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Christian1977
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Leipzig

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Insgesamt 198 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2022
Powers, Richard

Erstaunen


ausgezeichnet

Der neunjährige hochbegabte Robin mit Asperger-Syndrom kommt mit der Gesellschaft nicht zurecht. In der Schule eckt er an, zuhause droht ihn die Trauer um die vor zwei Jahren verstorbene Mutter zu ersticken. Sein alleinerziehender Vater Theo bricht mit ihm zu einer gemeinsamen Reise in die Smoky Mountains auf, um ihm die Wunder der Natur zu zeigen und ihn die Welt mit anderen Augen sehen zu lassen, was jedoch nur kurzzeitig Erfolg hat. Um die Behandlung seines Sohnes mit Psychopharmaka zu verhindern, entschließt sich Ich-Erzähler und Astrobiologe Theo, seinen Sohn an einem neuronalen KI-Experiment namens "DecNef" teilnehmen zu lassen - mit schier unglaublichen Folgen für alle Beteiligten...

"Erstaunen" ist der neue Roman des Pulitzer-Preisträgers Richard Powers. Es ist ein in allen Belangen bemerkenswerter, ja erstaunlicher Roman geworden. Zunächst ist da das ungewöhnliche Vater-Sohn-Verhältnis, das vor allem in der ersten Hälfte des Buches eine fast schon spürbare Wärme ausstrahlt. Die Dialoge zwischen Robin, genannt Robbie, und seinem Vater sind klug und man erkennt in jeder Zeile die gegenseitige bedingungslose Liebe, das Vertrauen, aber auch den Respekt voreinander und eine erstaunliche Ernsthaftigkeit. Powers hebt Robbies Sprachbeiträge kursiv vom Rest des Romans ab und erzeugt dadurch nicht nur eine gewisse Intensität, sondern schafft es durch den kleinen Kniff auch, dass man gar nicht erst das Gefühl hat, zu viele Dialoge zu lesen. Liebenswert und originell sind auch die zahlreichen Reisen, die die beiden auf fremde, von Theo ausgedachte Planeten unternehmen. Denn schnell wird klar: Robbie versucht auf seinen schmalen Schultern, das Leid und die Krisen der ganzen Erde auf sich zu nehmen - eine Last, unter der der kluge kleine Junge förmlich zusammenbrechen wird, wenn man diese Welt nicht zumindest in der Fantasie für ein paar Momente verlassen kann.

Als Robbies Probleme auch in der Schule immer größer werden, entschließt sich Theo, seinen Sohn zu einer Art Psychotherapie in KI-Form zu schicken. Beim "neuronalen Feedback" werden dem Jungen die Empfindungen anderer Menschen übertragen, die zuvor an diesem Experiment teilnahmen, darunter ausgerechnet Robbies verstorbene Mutter Aly. Ab diesem Moment wandelt sich "Erstaunen" von einem Vater-Sohn-Roman in einen aktuellen Gesellschaftsroman, in dem Powers sich auf einen US-Präsidenten bezieht, der zwar namentlich nie genannt wird, aber sehr nah an Donald Trump angelehnt ist. Und die "berühmteste 14-Jährige der Welt" heißt zwar nicht Greta Thunberg, sondern Inga Alder, ist der schwedischen Klimaaktivistin aber ansonsten in allen Belangen wie aus dem Gesicht geschnitten. Auch Robbie entwickelt sich - wie seine Mutter - zu einem Tierrechtsaktivisten und Klimaschützer.

In dieser zweiten Hälfte des Romans wirkt "Erstaunen" bisweilen ein wenig zu didaktisch. Die Grundhaltung Robbies und Theos zu den Menschen ist zudem so pessimistisch, dass man sich zumindest sicher sein kann, dass die beiden nie "Im Grunde gut" von Rutger Bregman gelesen haben. Und auch die Emotionalität schwindet ein wenig, denn Robbie wird durch die Behandlung zwar glücklicher, doch eben auch ein Stück weit abgeklärter.

Umso gelungener ist das Finale des Romans, in dem Richard Powers den Kreis zum abermaligen gemeinsamen Vater-Sohn-Ausflug in die Smoky Mountains schließt. Insbesondere in den Naturbeschreibungen des Nationalparks beweist Powers auch stilistisch sein großes Können. Ohne inhaltlich etwas zu verraten, sollte man sich als Leser:in dieses Finale aber vielleicht nicht gerade direkt vor dem Schlafengehen zu Gemüte führen, wie ich es fälschlicherweise tat. Denn "Erstaunen" lässt einen tief bewegt und aufgerüttelt zurück...

Mit "Erstaunen" hat Richard Powers einen Roman veröffentlicht, der wegen seiner Emotionalität lange nachwirkt. Mit Theo und dem ungemein liebenswerten Robbie hat er zudem zwei unvergessliche Protagonisten der amerikanischen Gegenwartsliteratur erschaffen, die die Leser:in

Bewertung vom 29.12.2021
Flarer, Christoph

Albwachen


sehr gut

Seit frühester Kindheit leidet Thomas unter dem Zwang, seine Träume in Realität zu verwandeln. Was noch relativ harmlos mit dem abgerissenen Bein einer Puppe beginnt, entwickelt sich mit zunehmendem Alter zu einem wirklich gewordenen Albtraum...

Der kleine Septime-Verlag hat in den letzten Jahren vermehrt sein glückliches Händchen bei der Auswahl seiner (nicht nur) deutschsprachigen Autor:innen bewiesen. Ob Tobias Sommers geniales "Jagen 135" oder Salih Jamals berauschendes "Das perfekte Grau" - stets zeichnet die Verlagstitel eine gewisse Kompromisslosigkeit, gar Radikalität aus.

In allen Belangen kompromisslos ist auch Christoph Flarers zweiter Roman "Albwachen" geraten. Wobei ich nicht behaupten kann, dieses Buch gern gelesen zu haben. Doch darauf setzt Flarer auch gar nicht.

Mit aller Konsequenz versetzt der Autor seine Leser:innen in die kranken Gedanken eines Neurotikers. Der erste, durchaus bemerkenswerte Satz des Romans lautet: "Thomas stoppte das Metronom und schaltete das Licht aus." Es ist der einzige Satz des kompletten Romans, den wir nicht aus dem Munde des Ich-Erzählers Thomas hören. Denn mit dem Ausschalten des Lichts sind wir auch schon mitten drin in Thomas' Kopf - und werden ihn auf den nächsten knapp 250 Seiten nicht mehr verlassen.

Literarisch wagt Flarer ungemein viel und wird dabei nicht nur auf breite Zustimmung stoßen. Thomas' Sätze brechen schon mal abrupt ab, manchmal heißen sie nur "Ich." Weil es dem Erzähler in diesem Moment einfach nicht möglich ist, seine Gedanken zu ordnen, sie auszuformulieren. Zu furchtbar sind diese, zu albtraumhaft. Diese Unrast überträgt sich durchaus auf den Leser. Manchmal vermischen sich die Buchstaben auch einfach, oder ein irres "Tschack.Tschack.Tschack" platzt aus Thomas heraus. Tagebucheinträge sind nicht nur wegen der Daten unsortiert, auch die Zuordnung von Tagen und Daten stimmen nicht. Auf direkte Rede verzichtet der Autor nahezu konsequent.

Es gelingt auch (anfangs) schwerlich bis (gegen Ende) überhaupt nicht, eine Bindung zum Protagonisten aufzubauen. In den Kindheits- und Jugendszenen verspürte ich noch ein gewisses Mitgefühl mit diesem Jungen, der von so furchtbaren Zwängen und Angstzuständen geplagt ist. Doch mit zunehmender Romandauer ließ dies bei mir nach, weil Thomas ein ganz schrecklicher Egomane ist. "Ich, ich, ich", tönt es aus allen Seiten. Dabei wüsste man gern so viel mehr über Björn beispielsweise, seinen besten Freund, der wohl als Einziger von seinem (Alb-)Traum-Geheimnis weiß und immer zu Thomas steht. Warum auch immer.

An einigen Stellen wusste ich nicht mehr, was Lüge und was Wahrheit ist, weil Thomas es mit letzterer auch nicht so genau nimmt. Mal deckt er seine Lügen im nächsten Moment zwar auf, anderes bleibt aber einfach so stehen und man zögert. Das ging bei mir so weit, dass ich sogar an der Existenz gewisser Figuren zweifelte. Und auch die immer drastischer werdenden Ereignisse hoffte ich als Unwahrheiten abhaken zu können.

In einer besonders bemerkenswerten Szene versucht es Thomas mithilfe seiner Freunde, von denen er erstaunlicherweise einige hat, wenn man ihm glauben darf, mit einem tagelangen Schlafentzug, um anschließend in einen tiefen, traumlosen Schlaf fallen zu können. Hier entwickelt der Text eine immense Intensität, fast eine Art Rausch und die Buchstaben tanzen hin und her.

Im letzten Drittel des Buches war die Lektüre für mich schwer aushaltbar. Zahlreiche explizite Grausamkeiten reihen sich dort aneinander, auf die ich gerade in ihrer Häufigkeit doch hätte verzichten können. Spätestens hier wird bei den Leser:innen wohl auch das letzte Fünkchen Empathie erlöschen. Dennoch gestaltet sich das Finale so rasant und spannend, dass man doch wieder mit Thomas auf ein gutes Ende hofft. Ob sich diese Hoffnung erfüllt, lasse ich natürlich offen. Fest steht aber, dass der letzte Satz mindestens genauso bemerkenswert ist wie der erste...

Christoph Flarers "Albwachen" ist ein Roman, den ich im Grunde nicht

Bewertung vom 26.12.2021
Hector, Wolf

Die Brücke der Ewigkeit / Die Baumeister Bd.1


sehr gut

Als der zwölfjährige Jan Otlin 1342 im mittelalterlichen Prag in letzter Sekunde seine Mutter nach einem Brückeneinsturz aus den Fluten der Moldau reißen kann, schwört er zu Gott, er werde eine neue Brücke bauen, die ewig halten solle. 15 Jahre später bekommt er die Möglichkeit, diesen Schwur einzulösen. Allerdings ist es nicht nur die Moldau, die ihm bei der Erfüllung Steine in den Weg legt...

"Die Brücke der Ewigkeit" ist der neue Historische Roman von Thomas Ziebula, den er diesmal unter dem Pseudonym Wolf Hector veröffentlicht hat.

Schon der Prolog lässt die Leser:innen stutzen, denn Hector betitelt ihn mal eben "Das Ende" und lässt darin den Protagonisten Jan Otlin im Jahre 1367 zurückblicken auf die Ereignisse der letzten 25 Jahre. Ein gewagter Kniff des Autoren, der zu Beginn der eigentlichen vier Teile des Romans jeweils zu diesem Prolog zurückkehrt und darin seine Figuren nicht nur Geschehnisse der Handlung zusammenfassen lässt, sondern auch schon andeutet, auf was sich die Leser:innen einstellen können. Ich hatte zunächst meine Zweifel, ob diese Vorgehensweise funktioniert, da ich befürchtete, schon zu viel über die Romanhandlung zu erfahren. Im Laufe der Lektüre hat sich diese Art des Erzählens in meinen Augen tatsächlich aber als großes Plus erwiesen. Denn sie ermöglicht es Wolf Hector nicht nur, den mit 600 Seiten ohnehin schon ein wenig zu langen Roman zumindest etwas zu straffen, sondern baut zusätzlich eine so große Spannung auf, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es zu den ungeheuerlichen Ereignissen kam, über die ich hier natürlich kein Wort verlieren werde.

Als äußerst gelungen habe ich zudem die Figurenkonstellation empfunden. Mit Jan Otlin, seiner späteren Ehefrau Maria-Magdalena und seinem Gegenspieler Rudolph von Straßburg präsentiert uns Hector drei nahezu ebenbürtige Protagonist:innen, aus deren Perspektiven die Leser:innen immer wieder neue Blickwinkel auf die Handlung erhaschen. Positiv ist dabei die Ambivalenz der Figuren hervorzuheben. Jan Otlin entwickelt sich vom kindlichen Lebensretter zum traumatisierten Zauderer und kurz darauf zurück zum Lebensretter. Trotz dieser Extreme und der auch im weiteren Verlauf zahlreichen Fehler und Verfehlungen, die Jan begeht, nahm mich die Figur für sich ein. In der Figur der Maria-Magdalena schimmern fast noch größere Themen durch, obwohl der Charakter sich selbst gar nicht so sehr entwickelt wie Jan Otlin. Fast beiläufig geht es bei Maria-Magdalena um Themen wie sexuelle Identität und Liebesbeziehungen mit Menschen mit psychischen Erkrankungen. Erstaunlich und ungewöhnlich für einen Historischen Roman. Und auch Antagonist Rudolph von Straßburg ist Hector gelungen. Die Figur vereint zwar viele der sieben biblischen Todsünden auf sich, doch trotzdem habe ich in ihm durchweg einen eher tragischen Charakter erkannt, dessen Handlungen ich zwar selten gutheißen, aber zumindest immer nachvollziehen konnte.

Schillernd sind auch die Nebenfiguren des Romans, von denen vor allem die historische Figur des Predigers Militsch von Kremsier und die fiktive Heilerin, Wahrsagerin und Freudenhaus-Chefin Ricarda Scorpio herausragen. Letztere kann fast alles - außer richtige Voraussagen zu treffen. Nicht die beste Voraussetzung für ihre Tätigkeit, die nicht nur dadurch irgendwann den Zorn so ziemlich jeder anderen Figur auf sich zieht.

Insgesamt ist "Die Brücke der Ewigkeit" vielleicht 50 bis 100 Seiten zu lang geraten. So hätte ich beispielsweise nicht nur auf die zahlreichen Liebesszenen verzichten können, in denen es sehr oft um irgendwelche "lodernden Leidenschaften" geht. Ohnehin wäre Hector auch mit weniger Adjektiven ausgekommen, als er sie verwendet.

In der zweiten Hälfte des Romans war ich der zahlreichen doch sehr gewalttätigen Schilderungen irgendwann überdrüssig. Da wird gemordet, vergewaltigt, enthauptet und gefoltert ohne Unterlass. Zudem entwickelt sich ein gewisses Intrigantenstadl, bei dem ich irgendwann nicht mehr ganz folgen konnte, wer sich

Bewertung vom 18.12.2021
Mytting, Lars

Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund / Schwesterglocken Bd.2


ausgezeichnet

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts versucht Pfarrer Kai Schweigaard im norwegischen Gudbrandsdal noch immer, sein Versprechen gegenüber seiner jung verstorbenen Liebe Astrid Hekne einzulösen und die sogenannten Schwesterglocken Halfrid und Gunhild wiederzuvereinen. Doch während die eine Glocke mittlerweile in Dresden läutet, befindet sich ihre Schwester tief auf dem Grund des Losnesvatn-Sees im genannten Tal. Nur zwei "Folgebrüder" können sie von dort befreien, besagt eine Legende. Schon mehrfach versuchte Astrids Sohn Jehans vergeblich sein Glück. Als er einem seltsam vertrauten Engländer auf der Rentierjagd begegnet, wittert er eine neue Chance...

"Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund" von Lars Mytting ist der zweite Teil der sogenannten "Schwesterglocken-Trilogie" nach dem Vorgänger "Die Glocke im See". Vorkenntnisse aus dem ersten Teil sind nicht zwingend notwendig. Allerdings besitzt der zweite Teil eine solch große Intensität und Sogwirkung, dass man kaum umhinkommen wird, danach auch "Die Glocke im See" lesen zu wollen.

So ging es mir zumindest, als ich mich ohne Kenntnis des ersten Teils daran machte, das "Rätsel auf blauschwarzem Grund" lösen zu wollen. Lars Mytting entpuppt sich dabei als großartiger Erzähler, der sich mit viel Feingefühl und Empathie den Sorgen und Nöten seiner Figuren widmet, ohne sie für ihren Aberglauben zu verspotten oder sie für ihre durchaus zahlreichen Fehler zu verurteilen. Insbesondere Jehans Hekne ist ein ambivalenter Charakter, der im Verlaufe des Romans oft unüberlegt oder von falschem Stolz getrieben handelt. Dennoch gelingt es Mytting, mit seiner bildhaften, manchmal poetischen Sprache so viel Wärme auszustrahlen, dass man auch für diese Fehler ein großes Verständnis entwickelt, den Figuren sehr nahe kommt und ihnen immer das Beste wünscht.

Mein Lieblingscharakter in dieser Hinsicht ist aber Pfarrer Kai Schweigaard, den viele Leser:innen aus dem ersten Teil bereits kennen dürften. Schweigaard besitzt eine solch große Güte und Anziehungskraft, dass ich mich mit allen Fasern meines Körpers in ihn hineinversetzen konnte und wollte. Selten habe ich es erlebt, dass ein Autor seine Figuren dermaßen intensiv gestaltet hat.

Doch nicht nur die Charaktere sind ausgezeichnet durchdacht, auch die Handlung überzeugt auf hohem Niveau. In der ersten Hälfte des Buches nimmt sich Mytting sehr viel Zeit und erzählt in überwiegend langsamem Tempo vom Gudbrandsdal und seinen Bewohnern, vom Rätsel um die Schwesterglocken - und von Kais Suche nach dem Hekne-Teppich, den fast 300 Jahre zuvor die an der Hüfte zusammengewachsenen Hekne-Schwestern Halfrid und Gunhild gewebt haben und dem in diesem zweiten Teil der Trilogie eine zentrale Rolle zufällt. Äußerst spannend und mit einer Prise Mystik lässt Lars Mytting die Leser:innen teilhaben an dieser Suche.

In der zweiten Hälfte des Romans nimmt das Erzähltempo zu, parallel zu den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritten, die ihren Weg auch in das Gudbrandsdal finden. Hier verlor das Buch für mich zwischenzeitlich ein wenig an Intensität, weil plötzlich ganze Jahre in wenigen Absätzen zusammengefasst werden und ich die Figuren nicht mehr Schritt für Schritt begleiten durfte, wie über weite Strecken der ersten Hälfte.

Mit dem wunderbar bewegenden dritten Teil findet Mytting aber zu dieser Intensität zurück und beeindruckt mit tieftraurigen zwischenmenschlichen Momenten des Abschieds, der Trauer und der Liebe und lässt es gleichzeitig ein wenig im Stile der klassischen Schauergeschichten spuken, was bei mir ebenfalls für Gänsehaut sorgte.

Mit "Ein Rätsel auf schwarzblauem Grund" beweist Lars Mytting, dass er in der so vielfältigen und hochkarätigen norwegischen Literaturszene durchaus in einem Atemzug genannt werden darf mit Jan Kjaerstad, Karl Ove Knausgard und Tarjei Vesaas. Sein Roman ist äußerst klug konzipiert und bewegt mit eindringlicher Sprache und unvergesslichen Figuren. Der Vorgänger "Die Glocke im See" steht auf meiner Lese

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.12.2021
Damasio, Alain

Die Flüchtigen


sehr gut

Frankreich, im Jahre 2040: Die Großstädte sind überwiegend in den Händen von Privatunternehmen, die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer. Der Widerstand gegen diese Verhältnisse ist klein, aber laut. Auch Lorca und seine Frau Sahar sind Gegner des Systems. Doch viel mehr als die Politik beschäftigt die beiden das Verschwinden ihrer Tochter Tishka, von der es seit mittlerweile zwei Jahren kein Lebenszeichen mehr gibt. Lorcas Verdacht: Tishka ist bei den Flüchtigen. Dabei handelt es sich um für das menschliche Auge nahezu unsichtbare Wesen, die sich in nicht einsehbaren Verstecken befinden. Um Tishka zurückzugewinnen, schließt sich Lorca einer militärischen Einheit von Flüchtigenjäger:innen an - nicht ohne Folgen für sein weiteres Leben und die Ehe mit Sahar...

Es ist schwierig, etwas über Alain Damasios "Die Flüchtigen" zu schreiben, ohne auf die zahlreichen Überraschungen einzugehen, die dieser Roman bereithält. Der erste ganz offensichtliche Vorteil dieses fast 850 Seiten starken Werks ist schon einmal der Klappentext: Selten zuvor habe ich einen Klappentext gelesen, der so wenig über den Roman verrät. Man kann ihn sogar vor der Lektüre des Buches studieren und weiß wahrscheinlich trotzdem nicht, in welche Richtung sich "Die Flüchtigen" entwickeln wird.

Im Roman selbst entpuppt sich Damasio als ideenreicher, kreativer Irrwisch, dessen positivem Wahnsinn ich größtenteils sehr gern gefolgt bin. In den Text geworfene Symbole in Form kleiner Punkte, Bögen oder Klammern geben den Leser:innen nicht nur einen Hinweis darauf, welche Figur wir gerade begleiten, sondern machen auch die Befindlichkeiten der Charaktere deutlich. So verwischen die Buchstaben schon mal, werden von traurigen Bögen nach unten begleitet oder stocken, wenn sich die Figur in einer Stresssituation befindet. Das ist tatsächlich atemberaubend, einzigartig und hat eindrucksvolle Auswirkungen auf das eigene Lesen. Denn ich merkte, dass sich auch mein Leseverhalten änderte, ich schneller las, wenn die Figuren außer Atem waren. Schon allein dieses Spiel mit der Schrift, die Möglichkeiten mit der Sprache umzugehen, rechtfertigt die Lektüre von "Die Flüchtigen". Es ist zwar anstrengend, aber man wird für das Durchhaltevermögen belohnt.

Doch auch inhaltlich weiß Damasios Werk über weite Strecken zu überzeugen. Denn "Die Flüchtigen" ist nicht nur Science Fiction, sondern auch ein Familien- und Gesellschaftsroman, eine Mischung aus Dystopie und alternativer Realität, eine Parabel auf die Ausbeutung der Natur und auf den Umgang mit dem Fremden - in welcher Art auch immer es uns begegnet. Meistens trifft der Autor dabei den richtigen Ton. Seine großen Stärken hat der Roman in den Szenen, in denen sich Lorca und Sahar auf die Suche nach ihrer Tochter machen, aber auch bei der (mehr oder weniger) wissenschaftlichen Erforschung der Flüchtigen. Trotz der durchweg ernsten Themen schafft es Damasio ganz vorzüglich, immer wieder auch Witz und ein Augenzwinkern in die Handlung zu integrieren.

Auch die Figurenzeichnung ist gelungen. Insbesondere Sahar mit ihrer Mischung aus Skepsis, vollkommener Liebe zu ihrem verschwundenen Kind und einer gehörigen Prise Rebellentum ist ein starker Charakter. Glaubwürdig auch die unterschiedlichen Tonfälle der Figuren, bei denen man mit der Zeit auch ohne die Symbole fast immer wusste, wen wir gerade begleiten.

Das klingt im Grunde alles so, als hätte Alain Damasio den perfekten Science Fiction-Roman geschrieben, ein Referenzwerk mit Klassikerpotenzial. Dass dies in meinen Augen dann doch nicht zu 100 Prozent greift, liegt vor allem am letzten Drittel des Buches. Während ich die zärtlichen und poetischen Momente des Romans sehr zu schätzen wusste, gab es mir auf der anderen Seite jedoch viel zu lange actionlastige Abhandlungen über Jagden, Fluchten, politische Angriffe und Gegenangriffe, Verfolgungen und Gewalt. Über einige Stellen bin ich förmlich hinübergerauscht, um sie hinter mich zu bringen. Ein Makel, der bei entspre

5 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.12.2021
Schlink, Bernhard

Die Enkelin


gut

Als Birgit stirbt, hinterlässt sie ihrem Mann Kaspar nicht nur den Schmerz, sondern auch ausführliche Aufzeichnungen, in denen er erkennt, dass seine Frau einst eine Tochter gebar, die sie nie kennengelernt hat. Auf der Suche nach dem Geheimnis seiner Frau, aber auch nach sich selbst, findet Kaspar schließlich Svenja, die sich der völkischen Bewegung angeschlossen hat. Doch während sich die Beziehung zu seiner Stieftochter und deren Mann schwierig gestaltet, findet er unvermittelt Zugang zu Sigrun - seiner Enkelin...

"Die Enkelin" von Bernhard Schlink ist ein dreiteiliger Roman, dessen erster Teil sich vornehmlich um die Beziehung zwischen Kaspar und seiner Frau dreht, während ab Teil zwei daraus eine Art Entwicklungsroman mit dem Fokus auf das Verhältnis zwischen Kaspar und Sigrun wird.

Schlink agiert dabei äußerst einfühlsam und möchte die deutsch-deutsche Geschichte in verschiedenen Aspekten aufarbeiten. Die Unterschiede zwischen der BRD und der DDR inklusive der Flucht Birgits aus dem Osten, später dann der Blick auf Wendeverlierer und -gewinner und das Abdriften in die deutsch-nationale Szene. Es ist ein wohlgemeinter Blick Schlinks, dessen Ansinnen ich für ehrenwert und absolut nachvollziehbar halte. Dennoch trifft er dabei nicht immer den richtigen Ton.

Im ersten Teil des Romans störten mich die kurzen, schmucklosen Sätze, die inklusive zahlreicher "Danns" und "Abers" einen negativen Eindruck hinterließen. Zudem konnte ich die aus Kaspars Perspektive geschilderte Faszination beim ersten Kennenlernen mit Birgit überhaupt nicht nachvollziehen. Überraschend und gelungen hingegen ist der plötzliche Perspektivwechsel hin zu Birgit, der auch zu einem formalen Bruch des Romans führt. Liest man zunächst zehn kurze Kapitel auf 50 Seiten, folgt mit den Aufzeichnungen Birgits mal eben ein einziges Kapitel, bestehend aus 80 Seiten. Anstrengend, aber überraschend und mutig. Zudem wird die Geschichte Kaspars und Birgits deutlicher, macht aber einen größeren Teil der ersten 50 Seiten durchaus redundant.

Ab dem zweiten Teil des Romans sorgte Schlink mit den detaillierten und kuriosen Einblicken in das Leben völkischer Siedler und der warmherzig geschilderten, sich langsam anbahnenden Freundschaft zwischen Kaspar und seiner (Stief-)Enkelin Sigrun bei mir für grundsätzlich mehr Interesse. Doch auch hier konnte mich der Roman nur teilweise überzeugen. Zu holzschnittartig geraten ihm die Figuren, zu unglaubwürdig ist deren Verhalten, zu zufällig die erfolgreiche Suche nach Birgits Tochter Svenja. Die zahlreichen Dialoge wirken recht künstlich, Sigrun verhält sich manchmal wie ein Kleinkind, manchmal wie eine frustrierte Erwachsene - aber eigentlich nie wie die 14-jährige Jugendliche, die sie ist. Wenn Kaspar bei der Suche nach der richtigen Literatur für Sigrun über Begriffe wie "Kondome" oder das Auftauchen von Haschisch stolpert und stattdessen nach "lieben Hunden" im Wald oder "Spielgefährten" für Sigrun sucht, entbehrt das nicht einer gewissen Komik. Hier wird deutlich, dass Schlink verständlicherweise von der Lebenswelt einer 14-Jährigen weit entfernt ist - ob völkisch oder nicht.

Kaspar selbst ist hingegen eine Figur, die für mich nicht greifbar war, deren Ambivalenz Schlink aber ganz offensichtlich auch beabsichtigte. Wenn Birgits ehemaliger Geliebter Kaspars verstorbene Ehefrau unwidersprochen als "Flittchen" bezeichnet, oder wenn Kaspar singend und johlend an den Feierlichkeiten der Völkischen teilnimmt, konnte ich nur den Kopf schütteln - und es dennoch nicht verhindern, dass dieser gut 70-Jährige Mann mir in anderen Situationen sehr sympathisch war.

Als passend, überraschend und berührend habe ich das Finale empfunden. Ohne inhaltlich näher darauf eingehen zu wollen, gelingt es Schlink jedenfalls, ein drohendes kitschiges Ende zu umgehen und stattdessen mit einem offenen, aber hoffnungsvollen Satz für eine Gänsehaut bei mir zu sorgen.

Insgesamt ist "Die Enkelin" ein Roman, der mich trotz der vorhandenen Schw

Bewertung vom 16.11.2021
Kaufmann, Ernst

ANDERSWO WEIT


ausgezeichnet

Ob Mexiko, Griechenland oder Belarus - in "Anderswo weit" entführt Ernst Kaufmann seine Leser:innen in 16 Erzählungen an die unterschiedlichsten Orte und berichtet von bemerkenswerten Menschen und Ereignissen. Es ist ein wunderbares Buch, das unterhält, überrascht und berührt.

Ich muss gestehen, dass mir bisher weder der Autor noch dessen Verlag Edition AV ein Begriff waren. Umso überraschender war für mich die Lektüre von "Anderswo weit". Denn mit seinen melancholischen Beschreibungen von Landschaften, Menschen und Tieren, die er zu Erzählungen verdichtet, und dem dazu passenden Schreibstil traf Ernst Kaufmann von Beginn an meinen Nerv.

Die Ereignisse selbst sind in den meisten Erzählungen dabei gar nicht sonderlich spektakulär. Es sind die Menschen und die Begegnungen mit ihnen, die lange und intensiv nachwirken - und natürlich die Vielfalt der Landschaften und Themen, die sich zu einem literarischen Panorama zusammenfügen, das so berührend wie unterhaltsam ist. Ob Kaufmann in einer verlassenen Goldgräberstadt in den USA namenlose Grabsteine betrachtet oder an einem bewegenden Sundance der Lakota teilnimmt; ob er von einer ganz besonderen Begegnung mit einem Adler in Mexiko oder seltsamen Vögeln im Salzkammergut berichtet - Kaufmann trifft stets den richtigen Ton und nimmt sich angenehm zurück.

Ohnehin ist es der Erzähler selbst, der diese Begegnungen und Erlebnisse überhaupt erst ermöglicht. Mit seiner besonderen Beobachtungsgabe, seinem ungemeinen Respekt vor Mensch, Tier und fremden Kulturen und seiner Offenheit habe ich Ernst Kaufmann als äußerst sympathisch und empathisch empfunden. Hinzu kommen eine Prise Selbstironie und eine gewisse Abenteuerlust, die sich unmittelbar auf die Leser:innen überträgt.

Ein weiteres Plus sind die Originalbilder, die passend in die jeweiligen Erzählungen eingebunden werden. Sicherlich hätten in einigen Fällen Farbfotos noch eine größere Wirkung erzielt - wie auf dem wunderbaren Cover -, doch auch in Schwarz-Weiß sind sie durchaus ein Gewinn.

Mir war zwar nicht immer ganz klar, was autobiografisch und was autofiktional ist, doch das störte mich gar nicht, denn fantasieanregend war nahezu jede einzelne der Erzählungen - und sorgte ganz nebenbei für eine gehörige Portion Fernweh. In einigen Erzählungen vermisste ich eine chronologische Einordnung, die den Rahmen dadurch etwas genauer abgesteckt hätte.

Doch das ist nur ein kleiner Wermutstropfen, der den äußerst positiven Gesamteindruck nicht trüben konnte. "Anderswo weit" ist ein lesenswerter Roadtrip, eine melancholische Reise in die Ferne und bisweilen auch in die Vergangenheit. Ein literarischer Geheimtipp.

Bewertung vom 11.11.2021
Balzano, Marco

Wenn ich wiederkomme


sehr gut

Daniela lebt in der rumänischen Provinz mit ihren Kindern Manuel und Angelica ein bescheidenes Leben. Als sie ihren Job verliert und auch ihr nahezu unsichtbarer Ehemann finanziell nichts beiträgt, entscheidet sie sich, nach Italien zu gehen, um dort als Altenpflegerin zu arbeiten - ohne ihre Familie darüber vorher zu informieren. Wie geht es den verlassenen Kindern nach Danielas Weggang? Was bedeutet das neue Leben für die Mutter selbst? Darüber schreibt Marco Balzano in seinem berührenden Familienroman "Wenn ich wiederkomme".

Die Besonderheit dieses Romans ist nicht die Dreistimmigkeit, die Balzano gewählt hat, um Manuel, Daniela und Angelica Gehör zu verschaffen. Die Wahl unterschiedlicher Perspektiven ist heutzutage ja fast schon gängige Praxis, auch wenn es Balzano ungewöhnlich gut gelingt, diese Stimmen auch tatsächlich unterschiedlich klingen zu lassen. Seine Kunst ist eindeutig die Figurenkonstruktion und der Umgang mit diesen.

Daniela, Manuel und Angelica sind Figuren, die es den Leser:innen nicht leicht machen. Verbohrt, fast schon verbissen, beharren sie auf ihren Perspektiven, gestehen sich selten Fehler ein, obwohl sie zahlreiche begehen und verurteilen die jeweils anderen für ihr Verhalten. Und dennoch gelingt es Marco Balzano fast spielend leicht, dass man mit den Dreien fühlt, sich in sie hineinversetzen kann und ihnen nahezu alles verzeiht. Dafür sorgt nicht nur der einnehmende Schreibstil, sondern auch das Verständnis selbst, das Balzano seinen Charakteren empathisch entgegenbringt.

Das Buch liest sich schnell, verzichtet nahezu vollständig auf literarische Spielereien, setzt auf viele Dialoge und weiß dennoch zu überzeugen. Am besten hat mir dabei der Mittelteil aus Danielas Perspektive gefallen. Hier nähert man sich der Figur schrittweise an, nach und nach erkennt auch sie selbst ihre Fehler. Balzano wechselt dazu manchmal in die ungewohnte "Du"-Perspektive, mit der sich Daniela direkt an ihren Sohn richtet und erzeugt eine noch höhere Identifikation bei den Leser:innen, die sich dadurch auch selbst angesprochen fühlen.

Ein weiteres Plus des Romans ist das Anliegen Balzanos, den osteuropäischen Frauen eine Stimme zu geben, die ihre Heimat und die eigene Familie verlassen, um sich um Fremde zu kümmern. Auch dies gelingt ihm sehr gut, denn "Wenn ich wiederkomme" berührt nicht nur, sondern regt auch zum Nachdenken und zum Diskutieren an.

Nicht ganz umschifft er dabei sämtliche Klischeeklippen: der demenzkranke Mann, der mal voller Wut auf Daniela reagiert, mit dem sie aber auch durchaus warme und zärtliche Momente verbringt; die vernachlässigten Anwaltskinder, die Daniela allein durch ihre geschenkte Aufmerksamkeit auf den richtigen Weg bringt; der gutaussehende Arzt, mit dem sie eine Affäre eingeht - hier passiert wenig Überraschendes, und man könnte ein wenig genervt sein, wenn man nicht schon lange diese warmen Gefühle für die Figuren hegte.

Gerade durch den letzten Perspektivwechsel hin zu Angelica nimmt Balzano dem Roman zudem ein wenig Intensität. Tatsächlich fühlte ich mich Daniela und Manuel mittlerweile nämlich so nahe, dass ich lieber erfahren hätte, wie es mit ihnen weitergeht, als eine dritte Perspektive kennenzulernen, die zudem nicht viel Neues zur Romanhandlung beitragen konnte. Kleinere Kritikpunkte eines aber ansonsten überzeugenden Romans.

"Ich war nicht fähig, die Sehnsucht hinter deiner Wut zu begreifen. Weißt du was? Bevor ich wegfuhr, wusste ich gar nicht, was das ist: Sehnsucht", erklärt Daniela ihrem Sohn in der wohl bewegendsten Stelle des gesamten Romans. Es ist ein Gewinn, dass Marco Balzano die Sehnsüchte dieser Menschen aufzeigt: schonungslos, bewegend und mit viel Herz.

Bewertung vom 06.11.2021
Ramadan, Danny

Die Wäscheleinen-Schaukel


ausgezeichnet

Vancouver, in der näheren Zukunft: In seiner neuen Heimat lebt der Ich-Erzähler gemeinsam mit seinem sterbenskranken Lebensgefährten - und versucht, diesen zu retten, indem er ihm seine Geschichten erzählt. Während der Tod im wahrsten Sinne des Wortes schon anwesend ist und auf eine neue Seele wartet, entpuppt sich der "Hakawati", was "Geschichtenerzähler" bedeutet, als verletzlicher und verletzter Liebhaber, als Flüchtling, der die Heimat betrauert, als unverstandenes Kind unter der rigiden Herrschaft der psychisch kranken Mutter - und letztlich als moderne Scheherazade.

"Die Wäscheleinen-Schaukel" ist der bemerkenswerte Debütroman von Ahmad Danny Ramadan. Es ist ein Werk, das sowohl formal, als auch inhaltlich außerordentlich überraschend und farbenfroh ist. Da ist zunächst einmal die sehr ungewohnte, aber faszinierende Erzählperspektive. Über weite Strecken des Romans greift Ramadan auf das "Du" zurück, mit dem der Erzähler nicht nur seinen sterbenden Geliebten direkt anspricht, sondern auch eine unmittelbare Nähe zu den Leser:innen erzeugt. Was anfangs noch ein wenig sperrig wirkt, führt doch relativ schnell zu einer gewissen Sogwirkung.

Seine stärksten Momente hat der Roman in den zahlreichen Geschichten, die der Hakawati seinem Liebsten erzählt. Sie handeln von Trauer, Verlust, Gewalt, von der Kindheit und nahezu immer von der Liebe. Mal ist es die Liebe zu seiner Großmutter, mal zu seinen Freunden. Es ist die Auseinandersetzung mit seiner Homosexualität, mit seinen ersten, auch sexuellen Erfahrungen. Sehr häufig spielt aber die Liebe zu Syrien, zu Damaskus die größte Rolle. Seine Trauer über den Verlust der kriegszerstörten Heimat ist in fast jeder Zeile zu spüren, wobei Ramadan sie durch seine poetischen Worte wiederauferstehen lässt. Diese Farben und Gerüche, die Geräusche, die Eigenheiten der Damaszener: Ramadan schafft es ganz wunderbar, die Leser:innen in die Vergangenheit zu versetzen, auch wenn immer wieder Tod und Zerstörung die Idylle trüben.

Überhaupt ist es die Sprache, mit der es Ramadan eindrucksvoll gelingt, dieses Debüt zu etwas ganz Besonderem zu machen. Die Poesie, die Perspektivwechsel, manchmal mitten in den Erzählungen, sorgen immer wieder für überraschende Momente, die gleichermaßen berühren wie unterhalten.

Die eigentliche Rahmenhandlung der beiden gealterten Männer in Vancouver um das Jahr 2050 herum kann da mit den Geschichten aus der Kindheit und Vergangenheit nicht ganz mithalten. Zu häufig säuseln sich die Männer ein "Ich liebe dich" zu, das mit der Zeit ein wenig an Intensität verliert, weil es sich eben zu oft wiederholt. Die physische Anwesenheit des Todes halte ich jedoch für bereichernd, denn der Gevatter präsentiert sich als durchaus umgänglich und weiß selbst, die ein oder andere Geschichte zum Gelingen des Romans beizutragen.

Umso intensiver sind aber die Geschichten des Hakawati, die zudem im bewegenden Finale um eine wahrlich überraschende Pointe erweitert werden und die Beziehung der beiden Männer noch einmal ganz neu bewerten lässt.

"Die Wäscheleinen-Schaukel" ist ein wichtiger und beeindruckender Roman, der auch noch einmal deutlich macht, wie schwer es ein LGBTQ-Aktivist in der arabischen Welt hatte und wohl auch immer noch haben wird. Für sein Engagement und seine Offenheit gebührt Ramadan der allergrößte Respekt, sein Roman wird hoffentlich viele Leser:innen erreichen und könnte bei allem Schmerz auch denjenigen Kraft schenken, die sich in einer ähnlichen Situation befinden.

Bewertung vom 03.11.2021
Heyden, Florian

Walter Ulbricht. Mein Urgroßvater


gut

Walter Ulbricht ging in die deutsch-deutsche Geschichte, ja sogar in die Weltgeschichte als der Mann ein, der die Berliner Mauer hat bauen lassen. Doch über seine Biografie, sein Privatleben, seine Kindheit war bislang so gut wie gar nichts bekannt. Wer war der Mann, dessen berühmtester Satz wohl in jedem deutschsprachigen Geschichtsbuch zu finden ist? Und wer ist die Familie hinter diesem Mann? Florian Heyden gibt Antworten in seinem Buch "Walter Ulbricht - Mein Urgroßvater".

Nach dem vor allem durch die Süddeutsche Zeitung bekannt gewordenen Streit mit dem ersten Verlag konnte Heyden das Buch nun endlich nach seinen Vorstellungen herausbringen und erläutert diese glaubhaft im "Vorwort zur Neuauflage". Im anschließenden Prolog werden die Beweggründe Heydens, überhaupt dieses Buch geschrieben zu haben, noch deutlicher. Das "gut gehütete" Familiengeheimnis "Walter Ulbricht", über das nicht gesprochen werden sollte, nicht gesprochen werden durfte und doch zeitweise wie ein Schatten über dieser Familie lag. Es ist ein bemerkenswert ehrlicher Prolog, so berührend wie offenherzig und emotional. Umso bedauerlicher erscheint es, dass Florian Heyden diese Emotionalität im Buch selbst so gut wie möglich verstecken will. Dabei handelt es sich doch um so viel mehr als ein gewöhnliches Sachbuch.

"Walter Ulbricht - Mein Urgroßvater" liest sich in den erklärenden Texten nahezu emotionslos, fast nüchtern. Die Ereignisse und Figuren aus Walter Ulbrichts Leben rauschen an den Leser:innen vorbei, man nimmt sie wahr, doch im nächsten Moment sind sie schon wieder verschwunden. Man muss die emotionalen Stellen, die im Prolog noch so deutlich werden, förmlich mit der Lupe suchen. In einer Bildunterschrift auf S. 392 bezeichnet Heyden seinen Urgroßvater als "emsigen Einheitsapostel", an anderer Stelle macht der Autor deutlich, dass Ulbricht die Partei immer näher war als die eigene Familie. Dann gibt es wiederum Passagen, in denen Heydens Respekt vor Walter Ulbricht erkennbar ist - vor diesem Mann, der sich auch als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus auszeichnete und als Kommunist oder Sozialist nahezu ständig behördlicher Verfolgung ausgesetzt war. Doch leider gibt es diese Stellen zu selten.

Umso erfrischender und erhellender wirken im Kontrast dazu die Originalquellen, die den Menschen Walter Ulbricht mit all seinen Stärken und Schwächen präsentieren. Die jugendlichen Klagen darüber, "nur ein Prolete" zu sein, ein zärtlich-verspielter und liebevoller Brief an die Tochter, dazu die Fotos, die Walter Ulbrichts Leben von früher Kindheit an begleiten - hier beweist der Autor, welch großes Potenzial dieses Buch hat und wie spannend es ist, seinem Urgroßvater zu folgen. Ein besonders beeindruckendes Bild zeigt Walter Ulbricht als jungen Sozialdemokraten am Vorabend des Ersten Weltkriegs. "Gebildet, kultiviert und selbstbewusst", urteilt Heyden und verlässt hier noch einmal die ansonsten vorherrschende Nüchternheit.

Leider weist das Buch jedoch auch formale Mängel auf. Zwingend fehlt ein Namensregister, denn es tauchen so viele Personen auf, dass ich mich manchmal fragte, wer denn nun beispielsweise "Jacob Herzog" nun wieder ist und ich erst mühsam zurückblättern musste, um in ihm einen Jugendfreund Walters wiederzuerkennen. Die textlich so beeindruckenden "Familienerinnerungen im Besitz des Autors" werden nicht näher erläutert, so dass ich manchmal nicht einmal wusste, von wem das Zitat gerade stammt. Historische Figuren werden zudem zu häufig als bekannt vorausgesetzt. Vielleicht kann man als Autor erwarten und hoffen, dass wirklich ein jeder Leser gleich weiß, wer bei der Ersterwähnung mit "Liebknecht" gemeint ist, doch man kann es eben nicht voraussetzen. Hier hätte Florian Heyden häufiger eine kurze Erläuterung und in jedem Fall bei der Ersterwähnung den Vornamen verwenden müssen.

Dennoch ist "Walter Ulbricht - Mein Urgroßvater" ein lesenswertes Buch geworden. Vor allem die erwähnten Originalzitate und Fotos, aber auch

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