ich die Passagen über die Entwicklung des Faschismus in Italien durchaus interessant fand. Da kann auch die verblüffende Auflösung am Ende, die sinnstiftend auf die ganze Romanhandlung wirkt, nicht so ganz entschädigen. Eventuell liegt auch hier die Erklärung für den Romantitel. Doch eigentlich weiß man von ihr, wenn hier mit Viola gemeint sein soll, recht wenig, weil sie, abgesehen vom Anfang, eigentlich eher einen Nebenfigurencharakter hat, auch wenn sie das Denken und Trachten des Protagonisten nachhaltig bestimmt, aber sehr häufig eben auch nur in jenem vorkommt.
Meinem Geschmack entspricht das Buch also nicht so ganz.