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Christian1977
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Leipzig

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Bewertung vom 13.05.2021
Breukelchen, Tanja;Marzi, Moritz

Grüne Glücksorte in Hamburg


ausgezeichnet

Autorin Tanja Breukelchen kannte ich bereits vom letztjährigen Hamburg-Buch "Zu Fuß durch die Hansestadt Hamburg", mit dem sie mir auf zwölf wunderbar unterschiedlichen Spaziergängen das Gefühl gab, als Hamburger Urlaub in der eigenen Stadt zu verbringen. Nun liegt in Zusammenarbeit mit Fotograf Moritz Marzi "Grüne Glücksorte in Hamburg" vor, in dem die beiden - wie der Name es vermuten lässt - 80 Hamburger Orte präsentieren, an denen sich die Hansestadt an der frischen Luft besonders gut genießen lässt.

Jeder der Orte wird dabei auf zwei Seiten vorgestellt, bestehend aus jeweils einer Seite Text und Foto. Bei den Texten setzt Breukelchen auf eine gelungene Mischung aus Sachinformationen und persönlichem Bezug zum jeweiligen Ort. Oft gibt es eine kleine kulinarische oder kulturelle Empfehlung dazu. Besonders lobenswert ist, dass sie zu fast jedem "Glücksort" auch die jeweilige Bus- oder Bahnhaltestelle dazuliefert. Das erspart Interessierten die Suche, und in Hamburg kann man sich ja ohnehin wunderbar ohne eigenen PKW fortbewegen. Gefreut hat mich, dass mein Heimat-Stadtteil Bramfeld es mit dem Gut Karlshöhe und dem Erlebnispfad "Alraune" gleich zweimal in dieses Buch geschafft hat. Das habe ich in ähnlichen Büchern so noch nicht erlebt.

Die meisten Fotos von Moritz Marzi habe ich als ansprechend empfunden. Schaut man sich beispielsweise die Fischbeker Heide oder das Wittmoor an, braucht man den Text fast gar nicht mehr zu lesen, um spontane Lust darauf zu bekommen, den Ort zu besuchen. Die kleine Poppenbütteler Burg Henneberg könnte so auch aus einem Märchenbuch stammen. Einige Fotos erhalten außerdem eine sympathische persönliche Note, da sich Tanja Breukelchen auf ihnen offensichtlich gemeinsam mit ihrer Tochter zeigt und man dadurch gleich das Gefühl erhält, dass die Autorin alle Orte wirklich selbst "ausprobiert" hat.

Einen kleinen Abzug gibt es dafür, dass einige der Orte fast deckungsgleich so auch schon im oben genannten "Zu Fuß"-Buch enthalten waren und selbst die Texte den damaligen sehr ähneln. Für Leser*innen, die das andere Buch nicht kennen, ist dies selbstverständlich kein Nachteil und bei der Fülle an "Glücksorten" macht dies auch nur einen kleinen Teil aus. Zudem waren mir andere Orte auch schon aus ähnlichen Büchern bekannt, wodurch der Überraschungseffekt ein wenig verpuffte.

Für mich war die hinten angefügte "Glückskarte" problematisch. Da ich an einer Rot-Grün-Schwäche leide, konnte ich einige der roten Ziffern auf grünem Grund kaum erkennen. So verpufft der Zweck der Karte etwas, der ja eigentlich einen schnellen Überblick darüber liefern soll, wo man welchen Ort findet. Die große Mehrheit der Leser*innen wird damit natürlich kein Problem haben.

Insgesamt war "Grüne Glücksorte in Hamburg" für mich aber ein lesenswertes Buch, das mir einmal mehr aufzeigte, wie viele schöne Ecken ich in Hamburg noch nicht kenne, obwohl ich mittlerweile seit mehr als 44 Jahren hier lebe. Zugleich lieferte es mir zahlreiche Inspirationen für kommende Wanderungen. Ein Besuch der Fischbeker Heide muss im August oder September einfach mal drin sein. Und auch die Schafe im Spadenland möchte ich so schnell wie möglich kennenlernen.

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Bewertung vom 11.05.2021
Silberer, Renate

Hotel Weitblick


gut

Der angesehene Consulter Dr. Marius Tankwart will den Absprung aus seinem bisherigen Leben schaffen: nur noch ein Seminar leiten, dann geht es nach Mexiko in ein neues Leben! Doch dieses letzte Seminar im titelgebenden "Hotel Weitblick" hat es in sich: Eine Frau und drei Männer, allesamt Führungskräfte einer Werbeagentur, finden sich zusammen und es ist an Marius, am Ende dieser drei Tage eine Empfehlung für den Geschäftsführer-Posten auszusprechen. Während sich die Kandidat*innen spinnefeind sind, entdeckt Marius plötzlich bedrohliche Parallelen zu seiner eigenen Erziehung - und droht an der Aufgabe und an sich selbst zu scheitern...

"Hotel Weitblick" ist der Debütroman Renate Silberers, der sich ganz auf die kammerspielartige Situation im Hotel einlässt und dabei zu mutigen und neugierig machenden literarischen Stilmitteln greift. Da reihen sich ganze Gedankenketten aneinander, in denen lediglich die Kommata den Leser*innen eine Verschnaufspause gönnen. Da verzichtet Silberer komplett auf Anführungszeichen, um die Rede- und Denkflüsse so selten wie möglich zu unterbrechen. Da wechselt die Erzählperspektive von einer Figur zur nächsten, manchmal innerhalb desselben Absatzes und ein Gedanke wird nicht einmal zu Ende geführt. Dass es sich dabei um mehr als eine literarische Spielerei handelt, merkt man, wenn man versucht, diesen Gedanken zu folgen. Es ist dabei höchste Konzentration gefragt, um nicht zu verpassen, wer eigentlich gerade spricht oder denkt. Gleichzeitig nimmt Silberer den Teilnehmer*innen der konformen Leistungsgesellschaft dadurch ein Stückchen Identität und deutet die Gleichförmigkeit der Figuren an. Durchaus gelungen!

Da man Consulter Marius am nächsten kommt, leidet man am ehesten noch mit ihm, während alle Kandidat*innen sich doch sehr unsympathisch mit dem gewollten Hang zur Überzeichnung präsentieren. Trotzdem funktioniert die Konstellation anfangs gut. Es ist unterhaltsam und böse, wenn man die Vorurteile der Figuren liest; ihr Verhalten lädt zum Kopfschütteln und Schmunzeln ein. Diese Ausgangssituation hätte Renate Silberer zu einem gesellschaftskritischen Roman erster Klasse ausbauen können, doch leider sinkt das Niveau in meinen Augen nach und nach.

Auslöser dafür sind die Erziehungsmethoden Johanna Haarers, die - das erfahren wir ziemlich schnell - bei Marius aufgrund seiner lieblosen Mutter ein regelrechtes Trauma ausgelöst haben. Haarers Methoden wurden vor allem zu Zeiten des Nationalsozialismus als die richtigen angesehen, setzten sich jedoch offenbar auch danach noch durch. Marius führt die furchtbarsten Erziehungsdogmen auf Karteikarten stets bei sich. Es ist ein legitimes Ansinnen der Autorin, diese schwarze Pädagogik den Leser*innen bewusst zu machen. Doch in meinen Augen sind die Mittel nicht richtig gewählt. Mit zunehmender Dauer des Romans konzentriert sich nämlich nahezu alles auf diese Karteikarten und Haarer. Marius glaubt, dass alle Kandidat*innen auf diese schreckliche Art erzogen wurden und deshalb dort stehen, wo sie sich jetzt befinden. Und tatsächlich erfahren wir, dass wirklich jede/r Einzelne ein Muttertrauma hat. Für Freudianer mag das ein Fest sein, für mich war das zu viel an Monster-Müttern, da sich ansonsten bei der Figurenentwicklung auch wenig tut.

Nach dem finalen Konflikt stellte sich bei mir die Frage, was außer Johanna Haarer und ein paar wirklich guten Ansätzen zu Beginn bei mir eigentlich hängen bleibt - und was letztlich die Moral von der Geschicht ist... Bis auf "Johanna Haarers Erziehungsmethoden waren definitiv falsch" fällt mir leider nicht viel ein.

Dass Silberer dabei den Seminarraum "Harmonie" nennt und den Corona-Lockdown trotz der Handlung im April 2020 komplett verschweigt, konnte ich da noch verkraften. Doch letztlich waren mir die Figuren zu ähnlich und zu eindimensional, um ein positiveres Fazit zu ziehen. Das "Hotel Weitblick" blickt nämlich fast ausschließlich weit nach hinten - in die verkorksten Mutter-Kind-Beziehungen sämtlicher Figu

Bewertung vom 07.05.2021
Grader, Victoria

Caspers Weltformel


ausgezeichnet

Der Physik-Doktorand Casper lebt ein vorhersehbares Leben. Täglich arbeitet er in einem Büro an seiner Dissertation, und auch seine Mitmenschen können ihn nicht überraschen. Kein Wunder, schließlich bastelt er seit seiner Kindheit an einer "Weltformel", mit der er alles voraussehen kann, was ihm widerfahren wird und ergänzt diese Formel täglich in seinen Notizbüchern. Was macht man aber, wenn man keine Lust mehr hat auf diese Formel? Wenn man aus seinem alltäglichen Leben ausbrechen möchte? Ganz einfach, denkt sich Casper: "Ich mach einfach immer das Gegenteil von dem, was ich sonst machen würde." Und so setzt er sich nicht in den Zug, der ihn zu seiner Mutter nach München bringt, sondern fährt kurzerhand nach Budapest. Dort trifft er auf Ilona - und merkt, dass seine Formel an dieser Frau scheitert...

Victoria Graders Debütroman "Caspers Weltformel" ist einfach hinreißend - und der Beweis dafür, wie lebendig junge deutschsprachige Literatur sein kann. Mit Casper und Ilona hat Grader zwei wahrlich unvergessliche Charaktere geschaffen. Der weltfremde Casper, dem die meisten Menschen mit Unverständnis begegnen, setzt sich ständig für eine bessere Welt ein, nur um jedes Mal aufs Neue enttäuscht zu werden. Die chaotische und aufbrausende Ilona, die für ihre ärmliche Wohnung mit drei Monatsmieten im Rückstand ist, und trotzdem von einem reichen Prinzen träumt, der sie mit nach Istanbul nimmt, wirkt auf den ersten Blick wie Caspers komplettes Gegenteil. Dennoch entsteht zwischen den beiden ein fast magisches Verhältnis voller zärtlicher Momente und mindestens ebenso vielen Konflikten.

Es ist gerade das Gespür für die Figuren und die Empathie der Autorin mit den AußenseiterInnen dieser auf Konformität gebürsteten Gesellschaft, das "Caspers Weltformel" zu dieser großen Besonderheit macht. Insbesondere Hauptfigur Casper hat mich wirklich angerührt und dafür gesorgt, dass der Roman mich auch beschäftigte, wenn ich nicht in ihm las. Ich konnte mich mit zahlreichen seiner skurrilen Eigenschaften identifizieren. Diese Empathie für die Figuren beschränkt sich glücklicherweise nicht auf die beiden ProtagonistInnen, so dass "Caspers Weltformel" bis in die kleinsten Nebenfiguren hinein, darunter vor allem Lastwagenfahrer János, liebevoll stimmig wirkt.

Auf der Handlungsebene beschränkt sich die erste Hälfte vornehmlich damit, wie Casper in seinem neuen Leben in Budapest zurechtkommt, während das Erzähltempo vor allem im letzten Drittel ungemein zulegt, weil sich auch Caspers und Ilonas Leben aus Gründen, die ich nicht vorwegnehmen möchte, dramatisch ändert. In diesen Momenten nimmt der Roman Züge eines modernen Märchens an, das in einem feurig-furiosen Epilog seinen genialen und liebenswerten Höhepunkt findet.

So ist "Caspers Weltformel" für mich einer der ganz großen Höhepunkte des bisherigen Lesejahrs 2021 und der Beweis, dass es in der deutschsprachigen Literatur Zeit ist für neue Helden: für Casper, Ilona, aber auch für Victoria Grader, die bereits mit ihrem Debüt etwas Unvergessliches geschaffen hat.

Bewertung vom 30.04.2021
Ehemann, Wolfgang

Die liegende Frau


sehr gut

3. Juni 1998: Auf der Fahrt von Hannnover nach Hamburg entgleist der ICE "Wilhelm Conrad Röntgen" bei Eschede. Unter den Schwerverletzten befindet sich auch Barbara Dahlmann, die sich fortan in einem Krankenhaus im Koma befindet - für die nächsten 20 Jahre...

Wie schreibt man einen Roman mit einer Protagonistin, die im Koma liegt? Ein nicht leichtes Unterfangen, dem sich Wolfgang Ehemann in seinem überraschenden und aufregenden Debütroman "Die liegende Frau" stellt. Nicht leicht fällt zu Beginn auch das Lesen, denn Ehemann greift nach dem nüchternen und dennoch intensiven Prolog zu einem genialen Kunstgriff, der mir bislang so nur aus dem hinreißenden "Fuchs 8" von George Saunders bekannt war. Denn so wirr Barbaras Gedanken nach fünf Jahren Koma - die Handlung setzt im Jahr 2003 wieder ein - sind, so konfus ist zunächst auch der Schreibstil. Gerade so, als müsste Barbara ihre Sprache erst wieder erlernen. "Dann hört sie so ne Aat Klocke", heißt es da oder "Ihr Denke wird klara". Eine Herausforderung für den Autoren und seine LeserInnen. Doch je stärker man sich mit der Zeit an diesen Schreibstil gewöhnt, desto klarer und fehlerfreier wird die Sprache auch schon.

Der erste Teil des Romans befasst sich ausschließlich mit dem komatösen Zustand Barbaras, mit dieser Schwebe zwischen Leben und Tod, die auch schon das Cover mit dem erleuchteten Spiegel oder Tunnel zeigt. Ehemann garniert die Gedanken Barbaras mit so vielen klugen Sätzen, dass man damit wohl ein ganzes Notizbuch füllen könnte. Dabei setzt er nicht nur auf zahlreiche rätselhafte Brüche, sondern auch auf zum Teil extreme Perspektivwechsel, bei dem man sich nie sicher sein konnte, wer dort eigentlich gerade erzählt: Barbara oder ein auktorialer Erzähler? In den schwächeren Momenten des Romans mag die Antwort "weder, noch" lauten, denn bei seiner Gesellschaftskritik übertreibt es Ehemann ein wenig und stellt in leicht nörgelndem Ton eine Art Grundsatzabrechnung an, die auf mich zu plakativ wirkte und nicht in den Gesamtzusammenhang des Romans passte - und eher wie die Meinung des Autoren auf mich wirkte. Auch wenn an den gesellschaftspolitischen Ansichten grundsätzlich nichts auszusetzen war, störten sie mich in diesem Kontext. Doch ansonsten überwiegt eine gelungene Rätselhaftigkeit: Wer berichtet denn 2005 über einen Twitter-Account Arno Schmidts, obwohl Twitter erst seit 2006 online ist? Und wer ist dieser Friedrich, der ständig an Barbaras Bett auftaucht, um sie einerseits mit Wortwitzchen zu nerven und ihr andererseits Lebensmut zuzusprechen?

Gerade dieser Friedrich war für mich ein absoluter Höhepunkt des Romans. Als eine Art metaphysischer Begleiter oder GOTT im schmutzigen Unterhemd hat Ehemann mit ihm einen unvergesslichen Charakter erschaffen, der glücklicherweise auch im zweiten Teil noch seinen Auftritt hat, nachdem Barbara aus dem Koma erwacht ist.

Über den zweiten Teil verliert man inhaltlich am besten keine Worte, um den großen Überraschungen in diesem Part nicht vorzugreifen. Rein stilistisch lassen die philosophischen Gedanken ein wenig nach, um den Dialogen mehr Platz zu geben, die Barbara mit ihrem Therapeuten führt. Dieser Therapeut entpuppt sich leider als wenig empathisch und war für mich ein Ärgernis. Ohnehin mutet Ehemann seinen Figuren in diesem zweiten Teil recht viel zu.

Insgesamt war "Die liegende Frau" für mich aber eine aufregende Lektüre. Wolfgang Ehemann wagt wirklich viel und hat so etwas ganz Neues kreiert - sowohl stilistisch, als auch inhaltlich. Ein Romanexperiment, das wahrscheinlich nicht jede/n LeserIn gleichermaßen anspricht, dafür aber polarisiert. Wer dran bleibt, wird mit einer intelligenten und bewegenden Geschichte belohnt. Da ich in kürzester Zeit mit diesem Roman und "Der ehemalige Sohn" von Sasha Filipenko gleich zwei Neuveröffentlichungen lesen durfte, die sich mit KomapatientInnen beschäftigen, komme ich um einen Vergleich nicht herum, bei dem "Die liegende Frau" für mich die Nase vorn hat.

Bewertung vom 24.04.2021
Berg, Mathias

Der Lohn des Verrats / Lupe Svensson und Otto Hagedorn Bd.2


sehr gut

Knapp zwei Monate nach den dramatischen Ereignissen im Vorgängerroman "Der Preis der Rache" steht das ungleiche Ermittlerpaar Lupe Svensson und Otto Hagedorn vor einem neuen Rätsel: Gabriele Küsters bittet die beiden, die Suche nach ihrem vor zehn Jahren verschwundenen Sohn Fabian wieder aufzunehmen. Bei der Beerdigung ihres Mannes gab es endlich ein Lebenszeichen Fabians. Doch lebt er wirklich noch oder ist er in die Hände eines perfiden Entführers oder gar Mörders geraten?

Im Oktober 2003 setzt die Handlung von Mathias Bergs zweitem Kriminalroman "Der Lohn des Verrats" ein und schlängelt sich von dort immer wieder zurück in die 90er-Jahre, um das Leben Fabians, seines besten Freundes Mark und der gemeinsamen Clique kennenzulernen. Und wie schon im Vorgänger sind diese Rückblicke eine große Stärke des Autors. In ihnen entfacht er eine gewisse Melancholie, eine nostalgische Grundstimmung, die mich einerseits wirklich berührt hat und auf der anderen Seite für die nötige Spannung rund um Fabians Verschwinden sorgte.

Ein weiteres Plus ist, dass Berg sich für die zahlreichen Verhöre in diesem Krimi wirklich Zeit nimmt. Ich-Erzählerin Lupe beobachtet hier gekonnt die kleinsten emotionalen Regungen ihres Gegenübers und schildert sie dem Leser unverblümt. Zudem wird man in diese Situationen regelrecht hineingesogen. In vielen aktuellen Krimis wird vor allem aufs Tempo gesetzt, doch diesen Druck verspürt der Autor offenbar gar nicht. Er lässt die Zeugen und die Verdächtigen erzählen, die ErmittlerInnen nachfragen und erinnert in den besten Momenten dabei an Simenons Maigret.

Zu jedem Zeitpunkt des Romans verspürte ich außerdem die große Empathie, die Mathias Berg seinen Figuren entgegenbringt. Da werden Opfer schon mal zu Tätern und Täter zu Opfern. Da ist eine so tiefe freundschaftliche Bande zwischen den Charakteren zu spüren, dass diese sämtliche Krisen zu meistern scheinen. Und da ist natürlich wie in "Der Preis der Rache" das kongeniale Zusammenspiel zwischen Lupe und Otto, das durch den flüssigen Schreibstil und die Charakterisierung der ProtagonistInnen zur großen Unterhaltung der LeserInnen beiträgt.

Nicht ganz so gelungen fand ich diesmal die eigentliche Kriminalhandlung. Während der Suche nach dem Vermissten gibt es nämlich plötzlich einen weiteren Erzählstrang um ungeklärte Morde an Anhalterinnen. Ich hätte diesen gar nicht benötigt, fand den Vermisstenfall spannend genug. Zudem schleichen sich in diesen Handlungsstrang einige logische Schwächen ein, die ich ein wenig ärgerlich fand. Hinzu kommt, dass man als erfahrene/r KrimileserIn relativ früh erkennt, in welche Richtung sich das Geschehen entwickelt.

Insgesamt war das für mich ein kleiner Wermutstropfen, der allerdings nicht dafür gesorgt hat, dass ich verärgert aus der Lektüre herausgegangen wäre. Denn im Finale besinnt sich Mathias Berg noch einmal seiner Stärken und schafft bewegende Momente, in denen die Grenzen zwischen Tätern und Opfern einmal mehr verschwimmen.

Fazit: Mit "Der Lohn des Verrats" setzt Mathias Berg die Reihe um Lupe Svensson und Otto Hagedorn gekonnt fort, schlägt aber in der eigentlichen Kriminalhandlung die ein oder andere Volte zu viel. Die Stärken dieses Romans sind für mich die Verhörsituationen und die Rückblicke - vor allem aber, wie Mathias Berg es schafft, auch in der dunkelsten Figur noch ein Fünkchen Licht zu erhalten.

Bewertung vom 10.04.2021
Platzgumer, Hans

Bogners Abgang


ausgezeichnet

Der Künstler Andreas M. Bogner wartet auf seinen Durchbruch. Exzentrische Ideen sind genügend vorhanden, doch noch immer hat er nicht das Projekt gefunden, das zumindest in der Innsbrucker Kunstszene für Aufruhr sorgen könnte. Neuerdings arbeitet er daran, die unterschiedlichsten Waffen mit Tusche auf Papier zu bringen. Vielleicht überzeugt ja dieser Zyklus seinen schärfsten Kritiker Kurt Niederer. Aktuell liegt eine Pistole vor ihm, eine Walter PPK, ausgeliehen von seinem Schwiegervater. Als es an einem Aprilabend zu einem schweren Autounfall in der Nähe seines Ateliers kommt, ändert sich nicht nur Bogners Leben schlagartig...

"Bogners Abgang" von Hans Platzgumer ist ein vom Umfang her ausgesprochen kurzer Roman von nicht einmal 150 Seiten, der es trotzdem auf grandiose Weise schafft, eine eigenwillige und intensive Spannung zu erzeugen, mit der der Autor die Grenzen zum Kriminalgenre streift. Doch das Buch ist viel mehr als ein Krimi. Es stellt die großen Fragen nach Schuld und Moral, ohne seine Figuren zu verurteilen. Und was ist der Unterschied zwischen Schweigen und Lügen? Es bleibt den LeserInnen vorbehalten, ein eigenes Urteil zu fällen. Auch die Figurenzeichnung ist gelungen, insbesondere der ambivalente Charakter Bogners wirkt authentisch und mitreißend

Formal ist "Bogners Abgang" ohnehin ein Erlebnis. Neben einer stringenten Erzählung der Handlung nach dem Autounfall aus zwei Perspektiven gibt es Auszüge aus Bogners Arbeitsnotizen, Protokolle seiner therapeutischen Sitzungen, Rückblicke, Zeugenaussagen, Sprachnachrichten und Unfallmeldungen der Polizei. Das Ganze vermischt Platzgumer äußerst gelungen zu einem stimmigen Gesamtbild und erschafft damit das Kunstwerk, nach dem sich Protagonist Bogner vergeblich streckt.

Erwähnenswert sei dabei insbesondere eine Szene, in der sich der Protagonist an ein wirklich extremes Kunstprojekt heranwagt. In einem Genueser Hotelzimmer legt er sich auf den Boden, um durch gasförmig werdendes Trockeneis eine Nahtoderfahrung zu provozieren, deren Ergebnis er mit Kohlezeichnungen festhalten will. Die Szene ist eine Art Herzstück des Romans, die zeigt, was die Figur Bogner und ihren unbändigen Erfolgswillen ausmacht. Auf fast zehn Seiten schreibt sich Platzgumer in einen dramatischen Rausch voller philosophischer Fragen, der auf mich äußerst spannend wirkte. Durch den Tempuswechsel ins erzählerische Präsens ensteht eine soghafte Unmittelbarkeit. Wer "Bogners Abgang" liest, wird diese Szene nicht vergessen, sie ist eine der aufregendsten, die ich seit längerer Zeit in der deutschsprachigen Literatur zu lesen bekommen habe.

Im letzten Drittel nimmt der Roman fast Züge eines antiken Dramas der alten Griechen an. Während es im vorigen Verlauf immer wieder tragikomische Momente gab, überwiegt hier die große Tragödie um Schuld und Moral. So erhält auch der "Abgang" aus dem Titel seine ganz eigene Bedeutung in diesem kriminalistischen Drama. "Eine Pistole ist niemals unschuldig", urteilt Bogner gleich zu Beginn des Romans und erlebt am Ende eine Art selbsterfüllender Prophezeiung - wenn auch ganz anders als gedacht.

Fazit: Mit "Bogners Abgang" ist Hans Platzgumer ein kluger, spannender und bewegender Roman gelungen, der nicht nur durch seine Figuren und die Handlung überzeugt, sondern auch formal brilliert. Geschickt spielt es mit den Erwartungen der LeserInnen, um sie ein ums andere Mal über den Haufen zu werfen. Ein Buch, das trotz seiner Kürze lange nachwirkt.

Bewertung vom 03.04.2021
Shapton, Leanne

Gästebuch


sehr gut

"Gespenstergeschichten" lautet der Untertitel von Leanne Shaptons "Gästebuch", in dem die Künstlerin, Illustratorin und Autorin eine ungemein originelle Mischung aus Fotos, Aquarellen und Texten zu einem stimmigen Gesamtkunstwerk verarbeitet.

Wer sich allerdings auf typische Schauergeschichten einstellt, die durch ein paar Fotos untermalt werden, wird vom "Gästebuch" wahrscheinlich enttäuscht sein. Vielmehr ist es so, dass der Grusel im Kopf entsteht und man als LeserIn seiner Kreativität freien Lauf lassen kann, um die Bedeutung einer der "Geschichten" herauszubekommen.

Was hat der unsichtbare Freund Walter damit zu tun, dass Tennis-Ass Billy Byron nach seinen Matches immer kollabiert? Wie viele Veranstaltungen an nur einem Tag kann Edward Mintz in seinem blauen Anzug eigentlich besuchen? Und was steckt hinter dem Familiengeist der Percys im Georgehythe Place?

Man betrachtet die wirklich gelungenen Fotos und nach und nach entsteht im Kopf eine Geschichte. Wenn man sich darauf einlässt, bleibt aus jeder dieser Geschichten etwas hängen. Manchmal sah ich mich genötigt, bestimmte Personen (wie beispielsweise Edward Mintz) im Internet zu suchen, da es Leanne Shapton gelingt, eine ebenso unheimliche wie realistische Atmosphäre zu schaffen. Bei anderen Geschichten oder Bildern passierte bei mir jedoch nichts. Das könnte allerdings auch daran liegen, dass man das "Gästebuch" immer wieder zur Hand nehmen und neu betrachten kann. Vielleicht ensteht beim nächsten Mal eine andere Inspiration, ein unerklärlicher Schauder.

Unbestritten ist, dass Shapton mit diesem höchst kreativen, unkonventionellen und skurrilen Buch etwas wirklich Eigenes und Besonderes erschaffen hat. Und auch wenn in meinen Augen die Qualität der Texte manchmal hinter den überwiegend großartigen Bildern zurückbleibt, ist das "Gästebuch" ein mehr als lohnenswertes Experiment für LeserInnen ohne Scheuklappen, die sich gern gruseln möchten.

Bewertung vom 02.04.2021
Knöppler, Florian

Kronsnest


ausgezeichnet

Das holsteinische Dorf Kronsnest in den 1920er-Jahren: Hier lebt der 15-jährige Hannes mit seinen Eltern auf einem Hof. Die Landarbeit ist hart, der Vater gewalttätig - und dann gibt es auch noch Mara, Tochter aus einem besseren Hause, die Hannes den Kopf verdreht. Wie geht ein empfindsamer Jugendlicher mit seinen Gefühlen um, wenn um ihn herum die Welt langsam aber sicher auf dem Kopf steht? Wenn ihm vor dem Erwachsenwerden schon die ganz großen Themen wie Liebe, Freundschaft und Tod streifen? Darüber und über noch viel mehr erzählt Florian Knöppler in seinem großartigen Debütroman "Kronsnest".

Als bekennender Freund von Entwicklungs- bzw. Coming-of-Age-Romanen möchte ich behaupten, dass ich in den letzten Jahren sehr viele Bücher aus diesem Bereich gelesen habe. Doch kaum eines konnte mich von vorn bis hinten so begeistern, wie es Knöppler mit "Kronsnest" geschafft hat.

Da ist zunächst einmal die große Empathie, die der Autor seinem Protagonisten Hannes entgegenbringt. Tatsächlich gibt es in diesem fast 450 Seiten schweren Werk nicht eine einzige Szene, die ohne ihn auskommt. Durchaus riskant, wenn beispielsweise eine Hauptfigur nicht die Erwartungen des Lesers erfüllt oder ihn gar langweilt. Nicht so in "Kronsnest": Das Vertrauen, das Knöppler Hannes entgegenbringt, ist mehr als gerechtfertigt. Von Beginn an spürte ich eine große Verbundenheit zu ihm. Er ist ein Junge, dem durchaus viel zugemutet wird. Er macht Fehler, auch schwere, wie sie ein Jugendlicher in seinem Alter eben macht. Und dennoch konnte ich Hannes sofort in mein Herz schließen. Auf seinem Weg zum Erwachsenen überwindet er zahlreiche Fallstricke und zeigt dabei einen fast schon unermüdlichen Kampfgeist. Der Tod eines ihm nahestehenden Menschen, unerwiderte Liebe und der beste Freund drauf und dran, ein Nationalsozialist zu werden? Hannes gibt nicht auf und geht seinen Weg.

Ein weiteres großes Plus von "Kronsnest" ist der eindringliche und einnehmende Schreibstil Florian Knöpplers. Vielleicht ist es von Vorteil, wenn man auch aus Norddeutschland kommt und eine Vorstellung hat von der Elbmarsch und ihrer für viele Menschen vielleicht unwirtlich wirkenden Rauheit. Ich konnte jedenfalls nahezu komplett abtauchen in dieser Landschaft, weil Knöppler es schafft, die Natur in all ihrer Schönheit zu erkennen und zu beschreiben. Dazu gehört auch die Empathie, die nicht nur Hannes, sondern auch der Autor den zahlreichen Tieren des Romans entgegenbringt.

Die Dialoge sind authentisch und klug. In Hannes' Verhältnis zu Mara, das immer zwischen Liebe und Faszination schwankt und zu dem später auch ein bewegender Briefwechsel gehört, erinnert "Kronsnest" in seiner Einzigartigkeit sogar an große Klassiker der Empfindsamkeit oder des Sturms und Drangs. So wundert sich nicht nur Hannes auf S. 361 über seinen Brief: "Wie von einem anderen, wie aus einem Roman, war der erste Gedanke", sondern auch ich blieb erstaunt darüber zurück, dass ein Roman der Gegenwart noch solche Worte findet.

Und auch wenn Hannes im Großen und Ganzen unpolitisch ist, gehen die politischen Wandel der Zeit nicht an ihm und an Kronsnest vorbei. Die aufbegehrende Landvolkbewegung in Schleswig-Holstein, der wachsende Antisemitismus - all dies sind Themen, von denen Hannes direkt betroffen ist, denn sein bester Freund Thies entwickelt sich in eine besorgniserregende Richtung.

Fazit: Mit "Kronsnest" hat Florian Knöppler einen atemberaubend-schönen Roman geschrieben, der trotz der durchweg ernsten Themen eine große Wärme und Intensität ausstrahlt, der man sich nicht entziehen kann. Schon jetzt gehört das Buch zu meinen absoluten Lieblingsbüchern und damit zu den Büchern, die ich immer wieder lesen möchte. Ein Muss, nicht nur für Freunde von Entwicklungsromanen, sondern auch für LeserInnen, die dem Charme der norddeutschen Landschaft erliegen möchten. Unvergesslich.

Bewertung vom 27.03.2021
Hesse, Helge

Die Welt neu beginnen


sehr gut

Was haben George Washington, Johann Wolfgang von Goethe, James Cook und Marie Antoinette gemeinsam? Sie alle prägten die Zeit des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts. Und sie sind ProtagonistInnen des neu bei Reclam erschienenen Sachbuchs "Die Welt neu beginnen: Leben in Zeiten des Aufbruchs 1775 - 1799" von Helge Hesse.

Hesse zeigt in einem unterhaltsamen Ritt durch dieses bewegte und bewegende Vierteljahrhundert die bahnbrechenden Ereignisse und Erfindungen auf, die die moderne Welt, wie wir sie kennen, bis in die Gegenwart hinein prägen. Vom Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg über die Erfindung der Dampfmaschine und die Vorboten der Industrialisierung bis zum Ende der Französischen Revolution: Helge Hesse richtet den Blick auf das große Ganze. Dabei erweist er sich als begnadeter Erzähler - egal ob es um politische, kulturelle oder gesellschaftliche Themen geht.

Sechs Jahre hat Hesse für "Die Welt neu beginnen" recherchiert - ein Aufwand, den man als Leser spürt, denn der Autor zeigt sich fast schon selbst als "Universalgenie", wie er einige seiner wichtigsten Figuren im Buch nennt. Besonders gelungen ist dabei, wenn sich die Lebensläufe von Menschen kreuzen, die man so nicht erwartet hätte, oder wenn sich Hesses Blick auf Personen richtet, über die ich noch nicht so viel wusste. Zentral ist beispielsweise der Lebenslauf Georg Forsters, deutscher Weltreisender und späterer Revolutionär, dem in "Die Welt neu beginnen" bestimmt mindestens genauso viele Episoden gewidmet werden wie einem George Washington.

Überhaupt sind es diese kurzen Episoden, die anekdotenreich dafür sorgen, dass man fast das Gefühl hat, einen Roman zu lesen und aus dem Sachbuch eine über weite Strecken abwechslungsreiche und mitreißende Erzählung machen. Und auch die Bezüge zur Aktualität werden vor allem dann deutlich, wenn es um die Entwicklung eines Impfstoffs gegen die Pocken geht - damals wie heute ein Wettlauf gegen die Zeit.

Der vermeintliche Vorteil der Abwechslung entpuppte sich für mich im letzten Viertel des Buches jedoch auch als ein Nachteil: In meinen Augen ist das "Personenverzeichnis" schlicht ein wenig zu umfangreich geworden. Das sieht man schon zu Beginn des Buches, wenn Hesse "Einige Personen der Handlung" aufführt und dabei sage und schreibe 54 Namen nennt. Hier wäre es vorteilhafter gewesen, sich auf weniger Personen zu konzentrieren. Denn je länger das Buch andauerte, stellte sich bei mir eine gewisse Überfrachtung an Informationen und Menschen ein. Und auch wenn Hesses Werk ein populärwissenschaftliches Sachbuch ist, wäre die ein oder andere Quelle bei Zitaten wünschenswert gewesen.

Insgesamt ist "Die Welt neu beginnen" aber ein informatives und unterhaltsames Buch, das eine breite Leserschaft ansprechen wird. Denn egal ob Marie Antoinette, Mozart oder Schiller - wohl jeder wird in ihm Menschen finden, die ihn besonders interessieren.

Bewertung vom 22.03.2021
Francis, Gavin

Inseln


ausgezeichnet

"Wir alle sind Insulaner" - mit diesem bemerkenswerten Satz endet "Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht" von Gavin Francis. Nicht minder bemerkenswert ist dieses Buch, erschienen bei Dumont, denn "Inseln" lässt sich kaum klassifizieren. Es ist kein Sachbuch im eigentlichen Sinne, es besteht nicht nur aus Reiseberichten, es sind auch keine reinen Essays - sondern die eigentümliche und empathische Mischung aus allem. Die thematische Basis sind allein die Inseln - vornehmlich die kleinen, nordeuropäischen.

Francis untersucht in seinem Buch die Bedeutung von Isolation und Verbundenheit, fragt mal philosophisch, welcher Mensch wieviel Isolation überhaupt benötigt. Andererseits zitiert er aus anderen Sachbüchern, auch aus Romanen und berichtet immer wieder von Reisen und Aufenthalten auf Inseln, die für ihn eine besondere Bedeutung haben.

Dabei spürt man vor allem die große Empathie des Autoren - zur Natur, zu den Inseln - aber auch zum Menschen. Francis schreibt nicht nur, er arbeitet auch als Mediziner und spürt dort zwangsläufig eine große Verbundenheit zu den Mitmenschen.

Seine Reisen zu den Inseln sind dabei jedoch keine Flucht vor dem Menschen, vielmehr ist es die Liebe zu den oftmals wenig berührten Landfleckchen und zu ihrer Vegetation. Am häufigsten landet der Autor dabei auf der Isle of May - verständlich, denn diese Insel begleitet ihn seit seiner Kindheit. Vom gegenüberliegenden Festland beobachtete er bereits als Kind beim Campen den altehrwürdigen Leuchtturm - die Basis seiner Inselliebe oder sogar Inselsehnsucht wurde in diesen frühen Tagen gelegt.

Wenn Francis das Meer und sein Rauschen beschreibt, die diversesten Vögel beobachtet oder die Besonderheiten der Inseln aufzeigt, möchte man als Leser teilhaben an dieser Welt. Menschen, die immer mal wieder das Bedürfnis nach Isolation verspüren, dürften sich durch die fast körperliche Atmosphäre in "Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht" besonders angesprochen fühlen. Hinzu kommt ein starker Bezug zur Aktualität. Als Francis mit dem Schreiben dieses Buches begann, konnte er noch nicht ahnen, welche Bedeutung der Begriff "Isolation" in den Folgejahren bekommen sollte. Umso lohnenswerter scheint es in diesen Tagen, sich nicht nur mit der Isolation an sich auseinanderzusetzen, sondern auch die Vor- und Nachteile dieser einmal zu überdenken. "Inseln" ist dafür die gelungene und warmherzige Einladung.

Zu erwähnen sei auch die auffällige Schönheit des Buches. Die goldumrandete Stevenson-Schatzinsel auf dem Cover, die dezent-eleganten Farbtöne, vor allem aber auch die historischen und aktuellen Kartenausschnitte, die das ganze Buch wie ein goldener Faden durchziehen - all das macht aus "Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht" ein wunderbar abgestimmtes und absolut lesens- und staunenswertes Gesamtpaket.

Fazit: Mit "Inseln" hat Gavin Francis ein bemerkenswertes Buch zum richtigen Zeitpunkt herausgebracht. Die klugen Essays, empathischen Reiseberichte und liebevoll ausgewählten literarischen Zitate regen zum Träumen und Nachdenken an. Ein lesenswertes Gesamtkunstwerk für alle, die die Inseln und das Meer lieben - und sich vielleicht selbst manchmal wie ein Insulaner oder gar eine Insel fühlen.