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Insgesamt 166 Bewertungen
Bewertung vom 04.11.2019
Edelbauer, Raphaela

Das flüssige Land


ausgezeichnet

Absurdität und Lethargie angesichts der drohenden Katastrophe. Zeit und Physik lösen sich in Edelbauers faszinierendem Roman auf.

Unschärfe als Prinzip

„Das flüssige Land“ von Raphaela Edelbauer hat mich mit jeder Zeile fasziniert. Einerseits passiert nichts, andererseits aber so viel: Menschen sterben, alten Verbrechen werden vertuscht, die Heimat bricht auseinander.
Das Buch präsentiert uns als Leser*in nicht offensichtlich, wozu wir hiermit gebeten sind. Meist nervt mich das in Büchern tierisch, hier bekam das Mäandernde eine eigene Qualität, weil ich mich so mit der Protagonistin ganz auf das Verwirrspiel Groß-Einland einlassen konnte.
Ich möchte nicht zu viel vom Plot verraten, nur so viel: Die Ich-Erzählerin Ruth verliert beide Eltern bei einem Autounfall und macht sich auf die Suche nach Groß-Einland, weil die beiden dort begraben werden wollten. Und dieser Ort folgt seinen ganz eigenen Gesetzen, aber zu allererst kämpft er gegen sein Verschwinden angesichts eines monströsen Loches.

Lethargie, Absurdität und Grauen
Die Lethargie und die Absurditäten angesichts der drohenden Katastrophe ist das, was die Autorin so meisterlich schildert. Anfangs klingt dies alles nur an, aber dann werden die Bezüge zur drohenden Klimakrise, der Vernichtung der Umwelt, unaufgearbeiteter Vergangenheit, Antisemitismus, Rassismus, Verschwörungstheorien und der Sehnsucht nach einfachen politischen Lösungen immer deutlicher. Und dann das Grauen.
„Siebenhundertfünfzig verschwundene Menschen und eine Gemeinde, die quasi über Nacht zur Monarchie zurückgekehrt war.“
„Das flüssige Land“ folgt einer kafkaesken Tradition, in der die Absurdität die Norm ist. Gleichzeitig bedient sich Edelbauch beim Fantasy-Genre, oder vielleicht doch bei Science Fiction, weil sie für ihre Welt Erklärungen in der Physiktheorie findet. Das macht sie so geschickt, dass ich mich zwischendrin schon fragte, ob das Doppelspaltexeriment nun nur ihre Erfindung sei oder doch eine physikalische Realität. (Es ist eine, falls Ihr Euch das auch fragen solltet.) Selbst die Blockuniversumstheorie, über die Protagonistin Ruth ihre Habilitation verfasst, ist eine reale physikalische Theorie.
„‚Es handelt sich dabei um eine alternative Theorie über die Zeit. Stellen Sie sich Folgendes vor: Wenn die Zeit irreal ist, wie wir heute wissen, dann sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eigentlich gleichzeitig vorhanden. Ähnlich einem dreidimensionalen Block lassen sich die vermeintlich aufeinanderfolgenden Momente lesen als nahe aneinanderliegend. Das heißt, die Zeit wird eher zu einer Raumrichtung als zu etwas, das die Dinge je verändern würde. Es ist kompliziert.’“
Die Zeit löst sich auf, eben war es noch 2009, plötzlich 2012. Spielt es eine Rolle? Wir sind hier ebenso verloren wie dort.

Das „Drum herum“
Ich kann verstehen, dass manche Leser*innen dieses Buch vielleicht abgrundtief hassen könnten. Edelbauer gibt uns wenig zum Festhalten. Eigentlich halten wir uns an einem Nichts fest, dem Loch, dass sich unter Groß-Einland hindurch frisst. Ich musste an eine Kindergeschichte der beiden philosophischen Schweine Piggeldy und Frederick denken, die u.a. in „Die Sendung mit der Maus“ zu sehen sind. Da heißt es:
„‚Es wird nie ein Loch geben ohne was drum herum‘, sagte Frederick.
‚Aha‘, freute sich Piggeldy, ‚ein Loch ist nur deshalb ein Loch, weil immer was drum herum ist.‘“
Ich habe Edelbauers Roman dafür geliebt, dass sie dieses „Drum herum“ so genial in ihrem klugen und sprachlich toll geschriebenen Roman packt. Und dazu diese treffenden pointierten Beobachtungen wie zu Beginn von Ruths Abenteuer:
„Pensionistengruppen, die ausgerüstet sind, als wollten sie den K2 besteigen, pendeln den ganzen Tag vom einen Eiscafé ins nächste.“

Fazit
Lesen!!!! Wenn man als Leser*in gerne mal ausgetretene Pfade verlässt. 5 von 5 Sternen.

Bewertung vom 30.10.2019
Atwood, Margaret

Der Report der Magd


ausgezeichnet

Atwoods Buch von 1985 ist zurecht ein Klassiker – und leider aktueller den je!

„Es gibt darin nichts, was es nicht schon gibt.“ Dieses Zitat von Margaret Atwood habe ich irgendwann über ihren Roman „Der Report der Magd“ gelesen. Alle Unterdrückungsmechanismen gegenüber Frauen hätten also eine reale, historische Entsprechung. Dieses reale Grauen hat mich jahrelang, ja sogar fast zwei Jahrzehnte lang, davon abgehalten, dieses Buch zu lesen. Leider, denn Atwood ist wirklich genial, und sie gilt zurecht als Klassiker unter den Dystopien UND als Klassiker feministischer Literatur. Das beides oftmals vermischt wird, ist ein Problem, dem Autorinnen immer noch ausgesetzt werden.

Nicht fraternisieren, „sororisieren“

Durch meine lange Weigerung wurde ein sehr merkwürdiger Effekt zusätzlich verstärkt: Nachdem ich so lange das große Drohgebärde erwartet habe, dachte ich mir beim Lesen immer wieder mal: Sooo schlimm ist es auch nicht. Aber das ist das Perfide an so einem System. Solange die Menschen nicht permanent Folter und Gewalt ausgesetzt sind, ist es ja nie ganz schlimm. Darin fügt man sich ein, auch als Leser*in anscheinend, und erst recht als Protagonistin Desfred. Mir lief es kalt über den Rücken, wenn sie den Vollzug der Zeremonie schildert, mit der „ihr“ Kommandant ein Kind mit ihr zeugen soll. Und Desfred betont, dass sie ja zugestimmt habe. Ein Consent, der kein Content ist.
Atwoods geniale Struktur erzeugt permanent einen weiteren Effekt: Das könnte ich sein. Also denke ich mir gemeinsam mit der Protagonistin: Bis hierhin lief es noch ganz gut, vielleicht könnte ich meine Tochter ja wiedersehen, und so füge ich mich ein in die Unterdrückung. Attwood orchestriert diese Unterdrückung, zu der Männer, wie Frauen beitragen. Unterdrückung, die letztendlich auch die Männer trifft. Denn wie jeder guter feministischer Ansatz will auch Atwood die Männer ebenfalls vom Patriarchat befreien.
Was Atwood zudem meisterhaft gestaltet, ist die Spannung. Ich fiebere mit Desfred mit, ich will nicht, dass sie untergeht.
„Fraternisieren heißt, sich wie ein Bruder verhalten. Das hat Luke mir gesagt. Er sagte, es gäbe kein entsprechendes Wort, das sich wie eine Schwester verhalten bedeutet. Sororisieren müsste es heißen, sagte er.“

Geniales Worldbuilding

Genial natürlich auch das Worldbuilding, das den totalitären Staat Gilead ganz plastisch vor Augen auferstehen lässt. Das gilt zum einen für die Strukturen und die Besonderheiten, die Atwood zusammenbaut. Das gilt zum anderen aber auch für die Räume und die konkrete Umgebung, in der sich Desfred bewegt, am eindringlichsten natürlich die Mäntel und Hauben der Mägde. Insgesamt schildert Atwood dies alles so plastisch, dass ich kaum einen Bruch zu meiner Vorstellung wahrnehmen konnte, als ich nun die ersten Folge der Serienadaption gesehen habe.

Aktualität

Obwohl der „Der Report der Magd“ bereits 34 Jahre alt ist, bleibt er aktueller denn je, denn Fundamentalisten aller Art und Religionen sind leider weltweit auf dem Vormarsch. Und um die Aktualität zu erkennen, muss man leider nicht einmal in andere Länder gehen. Dazu muss man mal nur blau-braune Politiker von „unseren Frauen“ reden hören oder den Diskurs um die angebliche Abtreibungs-„Werbung“ im Rahmen von § 219a. Oder die Femizide in Deutschland: Jeden Tag versucht ein Mann, seine (Ex)-Partnerin umzubringen. Die Presse benutzt dafür immer noch häufig absolut unpassende und verharmlosende Begriffe wie „Liebes- oder Familiendrama“.

Fazit

Dieses Buch muss man, und frau erst recht, gelesen haben, besonders, weil reale Vorbilder hat. 5 Sterne! Atwoods Buch ist zurecht ein Klassiker!

Bewertung vom 30.10.2019
Faller, Heike

Hundert


ausgezeichnet

Das ganze Leben in einem Buch!

Als wir dieses Buch in die Hand genommen haben, hat es uns gleich mit einem Zauber belegt. Kinder und Erwachsene können gleichermaßen etwas übers Leben und das Älterwerden lernen. Dabei ist es wunderschön und die Bilder mit klaren Formen machen eine eigene Welt auf, in der es viel zu entdecken gibt. „Hundert“ war 2019 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und das völlig zu recht, wie wir finden.

Mein 7,5jähriger Sohn meint

Am besten gefällt mir die Form, wie das Buch erzählt wird. Die Texte passen super zu den Bildern. Und wenn man den Text liest, versteht man, was die Bilder meinen. Ich finde die Illustrationen sehr schön und es gibt viel zu entdecken.
Ich lerne, was man im Leben noch so machen wird. Manches davon habe ich jetzt schon gelernt, das ist ja bei jedem*r ein Bisschen anders, aber die Grundform des Buches stimmt. Mir hat auch sehr gut gefallen, dass wir so toll über das Buch reden konnten. Solche Bücher hat man nicht so oft, die sooo schön erzählt sind.

Einladung zum Reden

Dieses Buch lädt dazu ein, dass man gemeinsam diskutiert und redet. Was soll das bedeuten? Was erkennst du noch darin? Und so bekommen Kinder und Erwachsene gleichsam ein Gefühl für das Älterwerden. Manches hat man quasi schon „abgehakt“, anderes kommt noch auf uns zu. Und dann tun sich neue Fragen auf, z.B. ob man so sein muss wie die anderen, und mein Sohn hat im Brustton der Überzeugung geantwortet: Nicht immer! Das Buch erzählt, dass es einen Ort namens Auschwitz gibt. Traurig und fröhlich, bitter und lebensbejahend wechseln sich ab. Die Aussagen finden sich oft in einem genialen Zwiegespräch zwischen dem Text von Heike Faller und den Bildern von Valerio Vidali. Und manchmal bleiben einfach auch nur die Fragen stehen.
Das Buch zeigt einiges, wofür man Jahrzehnte benötigt, um es zu begreifen. Manches werden wir wohl tatsächlich erst erfahren, wenn wir in das entsprechende Alter kommen werden.

Gender-Fluid

Dazu hat mir besonders gut gefallen, dass das literarische „Du“ in einem Fluid zwischen den Gendern wechselt. Das Leben und das Älterwerden sollte ja auch vom Geschlecht unabhängig sein. Und so werden alle angesprochen, erst recht, weil gelegentlich auch die Hautfarbe wechselt.

Fazit

Als wir am Ende des Buchs angekommen sind, wussten wir beide, dass wir noch ganz viel mehr darin entdecken können. Daher vergeben wir eine ganz klare Lese- und Kaufempfehlung. Das Buch eignet sich auch als tolles Geschenk für Erwachsene (z.B. zum 18ten Geburtstag). Und natürlich vergeben wir daher 5 begeisterte Sterne.

Bewertung vom 24.10.2019
Gabrielsen, Gøhril

Die Einsamkeit der Seevögel


ausgezeichnet

Sie ist bis ans Ende der Welt geflohen – selbst in dieser Einöde verfolgt sie toxische Männlichkeit.

Atemberaubend, verstörend, intensiv.

Wer bei „Die Einsamkeit der Seevögel“ eine pittoreske Naturmediation erwartet, ein Loblied auf die Symbiose von Mensch und Natur, ist hier falsch. Auch, wenn die Naturbeschreibungen der Autorin Gøhril Gabrielen absolut eindrucksvoll sind, ihre Sprache poetisch ist und sich wunderschön liest. Das Buch ist für mich atemberaubender als mancher Thriller, manchmal hat es mir schier die Luft abgeschnürt. Und gerade das Überraschende des Buches hat es für mich so eindrucksvoll gemacht.
Die tiefe Bedeutung der Geschichte ist leider ein Spoiler und auch der Grund, warum ich dringend eine Content Note voranstellen muss. Erst recht, weil sich dieses Thema zunächst fast unmerklich einschleicht, bis man als Leser*in nach und nach erst das ganze Ausmaß begreift.
Wer solch einer Content Note nicht bedarf und nicht gespoilert werden möchte, sollte nun nicht weiterlesen.


CN / Content Note / Triggerwarnung: missbräuchliche, gewalttätige Beziehung, sexuelle Gewalt, PTBS

Eine Wissenschaftlerin begibt sich in die Einsamkeit an den äußersten Zipfel von Norwegen, um das Verhalten der Seevögel zu untersuchen, denn diese werden durch die Klimakrise immer weniger. Schon durch diesen Fakt wird klar, dass selbst dieser abgeschiedene Winkel nicht unabhängig ist von dem Treiben der Menschen. Die Ich-Erzählerin ist es erst recht nicht.
Sie ist bis ans Ende der Welt geflohen – und selbst in dieser Einöde verfolgt sie toxische Männlichkeit. Es überrascht mich zwar nicht, schockiert mich aber dennoch immer wieder, wenn wie hier deutlich wird, wie normal diese Erfahrung für viele Frauen ist. Die Autorin Gøhril Gabrielen nutzt diese Erfahrungen nicht einfach, um den Plot spannender zu machen oder der Protagonistin eine simple „Backstory-Wound“ zu verpassen, was leider in Literatur und Film noch viel zu oft passiert. Die Autorin beschreibt eine Erfahrung, die das Leben von Frauen und als Frauen gesehenen leider immer noch viel zu häufig ausmacht. Die Protagonistin, stellvertretend für diese gesamte Grupe, wird zu einer gefährdeten Art wie Dreizehenmöwe, Eissturmvogel oder Sturmmöwe. Und so liest sich das dann im Buch:
„Darin steht nur ein Satz. Ein kurzer. Mir wird bewusst, dass ich ihn schon viele Male zuvor gelesen und gehört habe, wenn auch in anderen Variationen: Glaub nicht, dass du mir je entkommst.“
Wie die Klimakrise verseucht auch toxische Männlichkeit selbst jenen entrückten Ort. Wenn man sich den Hass gegen Greta Thunberg anhört, merkt man, wie sehr beide immer zusammenhängen. Der Kampf, der der Ich-Erzählerin aufgezwungen wurde, ist nicht der „Men versus Nature“.
Die Ich-Erzählerin gibt sich ab und an sexuellen Tagträumen hin, die für mich absolut stimmig in die Erzählung passen. Aber ich kann mir vorstellen, dass diese für einige Leser*innen verstörend wirken können. Ebenso wie der Umgang der Protagonistin mit Mutterschaft, was sich viel aus ihrem Trauma erklärt. Die Autorin umkreist damit ebenso die Frage, warum wir in unserer Gesellschaft anderer Erwartungen haben als an Väter. Das Ende kann man als unbefriedigend empfinden, aber manches Trauma klärt sich vermutlich nie.

Fazit
„Die Einsamkeit der Seevögel“ finde ich ein sehr wichtiges Buch, poetisch und intensiv, aber auch atemberaubend und verstörend. Darum auf alle Fälle die Content Note beachten. Das Buch ist sicherlich nicht für jede*n etwas, aber ich möchte es wirklich empfehlen. 5 von 5 Sternen.

Bewertung vom 24.10.2019
Grusnick, Sebastian;Möller, Thomas

Vorsicht wild!


sehr gut

In jedem von uns steckt ein Mini-Löwe. Freche Abenteuergeschichte im Kinderalltag angesiedelt.

Oh, warum hat sich in meiner Kindheit nie ein sprechender Minilöwe in mein Zimmer verirrt? „Vorsicht wild! Löwenmut tut gut“ ist eine spannende Abenteuergeschichte, die mir und meinem 7,5-jährigen Sohn viel Spaß gemacht hat.
Das Autorenduo Sebastian Grusnick und Thomas Möller verknüpfet bei „Vorsicht wild!“ Kinderalltag mit Abenteuer. Diese Kombi gefällt mir immer recht gut, weil die jungen Leser*innen so viel Identifikationspotential bekommen. Wegen des Jobs seines Vaters ist Max gerade frisch umgezogen, der Start in der neuen Schule geht daneben und erstes Mobbing findet statt. Und dann bekommt Max zum 10. Geburtstag statt des gewünschten Vierbeiners auch noch einen Roboterhund. Aber dann steht in seinem Kinderzimmer plötzlich eine Kiste und aus der befreit er den sprechenden Minilöwen Leo.
Und Leo ist echt der Knaller. Was haben wir gelacht, als er fragt, ob er Gazelle mit Schlagsahne haben könnte. Und sein unbändiger Hunger bringen ihn und Max in noch in einige missliche Lagen. Die Kapitel haben eine super Länge zum abendlichen Vorlesen und auch für die jungen Leser*innen (geübtere ab der 2. Klasse etwa). Richtig beeindruckt haben uns die witzigen, farbigen Illustrationen von Nikolai Renger, mit denen Max scheinbar seine Erlebnisse selbst aufs Papier bringt. Und dass Max in Greta eine taffe Freundin mit dunkler Haut findet, die nicht nur Staffage ist, gibt einen extra Diversitypunkt.
Wir hatten wirklich Spaß und das Autorenduo hat uns ein paar schöne Vorlesestunden beschwert. Mein Sohn und ich haben lange überlegt, warum wir keine 5 Sterne geben, sondern nur 4. Mein Sohn meinte, dass er das Buch sicherlich nochmal selber lesen wird, aber halt nicht noch „tausend Mal“. Ich fand die Geschichte zwar witzig, aber halt nicht ganz rund. Wenn Leo am Anfang in der Schule die Süßigkeiten auffuttert, die Max zum Verteilen mitgebracht hat, verdächtigen seine Mitschüler*innen alle Max und erwarten Nachschub. Und später wird das im Buch dann gar nicht mehr aufgegriffen. Und warum werden gleich mehrfach Gretas Haare thematisiert? Dass das Buch versöhnlich endet, gefällt mir für die Zielgruppe zwar ganz gut. Ob sich Yannick tatsächlich geändert hat, bleibt mir zu offen, und das könnte für Mobbingopfer eine schmerzhaften Beigeschmack haben. Und dann finde ich zwar gut, dass Max’ Vater seine Haltung in Bezug auf die Familie überdenkt. Generell wird hier aber das klassische Familienbild, das für viele immer noch Realität ist, als „normal“ hingestellt. Die Mutter, die offensichtlich halbtags arbeitet, darf diese Rollenaufteilung gar nicht reflektieren oder kommentieren. Das hätte ich mir moderner gewünscht. Erst recht, weil die Autoren bei den Kindern schon einige Rollenzuschreibungen aufbrechen und da eben NICHT in die Gender-Falle treten.

Fazit
Trotz unseres Gemeckers: Eine spannende Abenteuergeschichte, für die wir 4 Sterne vergeben. (Ich war bei 3 bis 3,5 und das Kind bei guten 4 und wollte bei den 3en so gar nicht mitgehen. Also einigen wir uns in der Mitte.)

Bewertung vom 11.10.2019
Lux, Georg

Vergessen & verdrängt


ausgezeichnet

Morbide Reiseziele mit Gruselfaktor im Alpen-Adria-Raum

In „Vergessen & Verdrängt – Dark Places im Alpen-Adria-Raum“ erzählen Georg Lux (Autor) und Helmuth Weichselbaum (Fotograf) spannende Ort und vergessene Geschichten. Ich habe das Buch gelesen, weil mich verlassene und dunkle Orte faszinieren. Es ist darüber hinaus ein gelungener Reiseführer, der sich über vier Länder erstreckt: Österreich, Italien, Slowenien und Kroatien.

Schon beim ersten Durchblättern war ich begeistert. Die Bilder und Texte bilden eine tolle Einheit und obwohl das Buchformat nicht groß ist, kommen die Bilder sehr gut zur Geltung. Die Bilder müssten sich auch in einem größeren Bildbandformat überhaupt nicht verstecken, aber das ist natürlich eine Preisfrage für den Verlag und für die Käufer*innen. Die Geschichten zu den verschiedenen Orte werden spannend erzählt, und daran schließlich sich noch Reisetipps an. Die stellen Restaurants und Übernachtungen vor und weitere Ziele zu Dark-, Lost- und ganz normalen Orten, die ebenfalls eine Visite wert sind. In der Innenklappe gibt es eine Übersichtskarte der beschriebenen „Dark Places“.
Die Texte finde ich meist sehr gelungen. Ab und an schweift Lux etwas ab und manche Formulierungen waren mir etwas zu flapsig. Bei manchen Orten hätte ich mir gerne noch ein, zwei weitere Bilder gewünscht (nochmal: ich hätte Autor und Fotograf wirklich einen Bildband gegönnt), aber mein Lesevergnügen schmälerte das nicht.
Dazu waren die Orte viel zu erlesen und das Buch mit absurden wie unerwarteten Anekdoten und Tatsachen gespickt. Der Ausruf „Krass!“ trifft es für mich ganz gut. Nur zwei Beispiele erwähne ich, den Rest möchte ich die Leser*innen selbst entdecken lassen. Für den Fall, dass Österreich vom Ostblock überrannt worden wäre, hätte es atomare Sprengungen in Italien gegeben. Wie destruktiv Gedanken im (kalten) Krieg sein können. Auch das folgende Unglück ist eine Folge der menschlichen Beschränktheit respektive Selbstüberschätzung, so ganz kann ich das nicht unterscheiden. 1963 löste ein Erdrutsch aufgrund eines Planungsfehlers einen Tsunami an einem riesigen Stausee aus, bei dem fast 2.000 Menschen starben.
Sehr gut gelungen ist der Abschnitt über ein Konzentrationslager in einer früheren Reismühle. Auch, wenn die beiden Autoren ihr Buch selbst einen „Dark-Tourism-Guide“ nennen, ist das Kapitel pietätvoll und stellt das „No“ gegenüber jeder Form von Unterdrückung und Verfolgung in den Mittelpunkt.

Fazit
Schöne Reiseberichte über „Dunkle Plätze“ in vier Ländern. Wer morbide Geschichte(n) mag, dem empfehle ich „Vergessen & Verdrängt“ sehr gerne. 4,5 von 5 Sternen (aufgefunden auf 5).

Bewertung vom 10.10.2019
Nieberding, Mareike

Verwende deine Jugend


ausgezeichnet

„Verwende deine Jugend“ ist ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr politische Beteiligung. Mareike Nieberding gibt Hoffnung, ohne den*die einzelne nicht aus der Verantwortung zu entlassen.

Macht kommt von machen!

Die Autorin und Journalistin Mareike Nieberding hat 2017 nach dem Schock der Trump-Wahl die überparteiliche Jugendbewegung DEMO gegründet, die ohne große formale Organisationen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen über Politik diskutiert. Aus dieser Erfahrung heraus betrachtet sie in ihrem Buch „Verwende deine Jugend“ die aktuellen politischen Entwicklungen, nimmt die „Fridays for Future“-Bewegung mit Begeisterung an und gibt den Leser*innen Tips mit auf den Weg, wie sie ihre Jugend „verwenden“ können. Für mich hört die nicht mit 25 oder 30 auf. Für Nieberding auch nicht, denn sie hat die 30 ebenfalls schon längst überschritten.

Eingebettet in ihr leidenschaftliches Plädoyer für mehr bürgerschaftliches oder politisches Engagement, räumt sie zunächst mit dem Trugbild auf, dass sich Jugendliche nicht für Politik interessieren würden. Sie zitiert Studien, gibt Gegenbeispiele und vergleicht das mit früheren Generationen. Ihr Befund: Junge Menschen interessieren sich zwar für politische Themen, aber halt wenig im klassischen Sinn der Parteien. An diesem Missverhältnis tragen Parteien allerdings einen nicht geringen Anteil. Erhellend dazu ist Nieberdings Interview mit dem Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert. Vieles mögen engagierte Menschen bereits an anderer Stelle bereits gelesen habe, durch die Bündelung der Fakten und die Leidenschaft der Autorin vermittelt „Verwende deine Jugend“ ein tolles Gefühl von Ermächtigung.

Nieberding gendert in ihrem Buch durchgängig (allerdings mit Binnen-I) und auch darüberhinaus findet sich in ihrem Buch viel Empowerment für Frauen und marginalisierte Gruppen. Und die Autorin positioniert sich klar gegen ein „Mit Rechten reden“, oder wie sie es nennt:
„Ich will nicht mit Rechten reden. Diese Gespräche führen ins Nichts, weil die GesprächspartnerInnen und ich nicht auf demselben demokratischen Fundament stehen. Aber ohne Fundament kann kein Bauwerk in die Höhe wachsen, auch nicht das Haus der Demokratie.“

Das Buch ist sehr aktuell. Die Zahlen über die Teilnehmer*innen bei den Fridays For Future-Demos in Deutschland setzt Nieberding mit bis zu 300.000 Menschen in über 1000 Städten an. Bei der großen Demo #AlleFürsKlima am 20. September 2019 gingen bereits 1,4 Millionen Teilnehmer für den Klimaschutz auf die Straße. Diese ganz aktuellen Stellen werden sich vermutlich in ein, zwei Jahren etwas überholt haben. Also lest das Buch bitte jetzt! Vieles wird aber auch dann noch genauso notwendig und wesentlich bleiben wie heute.

Es gibt übrigens auch einen Doku-Roman mit dem Titel „Verschwende deine Jugend“ (der mit dem gleichlautenden Film kaum etwas zu tun hat). Jürgen Teipel erzählt in Form von „Oral History“ über die Entstehung der frühen Punk- und New Wave-Bewegung. Was auch da sehr deutlich wurde: Wie kompromisslos junge Menschen sein können, wie sehr einzelne den Lauf der Geschichte verändern können, wie sehr selbst sogenannte Popkultur politische Auswirkungen haben kann. Dieser Spirit trifft auf „Verwende deine Jugend“ ebenso zu.

Fazit
Wenn man als politisch engagierter Mensch mal immer wieder den Glauben an die Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns verliert, liefert Nieberdings Buch einen Silberstreif am Horizont. Dafür vergebe ich sehr gerne 5 von 5 Sternen.

Ich möchte mit dem Zitat von James Baldwin schließen, dass Mareike Nieberding „Verwende deine Jugend“ voran stellt:
„Doch in unserer Zeit, wie in jeder Zeit, ist das Unmögliche das Mindeste, was man verlangen kann.“

Bewertung vom 09.10.2019
Liukas, Linda

Hello Ruby


ausgezeichnet

Was kann ein Roboter – und was nicht? Wunderschöne Illustrationen und kniffelige Aufgaben führen Kinder an künstliche Intelligenz heran.

Künstliche Intelligenz kunstvoll erzählt

So ein wundervolles Sachbuch hätte ich als Kind so gerne gehabt! Das dachte ich mir bereits beim ersten Durchblättern von „Hello Ruby – Wenn Roboter zur Schule gehen“ und das trifft nach der Lektüre nun extra zu. Kindern wird darin spielerisch das Thema Künstliche Intelligenz vermittelt. Die Autorin Linda Liukas, die als Programmiererin, Geschichtenerzählerin UND Illustratorin arbeitet, verknüpft ihre Texte und Erklärungen auf so wunderbare Weise mit einem künstlerischen Appeal, dass Naturwissenschaft und Kunst eine grandiose Einheit bilden.
Mit zwei weiblichen Protagonistinnen richtet sich das Buch in erster Line an Mädchen, die ja in den MINT-Fächern (Mathe, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) leider oft noch sträflich vernachlässigt werden. Liukas macht aber nicht den entgegengesetzten Fehler, das Buch nun nur für Mädchen zu gendern, sondern das Buch kann genauso gut mit Jungs gelesen werden.

Das meint mein 7jähriger Sohn

Echt cool! Die Sachen im Buch sind zwar kompliziert, aber sie sind so erklärt, dass ich alles verstehe. Die Illustrationen gefallen mir total gut, weil ich da viel Spannendes entdecken kann.

Was Roboter in der Schule lernen kann

Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Zunächst führt eine kleine Geschichte in die Thematik ein. Ruby holt ihre Freundin Julia für den Schulweg ab. Weil dem Roboter langweilig ist, nehmen sie ihn kurzerhand mit, und er darf in der Schule lernen Auf den ersten Blick könnte die kleine Geschichte banal wirken, aber in den Texten und den wundervollen Illustrationen sind viele kleine Details eingewoben und so lassen sich bereits viele Aspekte von Programmierung und künstlicher Intelligenz entdecken. Oder warum malt der Roboter einfach auf Bänke und Stühle? Wir können „in den Kopf“ des Roboters schauen, was er alles berechnet und analysiert. Anhand der schiefen Köpfe der Kinder lässt sich ablesen, dass sie bei den komplexen Berechnungen des Roboters an der Tafel nicht die Bohne verstehen. Nach und nach finden sie heraus, was ein Roboter kann – und was nicht.

Spannende Aufgaben und Rätsel zu „KI“

Ein Arbeitsbuch nimmt als zweiter Teil gut die Hälfte des Buches ein. Die Autorin hat klar angelegt, dass die Kinder das Buch gemeinsam mit Erwachsenen entdecken sollen. Die Aufgaben sind witzig und verständlich aufbereitet. Manchmal muss man ums Eck denken. Ich kenne einige Erwachsene, die mit den Aufgaben überfordert wären, weil ihnen das Verständnis für mathematisch-technische Zusammenhängt total fehlt. Kinder lernen mit Ruby spielerisch solche Zusammenhänge, und wir hatten beim Durcharbeiten viel Spaß. Die Autorin hat „Ruby“ in erster Linie für 5- bis 7-jährige geschrieben. Ich denke, dass Kinder die gesamte Grundschulzeit tollen Input aus dem Buch bekommen können. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob 4.-Klässler dann noch die wunderbaren, liebevollen, aber doch recht kindlichen Illustrationen zu schätzen wissen. Mein Sohn (2. Klasse) fand sie auf alle Fälle ganz zauberhaft. Auf der Ruby-Homepage gibt es dann noch einige Arbeitsblätter und zusätzliche Spiele zum Ausdrucken.

Fazit

Wir sind begeistert. So ein wundervolles Sachbuch hätte ich als Kind haben wollen! Und mein Sohn hat nun eine ganze Menge mehr über Roboter und künstliche Intelligenz erfahren. Die weiteren Bücher von Linda Liukas aus der Ruby-Reihe sind bereits auf unsere Wunschliste gewandert („Programmier dir deine Welt“, „Expedition ins Internet“, „Eine Reise ins Innere des Computers“). Begeisterte 5 von 5 Sternen und eine klare Lese- und Kaufempfehlung.

Bewertung vom 09.10.2019
Wenz, Tanja

Max und der Sternenforscher


sehr gut

Durch die schimmernde Tür des Physiksaals landet Max bei Galileo Galilei. Schöne Zeitreise in die Geschichte der Physik für Kinder.

Im Dialog mit einem großen Wissenschaftler

Ach, warum ist uns diese Tür noch nie erschienen, hinter der Galileo Galilei auf uns wartet? Aber nun hatten wir mit „Max und der Sternforscher“ zumindest literarisch mit „Max und der Sternforscher“ die Chance dazu, diesen großen Forscher zu treffen, und mein Sohn und ich haben das Buch von Tanja Wenz sehr gern gelesen.
Empfohlen wird das Buch ab 10 und zum Selberlesen ist das sicherlich ein guter Richtwert. Mein Sohn ist jetzt 7,5 Jahre alt und total Astronomie-, Mathe- und Physik-begeistert. Daher hat das zum Vorlesen mit einigen Erklärungen, etwa zur Inquisition, auch schon sehr gut gepasst.
Die Autorin wählt für die Geschichte oft die Form des Dialogs. Und das ist ein schöner Bezug zu Galileis Werk, der u.a. „Dialogo“ so aufgebaut hat, jenes Buch, das fast 200 Jahre auf dem Index der katholischen Kirche gestand hat. In einem Dialog erklärt Galileo Max seine Fallgesetze und auch Max darf dem berühmten Wissenschaftler in ihren einige Hinweise für dessen Forschung geben. Als Leser*innen gibt es einen tollen Austausch mit den Gedanken der Protagonist*innen, die uns nicht nur Galileis Forschung, sondern auch die Zeit der Renaissance einführen. Meist sind wir in Max’ Kopf, aber wir springen immer mal wieder in die Köpfe der anderen Figuren.
Dazwischen gibt es spannende Szenen, z.B. wenn Max von der Bande der „bösen Jungs“ angegriffen wird. Der Spannungsaufbau und die Gestaltung der Geschichte hätte für mich aber etwas runder sein können, so erfahren wir erst von der Bande der „bösen Jungs“, als sie schon hinter Max her ist. Eine Vorahnung hätte die Stelle spannender gemacht Zudem fand ich es schade, dass wir neben Galileo Galilei keine anderen spannenden Zeitgenossen treffen, und für mich hätte es auch mehr Abenteuer sein können. Meinen Sohn hat das nicht gestört, er war gebannt von den physikalischen und historischen Zusammenhängen, von denen Tanja Wenz erzählt. Und auch ich habe das Buch wirklich gerne vorgelesen.
„Max und der Sternenforscher“ lebt von der Begeisterung der Autorin an Physik und Astronomie, die auf die*den Leser*in überspringt. Und obwohl das Buch einen Jungen als Hauptfigur hat, ist es ein wundervolles Plädoyer für Frauen in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik). Der Diversity-Aspekt ist mir persönlich ja immer sehr wichtig. Eine Zeittafel am Ende rundet das Buch ab. Und Glanzlichter gibt es schon auf dem Cover, denn dort finden sich einige fluoreszierenden Elemente, so dass ein Komet oder der große Wagen im Dunkeln leuchten.

Für diese schöne Zeitreise zu Galileo Galilei und in die Renaissance vergeben wir 4 von 5 Sternen. Mein Sohn will die Max' Geschichte auf alle Fälle nochmal lesen.