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Kata_____Lović
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Bremen

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Insgesamt 177 Bewertungen
Bewertung vom 25.05.2022
Shibli, Adania

Eine Nebensache


ausgezeichnet

Eine Nebensache von Adania Shibli
ist in seiner fragmentarischen Reduziertheit intensiv, vielschichtig, lyrisch. Die Sprache und Symbolik ist tief, schwer, die Botschaft beklemmend. Eine Nebensache, das sind kollektive Traumata, tiefe Wunden, die intergenerationale Weitergabe, eine Zeitungsnotiz und der Fakt, dass Todes- und Geburtstag zusammen fallen.

Wir beobachten mit einem fernen, fast surrealen Blick eine staubige, flirrende Szenerie.
1949, ein Jahr nach der Staatsgründung Israels, Waffenstillstand, Aufbruch und Al Nakba. In der Negev-Wüste, nahe der ägyptischen Grenze, betrachten wir eine Gruppe israelischer Soldaten, ein Camp, unwirklich, Schützengräben, staubige Leere, Hunde bellen.
Eine Beduinin wird gefangen genommen, einfach so, weil nicht Frieden ist. Wir bleiben fern, streifen nur die Sicht eines der Soldaten. Der Virus des Bösen ergreift ihn, zeitweise, die anderen Soldaten eine gierende Masse, zeitweise. Wir beobachten, wie die Frau versucht zu überleben, mit Distanz, ihr Blick wird für immer verschlossen bleiben. Sie wird ausgezogen, mit Benzin übergossen, abgespritzt, die Haare geschnitten und dann passiert, was in der Luft liegt. Sie wird vergewaltigt, misshandelt und umgebracht.

Schnitt, heute.

Eine palästinensische Frau, selbstbewusst, klug, trifft auf die Geschichte der Beduinin. Ihr Todestag, ihr Geburtstag, 25 Jahre danach. Sie verbindet sich mit der Beduinin, kann gar nicht anders. Sie sucht, sie sucht, sucht, sucht... Es treibt sie zur Reise hinüber ins nahe ferne Israel, in das Auge der Gefahr. Sie bringt Landkarten, alte, neue, palästinensische, israelische, legt sie übereinander, nebeneinander. Fieberhaft die Wahrnehmung, die Spurensuche, immer stärker der Wechsel von Versteinerung und intensiver Beunruhigung. Immer näher kommt sie Israelis und es wühlt sie auf, bis in innerste Schichten. Es saugt sie immer tiefer, sie atmet den Staub der Wüste, riecht nach Benzin, hört fernes Hundebellen, sieht Soldaten. Immer wieder überflutet sie pure Panik, doch sie rennt hinein.

Eine Nebensache ließ sich nur mit Konzentration und Anstrengung ertasten.
In der Regel ist es egal, wie viel Lärm um mich herum ist, ich lese und falle in den Text, wenn er gut ist. Hier brauchte ich Stille, musste viele Absätze mehrmals lesen.
Eine Anstrengung, die sich nicht minder lohnte, denn der Text ist klug, aufwühlend, pur. Und wenn es so etwas gibt, er ist wahr, wahrhaftig. Eine Nebensache sät seine Botschaften gegen Krieg, Ungerechtigkeit, Gewalt, ohne explizit zu werden und ohne die Traumata der anderen Seite zu verschweigen. Die Botschaften erwachsen beim Lesen, verranken sich im Nachhall und im Gespräch über den Text. Ein besonderes Stück Literatur, ganz nahe rückt es ans Herz.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.05.2022
Angel, Katherine

Morgen wird Sex wieder gut


ausgezeichnet

Ich habe ihn inhaliert, diesen klugen Essay über Frauen und Begehren. Ich kam aus dem Nicken nicht mehr heraus, aus dem inspiriert sein, dem Nach- und dem Weiterdenken. Denn es ist kompliziert, das Begehren und es geht nicht, es frei von vielfältigen gesellschaftlichen Kontexten zu leben. Ebensolches stimmt für Männer, ebensolches stimmt für queere Menschen, ebenso und anders, mit anderen Rollen und Begrenzungen konfrontiert.

Angel startet eindrucksvoll mit einer Szene, in der die Themen ganz nahe kommen, die der Essay behandelt.
Der Pornodarsteller James Deen drehte einen Film, GirlX, in den 2010ner Jahren, in denen er gefeiert wurde als Pornostar, den die Frauen begehrten. Noch vor den #metoo Debatten und vor den Vorwürfen gegen ihn selbst, die nicht zu einer Verurteilung führten, aber sein Image veränderten.
In dem GirlX Video gibt es wenig Sex zu sehen. Die Frau ist eine sexuell positive Frau, sie entscheidet und handelt, sie ist selbstbewusst, lacht. Sie erregt die Vorstellung gefilmt zu werden. Wir sehen sie aber auch verletzlich, schwankend. Wir schwanken mit ihr, merken das Machtgefälle, das sich durch ihren Konsent nicht auflösen wird.

Konsenz, die Diskurse um weibliches und männliches Begehren und Erregung werden in ihrer Entstehungsgeschichte dargestellt, gerade in der Reaktion auf sexualisierte Gewalt gewürdigt. Angel interessieren die Grenzen dieser Konzepte. Auf der Suche nach passenden Konzepten kritisiert sie, dass zu erfüllender Sexualität die Verletzlichkeit und Offenheit gehört. Das klare Nein und Ja sagen, setzt voraus, dass Frau genau weiß, was sie begehrt und wohin sich ihr Begehren entwickeln wird. Auch der Anspruch an feministische sexuell positive Frauen, ihren Körper genau zu kennen und dann erst sexuelle Erfüllung zu erlangen, greife zu kurz.

Die Spannung bestehe gerade darin, sich zu begegnen, sich zu entdecken, sich hinzugeben und zu führen und dabei die Grenzen der anderen Person zu achten.
Nicht einfach, aber besser als die sexuelle Erfüllung auf die Zukunft zu vertagen, wie der auf Foucaults Aufsatz von 1976 zurückgehende Buchtitel nahelegt.

»Herauszuarbeiten, was wir wollen, ist eine Lebensaufgabe, und sie muss immer wieder in Angriff genommen werden. Vielleicht liegt das Glück gerade darin, dass wir niemals fertig damit werden.«

Bewertung vom 25.05.2022
Soyinka, Wole

Die glücklichsten Menschen der Welt


sehr gut

Die glücklichlichsten Menschen der Welt sind in Nigeria zuhause, so sagt man in Nigeria. Ironisch, scharf, manchmal übertreibend greift Wole Soyinka in seinem umfangreichen Spätwerk diese Selbstbetitelung auf.

Soyinka ist ein beeindruckender Mensch. 1986 gewann er als erster Vertreter der Literatur aus dem afrikanischen Kontinent den Literaturnobelpreis. Zu Recht, denn er kann erzählen, sein Sound lässt die Figuren und Beziehungsgeflechte aufleben. Dabei ist er direkt in der anti- und postkolonialen Kritik und nimmt die aktuellen Probleme, Widersprüche und Konflikte ins Visier. Dies und seine Aktivitäten für den Frieden in den 1960ern im Biafrakrieg missfielen der Regierung und er kam in Isolationshaft für zwei Jahre. In den 90ern trieb es ihn ins Exil, er lehrte in Atlanta und erlangte die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Später pendelte er zwischen USA, Großbritannien und Nigeria, bis er aus Protest gegen Trump öffentlich seine US-Staatsbürgerschaft aufgab.

Heute ist Soyinka 87 Jahre alt, seinen letzten Roman hat er vor 50 Jahren geschrieben und jetzt will er es noch einmal wissen. Er kann es immer noch, ein überzeugendes Bild einer widersprüchlichen Gesellschaft zeichnen, der Doppelmoral, der Korrumpierung durch Macht, die Verquickung mit Religion und mit Kriminalität aufzeigen. Er bedient sich hier des Mittels der Satire. Doch wie bei Satiren üblich, bleibt ein eventuelles Lachen im Halse stecken ob der Tatsache, dass Realitäten beschrieben werden.

"Die glücklichsten Menschen der Welt" ist ein imposantes episches Werk, das sich Zeit nimmt. Vier Männer bilden die Mitte der Erzählung. Es werden weitere Figuren an Figuren gereiht, Politiker, Prediger, mächtige Männer. Frauen sind nur randständig Thema. Hauptsächlich folgen wir Interaktionen und Dialogen, das Innenleben bleibt für unseren Lesegeschmack zu wenig ausgeleuchtet. Die Erzählform und Sprache wirkt wie aus der Zeit gefallen. Dennoch beeindruckt Soyinka mit seiner scharfen Beobachtungsgabe, seinem Zorn und Drang zu erzählen über die korrumpierende Macht und Ungerechtigkeiten der Welt.

Bewertung vom 25.05.2022
Hofstede, Bregje

Einschlafen


sehr gut

Bregje Hofstede hat ein Gespür für Themen, sie kann essayistisch und sie kann erzählen.

Einschlafen. Wie eine Schlaflose die Nacht zurück erobert hat 24 Kapitel, jedes benannt nach einer Stunde, beginnend mit 01:00 Uhr, einer prägnanten Uhrzeit für die Insomniacs unter uns. Hofstede beginnt mit ihrer eigenen Geschichte der Schlaflosigkeit, ihrer Fixierung darauf. Sie greift gängige Tipps und Mythen auf, die alle nicht griffen.
Aktueller Forschung und Expert:innen, die sich auf physiologische Prozesse konzentrieren, gibt sie viel Raum. Sie erweitert diese Sichtweise zunächst auf die Psyche, die Emotionen, dann auf den Kontext und auf das Soziale.
Es sind individuelle Lösungen, die die Autorin findet, die Abkehr von der Großstadt und frugalistische Tendenzen. Meine Lösungen wären es nicht. Es bleibt aber genügend Raum für eigene Gedankengänge.

Bei der Fülle an zitierten Studien und Expert:innen klopfen zwei Herzen in meiner Brust. Ein Herz, das private, geht mit, folgt den unterschiedlichen Mosaiksteinen, erinnert einiges, findet andere Details neu und inspirierend.
Das andere, das berufliche und akademisch ausgebildetes Herz ist vorsichtig, denn Carl Poppers Erkenntnistheorie hat sich in mein Hirn gehämmert. Es gibt zu viele Studien und Expert:innen im psychologischen Bereich, die das eine oder das Gegenteil zum Ergebnis haben bzw. vertreten. Es war mir bei der Anreihung der Studien und den Expert:innen oft nicht ersichtlich, welche Aussagekraft sie haben. Sie schienen stets zu den Argumenten und Gedanken der Autorin zu passen.

Trotz der kleinen Einschränkungen ist Einschlafen ein sehr lesenswertes Buch.
Wen die Schlafstörungen beschäftigen, wer essayistische autobiographische Texte mag, wer Überwintern von Katherine May gerne gelesen hat, der und dem sei Einschlafen ans Herz gelegt.

Bewertung vom 25.05.2022
Mornstajnová, Alena

Hana


ausgezeichnet

Hana handelt von einer jüdischen Familie in Mähren, die alles erleben musste, Ausgrenzung, Gewalt, Unglauben, Verrat, den Versuch der Flucht, Verstecken, Deportation, Trennung, Lager, Theresienstadt, Ausschwitz, Vernichtung, das Überleben, die subjektive und objektive Schuld.
Der Roman ist autofiktional und stark konstruiert. Alle Figuren sind über die verschiedenen Zeitebenen hinweg eng miteinander verwoben. Der Tonfall ist sanft, beobachtend, warm, die Perspektive eine fast naive. Hana sei daher gerade Menschen empfohlen, die sich sonst nicht mit dem Holocaust beschäftigen.

Hana beginnt in den 50er Jahren aus der Perspektive von dem Mädchen Mira. Ihre Tante Hana ist stumm, mager, irgendwie da, Mira macht sich nicht viel Gedanken um sie. Sie erzählt uns, wie Ungehorsam ihr das Leben rettet. Denn Mamas Geburtstagskuchen ist mit Typhuserregern verseucht. Alle erkranken, außer Mira, die zur Strafe nicht mitessen darf. Alle Familienmitglieder sterben, nur Mira und Hana nicht, denn diese hatte schon einmal Typhus, im Lager. Mira kommt zu einer Freundin ihrer Mutter, aber der Mann und die Tochter wollen sie nicht. So kommt sie zu Hana.

Es folgen Rückblenden und Vorblenden. Jede einzelne Figur aus dem ersten Teil, sei sie noch so nebensächlich, wird zurückverfolgt, zieht enge Bande. Es ist ein fest geknüpfter Teppich einer Gemeinschaft, die Trennendes und zugleich eng Verknotetes zusammen führt. Wir erfahren die Geschichte der Oma von Mira und wir erfahren von Hana.

Hana träumt vom heiraten, ein tschechischer Soldat macht ihr den Hof. Zuerst ist die Stimmung subtil, dann immer mittelbarer antisemitisch, die Verfolgung nimmt Einzug. Wegen der Karriere lässt er Hana fallen, die aus Hoffnung die Flucht nach England verschleppt. Er heiratet ihre Freundin, Tschechin, jene Frau, die Mira zunächst aufnimmt und er ist jener Mann, der Mira nicht möchte. Miras Mutter wird versteckt, während Hana und die Eltern deportiert werden, erst nach Theresienstadt, dann nach Ausschwitz. Hana überlebt als einzige, gezeichnet, kehrt zurück und wird zu ebendieser kargen Figur, die ein wenig auftaut durch ihre Nichte Mira.

Bewertung vom 25.05.2022
Bayamack-Tam, Emmanuelle

Sommerjungs


ausgezeichnet

Sommerjungs von Emmanuelle Baymack Tam ist eine wuchtige libidonöse, bitterböse, zutiefst unmoralische Geschichte, die mich beeindruckt und beschäftigt hat. Dieser Roman ist ein Jahreshightlight, denn Sommerjungs ist ein gehaltvolles, provokantes Stück Literatur, das an die Abgründe und Grenzen der menschlichen Psyche geht. Die Autorin wagt nicht mehr und nicht weniger, als die großen philosophischen Fragen von gut und böse, nature and nurture, dem freien Willen und der Verantwortung zu behandeln, sich dabei biblischer Geschichten zu bedienen. Sommerjungs liest sich wie eine moderne Variation von Kain und Abel, in der Kain trotz aller Bevorzugung der Natur und der Menschen giftig ist.

Wer Triggerwarnungen braucht, dieser Text ist voller Abgründe, Gewalt, Grausamkeiten in sexualisierter, in rassistischer Form auch, in der Phantasie und Realität, denn besonders eine Figur, sie ist voller Psychopathie, böse, missgünstig und abstoßend.

Sommerjungs erzählt die Geschichte zweier Brüder Thadée und Zachérie, die von der Natur mit einer betörenden Attraktivität beschenkt sind. Beide surfen, scheinen ihre Jugend und Präsenz zu genießen, sich zu gleichen. Düstere Blitzlichter tauchen auf, die wir nicht einordnen können, Gewalt, eine versuchte Vergewaltigung, eine Störung im scheinbar perfekten Paradies. Thadée, der ältere, surft in La Réunion, Zachérie, der jüngere ist zu Besuch. Da passiert es, der Fall aus dem Paradies, der Bevorzugung, dem Denken, sich alles nehmen zu können, ja, ein Recht darauf zu haben. Thadée wird von einem Hai erfasst und verliert ein Bein.

Die Erzählweise ist multiperspektivisch, beginnt mit der Sicht der reichen, satten Eltern in Biarritz, ihrer Ambivalenzen und Brüche, ihrer Vergötterung der beiden Söhne. Von außen betrachtet, bringt der Verlust des Beines das gesamte Umfeld in eine Krise. Thadée zieht sich verbittert zurück, verliert sich im Internet, Verschwörungstheorien und den Identitären. Die Mutter und der Vater bringen Opfer um Opfer, doch sie sind gezeichnet. Zachérie hat sein Idol verloren und stürzt in eine hintergründig tiefe Traurigkeit. Seine Freundin Cindy betrachtet es wütend, zieht ihre Schlüsse. Die kleine Schwester Ysé, wirkt weise, seltsam unbeteiligt. Und es gibt Anouk, die scheinbar schwache, begehrliche weibliche Figur, die sich wandeln wird. Alle Figuren wandeln sich mit den Perspektiven und im Verlauf der Geschichte.

Es passiert noch Schlimmeres, was genau, sei in diesem spannungsgeladenen, Plot-getriebenen Pageturner nicht verraten.

Bewertung vom 25.05.2022
Abramovic, Marina

Durch Mauern gehen


ausgezeichnet

Diese Autobiografie hat mich überrascht, gefordert, beschäftigt, berührt. Ich war voll von dieser Frau, eingenommen, verliebt, inspiriert, erschöpft, ja erschöpft.

Abramović verhandelt in Durch Mauern Gehen die wichtigen Stationen ihres Lebens und ihrer Kunst. Sie ist dabei uneitel, direkt, offen, reflektiert, sie hinterfragt. Die Werke werden in ihrer Entstehung und Durchführung ausführlich beschrieben, in Abbildungen gezeigt. Abramović teilt dabei privatpersönliches, zeigt Bezüge auf. Sie glaubt an die Energie, das Schicksal, die Spiritualität.

Es gibt drei Marinas, schreibt sie selbst, die Kriegerin, die Spirituelle und die Jammertante. Die zarte, verletzte und verletzliche Marina, ich möchte sie umarmen, mag sie am liebsten, diese Jammertante. Sie ist dabei direkt, fast durchdringend, pur, und inspirierend, schon als Kind. Die Kriegerin fasziniert mich, sehr. Abramović arbeitet mit und gegen ihren Körper. Sie ist der Schmerz, sie überwindet ihn, setzt sich durch, ist stark, einsam, dabei kraftvoll, intensiv, viel, viel, viel. Sie findet Gefährten, verliert sie, fällt wieder in die zarte Verletzte, macht sich wieder stark.
Die Spiritualität gibt ihr Bodenhaftung, richtet sie aus, auch hier ist Abramović eine rastlose Suchende voller Energie. Sie wird es bleiben, bis sie aus diesem Leben scheiden wird. Eine Performance ihrer Beerdigung hat sie schon geplant.

Bewertung vom 25.05.2022
Herzberg, Ruth

Wie man mit einem Mann unglücklich wird


ausgezeichnet

Ruth Herzberg, du hast es drauf. Du kannst gute Unterhaltung, du kannst direkte, schonungslose Frauenfiguren, die fertig sind, sarkastisch und ja, manchmal auch erbärmlich. Warum gibt es das so wenig, solche Frauenfiguren meiner Generation, meines Alters? Frauen, die nichts auf die Reihe bekommen, die Daten, trinken, rumhängen, die irgendetwas hinterherlaufen und etwas anderes finden.
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Deine Protagonistin, ich liebe sie und ich feier sie. Denn in ihrem dahinleben ist sie cool. Sie sucht Sex, Liebe, eigentlich weiß sie es genau, sie fällt auf die Nase. Aber dabei belässt sie es nicht. Sie redet sich alles schön, hält fest an einem Mann, den sie loslassen sollte. Manchmal hat sie aber Spaß dabei, ist zutiefst sexuell befriedigt.
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Mir gefällt sehr, dass die Geschichte nicht dabei stehen bleibt, den Finger auf die bösen Männer zu richten, auch wenn es egoistische, lieblose, einfach blöde Männer sind, die wir als toxisch lesen können. Eigene Anteile werden entlarvt, die Idealisierung der Verliebtheit, die Abwertung, die romantischen giftigen Bilder.
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Es ist zum Lachen, zum Nein schreien und es ist zum sich erwischt fühlen, denn ich bin mir sicher, das eine oder andere hat jede von uns schon gedacht und gemacht.
Natürlich nicht genau so und vielleicht auch nicht so zugespitzt.
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Fühlt euch bitte alle angesprochen, die schon einmal unglücklich verliebt waren und es nicht einsehen wollten. Egal, wer ihr seid, wie ihr lebt, wen ihr begehrt. Singlegroßstadtfrauen in freien sog. Kreativberufen, kinderlos, heterosexuell, ihr habt hier das größte Match.
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Ach Ruth Herzberg, schreib doch mal Wie Man Mit Einem Mann Glücklich Wird, oh halt, das hast du schon. Ich hab es nicht gelesen, aber ich freue mich, ein wohlgefälliges Allheilversprechen wird das auch nicht sein.

Bewertung vom 25.05.2022
Scharbert, Simone

du, alice


ausgezeichnet

Hier fließen die Gedanken der historischen Figur Alice James in eine lyrische Erzählung. Alice lebt im Epizentrum der intellektuellen Eliten, sie ist reich, sie ist die Schwester von Henry James, seine Vertraute. Sie ist die Schwester von William James, der wichtigen Gründungsfigur der Psychologie. Alice lebt in der neuen und in der alten Welt. Und trotzdem, der Platz als Frau, er ist zu eng.

Alice ist eine Frau, die sich nicht fügt, sich nicht fügen kann, die nicht heiratet, tiefe Krisen hat, extravaganten Behandlungen unterzogen wird. Alice drängt es zur Bildung, zum Lesen, zum Schreiben. Sie pflegt intensive Freundschaften mit starken Frauen, die sie vielleicht auch begehrt. Alice ist Teil der frühen Frauenbewegung. Die Todessehnsucht besucht sie immer wieder. Als sie schwer krank wird, heißt die Erkrankung willkommen.

Alice findet ihren Ausdruck der Literatur, in der berührenden und klugen Literatur, die sich mit Simone Scharberts Text ihren Weg bahnt, bis zu uns. Simone Scharbert kann schreiben, dichten und die Geschichte von Alice erzählen, dass sie uns nahe kommt, ganz dicht und wir zur gleichen Zeit aus der Ferne ihren Werdegang im heutigen Lichte betrachten.
Wir folgen dem Stream of Conciousness, streifen sie in den wichtigsten Stationen ihres Lebens, wir fühlen uns ein in ihre Sehnsüchte, in ihre Wut, in ihre Verzweiflung, in ihr Wollen. Der kluge Inhalt, der Klang, die Musik in der Sprache, sie brachten mir einige Stunden Ruhe, Harmonie und Anregung.

Bewertung vom 26.03.2022
Babalola, Bolu

In all deinen Farben


sehr gut

In all deinen Farben von Bolu Babalola provoziert mit seinem Schwelgen und Feiern der Liebe, des Begehrens und jener intensiven Verbindung zwischen zwei Menschen, die magisch, überweltlich ist, den Körper elektrisiert und der Seele Ruhe gibt.

Beschäftigt sich die Gegenwartsliteratur, die mich anzieht, eher mit Abgründen, sucht die Lakonie und Nüchternheit, trieft dieser Text, traut sich blumig zu sein, schreckt vor Pathos und auch Kitsch nicht zurück.

In all deinen Farben vereint dreizehn Geschichten zeitlos oder in die Gegenwart hinein geschrieben. In den Erzählungen kommen Frauen zu Wort, sie sprechen über die Liebe und das Begehren. Sie bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch und Liebe, kippen mal in die eine, mal in die andere Richtung.

Jeder Figur liegt eine Quelle zugrunde, eine mythologische Geschichte oder Fragmente davon. Dabei wandert Babalola rund um die Welt. Den darunter liegenden Originalgeschichten wohnt oft eine Tragik und ein Opferstatus der weiblichen Figuren inne. Dies dreht Babalola um, ihre Frauen sind Handelnde und sich ihrer Stärke sehr bewusst, was nicht gleichbedeutend damit ist, dass ihre Lieben ein glückliches Ende nehmen.

Ja, es ist Unterhaltungsliteratur, ja, die Autorin ist jung, Influencerin, Twitterstar. Ja, ich vermute leider, dass die Übersetzung ihren Sound nicht ganz getroffen hat.

Wenn du keine Angst vor der Liebe, vor dem Schwelgen, Kitsch, der Unterhaltungsliteratur und Spaß an Mythologie hast, sei dir In all deinen Farben empfohlen.