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SimoneF

Bewertungen

Insgesamt 496 Bewertungen
Bewertung vom 16.07.2024
Der frühe Vogel / Rosa Fink Bd.4
Sanne, Manuela

Der frühe Vogel / Rosa Fink Bd.4


ausgezeichnet

Sebi und Rosa haben sich inzwischen in Dangast gut eingelebt und führen ihre Pension am Jadebusen mit viel Engagement und Herzblut. Anfang April geht die ruhige Wintersaison langsam zu Ende, und nicht nur Küchenchef Sebi, dessen Kochleidenschaft durch die Grünkohlsaison auf eine harte Probe gestellt wird, freut sich auf den Frühling. Die beschauliche Osterruhe wird jedoch jäh gestört, als Alt-Hippie Heidrun Paulsen eines Morgens tot vor ihrem Wohnhaus in Varel liegt. Täglich war sie in aller Frühe aufgebrochen, um in Supermärkten und Pensionen übrig gebliebene Lebensmittel einzusammeln und dann im Rahmen eines Food-Sharing-Projektes zu verteilen. Dass der „frühe Vogel“ morgens gerne einen zwitscherte und mit einem obligatorischen Prosecco als Muntermacher in den Tag startete, war allseits bekannt. Hatte Heidrun also einen tragischen Unfall, begünstigt durch Alkoholeinfluss? Oder steckte hinter ihrer Behauptung, dass ihr jemand nach dem Leben trachte, doch mehr? Die Polizei hatte den Anzeigen der exzentrischen Rentnerin bisher wenig Glauben geschenkt. Heidruns Großnichte Joline, Rosas punkige studentische Aushilfe in der Pension, ist verzweifelt. Klar, dass Rosa sich nicht lange bitten lässt, und auf eigene Faust Ermittlungen anstellt.

„Der frühe Vogel“ ist bereits der 4. Band der Reihe um Rosa Fink, und er lässt sich auch unabhängig von den Vorgängerbänden lesen, da alle wichtigen Personen eingeführt und auch zurückliegende Ereignisse wie beiläufig eingeflochten werden . Dennoch empfehle ich, mit Band 1 zu starten. Da viele Personen über mehrere Teile hinweg immer wieder auftauchen und sich weiterentwickeln, macht dieser horizontale Anteil auch den besonderen Charme der Reihe aus.

Ich freue mich jedes Mal, wenn ein neuer Fall für Sebi und Rosa ansteht, da mir im Laufe der Reihe die liebenswert-skurrilen Figuren richtig ans Herz gewachsen sind und sich jeder Band wie ein Wiedersehen mit guten alten Bekannten anfühlt. Und wenn dann wie immer Juliane Hempel das Hörbuch einspricht, steht meinem Krimi-Vergnügen nichts mehr im Wege! Ich mag ihre angenehme Stimme sehr, mit der sie jeder Figur eine eigene Note verleiht. Und ganz besonders freue ich mich immer auf die eingestreuten Worte im nordischen Dialekt und natürlich Wiebke, das Dangaster Original, die auch in diesem Band glücklicherweise einen Auftritt bekommt.

Ich habe wieder bis zum Schluss gespannt mitgerätselt, hatte verschiedene Leute unter Verdacht und war doch lange auf dem Holzweg. Das Hörbuch verging wie im Flug, und ich hatte viel Vergnügen an der unterhaltsamen Geschichte, die mich auch immer wieder zum Schmunzeln brachte.

Wer Lust auf einen gemütlichen, kurzweiligen und abwechslungsreichen Krimi mit nordischem Flair und eigenwilligen, aber authentischen Charakteren hat, dem kann ich die Rosa-Fink-Reihe nur ans Herz legen! Auch als Urlaubslektüre am Strand oder als Hörbuch für die Autofahrt perfekt geeignet! In diesem Sinne: Na denn man tau!

Bewertung vom 10.07.2024
Mütter, die gehen
Gómez Urzaiz, Begoña

Mütter, die gehen


sehr gut

Die Geschichte ist voll von Vätern, die gehen und ihre Kinder zurücklassen. Doch was ist mit Müttern, die gehen? Welche Gründe können dahinterstecken, dass eine Mutter ihr Kind verlässt, und welche gesellschaftlichen Reaktionen ruft dies hervor? Anhand historischer Frauen wie Maria Montessori, Doris Lessing oder Ingrid Bergman zeigt Begoña Gómez Urzaiz unterschiedliche Lebenswege und Beweggründe für das Zurücklassen von Kindern nach. In Theater und Film liefern Ibsens „Nora“ sowie zahlreiche Filmrollen etwa von Meryl Streep ein interessantes Bild. Den Abschluss bildet ein Kapitel, in dem Frauen zu Wort kommen, die aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat und Familien zurücklassen mussten, um im Ausland für den Familienunterhalt zu sorgen. Ihre Recherchen bettet die Autorin in allgemeine Überlegungen zur Rolle der Frau und Mutterschaft ein. Auch die allgegenwärtige Schuld, mit der Mütter bereits ab der Schwangerschaft und über die gesamte Mutterschaft hinweg konfrontiert werden, wird thematisiert.
Der Schreibstil ist sehr angenehm zu lesen, und Begoña Gómez Urzaiz wertet nicht, sondern beobachtet, ergänzt durch eigene Gedanken, Erfahrungen und Wahrnehmungen als Mutter. Ein sehr interessantes, differenziertes und zum Nachdenken anregendes Buch!

Bewertung vom 10.07.2024
Elektrizität und Himmelsfische
Bulbenko, Andrej;Kajdanowskaja, Marta

Elektrizität und Himmelsfische


ausgezeichnet

Bereits das Autorenduo bildet ein ungewöhnliches und vielversprechendes Gespann - ein ukrainischer Schriftsteller und eine 15-jährige Schülerin, die beide unter Pseudonym schreiben und die eine Fluchterfahrung eint.

Die 14-jährige Marzia muss eines Tages Hals über Kopf mit ihren Eltern, Großeltern und der jüngeren Schwester ihr Zuhause verlassen und fliehen, da ihre Stadt unter Raketenbeschuss gerät. Zu sechst sitzen sie nun zwischen eilig zusammengepackten Taschen im Auto, am Steuer der Opa, der als einziger einen Führerschein hat, und versuchen zur Grenze zu gelangen. Nach mehreren Tagen erreichen sie ein Motel in Grenznähe. Dort lernt Marzia den Schriftsteller Andrej kennen und übergibt ihm am Tag ihrer Abfahrt einen Umschlag mit ihren Tagebuchaufzeichnungen über die Flucht, mit der Bitte, diese erst zu lesen, wenn sie sich binnen einer Woche nicht bei ihm gemeldet hat. Die Woche vergeht, Marzia meldet sich nicht, und Andrej öffnet dem Umschlag…

Marzias Heimatland wird nie explizit erwähnt, doch es ist offensichtlich, dass es sich hier um die Ukraine handelt. Ein Hinweis ist auch der plötzliche Raketenbeschuss im Februar, der Monat, in dem 2022 der Angriff auf die Ukraine stattfand. Im Buch wird als Ortsangabe lediglich mehrfach der Ruppigon erwähnt, der unter Beschuss steht und überquert werden muss. Da ich das Wort nirgends finden konnte, nehme ich an, dann dieses fiktiv ist und hiermit eine Grenzregion gemeint ist. Die phonetische Nähe zum antiken „Rubikon“ ist sicher kein Zufall.

Marzia hält in ihren Aufzeichnungen ihre Eindrücke, Erlebnisse und Gedanken während der Flucht im Auto fest. Schnelle Gedankensprünge, kuriose Beobachtungen und Diskussionen im Auto zwischen den Familienmitgliedern wechseln sich hierbei ab. Die Bedrohung durch Beschuss, Bomben, die Willkür von Kontrollposten, die prekären Verhältnisse in den Nachtlagern werden wie beiläufig erzählt, neben scheinbar alltäglichem Geplänkel im Auto und skurrilen Begegnungen am Straßenrand während der Stauphasen. Gerade diese Gegensätze - der lebensbedrohliche Ausnahmezustand und die normale Familiendynamik, wie sie auf jeder Urlaubsfahrt auftreten könnte (die um Zugluft besorgte Oma, der schwerhörige Opa mit dürftigem Orientierungssinn, Diskussionen über die Route, Kabbeleien unter Geschwistern), haben mich beim Lesen nicht mehr losgelassen. Das ist einfach grandios umgesetzt. Hinzu kommt Marzias unvergleichlicher Ton: eine eloquente Jugendliche, intelligent beobachtend, mit staubtrockenem Humor. Allein die Szene mit der Hochzeitsgesellschaft am Seitenstreifen ist großartig beschrieben: Unglaublich komisch und zugleich so traurig, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt.

Während der Autofahrt und ihren Gesprächen mit Andrej im Motel spürt man anhand Marzias Gedanken den Ernst der Lage: Was bleibt von einem Menschen nach seinem Tod? Welche Spuren hinterlässt er bei seinem Mitmenschen und was verschwindet im Vergessen? Und ihre Überlegungen zum (im russischen Sprachraum) bekannten Märchen „Ludwig der Vierzehnte und Tutta Karlsson“ von Jan Ekholm bilden eine scharfsinnige Parabel auf den Ukrainekonflikt.

Mich hat dieses Buch nachhaltig berührt und beeindruckt. Es ist stilistisch außergewöhnlich umgesetzt und bietet viele Möglichkeiten zur Interpretation und Diskussion. Ich könnte mir den Roman auch hervorragend als Klassenlektüre ab der 9. Jahrgangsstufe vorstellen. Unbedingt lesen!

Bewertung vom 10.07.2024
Co-Fucking
Weiss, Anna

Co-Fucking


sehr gut

Die Autorin Anna ist seit 20 Jahren mit ihrem Mann Alex zusammen, beide lebten bisher in einer monogamen Beziehung. Doch Alex ist bisexuell und möchte beide Seiten ausleben. Nach langen und intensiven Gesprächen entschließen sich beide, ihre Ehe zu öffnen.

Anna schreibt sehr offen über den Prozess der Öffnung, ihre Erlebnisse und die Chancen und Risiken, die dieser Schritt sowohl für Anna und Alex als Einzelpersonen als auch beide als Paar mit sich bringt. Ein Kapitel ist zudem aus der Sicht von Alex verfasst. Die Beschreibungen der außerehelichen sexuellen Erfahrungen sind teilweise sehr detailliert. Dass die Autorin hier unter ihrem Klarnamen schreibt (mit Foto auf der Buchrückseite), hat mich angesichts dessen doch sehr erstaunt. Für Paare, die eine offene Ehe erwägen, sind Annas ehrliche Schilderungen sicherlich sehr hilfreich und können dabei helfen, Missverständnisse und Fehler zu vermeiden.

Für mich selbst käme eine offene Beziehung niemals infrage, ich habe nicht das geringste Interesse daran. Dennoch habe ich dieses Buch gelesen, um über meinen Tellerrand zu blicken und einmal eine andere Perspektive kennenzulernen. An einigen Stellen kann man auch als monogam Lebende/r wichtige Impulse gerade für langjährige Beziehungen aus dem Buch mitnehmen, insbesondere was Kommunikation in der Partnerschaft, Selbstwahrnehmung und Wahrnehmung des Partners und Eigenständigkeit innerhalb der Beziehung angeht.

Ein großer Kritikpunkt, der mir hier und bei vielen Verfechter/innen alternativer Beziehungs- und Lebensformen immer wieder auffällt ist, dass sie ihre Lebensweise über konservative monogame Partnerschaften stellen und als fortschrittlicher und generell besser propagieren. Auch die im Buch anklingende These, dass der Großteil der Menschen nicht heterosexuell veranlagt sei, und dies aufgrund moralischer und gesellschaftlicher Zwänge nur nicht erkenne, ist für mich nicht haltbar. Blasphemisch wird die Autorin, wenn sie über die Art der Beziehung zwischen Jesus und seinen zwölf Jüngern sinniert. Auch als wenig religiösem Menschen geht mir das deutlich zu weit. Wer eine offene und/oder polyamore Beziehung leben möchte, soll dies gerne tun, solange alle Beteiligten einverstanden sind. Das Herabsehen auf heterosexuelle monogame Partnerschaften ist jedoch nicht angebracht und auch eine Form von Intoleranz.

Bewertung vom 10.07.2024
Heim schwimmen
Levy, Deborah

Heim schwimmen


gut

Ich habe mich sehr schwergetan, in dieses Buch hineinzufinden. Der Schreibstil ist zwar angenehm zu lesen, doch zu den Figuren fand ich leider überhaupt keinen Zugang. Da ist ein erfolgreicher, aber tieftrauriger und Dichter, eine sehr skurille, stets nackt herumlaufende und magersüchtige Botanikern, die Gedichte schreibt, ein merkwürdiger kiffender Hippie-Hausmeister, ein notorisch schlecht gelaunter Waffennarr, und weitere ähnlich merkwürdige Charaktere, die mir allesamt fremd blieben. Dies führte leider dazu, dass ich mit keiner Figur mitfühlen konnte und mich die Handlung nicht berührte.
Die Stimmung ist durchwegs angespannt, es hängt Unheil in der Luft. Die scheinbare Urlaubsidylle ist ein Trugbild. Da dies jedoch bereits auf den ersten Seiten überdeutlich spürbar ist und das sich anbahnende Unglück offensichtlich ist, fehlt mir das Überraschende. Wasser, Regen, ein Swimmingpool, Blut - alles ist überdeutlich mit einer doppelten Bedeutung aufgeladen.
Da er seinerzeit auf der Shortlist für den Man Booker Prize 2012 stand, hatte ich große Erwartungen an den Roman. Leider haben sich diese nicht erfüllt.

Bewertung vom 10.07.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


gut

In einem Podcast hatte ich eher zufällig von der englischen Original-Ausgabe gehört. Da ich ein Faible für Dystopien habe, war ich neugierig, und auch die Auszeichnung mit dem Booker Prize 2023 hat meine Erwartungen entsprechend hoch gesteckt.
Nach der Lektüre bleibe ich nun mit gemischten Gefühlen zurück.
Die Thematik ist hochaktuell, extreme Parteien gewinnen an Zulauf und das kostbare Gut der Demokratie und der freiheitlichen Grundrechte ist auch in Europa in Gefahr. Paul Lynchs in Irland angesiedelter Roman wirkt daher erschreckend realistisch.
Zentrale Figur ist die Mittvierzigerin Eilish, promovierte Mikrobiologin, Ehefrau des Lehrers und Gewerkschaftsführers Larry und Mutter von Ben (ca. 1), Bailey (12), Molly (14) und Mark (16). In Irland wurden aufgrund nicht näher bezeichneter politischer Umstände die Grundrechte per Notverordnung eingeschränkt und die Gewerkschaften vom neu installierten Geheimdienst massiv unter Druck gesetzt. Nach einer gewerkschaftlich organisierten Demonstration kehrt Larry eines Tages nicht mehr nach Hause zurück. Eilish sieht sich mit der Ungewissheit um ihren Mann und die Sicherheit ihrer Kinder konfrontiert, hinzu kommt die Sorge um ihren demenzkranken Vater. Die Lage spitzt sich zu, die Medien werden gleichgeschaltet, Posten in der Wirtschaft, dem öffentlichen Dienst und im Bildungswesen regimetreu besetzt, es kommt zu Ausschreitungen zwischen dem Militär und Rebellengruppen. In einer Welt, in der plötzlich alles auseinanderbricht, versucht Eilish verzweifelt, ihre Familie zusammenzuhalten.
Paul Lynch legt den Fokus klar auf Eilish und ihre Emotionen und Gedanken. Die politischen und ideologischen Hintergründe bleiben im Dunkeln, auch die gesellschaftlichen Umbrüche, die internationalen Reaktionen, Taktik und Formierung der Rebellengruppen, die Möglichkeiten der Überwachung bleiben vage. Hierdurch wirkt der Roman einerseits universell, andererseits auch etwas beliebig. Ich hätte mir hier an manchen Stellen eine etwas stärkere Ausgestaltung gewünscht.
Sehr anschaulich zeigt Lynch hingegen, wie schwer es für die Menschen ist, ihre gewohnte Umgebung und ihr bisheriges Leben samt sozialen Zusammenhängen, Beruf und Haus zurückzulassen. Von außen betrachtet fällt es oft leicht, zur Flucht zu drängen, doch für die Betroffenen selbst ist die Entscheidung unsagbar schwierig und wird lange, manchmal zu lange hinausgezögert. In diesem Zusammenhang ist mir ein Satz im Buch ganz besonders im Gedächtnis geblieben, gesprochen von Eilishs Schwester in Kanada: „Die Geschichte ist eine stumme Liste derer, die nicht wussten, wann sie gehen müssen.“
Etwas befremdlich fand ich Paul Lynchs Schreibstil, und es gelang mir bis zum Schluss nicht, damit wirklich warm zu werden. Er verzichtet komplett auf Abschnitte/Absätze und in der direkten Rede auf Anführungszeichen. Dies soll wohl ein gewisses Tempo erzeugen, bewirkte bei mir jedoch das Gegenteil. Viele Passagen musste ich mehrfach lesen, um in Dialogen die Textanteile den jeweiligen Sprecher/innen korrekt zuzuordnen. Durch die fehlenden Absätze findet man sich zudem immer wieder unvermittelt in einer neuen Situation wieder, die man erst einmal zeitlich und räumlich einordnen muss.
Lynch nutzt teils ungewöhnliche Sprachbilder ( „(…) und ist die Lüge erst erkannt, bleibt sie aus dem Mund gewachsen wie eine tot züngelnde Giftblume.“) und verknüpft Motive aus der Natur mit Eilishs Empfinden: „Sie hört einen langen, seufzenden Atemzug, dann statische Stille gleich einem Regendunkel, das fühlbar ist, ein Regen, der aus dem Dunkel fällt und sie alle wäscht, der dunkle Regen, der in den Mund ihres Sohnes fällt.“ Hier muss ich gestehen, dass mir der Sprachstil nicht entgegen kam. Wollte Lynch hierdurch Eilishs Denken und Fühlen besonders intensiv und nachdrücklich beschreiben, so erreichte es bei mir leider nicht den gewünschten Effekt. Ich empfand die Bilder als konstruiert und künstlich und blieb daher emotional eher auf Distanz zu Eilish. An manchen Stellen wirkte das Buch auch grammatikalisch nicht stimmig oder sprachlich schief: „Der Geldautomat am Ende der Straße zeigt auf dem Display einen Briefkasten aus geborstenem Licht, ein Schild im Fenster des Lädchens mit Edding sagt:“
Die Geschichte wird anfangs sehr detailliert erzählt und nimmt nur allmählich Fahrt auf, gewinnt im letzten Drittel an Dynamik, um dann, wenn es wirklich packend wird, Einzelheiten zu überspringen und relativ abrupt zu enden. An einigen Stellen erschien mir die Handlung in sich unrund, etwa wenn der Autor unbedingt Parallelen zu Geflüchteten in Schlauchbooten ziehen möchte, die hier doch etwas aufgesetzt wirken.
Insgesamt bin ich hin- und hergerissen, wie ich „Das Lied des Propheten“ einordnen soll. Ich möchte dieses Buch so gerne mögen, und hadere doch mit dem gekünstelt-poetischen Sprachstil und manchen Unstimmigkeiten. Leider erreicht es für mich weder die sprachliche und konzeptionelle Wucht noch die enorme Weitsicht von Dystopie-Klassikern wie „1984“.

Bewertung vom 05.07.2024
Hat irgendjemand Oscar gesehen?
Connor, Leslie

Hat irgendjemand Oscar gesehen?


gut

Aurora und Oscar sind auf den ersten Blick ziemlich unterschiedlich, und dennoch sind beide beste Freunde. Während Aurora impulsiv und energiegeladen ist, laut und viel redet, spricht Oscar nicht, ist sehr zurückgezogen und lebt in seiner eigenen Welt. Beide gehen in eine Klasse, und Aurora kümmert sich rührend und sehr fürsorglich um Oscar. Im neuen Schuljahr jedoch kommen beide in unterschiedliche 6. Klassen, und eines Tages ist Oscar plötzlich verschwunden. Der ganze Ort sucht fieberhaft nach ihm, allen voran Aurora.
Im Buch wird das nicht explizit erwähnt, aber es ist anzunehmen, dass Aurora ADHS hat und Oscar eine Form von Autismus. Die Idee, neurodiverse Protagonist/innen in den Mittelpunkt zu stellen, hat mir sehr gut gefallen. Auroras Charakterisierung finde ich sehr gelungen. Da ein wesentlicher Teil des Buches aus ihrer Perspektive erzählt wird, konnten mein Sohn und ich uns gut in sie hineinversetzen, und sie war uns auf Anhieb sympathisch. Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck, ist fürsorglich und offen. Etwas schade fanden wir, dass Oscar im Buch ein wenig kurz kommt, insbesondere auch seine Sicht der Dinge und seine Emotionen. Die Autorin erzählt im Buch aus verschiedenen Blickwinkeln, und es ist ein bisschen verwunderlich, dass ausgerechnet Oscar hier den geringsten Anteil hat. Hierdurch verschenkt das Buch leider etwas an Potential, das autistische Spektrum jungen Leser/innen begreiflich zu machen.
Generell ist die Thematik des Buches für jüngere Kinder, die das Buch alleine lesen und bisher noch keinen Kontakt zu neurodiversen Kindern hatten, nicht ganz einfach zu verstehen, gerade im Bezug auf Oscar. Mein Sohn und ich haben das Buch zusammen gelesen, und ich konnte ihm so vieles erklären. Auch aufgrund der komplexeren Erzählweise mit verschiedenen Rückblenden würde ich das Buch eher für etwas ältere Kinder ab 11 oder 12 Jahren empfehlen oder es entsprechend begleiten.
Etwas unrealistisch fand ich die idealisierte Heile-Welt-Darstellung, in der es quasi keine Konflikte gibt. Aurora eckt mit ihrer Art gelegentlich etwas an, aber im Grunde gibt es keine größeren zwischenmenschlichen Probleme, Oscar ist zwar meist für sich, er wird von den Mitschüler/innen aber auch nicht getriezt. In der Realität wäre das vermutlich leider nicht ganz so schön. Nun kann man das Buch als Beispiel einer Welt ansehen, wie sie sein sollte, in der neurodiverse Kinder ganz selbstverständlich dazugehören. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass Kinder, die selbst betroffen sind, und in ihrem Leben auf weniger verständnisvolle Mitmenschen treffen, ernüchtert sind, wenn ihnen das Buch nur ein Ideal zeigt. Hier hätte es ermutigend wirken können, wenn Konflikte und Lösungsansätze thematisiert worden wären.

Bewertung vom 05.07.2024
Signum / Stormland Bd.2
Lindqvist, John Ajvide

Signum / Stormland Bd.2


ausgezeichnet

Nachdem mich „Refugium“ richtig gefesselt hat, war ich sehr gespannt auf die Fortsetzung. Diese schließt inhaltlich an Teil 1 an, und man sollte diesen im jeden Fall zuerst gelesen haben.

Kim hat inzwischen seinen Peiniger aus der Kindheit gekidnappt, hält ihn in seinem Keller gefangen und foltert ihn, während Julia im rechtsextremen Milieu ermittelt. Hierdurch erhält die Handlung eine weitere, gesellschaftliche und politische Ebene, die gerade leider sehr aktuell ist.

Der Schreibstil ist packend und spannend geschrieben, mit vielen spektakulären Szenen, und ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht. Lindqvist verfolgt mehrere Handlungsstränge parallel, so dass der Thriller sehr abwechslungsreich ist und auch noch viele weitere Ansätze für den dritten Band bietet.
Einige Szenen sind ziemlich brutal geraten, das war für mich stellenweise grenzwertig. Ich hätte die Schilderungen nicht in allen Details gebraucht, das war schon extrem. Faszinierend finde ich nach wie vor die Hauptfiguren Kim und Julia, die mir zwar beide nicht wirklich sympathisch sind, aber sehr interessante Charaktere darstellen. Sie überschreiten allerdings immer wieder die Grenzen der Legalität, was es mir als Leserin schwer macht, sie zu mögen.

Ich bin nun sehr gespannt auf den dritten und letzten Teil!

Bewertung vom 02.07.2024
Freundschaft und Vergeltung
Krausser, Helmut

Freundschaft und Vergeltung


gut

„Freundschaft und Vergeltung“ ist mein erstes Buch von Helmut Krausser, auf das ich nach Daniel Kehlmanns Lobeshymnen über den Autor sehr gespannt war.

Anthony Brewer, ein pensionierter englischer Rechtsanwalt, war 1965 ein 17-jähriger Schüler des englischen Internats Raven Hall. In der Weihnachtszeit verschwanden damals auf mysteriöse Weise vier Menschen. Die Polizei tappte im Dunkeln, die Vermissten tauchten nie wieder auf, und Anthony lässt dies über die Jahre nicht zur Ruhe kommen. Bereits 1985 stellt er erste Nachforschungen an, und nach seiner Pensionierung nimmt er 2016 die Suche wieder auf.

Auch wenn der Plot nach einem Krimi klingt, würde ich das Buch nicht als solchen ansehen, und echte Krimifans werden vermutlich eher enttäuscht sein. Auch wenn zunächst vordergründig die Lösung des Falles im Fokus steht, wird im Laufe des Romans immer mehr deutlich, dass es eigentlich um ganz andere Themen geht – das testosterongeladene Klima an Knabeninternaten, die Kraft der Illusionen, die eigene Lebensbilanz und das Altern geht.

Ich tat mich zunächst schwer, emotionalen Zugang zu der Geschichte zu finden - als zu selbstgefällig und unsympathisch empfand ich die Charaktere, und zu abstoßend das von zu viel Testosteron geprägte Vokabular und die Atmosphäre am Knabeninternat. Insbesondere die zentrale Figur Christan Bradshaw nervt durch ihre sexistische, spätpubertäre und selbstgefällig-großspurige Art massiv. Die Einstellung sowohl der Schüler als der männlichen Lehrkräfte zu sexueller Nötigung gegenüber Frauen ist erschreckend. Das mag 1965, lange vor #MeToo, noch Realität gewesen sein, ist aber dennoch beim Lesen schwer erträglich. Generell würde ich dieses Buch klar als einen „Männerroman“ bezeichnen.

Krausser Schreibstil ist flüssig zu lesen, das Buch ist spannend und wendungsreich geschrieben, strukturell geschickt aufgebaut mit einer Mischung aus Rückblenden, Augenzeugenberichten, Polizeiprotokollen und Anthonys Leben in der Gegenwart. Insbesondere das Spiel mit den Erwartungen und Illusionen hat mir sehr gut gefallen.

Ich lege dieses Buch mit gemischten Gefühlen zur Seite. Zu viele Fragen bleiben für mich unbeantwortet, um zufrieden mit dem Buch abschließen zu können, und eine echte Nähe zu den Figuren konnte ich nicht entwickeln. Der Ich-Erzähler Anthony war für mich nicht griffig genug, um die Auswirkungen der damaligen Ereignisse auf sein späteres Leben konkret nachvollziehbar zu machen, hier bleibt mir das Buch zu vage. Insgesamt hatte ich mir angesichts der Vorschusslorbeeren deutlich mehr erwartet und das Buch wird mir nicht nachhaltig im Gedächtnis bleiben.

Bewertung vom 30.06.2024
VIEWS
Kling, Marc-Uwe

VIEWS


sehr gut

Bisher habe ich von Marc-Uwe Kling nur seine Kinderbücher gelesen und die Känguru-Chroniken als Film gesehen (letzterer war so gar nicht mein Fall), doch die Leseprobe von VIEWS hat mich sofort neugierig gemacht. Ein Thriller, mal ein ganz anderes Genre von Kling – warum nicht?

Das Buch hat mich dann so sehr gepackt, dass ich es in einem Rutsch ausgelesen habe. Kling schreibt eingängig, flüssig und mit einem scharfen Blick auf den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft. Trotz der schweren und explosiven Thematik blitzt auch immer wieder sein trockener Humor hervor.

Die Geschichte ist packend erzählt und gesellschaftlich, politisch und technologisch brandaktuell, und somit nicht nur ein Thriller, sondern vielmehr auch ein hochbrisanter Roman zur Gegenwart, der sehr zum Nachdenken anregt. Auch wenn Kling aus der Perspektive von Yasira, Hauptkommissarin beim BKA in Berlin, erzählt, so bleibt das Privatleben der Kommissar/innen weitestgehend im Hintergrund, sofern es nicht den Fall berührt. Der Autor verzichtet angenehmerweise komplett auf skurrile Ermittlerfiguren mit schrägen Macken, sondern fokussiert voll und ganz auf den Fall.

Kling entwickelt einen spannenden Plot mit überraschenden Wendungen, der im letzten Drittel allerdings sehr gehetzt wirkt, und ich hatte das Gefühl, dass dem Buch 100-150 weitere Seiten sehr gut getan hätten. Ich frage mich wirklich, warum Kling es bei gerade einmal 272 Seiten beließ, und mit einen recht überstürzt erscheinenden Schluss endet, der mich eher unbefriedigt zurücklässt. Zum einen fällt inhaltlich das Niveau des bis dahin so vielversprechenden Thrillers doch deutlich auf Genre-Durchschnitt ab, und zum anderen bleiben leider interessante Fragen ungeklärt. Auch über das „Danach“ hätte ich gerne noch mehr erfahren, da die weiteren Reaktionen – polizeiintern, ermittlungstechnisch, gesellschaftlich und politisch - für mich keineswegs eindeutig sind.