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Insgesamt 215 Bewertungen
Bewertung vom 13.05.2021
Siemer, Nicole

Vanille und Verwesung


ausgezeichnet

„Vanille und Verwesung“ beinhaltet die drei Horrornovellen „Kind des Waldes“, „Gib ihn zurück!“ und „Der weiße Raum“. Die ersten beiden Novellen sind bereits als E-Book veröffentlicht worden. „Der weiße Raum“ ist in „Vanille und Verwesung“ erstveröffentlicht.



„Kind des Waldes“

Inhalt: Eine fünfköpfige Freundesgruppe reist spaßeshalber auf der Suche nach Geistern und Gespenstern quer durch Deutschland. Noch haben sie keine gefunden und rechnen eigentlich auch gar nicht damit. Doch ihr nächster Stopp ist der Grubinger Forst…

Persönliche Meinung: „Kind des Waldes“ ist eine Horrornovelle von Nicole Siemer. Erzählt wird sie retrospektiv aus der Ich-Perspektive von Farian, einem der fünf Freunde. Die Handlung beginnt zunächst ruhig, wobei die Interaktion der fünf Freunde untereinander dynamisch und witzig ist. Schrittweise treten allerdings gekonnt gesetzte Horrorelemente hinzu, die sich zu einem (blutigen) Finale steigern, dessen Verlauf überraschend ist. Das Monster, das im Grubinger Forst haust, agiert dabei – auf den ersten Blick – etwas irrational und wahllos, was mich zunächst irritiert hat. Allerdings wird die spezifische Logik, nach der es handelt, am Ende der Handlung offenbart, sodass es insgesamt stimmig ist.



„Gib ihn zurück!“

Inhalt: In Grubingen häufen sich mysteriöse Todesfälle. Die Opfer sind immer Erwachsene. Gleichzeitig verschwinden Kinder spurlos. Als Lara seltsame Gerüche und Geräusche wahrnimmt und sich plötzlich auch noch ihr Sohn Mikel seltsam verhält, scheint die mysteriöse Bedrohung ihre Familie als nächstes Opfer ausgewählt zu haben...

Persönliche Meinung: „Gib ihn zurück!“ ist eine Horrornovelle mit Thrillerlementen von Nicole Siemer. Erzählt wird die Handlung aus der Perspektive Laras. Lara und ihre Sorgen sind lebensnah und – trotz der Kürze des Textes – ausführlich ausgestaltet, sodass man sich sehr gut mit ihr identifizieren kann und mit ihr bangt. Spannung wird durch unterschiedliche Thrillerelemente erzeugt: Lara fühlt sich beobachtet, hört Geräusche im Haus, die keinen Ursprung zu haben scheinen, und nimmt mehrfach wechselnde Gerüche wahr, deren Herkunft ebenfalls rätselhaft ist. Dadurch entsteht eine schöne Spannungskurve mit unerwarteten Wendungen, sodass die Handlung durchweg packend ist.



„Der weiße Raum“

Inhalt: Für Maylea könnte es gerade nicht besser laufen: Ihr Ehemann, Theo, hatte einen Unfall und – stirbt wahrscheinlich. Endlich kann sie das Leben führen, das sie schon immer wollte. Doch während Maylea ihre Zukunft plant, erwacht Theo in einem weißen Raum und ist kurze Zeit später auf wundersame Weise völlig genesen…

Persönliche Meinung: „Der weiße Raum“ ist mit ca. 170 Seiten die längste der drei Novellen und tendiert damit schon in Richtung Roman. Die Protagonisten der Erzählung sind zwei Antihelden: Sowohl Maylea, die ein Doppelleben führt, als auch Theo, der immens eifersüchtig ist und Mordfantasien in sich trägt, sind eher unsympathisch gezeichnet. Während der Handlung entwickeln sich die beiden allerdings, sodass sie teilweise und bedingt sympathischer werden. Die Geschichte besitzt eine schöne Spannungskurve mit einigen unerwarteten Wendungen. So zeigen einzelne Figuren erst im Verlauf der Handlung ihr wahres Gesicht. Außerdem weiß man bis zur Auflösung am Schluss nicht genau, was mit Theo im weißen Raum passiert ist. Zuletzt trumpft das Ende mit einem tollen Twist auf. Auch finden sich, wie schon in den anderen beiden Novellen, schön gesetzte Horrorakzente.



Fazit:

Die Klammer, die die drei Novellen verbindet, ist ihr Handlungsort: Alle drei spielen in Grubingen, einem Epizentrum des Horrors. Der Schreibstil von Nicole Siemer ist novellenübergeifend flüssig zu lesen und anschaulich. Insgesamt hat mir „Gib ihn zurück!“ am besten gefallen, dicht gefolgt von „Der weiße Raum“, weil sie eher zum Horrorthriller-Genre tendieren (Das ist aber eine ganz subjektive Meinung. Ich lese meist Thriller und habe mich in diesen beiden Novellen „he

Bewertung vom 02.05.2021
Roth, Angelina

Die Closerie


ausgezeichnet

Ein sprachlich schöner Roman über Freundschaft, Kunst und das Leben

Inhalt: Damian, ein angehender Schriftsteller, der gerade sein Studium beendet hat, möchte die Tradition des Pariser Cafés „Closerie des Lilas“ aufleben lassen. Dort trafen sich in den 1920er Jahren regelmäßig namhafte Künstler_innen und Schriftsteller_innen wie Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald, Gertrude Stein und Pablo Picasso um über ihre Werke/Ideen zu diskutieren und sie zu präsentieren. Damian geht 100 Jahre später einen anderen Weg, um Gleichgesinnte zu treffen: Er stellt einen Aufruf online, auf den Johannes, ein menschenscheuer Informatiker/Lyriker und Natascha, eine ehemalige Unternehmerin, die Malerin werden möchte, reagieren. Künftig tauschen sich die drei über ihre Webcams aus. Die virtuelle Closerie ist geboren.

Persönliche Meinung: „Die Closerie“ ist ein Künstlerroman von Angelina Roth, der sich um eine außergewöhnliche Freundschaft zwischen drei (angehenden) Künstler_innen dreht. Die drei Hauptfiguren Damian, Johannes und Natascha sind – im positiven Sinne – verschroben. Während der eine Menschen scheut und der andere seltsame Gespräche mit seiner Katze führt, hat die nächste ihren Hasen ausstopfen lassen – weil sie ein schlechtes Gewissen hat (der Hase ist wahrscheinlich verhungert, weil sie nur arbeiten war). Jede Figur besitzt außerdem eine tragische Hintergrundgeschichte, wodurch sie eine größere Tiefe erhält. Langsam entwickelt sich zwischen den dreien eine besondere Freundschaft. Sie tauschen sich über ihr künstlerisches Schaffen aus, muntern sich auf, geben sich Tipps und lernen einander so immer besser kennen. Gleichzeitig läuft aber nicht alles reibungslos. Sie erleben neben den Höhen auch Tiefen, die sie aber letztlich stärker zusammenschweißen. Daneben spielen auch das Künstlerdasein und die Kunst im Allgemeinen in der Handlung eine große Rolle. Die drei diskutieren Möglichkeiten und Grenzen ihrer jeweiligen Kunst, besuchen eine Messe, reden über den Literaturmarkt und tauschen sich darüber aus, was überhaupt das Künstlerdasein ausmacht bzw. von welchem Schlag „Mensch“ ein Künstler ist. Zusätzlich ist die Handlung gewürzt mit einer Prise Humor. Erzählt wird der Roman hauptsächlich von einer auktorialen Erzählinstanz; einzelne Kapitel sind allerdings aus der Ich-Perspektive Damians geschrieben. Der Schreibstil von Angelina Roth hat mir sehr gut gefallen. Er ist stilistisch ausgesprochen schön; die Wortwahl überlegt und klar. Zudem sind die Dialoge zwischen den dreien sowohl witzig als auch authentisch und lebendig. Insgesamt ist „Die Closerie“ ein thematisch außergewöhnlicher und sprachlich schöner Roman mit starken Figuren und einer Handlung, die ein wohliges Gefühl beim Lesen auslöst.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.03.2021
Wells, Benedict

Hard Land


ausgezeichnet

Die Entdeckung der Euphancholie

Inhalt: Grady (Missouri) 1985. Der fünfzehnjährige Sam ist ein Außenseiter. Sein einziger Freund ist weggezogen, sein Vater arbeitslos, seine Mutter an Krebs erkrankt. Nun soll er auch noch den Sommer bei seiner Tante in Kansas verbringen, wo auch seine zwei Cousins wohnen, die ihn schon des Öfteren verprügelt haben. Um den „Urlaub“ in Kansas zu umgehen, nimmt er einen Ferienjob im ortsansässigen Kino an. Dort freundet er sich mit anderen Jugendlichen an, verliebt sich und erlebt den Sommer seines Lebens – bis sich die Krankheit seiner Mutter zurückmeldet.

Persönliche Meinung: „Hard Land“ ist ein Coming-of-Age-Roman von Benedict Wells. Erzählt wird die Handlung retrospektiv aus der Ich-Perspektive von Sam, dessen Gedanken und Gefühle authentisch und emphatisch beschrieben werden. Die Krebserkrankung seiner Mutter ist in seiner Gefühlswelt omnipräsent: Er sehnt sich nach Normalität und Unbeschwertheit, sucht sie auch, allerdings holt der Gedanke an den möglichen Tod seiner Mutter ihn immer wieder ein, sodass potentiell jede schöne Situation kippen kann. Kurzzeitig schleicht sich auch der Gedanke ein, dass die ganze Last, die die Krankheit seiner Mutter auf die Familie ausübt, mit dem Tod der Mutter endlich vorbei wäre. Gleichzeitig plagen ihn Gewissensbisse: Darf er auf seine Mutter wütend sein? Generell sind die Figuren schön ausgestaltet. Sie besitzen durch ihre Hintergrundgeschichten und die Darstellung ihrer Gedanken- und Gefühlswelt eine große Tiefe. Durchströmt ist die Handlung mit euphancholischen Momenten. Der Begriff „Euphancholie“ ist ein Neologismus, dessen Definition Wells einer Protagonistin in den Mund legt: Es handelt sich um eine Kreuzung aus „Euphorie“ und „Melancholie“ und bezeichnet das Gefühl höchster Glückseligkeit, wobei aber gleichzeitig bewusst ist, dass der Moment des Glücks endlich ist. Solche „euphancholischen“ Momente, die in lauen Sommernächten spielen, ziehen sich wie eine Perlenkette durch „Hard Land“. Laue Sommernächte mit Freunden, Partys, Gespräche im Kino, kleinere und größere Mutproben. Diese Szenen sind detailliert und glaubwürdig beschrieben, sodass man beim Lesen teilweise selbst von Euphancholie überschwemmt wird. Daneben finden sich viele Referenzen an die 1980er Jahre. Songs von Billy Idol, Bruce Springsteen oder Journey werden abgespielt; Filme wie „Zurück in die Zukunft“ oder „Breakfast Club“ in die Handlung eingebaut und diskutiert. Interessant ist zudem der Titel „Hard Land“. „Hard Land“ heißt nämlich auch der Gedichtzyklus des (fiktiven) Autors William J. Morris, der einzige Literat, den Grady hervorgebracht hat (dementsprechend ist sein Werk auch Schulstoff). Spannend ist in diesem Kontext, dass zum Ende der Handlung Morris‘ „Hard Land“ gedeutet wird, wobei im Kleinen der literarische Interpretationsprozess durchgespielt wird (Interpretation der Oberflächenstruktur/Suche nach Metaphern/alternative Interpretationsmöglichkeiten/Offenheit der Interpretation). Insgesamt ist Benedict Wells‘ „Hard Land“ ein schöner Coming of Age-Roman mit viel Tiefgang, Empathie und Euphancholie, der Eighties-Vibes ausstrahlt.

Bewertung vom 13.03.2021
Hunt, Peter

Die Erfindung von Alice im Wunderland


ausgezeichnet

Auf den Spuren von Charles Dodgson, Alice Liddell und "Alice"

„Die Erfindung von Alice im Wunderland“ ist ein knapp 120-seitiges Sachbuch von Peter Hunt, einem emeritierten Professor (Englische Literatur/Kinderliteratur) der Universität Cardiff. Das großformatige Buch besitzt 121 Abbildungen: Einerseits finden sich zahlreiche „Alice“-Originalillustrationen aus der Feder von John Tenniel, andererseits Photographien aus dem Umkreis von Charles Dodgson alias Lewis Carroll. Hunt liest und interpretiert in seinem Sachbuch die vier „Alice“-Romane von Carroll (die für Alice Liddell bestimmte Version „Alice’s Adventures Under Ground“, die an Kleinkinder adressierte „Nursery ,Alice‘“ und die Klassiker „in Wunderland“ und „Hinter den Spiegeln“) als Schlüsselromane, d.h. er sucht nach einem geheimen Sinn, der sich unter der oberflächlichen Handlung der Romane versteckt und eng mit Carroll und dessen Lebenswelt zusammenhängt. „Die Erfindung von Alice im Wunderland“ ist in 6 Kapitel unterteilt. Im ersten Kapitel „Zwei Männer und drei Mädchen in einem Boot“ dekonstruiert Hunt den „Alice“-Entstehungsmythos, das Buch sei aus dem Stehgreif und aus einem Guss während einer sonnigen Bootsfahrt auf der Themse entstanden. Das zweite Kapitel „Vor Alice“ beschäftigt sich mit der (moralisierenden) englischsprachigen Kinderliteratur, wie sie vor „Alice im Wunderland“ geschrieben worden ist. Gleichzeitig arbeitet Hunt beispielhaft heraus, wie Carroll diese Werke in „Alice“ aufnahm und parodierte. „Was Alice wusste“, das 3. Kapitel des Sachbuches, fokussiert „Under Ground“, die „Alice“-Ausgabe für die reale Alice Liddell. Hunt sucht hier versteckte Botschaften und Scherze, die von Carroll für Alice in „Alice“ verarbeitet worden sind bzw. sein könnten (Figuren/Handlungsorte, die ein reales Vorbild besitzen). Kapitel 4 „Die Außenwelt von Charles Dodgson“ und Kapitel 5 „Das Innenleben von Charles Dodgson“ gehen noch einen Schritt weiter: Hunt beschäftigt sich in diesen Kapiteln mit potentiellen Witzen und Satiren, die Carroll allein zur eigenen Unterhaltung für sich selbst in „Alice“ eingebaut hat – unabhängig davon, ob andere Leser*innen den Humor überhaupt erkennen. In diesem Sinne interpretiert Hunt bspw. den „Fünf-Uhr-Tee“ vor dem Hintergrund einer Kampagne zur Aufwertung des Ernährungsstandards, die Carroll in Christ Church durchsetzen wollte. Spannend ist auch das 5. Kapitel, in dem Hunt mit Zahlen herumjongliert (Lewis Carroll bzw. Charles Dodgson war ja beruflich Mathematiker). So taucht z.B. die Zahl „42“ häufig in „Alice“ auf. Außerdem interpretiert Hunt einzelne Verse aus „Hinter den Spiegeln“ als direkte Anrede Dodgsons an die reale Alice und der „weiße Ritter“ wird als Alter-Ego Dodgsons interpretiert. Das letzte Kapitel „Von Oxford hinaus in die weite Welt“ zeichnet kurz den restlichen Lebensweg der realen Personen nach, die Hunt zuvor angesprochen hat, und gibt einen kurzen Überblick über die „Alice“-Rezeption. Inwiefern solch ein Interpretationsansatz, der der (potenziellen) Autorintention folgt, fruchtbringend ist, wird in den Literaturwissenschaften stark diskutiert (poststrukturale Tendenzen neigen eher zum „Tod des Autors“ (R. Barthes)), d.h. Autor*innen und ihr Leben könne man bei der Interpretation getrost unberücksichtigt lassen, um allein den Text zu fokussieren und ggf. subversive Tendenzen, die sich gegen eine etwaige Autorintention im Text verselbstständigt haben, herauszuarbeiten). Einiges, was Hunt herausarbeitet, ist spekulativer Natur – man kann sich nicht vollends sicher sein, ob Carroll dies oder jenes intendierte. Alles kann, nichts muss – aber das ist wahrscheinlich zugleich der Aspekt, der die „Alice“-Bücher so besonders macht.

Bewertung vom 08.03.2021
Purcell, Laura

Die stillen Gefährten


ausgezeichnet

Inhalt: England im Jahre 1865. Elsie war glücklich. Sie hatte in Rupert Bainbridge einen fürsorglichen Ehemann gefunden und erwartet ein Kind; die Fabrik, die sie gemeinsam mit ihrem Bruder führte, prosperierte; einem Leben in den höheren gesellschaftlichen Kreisen schien nichts mehr im Wege zu stehen. Doch kurz nach der Hochzeit stirbt Rupert unter mysteriösen Umständen auf dem Familienanwesen "The Bridge" - und lässt die schwangere Elsie mit seiner verschrobenen Cousine zurück. Gemeinsam beziehen die beiden "The Bridge", wo sie auf ein seit Generationen verschlossenes Zimmer treffen. Als die Tür sich plötzlich öffnen lässt, offenbart der Raum seine Geheimnisse: ein uraltes Tagebuch und eine stille Gefährtin...

Persönliche Meinung: "Die stillen Gefährten" ist ein Schauerroman, der vor der historischen Kulisse des Viktorianischen Zeitalters spielt. Eine große Stärke des Romans ist seine atmosphärische Dichte, die besonders durch die Inszenierung der Handlungsorte entsteht. Nebel wogt über die Landschaften; "The Bridge" ist verwinkelt, knarzt und scheint verflucht; Fayford, das nahegelegene Dorf, ist heruntergekommen und den Bainbridges feindlich gesinnt. Der Schauer, der während der Lektüre entsteht, ist subtil: Nicht zerstückelte Leichen oder blutige Brutalität führen hier zum Grusel, sondern die titelgebenden "stillen Gefährten", lebensecht gemalte, zweidimensionale Holzfiguren, die den Bewohnern von "The Bridge" Gesellschaft leisten. Eher gemächliche Passagen wechseln sich mit spannungsgeladenen Szenen ab, wobei die Spannung/der Schauer jeweils langsam, in einem schön nervenkitzelnden Tempo aufgebaut wird. Erzählt wird die Handlung auf drei Zeitebenen und aus zwei Perspektiven. In Form eines Tagebuchs, das eine Vorfahrin Ruperts 1635 verfasste, erfahren die Leser*innen den Aufstieg der Familie Bainbridge und die Herkunft der stillen Gefährten. Der zweite Handlungsstrang spielt 1865/66 hauptsächlich auf "The Bridge" und wird aus Elsies Perspektive (dritte Person) erzählt. Über den dritten Handlungsstrang möchte ich gar nicht zu viel verraten. Nur so viel: Er spielt in einer Nervenheilanstalt zu einem nicht näher definierbaren Zeitraum (ungefähr ein, zwei Jahr) nach Elsies Erlebnissen in "The Bridge". Der Wechsel der Handlungsstränge erfolgt in einem passenden, Spannung erzeugenden Tempo. Interessant ist außerdem, dass der Roman den Leser*innen einen Interpretationsspielraum lässt - einige Antworten bleiben bewusst vage, einige Fragen eher offen, sodass man sich nicht vollends sicher sein kann, was auf "The Bridge" tatsächlich passiert ist. Insgesamt ist "Die stillen Gefährten" ein atmosphärisch dichter Roman, der subtile Schauerakzente setzt und durch mehrere Handlungsstränge Spannung erzeugt.

Bewertung vom 10.12.2020

Wonderlands


ausgezeichnet

Eine Einführung in die literarischen Wunderländer

"Wonderlands", herausgegeben von Laura Miller, ist eine Zusammenstellung von 100 Essays, die sich mit literarisch-imaginierten Ländern beschäftigen. Damit sind Handlungsorte gemeint, die von "unserer" Welt und ihren Regeln abweichen, also "Wonderlands" sind. Ein "Wonderland" im Sinne des Buches muss aber keine Utopie sein; auch Dystopien werden thematisiert. Die beiden großen Genres, die im Sachbuch thematisiert werden, sind Science Fiction und Fantasy/Phantastik. Dabei werden sowohl klassische als auch zeitgenössische Werke vorgestellt ("Wonderlands beginnt mit dem "Gilgamesch-Epos" und endet mit Salman Rushdies "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte"). Es ist in fünf Kapitel unterteit. Das erste Kapitel "Alte Mythen & Legenden" deckt den Zeitraum von 1750 v. Chr. bis 1666 n. Chr. ab und behandelt Texte wie "Die Göttliche Komödie" oder "Don Quijote". Das zweite Kapitel "Wissenschaft & Romantik" beschäftigt sich mit Klassikern des 18. und 19. Jahrhunderts ("Alice im Wunderland"; "Die Schatzinsel"). Kapitel 3 "Das goldene Zeitalter der Fantasy" (1901-1945) thematisiert, wie der Titel schon sagt, hauptsächlich Fantasy-Bücher ("Peter Pan"; "Mumins lange Reise"). "Neue Weltordnung" (1946-1980), das vierte Kapitel von "Wonderlands" stellt Texte unterschiedlichster Art vor ("Der Herr der Ringe", "Schlachthof" von K. Vonnegut oder W. Goldmanns "Die Brautprinzessin". Kapitel 5 "Das Computerzeitalter" (1981-heute) ist ebenfalls mit "Harry Potter", den "Scheibenwelt"-Romanen, H. Murakamis "1Q84" oder B. Atxagas "Obabakoak" breit gefächert. Es werden sowohl altbekannte Klassiker als auch Werke thematisiert, die man weniger auf dem Schirm hat, sodass "Wonderlands" eine schöne Fundgrube für Geheimtipps ist. Geographisch decken die ausgewählten Werke hauptsächlich den englischsprachigen Raum ab. Ziel des Werkes ist es, einen essayistischen Überblick über das jeweilige Werk zu geben. So besitzen die einzelnen Essays meist einen Umfang von 3 Seiten. Die Essays sind ähnlich aufgebaut: Sie informieren über die jeweilige Autor*in, geben eine kurze Inhaltsangabe des Werkes und bestimmen kurz den literar- und kulturhistorischen Wert. Zusätzlich dazu sind die Essays reich bebildert; teilweise mit Doppelseiten (Cover, Karten, Gemälde/Filmausschnitte, die auf dem Werk basieren etc.). "Wonderlands" ist insgesamt eine schön aufbereitete, informative und breit gefächerte Fundgruppe, die Werke mit fantastischen Welten näher vorstellt.

Bewertung vom 07.12.2020
Cavallo, Francesca

Das Wunder von R.


sehr gut

Ein Kinderbuch mit einer wichtigen Botschaft

Inhalt: Kurz vor Weihnachten muss die Familie Greco-Aiden umziehen. Der neue Präsident ihres Landes hatte bestimmt, dass Familien mit zwei Müttern und drei Kindern ab sofort illegal seien. Doch auch ihre neue Stadt R. ist nicht perfekt: Die Erwachsenen reden nicht miteinander – aus Furcht, dass etwas Schlimmes passiert. Denn: Wenn nichts passiert, kann auch nichts Schlimmes passieren. Die Kinder aus R. (und auch der Weihnachtsmann) sehen das aber ganz anders.

Persönliche Meinung: „Das Wunder von R.“ ist ein weihnachtliches Kinderbuch, das einige gesellschaftsrelevante Themen anspricht. So beschäftigt sich „Das Wunder von R.“ mit Homophobie und Egoismus innerhalb der Gesellschaft. Bereits im Vorwort benennt die Autorin Francesca Cavallo den Umstand, dass in Weihnachtserzählungen sehr selten Familien mit gleichgeschlechtlichen Paaren vorkommen. Früher habe sie immer gedacht, dass das wohl irgendwie sinnvoll begründet werden könne. Denn: Erwachsene wüssten schon, was sie tun. Erst im Erwachsenenalter wurde ihr bewusst, wie falsch das Fehlen gleichgeschlechtlicher Paare in weihnachtlichen Erzählungen ist. Dementsprechend widmet sie „Das Wunder von R.“ auch „[a]llen Kindern, die sich Erwachsenen widersetzen, um die Welt zu verändern.“ Diese Widmung umreißt auch grob den Plot der Erzählung: Die Kinder der Stadt R. möchten nicht so abgekapselt leben wie ihre Eltern und versuchen, ihre Eltern aus der selbstauferlegten Gefühlskälte zu befreien. Dabei ist die Handlung in ein weihnachtliches Setting eingebettet: Sie spielt kurz vor Weihnachten und Elfen sowie der Weihnachtsmann persönlich treten auf (besonders der Auftritt der Elfen ist dabei magisch). Die Erzählung ist in mehrere, kurze Kapitel unterteilt, die Schrift ist vergleichsweise groß und die Sprache sehr verständlich, sodass es sich sehr gut für jüngere Leser*innen eignet. Es finden sich zudem einige schön weihnachtliche Illustrationen von Verena Wugeditsch. Wenn man „Das Wunder von R.“ aus der Perspektive eines Erwachsenen liest, fallen möglicherweise ein paar Logikfehler auf und vielleicht findet man die Geschichte zu kurz. Beides fällt für mich allerdings nicht sonderlich ins Gewicht. Insgesamt ist „Das Wunder von R.“ eine schöne, kleine Weihnachtsgeschichte, die eine wichtige Botschaft besitzt und sich traut, gesellschaftliche Problemlagen zu benennen.