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Christian1977
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Leipzig

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Insgesamt 198 Bewertungen
Bewertung vom 07.03.2022
Kurbjuweit, Dirk

Der Ausflug


gut

Für die Historikerin Amalia, ihren Bruder Bodo und die Kindheitsfreunde Josef und Gero steht mal wieder der jährliche gemeinsame Ausflug an. Dieses Mal soll es eine sommerliche Kanutour sein, in einem nicht näher bezeichneten ostdeutschen Gebiet, fernab der Zivilisation, das mit seinen Fließen stark an den Spreewald erinnert. Doch gleich zu Beginn ihrer Reise treffen die Vier auf Hindernisse: Im Gasthof kommt es zum Eklat, als der dunkelhäutige Josef nicht die Toilette benutzen darf. Dennoch beschließen die Freund:innen ihren Ausflug wie geplant fortzusetzen. Eine Entscheidung mit schwerwiegenden Konsequenzen...

"Der Ausflug" ist der neue Roman von Dirk Kurbjuweit, der zuletzt mit "Haarmann" ein erstklassiges düster-melancholisches Krimidrama präsentierte. Um es vorwegzunehmen: Leider erreicht das neue Buch nicht einmal im Ansatz diese Qualität.

Gleich zu Beginn wähnte ich mich in einem eher unterdurchschnittlichen Horrorfilm mit platten Dialogen und stereotypen Figuren, die nahezu alles falsch machen, so dass ich mir sofort die Frage stellte, wen der Vier es wohl zuerst erwischen würde: Anführerin Amalia, Nervensäge Bodo, den smarten Amalia-Ex Josef, der als einziger Dunkelhäutiger in der ostdeutschen Provinz das Hassobjekt darstellt oder Schweiger Gero, der kaum etwas zur Handlung beiträgt? Und? Ganz so vorhersehbar entpuppt sich der gemeinsame Ausflug dann glücklicherweise jedoch nicht, aber warum sich das Quartett genau diesen Ort und diesen Gasthof aussuchen musste, klärt sich leider bis zum Finale nicht. Ganz zu schweigen davon, dass sie trotz ihrer Zelte tatsächlich eine Nacht dort verbringen. Gar unfreiwillig komisch wird es, wenn Gero in Bezug auf den Toiletten-Eklat den Gasthof-Rassisten inbrünstig entgegenschmettert: "Sie wissen genau, dass das N-Wort ein rassistischer Begriff ist." Ja, Gero, natürlich wissen sie das, möchte man ihm förmlich ins Gesicht schreien. Denn sie sind ja Rassisten!

Findet man sich als Leser:in also mit dieser unglaubwürdigen Prämisse ab und gewöhnt sich ein wenig an die nervigen und ständig umheralbernden Figuren, wird man in der Folge dann erstmals belohnt. Denn auch wenn die Fremdenfeindlichkeit der Einheimischen völlig überspitzt und ausnahmslos erscheint, gelingt es Dirk Kurbjuweit in dieser Phase eine wirklich unheimliche und bedrohliche Atmosphäre zu erzeugen. Die flirrende Hitze über dem Wasser, die Flora und Fauna tragen ihren Teil dazu bei, doch auch der Einsatz der Mittel ist gut gewählt. Ein Pick-up stört die nächtliche Ruhe durch seine Anwesenheit, merkwürdige Kinder lassen die Vier in der Schleuse stecken, die Kanus verschwinden und ein surrealer Straußenzüchter hat einen ebenso denkwürdigen Auftritt wie ein Guru mit seinem Harem. Klingt schräg, ist es auch - aber ziemlich unterhaltsam. Ich fragte mich ständig, ob die zahlreichen Pannen einfach eine Verkettung unglücklicher Umstände sind oder ob dem Quartett eine wirkliche Gefahr droht.

Doch je weniger subtil diese Bedrohungen werden, desto schwächer wird der Roman. Während keine der Figuren an Tiefe gewinnt, wird die Handlung immer gewalttätiger. Dazu kommen die weiterhin unpassenden Dialoge. Während erstmals eine Waffe auftaucht, streiten sich Amalia und Josef ernsthaft darüber, ob das Wahlrecht in den USA eher die schwarze Bevölkerung oder die Frauen benachteiligte. Das wäre in einer solchen Situation natürlich auch mein Hauptproblem. Zudem wird die jahrzehntelange Freundschaft erstaunlich schnell brüchig, obwohl die Protagonist:innen eigentlich gerade jetzt besonders zusammenhalten müssten.

Ohne etwas über das Finale verraten zu wollen, stellt man sich spätestens jetzt die Frage, ob Dirk Kurbjuweit diesen Roman ernst meint oder ob er nicht doch eine Art Parabel für den Alltagsrassismus geschrieben hat, die selbstverständlich weit über das Alltägliche hinausgeht. Oder gar eine Groteske, der es dann aber an Schärfe fehlen würde. Antworten darauf gibt "Der Ausflug" bis zum Schluss nicht, dafür möchte er mit eine

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Bewertung vom 28.02.2022
Schneider, Robert

Schlafes Bruder


sehr gut

Das Jahr 2022 startet mit einigen bemerkenswerten Neuauflagen von Klassikern. Während beispielsweise Umberto Ecos "Der Name der Rose" sein 40-jähriges Bestehen durch eine neue Prachtausgabe feiert, lässt sich auch der Reclam Verlag nicht lumpen und besticht zum 30-jährigen Werkjubiläum durch eine hochwertige Neuauflage von Robert Schneiders Welterfolg "Schlafes Bruder".

Nicht nur der neue Schutzumschlag zieht die Blicke auf sich, sondern es gibt auch eine Überraschung, wenn man diesen entfernt: Das von anderen Auflagen bereits bekannte "Bildnis Walter Stucki" von Albert Anker erstrahlt im bedruckten Einband erstmals vollständig und damit in neuem Glanz.

Der Inhalt ist den meisten Leser:innen vermutlich bekannt: Der 1803 geborene Johannes Elias Alder findet im vorarlbergischen Dorf Eschberg keinen Anschluss an die Dorfgemeinschaft. Sein perfektes Gehör, seine schrille Stimme und sein vorzeitiges Altern machen aus dem Jungen einen Sonderling. Daran können auch sein außergewöhnliches musikalisches Talent als Organist oder seine Liebe zur fünf Jahre jüngeren Cousine Elsbeth nichts ändern. Damit diese Liebe nicht einen Augenblick ruht, beschließt Elias mit 22 Jahren nicht mehr zu schlafen, denn letztlich seien Schlaf und Tod wie Brüder, wie es schon ein Bach-Choral verlauten ließ. Eine verhängnisvolle Entscheidung, die zum vorzeitigen Tode Elias' führt, wie es der Erzähler bereits im Prolog vorwegnimmt.

In einem ergänzenden und sehr informativen Nachwort versucht Rainer Moritz dem Überraschungserfolg des Romans von 1992 auf die Schliche zu kommen und erklärt auch noch einmal die immense Bedeutung des Buches für den finanziell damals angeschlagenen Reclam Verlag. Mehr als zwei Millionen verkaufter Exemplare später wirkt "Schlafes Bruder" jedenfalls auch nach 30 Jahren alles andere als angestaubt.

Es ist wohl diese eigentümliche Mischung aus Märchen, Anti-Heimat- und Bildungsroman einerseits und der außergewöhnlichen Erzählstruktur auf der anderen Seite, die "Schlafes Bruder" auch heute noch zum Teil bessere Verkaufszahlen beschert als einigen Neuerscheinungen. Der auktoriale Erzähler, der von Beginn an überhaupt keine Zweifel an seinen Sympathien für den "Helden" Elias aufkommen lässt, berichtet nicht nur vom tragischen kurzen Leben des Protagonisten, sondern spottet auch über Eschberg und seine Bewohner:innen, von denen bis auf wenige Ausnahmen wirklich kaum einmal jemand Empathie für den verstoßenen Sonderling hervorbringt. Die Sprache macht dabei sicherlich einen Großteil des Charmes dieses Gegenwarts-Klassikers aus. Robert Schneider setzt auf einen bewusst der Handlungszeit angepassten Stil, in dem häufig auch sprachliche Besonderheiten aus dem Vorarlberg auftauchen.

Der Roman überzeugt vor allem in den Momenten, in denen Schneider und sein Erzähler auf Empathie und Wärme setzen, das Herz ansprechen - ein zentrales Element, auf das auch Rainer Moritz im Nachwort noch einmal hinweist. Der schwarzhumorige Spott und die sehr häufig eingesetzten Übertreibungen in der Handlung sorgten bei mir hingegen das ein oder andere Mal für Stirnrunzeln und hinterließen den Eindruck, dass "Schlafes Bruder" ein wenig länger wirkte, als es mit seinen gut 200 Seiten in Wahrheit ist. Gelungen ist wiederum die Figurenstruktur, aus der insbesondere Peter hervorsticht, dessen niederer Charakter vom Erzähler ausgiebig besprochen wird; der auf der anderen Seite aber durch seine Liebe zu Elias eigentlich die einzige Figur ist, auf die dieser bis zum Ende zählen kann - eine wunderbare Ambivalenz.

Insgesamt bietet diese bibliophile Ausgabe also nicht nur durch ihre schöne Gestaltung, sondern auch durch die wahrlich außergewöhnliche Geschichte des Elias Alder genügend Anreize, um "Schlafes Bruder" abermals oder sogar erstmalig zu entdecken.

Bewertung vom 24.02.2022
Sand, George

Gabriel


ausgezeichnet

Im September 2019 stellte die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer "Theaterserie" George Sands "Gabriel" als "phantastisches Stück über die Freiheit" vor und zeigte sich empört: "Bisher ist es nicht ins Deutsche übersetzt. Das muss sich ändern!" Gut zwei Jahre danach kommt der Reclam Verlag diesem Wunsch nach und veröffentlicht eines der persönlichsten Werke der großen Schriftstellerin aus der Zeit der Romantik erstmals als deutsche Übersetzung. Eine kluge und nachvollziehbare Entscheidung.

Denn seit der ersten Publikation in der französischen "Revue des Deux Mondes" im Jahre 1839 hat dieser von George Sand so betitelte "Dialogroman" auch fast 200 Jahre später erstaunlicherweise kaum an Aktualität eingebüßt. Wobei schon die Genre-Einteilung deutlich macht, dass Sand die Konventionen ihrer Zeit nicht nur in Sachen Kleidungsstil und gesellschaftlichem Duktus herzlich egal gewesen sein dürften. Doch ob nun "Phantasie", "Dialogroman" oder "Drama" - "Gabriel" dürfte in seiner Mischung aus Feminismus, Genderdebatte und Individualismus durchaus bei einer breiten Leserschaft den Nerv der Zeit treffen.

Kurz vor dessen 16. Geburtstag eröffnet der Fürst von Bramante seinem Enkel Gabriel, dass dieser eigentlich eine Frau ist und aus Gründen der Thronfolge als Junge großgezogen wurde, um der verhassten jüngeren Linie der Familie sämtliche Ansprüche zu verwehren. Doch Gabriel ist ein Freigeist, dem die Frage des Geschlechts nicht von großer Bedeutung scheint: "Ich jedenfalls habe nicht das Gefühl, dass meine Seele ein Geschlecht hat, wie Sie es mir so oft beweisen sollen", entgegnet der Junge. Wichtiger ist ihm die individuelle Freiheit: "Man kann Falken im Käfig erziehen und ihnen die Erinnerung oder den Instinkt der Freiheit abgewöhnen: Ein junger Mann jedoch ist ein Vogel mit besserem Gedächtnis und mehr Verstand", heißt es an anderer Stelle.

Diese erstaunlich klugen Gedanken machen "Gabriel" zu einem sehr persönlichen Werk, denn auch George Sand selbst spielte mit der Geschlechterfrage, wie wir auch im informativen Nachwort von Walburga Hülk erfahren.

Insbesondere die erste Hälfte des Buches ist bewegend, denn die Leser:innen begleiten Gabriel auf dem Weg seiner Selbstfindung und erkennen in seinem Streben nach Freiheit und Bildung und seiner Aufsässigkeit gegenüber dem Fürsten klassische Coming-of-Age-Motive, die sowohl sprachlich als auch inhaltlich überzeugen und dabei auch heute noch aktuelle Themen wie die Gleichberechtigung der Frau in den Vordergrund und klassische Geschlechterrollen infrage stellen.

In der zweiten Hälfte entwickelt sich "Gabriel" stärker hin zu einer Tragödie mit Eifersuchtsmotiven, denn Gabrielle, wie sie sich mittlerweile nennt, spielt mitnichten die Rolle einer fürsorglichen Ehefrau, wie es sich ihr Vetter Astolphe wünschen würde, sondern strebt weiterhin nach individueller Freiheit und Selbstverwirklichung. Trotz ihrer Liebe zu Astolphe, den sie ursprünglich ja nur kennenlernen wollte, um gegen die Erziehung des Fürsten zu rebellieren.

Lässt man sich als Leser:in auf die etwas eigentümliche Prämisse ein, dass Gabriel wirklich nichts davon ahnte, eine Frau zu sein, wird man in der Folge mit einem großen Drama belohnt, einem überraschend frischen Werk. Und wer Gabriel nach der Lektüre in irgendeine Rolle pressen möchte, dem wird er entgegnen: "Ich mag mein Pferd, Wind um die Ohren, Musik, Dichtung, Einsamkeit, Freiheit vor allen Dingen." Ein bemerkenswerter Satz eines unvergesslichen literarischen Helden.

Bewertung vom 23.02.2022
Jamal, Salih

Blinder Spiegel


sehr gut

Der Fluglotse Lui ist ein Getriebener. Er arbeitet mal hier, mal dort, wird nirgends sesshaft. In Paris lernt er die rätselhaft schöne Elle kennen - und stürzt dadurch in eine verhängnisvolle Amour fou mit dramatischen Auswirkungen für alle Beteiligten.

Salih Jamal ist vielen Leser:innen sicherlich noch durch seinen letztjährigen wunderbaren Roman "Das perfekte Grau" ein Begriff. Nur etwas mehr als ein Jahr später legt er im Septime-Verlag sein neues Werk "Blinder Spiegel" nach. Buch und Autor scheren sich dabei herzlich wenig um Genregrenzen. Als "Roman" betitelt, könnte man es aufgrund seiner Kürze von etwas mehr als 100 Seiten auch als "Novelle" bezeichnen - oder gar als "Drama in fünf Akten", denn die Erzählstruktur aus fünf Kapiteln weist in ihrer klassischen Zuspitzung fast schon die Merkmale einer antiken Tragödie auf.

Wenn ein Buch mit den Worten "Grüne Augen sind die seltensten der Welt, und man sagt, dass sie auch die schönsten sind" beginnt, spürt man als Leser sofort eine umittelbare Intensität, die "Blinder Spiegel" auch bis zum Finale beibehalten wird. Und man ahnt, wohin die Reise geht. In eine melancholische Poesie, die bisweilen an einen französischen Film Noir erinnert, auch wenn es in dem Roman nicht immer regnet. Fast hatte ich beim Lesen das Gefühl, Ich-Erzähler Lui aus dem Off sprechen zu hören, so plastisch und intensiv sind dessen Ausführungen. Überhaupt diese Namen: Lui und Elle. Das hat auf der einen Seite etwas Existenzialistisches, auf der anderen Seite schafft es eine gewisse Distanz zwischen Leser:innen und Figuren. Eine dringend notwendige Distanz, denn die Welt, die man betritt, dürfte für die meisten Menschen fremd und abschreckend sein.

Diese fremde Welt verhinderte es letztlich auch, dass ich einen stärkeren Zugang zum Inhalt und zu den Figuren bekam. Denn während bei einem gemeinsamen Friedhofsbesuch zunächst so wunderbare Sätze wie "Ein Friedhof ist der Ort, an dem sich Schönheit und Tod umarmen" stehen, kommt es im nächsten Moment recht unvermittelt zum Oralverkehr. Was magisch und harmlos beginnt, wird zu einer obsessiven Beziehung zwischen Lui und Elle, einer Beziehung zweier verlorener Seelen voller Schmerz, Gewalt - und viel Sex. Diese expliziten Szenen störten mich bestenfalls oder stießen mich schlechtestenfalls regelrecht ab. Dennoch passen sie ins Gesamtkonzept von "Blinder Spiegel".

Wenn Salih Jamal in der zweiten Hälfte des Buches sogar eigene Gedichte in den Roman einbaut, die die Zerbrechlichkeit Luis einfangen und im nächsten Absatz von einer "schmerzenden Morgenlatte" schreibt und sich Lui vorstellen lässt, wie er Elles Ehemann "mit meinem Wasserwerfer anpisste", dann erinnert das in seiner Mischung aus Obszönität und Schönheit ein wenig an Allen Ginsberg und die Beat Generation. Und es zeigt, dass es dem Autoren nicht darauf ankommt, allen Leser:innen gefallen zu wollen, was bei dieser Thematik wohl auch nicht möglich ist.

Wegen der Drastik der Sexszenen und der dazugehörigen Gewalt konnte mich "Blinder Spiegel" im Vergleich zu "Das perfekte Grau" nicht gleichermaßen abholen, da ich beim Vorgänger einfach eine größere Wärme gespürt habe, die mich emotional stärker in die Handlung eintauchen ließ. Dennoch beweist Salih Jamal auch mit seinem neuen Werk, dass er zu den wohl aufregendsten und kompromisslosesten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gehört.

Bewertung vom 19.02.2022
Donovan, Gerard

In die Arme der Flut


gut

Als Luke Roy kurz vor seinem 37. Geburtstag die hohe Brücke über dem Fluss bei Ross Point im US-Bundesstaat Maine betritt, steht für ihn fest: Er wird an diesem Tag Ende Oktober seinem Leben ein Ende setzen. Doch während ein immer dichter werdender Nebel die Brücke einhüllt, hört er plötzlich Schreie. Nach einem Bootsunfall treibt der 15-jährige Paul unaufhaltsam Richtung Meer. Kurzerhand springt Luke 35 Meter tief ins Wasser und rettet den Jungen. Wie geht ein Mensch, der mit seinem Leben eigentlich abgeschlossen hatte, damit um, plötzlich von den Menschen und den Medien als Held gefeiert zu werden, obwohl er dies nicht will? Und wie schnell können Stimmungen in den sozialen Medien eigentlich kippen? Darüber schreibt Gerard Donovan in seinem neuen Roman "In die Arme der Flut".

Während der deutsche Titel des Romans grammatikalisch auf den ersten Blick etwas sperrig wirkt, drückt der englisch-sprachige Originaltitel "The Dead Lit Faintly" die morbide Todessehnsucht, die das Buch ausstrahlt, deutlich stärker aus. Man kann Gerard Donovan darin sicherlich einiges vorwerfen, aber nicht, dass er sich groß um literarische Konventionen scheren würde. Denn einige Leser:innen dürften schon innerhalb der ersten 70 Seiten Reißaus nehmen. In fast quälend langsamem Erzähltempo begleiten wir Luke bei seinem missglückten Suizidversuch, und fast glaubt man, sich in einer Oper zu wähnen, in der der Tod des Schurken oder der Helden auch häufig bis zur letzten Sekunde ausgekostet wird. Dennoch strahlt der Roman in dieser Phase eine recht hohe Intensität aus. Der Nebel wabert, Luke sinniert über Nahtoderfahrungen in seiner Jugend, der Fluss rauscht, die Landschaft Maines zieht an den Augen der Leser:innen vorbei.

Mit Einsetzen der Rettungsaktion nimmt das Erzähltempo plötzlich dramatisch zu und entwickelt sich in der Folge sehr überraschend zu einer völlig überspitzten Medien- und Gesellschaftsgroteske. Luke wird zum Helden wider Willen, kurz darauf zum Antihelden und Verfolgten. Donovan lässt einen Bürgermeister namens Donald unter der wenig subtilen Bezeichnung "der wahre Bürgermeister" lostwittern und verübt mit dem Holzhammer Kritik an den sozialen Medien, der Gesellschaft und der Politik. "Und gab es nicht mal bei Twitter einen Real Donald mit orangem Haar?", mögen spätestens jetzt einige Leser:innen denken.

In dieser Phase erinnert "In die Arme der Flut" sehr stark an den 2016 erschienenen Roman "Vor dem Fall" von Noah Hawley, in dem ein Mann nach einem Flugzeugabsturz einen kleinen Jungen rettete und von den Medien zu einem Helden hochstilisiert wurde, bevor sich auch dort das Meinungsbild drehte. Doch während bei Hawley die Spannung im Vordergrund stand, setzt Donovan eher auf eine Generalkritik und vermischt diese immer wieder mit zarten und schönen Sätzen: "Am östlichen Horizont kann er sehen, wie ein Fingerabdruck aus Licht die Sterne berührt", heißt es dort oder auch "Für Geschöpfe, die die Sonne nicht ertragen können, bietet die Nacht diesen Planeten an."

Diese wunderbaren Momente zeigen, welch großartiger Roman "In die Arme der Flut" hätte werden können, denn Gerard Donovan beweist mehr als einmal, dass er sein Fach beherrscht und die richtigen Töne treffen kann. Auch sein Mut ist ihm hoch anzurechnen. Da verschwindet völlig überraschend plötzlich eine recht zentrale Figur, und der vielleicht interessanteste Charakter des Buches wird erst im letzten Viertel eingeführt.

Dennoch überwog bei mir das Gefühl einer Unausgegorenheit. Zwischenzeitlich wähnte ich mich in einem neuen Roman, so wenig passte für mich die Mischung aus tieftraurigem Drama und schriller Satire. Und wenn der Autor gegen Ende des Buches völlig unvermittelt und langatmig den live auf Facebook übertragenen Suizid eines Kindes unkommentiert darstellt und diesen mit einer "Rattenfänger von Hameln"-Parabel gleichsetzt, waren für mich die Grenzen des guten Geschmacks in Verbindung mit dem Zynismus des Autors gegenüber seinen Figuren überschritten.

Schade,

Bewertung vom 11.02.2022
Loschütz, Gert

Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist


ausgezeichnet

Als seine Mutter den zehnjährigen Karsten im märkischen Plothow nachts aus dem Bett holt, um mit ihm einen letzten Spaziergang durch die Heimatstadt zu machen, sagt sie ihm: "Sieh hin, sieh dir alles genau an, weil du es nicht wiedersiehst." Am nächsten Morgen werden die beiden die DDR in Richtung Westen verlassen und dem Jungen wird eingeimpft: "Sieh dich nicht um", um erst gar keine Verdachtsmomente an eine Flucht aufkommen zu lassen. Doch wie geht ein Junge damit um, der von einem auf den nächsten Tag seine Heimat verliert und dem dieser Satz wie ein Damoklesschwert ein Leben lang über dem Haupt schwebt? Davon erzählt Gert Loschütz in seiner "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist".

Der Roman wurde 1990 bereits unter dem Namen "Flucht" veröffentlicht, und offenbar im Zuge des Erfolgs des letztjährigen Loschütz-Romans "Besichtigung eines Unglücks" hat sich der Verlag Schöffling & Co. dazu entschlossen, dieses über 30 Jahre alte Werk des Autors erneut zu veröffentlichen. Es ist eine kluge und nachvollziehbare Entscheidung, denn dieses zeitlose Kunstwerk dürfte damit viel mehr Leser:innen erreichen, an denen es ansonsten wohl vorbeigegangen wäre. Wären da nicht die zahlreichen "ß", die sich wegen der alten Rechtschreibung im Text befinden, könnte man meinen, Loschütz hätte nur besonders schnell einen Nachfolger veröffentlicht, denn nichts an der "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist" wirkt veraltet oder inaktuell.

Noch nie waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie 2020. Täglich endet für zahlreiche Minderjährige die Kindheit. Nicht immer durch die Flucht selbst, dennoch trägt diese Entwurzelung erheblich dazu bei. So auch damals bei Karsten Leiser, mittlerweile Reisejournalist, der sich Ende der 1980er-Jahre dem Dogma der Mutter widersetzt - und eben doch zurückblickt auf seine Kindheit und auf den besonderen Tag im Mai des Jahres 1957, an dem diese ein abruptes Ende nahm. Denn der "Tag, der nicht vorüber ist" verfolgt den Ich-Erzähler Karsten auf Schritt und Tritt. Nur ein Jahr nach der Flucht stirbt die Mutter nach langer Krankheit just an diesem Tag, und auch weniger bedeutsame Ereignisse und kleinere Unglücke ziehen sich in den kommenden Jahren wie ein roter Faden durch Karstens Leben.

Der Erzählton, den Gert Loschütz wählt, ist voller Melancholie, voller sinnlicher Intensität. In sprunghaften kleinen Szenen wechseln die Jahre und die Schauplätze von den 80er- in die 50er-Jahre und wieder zurück, von dem fiktiven Plothow ins fiktive Wildenburg in Hessen, von Irland nach Italien. Auch wenn sich die im Titel angedeutete "Ballade" als literarische Gattung nicht halten lässt, hat das dennoch etwas von Strophen, die im Verlaufe des Romans etwas länger werden. Man spürt die autobiografischen Bezüge, die Verbindungen zwischen Karstens Familie und Loschütz' Flucht von Genthin nach Dillenburg eben im Jahr 1957.

Karsten selbst entpuppt sich als unzuverlässiger Erzähler, der aber zu seinen Lügen steht und diese manchmal sogar als solche kennzeichnet. Für die Leser:innen entwickelt sich dadurch ein Spiel mit der Realität, wobei die Handlungen gern auch einmal ins Surreale abdriften. Wenn Karsten beispielsweise seinen Fluchtkoffer nach über 25 Jahren endlich wegwerfen will und dieser doch immer wieder zu ihm zurückkehrt. Oder wenn er seinen Intimfeind aus der Kinderzeit, einen Jungen namens Burckhardt, urplötzlich überall wiedertrifft und dieser vermeintlich sogar einen Anschlag auf Karsten plant. Besonders ans Herz gehen dabei die Kindheits-Episoden. So erledigt Karsten beispielsweise noch die Hausaufgaben, obwohl er seine Schule niemals wiedersehen wird. Oder er berührt eine besondere Mauerstelle an seinem Hauseingang nicht, weil seine Mutter diese als letztes vor der Verlegung ins Krankenhaus berührte.

All das untermalt Loschütz mit Erinnerungen, Farben und Gerüchen, mit einer sehr besonderen, überwiegend traurigen Tonalität, die ich schon in "Besichtigung eines Unglücks" so geschätzt habe. Vielleicht is

Bewertung vom 04.02.2022
Blees, Gerda

Wir sind das Licht


ausgezeichnet

Drei Frauen und ein Mann leben in einer nicht näher bezeichneten niederländischen Stadt in der Wohngruppe "Klang und Liebe" zusammen. Doch das Ziel, sich vornehmlich von Licht zu ernähren, geht fürchterlich schief: Elisabeth stirbt völlig unterernährt. Als der herbeigerufene Notarzt einen unnatürlichen Tod feststellt, geraten die drei anderen Bewohner:innen ins Visier polizeilicher Ermittlungen. Wie konnte es zu einer solchen Radikalisierung kommen und wieso konnte niemand Elisabeths Tod verhindern? Darüber schreibt Gerda Blees in ihrem Debütroman "Wir sind das Licht".

Es ist ein bemerkenswert innovativer Roman geworden, der vor allem aufgrund der Erzählperspektive aus dem Rest der zeitgenössischen Literatur heraussticht. Denn Gerda Blees traut sich unheimlich viel - und das in einem Erstling. In den 25 Kapiteln gibt es sage und schreibe 25 verschiedene Erzähler:innen, die die Leser:innen mit einem umarmenden "Wir" im jeweils ersten Satz sofort für sich einnehmen. Dabei macht die Autorin auch vor unbelebten Gegenständen oder Abstrakta keinen Halt. "Wir sind die Nacht", heißt es gleich zu Beginn, "wir sind ein Cello" an einer anderen Stelle. Manchmal geraten sie sich sogar in die nicht vorhandenen Haare, wenn man bei "Klang und Liebe" völlig anderer Auffassung über die Bewohner:innen ist - und sich trotzdem arrangieren muss.

Nichts ist erwartbar in diesem Buch, alles ist neu, alles ist aufregend. Stück für Stück sorgt die Multiperspektivität dafür, das Puzzle um die Wohngruppe zusammenzusetzen. Während der Inhalt eher langsam voranschreitet, ist dennoch für eine anhaltende Spannung gesorgt. Denn ich fragte mich immer, welche der Stimmen sich als Nächstes zu Wort meldet.

Besonders gelungen ist dies, wenn sich auch die Form des Textes dem Inhalt anpasst. Wenn die Nacht kurz vor ihrem Ende steht und schon der Morgen graut, muss das Geschehen eben mal in einer Seite ohne Punkt und Komma heruntergerattert werden. Wenn die Demenz eingreift, verschwimmen nicht nur die Inhalte des Erzählten, sondern der Text selbst verliert seine Form. Das ist genial und bewegend, und ich fühlte mich wohl noch nie den Gedankengängen einer/s Demenzkranken so nahe. Wenn dann noch die Erzählung selbst eingreift und sich über die Ideenlosigkeit ihrer eigenen Autorin beklagt, sollten auch die Letzten bemerken, in welch klugem literarischen Meisterwerk wir uns bewegen.

Dabei störte es mich nicht einmal, dass ich zu keiner der Figuren irgendeine Art von Bindung aufbauen konnte, was sonst für mich viel zur Qualität eines Romans beiträgt. Vielmehr gab ich mich uneingeschränkt diesem erzählerischen Rausch hin und konnte letztlich nur staunend konstatieren: "Wir sind die Literatur".

Bewertung vom 01.02.2022
Pines, Sarah

Damenbart


gut

Sie heißen Martha, Maryweather, Marlena oder Mena und es ist nicht nur derselbe Anfangsbuchstabe, der sie eint. Denn sie alle sind mittelalte bis ältere, einsame Frauen, die sowohl mit sich selbst als auch ihrem Leben nicht im Reinen zu sein scheinen. Von all diesen Frauen - und anderen verlorenen Seelen - berichtet Sarah Pines in ihrem Geschichtenband "Damenbart".

"Damenbart" ist das literarische Debüt der gebürtigen Sauerländerin und freien Journalistin, die in New York City lebt. Ihre Kurzgeschichten sind auch deshalb stark amerikanisch geprägt, ein nicht kleiner Anteil spielt in den Vereinigten Staaten. Pines setzt darin auf eine gehörige Prise Poesie und vermischt sie mit einem lakonischen, manchmal etwas spöttischen Humor zu einer bunten Mischung, die aber nur teilweise mundet.

Zunächst einmal ist der Mut der Autorin und des Verlags Schöffling & Co. zu loben, denn es gehört schon etwas dazu, mit Kurzgeschichten zu debütieren. Das oftmals zu Unrecht unterschätzte literarische Genre ist sicherlich nicht der einfachste Weg, in der Literaturszene Fuß zu fassen. Dass Sarah Pines ihr Handwerk versteht, wird dabei sehr schnell deutlich. Ganz wunderbar spielt sie mit der Sprache, setzt in ihrer Poesie auf viele Farben, Gerüche und Geräusche. "In der Ferne verschleierte Nebel die Unendlichkeit des irgendwann nahenden Sommers", heißt es zum Beispiel in "Eisvogel", und wer sich jetzt nach Kalifornien träumt, dem sei gesagt, dass diese Geschichte in Westfalen spielt. Doch diese Schönheit wird oftmals von Hoffnungslosigkeit überlagert. "Frédérique reiste in die Hässlichkeit", heißt es eindrucksvoll in derselben Erzählung - und damit ist nicht unbedingt Westfalen gemeint. Doch nicht alle Metaphern erreichen die gleiche hohe Intensität. In "Eierschalenrot" vergisst sich jemand "im klaren Würfelwurf holunderfarbener Stille", was zwar schön klingt, aber etwas bemüht poetisch wirkt.

Doch während die Sprache mich größtenteils überzeugte, waren es eher die Figurenkonstellation und der dazugehörige Inhalt, die mich seltsam kalt ließen. Ich hatte das Gefühl, dass die Autorin sich bei ihren Figuren sowohl innerlich als auch äußerlich auf die hässlichen Dinge und Eigenschaften fokussierte. Mit leichtem Spott und nur wenig Empathie begegnet sie diesen Frauen, die doch eigentlich nur gefallen wollen. Doch weder mochte ich die Protagonistinnen verspotten, noch stellte sich eine emotionale Bindung zu ihnen ein.

Hinzu kommt, dass es in 13 der 17 Erzählungen vornehmlich um dysfunktionale Beziehungen, gescheiterte Ehen und unglückliche Affären geht, in denen auch der Sex oftmals recht explizit im Vordergrund steht. Doch während bei Dr. Sommer noch die Zärtlichkeit einen großen Raum einnahm, könnte man die Thematik dieses Bandes etwas salopp eher mit "Liebe, Sex und Einsamkeit" überschreiben, denn oftmals wollen diese Frauen ihrer Einsamkeit eben durch ihre Sexualität entfliehen - was natürlich nicht gelingt.

Am gelungensten ist "Damenbart" ausgerechnet in den Momenten, in denen die Autorin aus diesem Schema ausbricht. In "Wintersonne" erleben wir die Sehnsucht eines alten Mannes, der sich mit dem Kauf von Orangen in seine Jugend zurückträumt, doch dessen körperlicher und geistiger Verfall längst nicht mehr gestoppt werden kann - tieftraurig und bewegend. Und in der wohl stärksten Geschichte des Buches "Schweiß" finden sich die Leser:innen in einem nordfranzösischen Dorf wieder, dessen bedrohliche Sommerschwüle zu einer Jungfrauen-Sichtung mit anschließenden Todesfällen führt. Mit einem verdächtigen Eismann, toten Tauben, einer merkwürdigen Schlossherrin und einer verlassenen Ruine streift Sarah Pines hier die Genregrenzen und erinnert an eine kunstvolle Mischung aus Stephen King und Schneewittchen.

Mit "Damenbart" ist Sarah Pines ein sprachlich feines und ambitioniertes Debüt gelungen, welches das Potenzial der Autorin andeutet, aber noch nicht voll erreicht. Lesenswert ist es aber allemal.

Bewertung vom 18.01.2022
Boie, Kirsten

Heul doch nicht, du lebst ja noch


sehr gut

Seit sechs Wochen ist der Zweite Weltkrieg vorbei, doch noch immer versteckt sich der 14-jährige Jakob in einer Wohnruine des zerbombten Hamburg. Bisher hat niemand dem jüdischen Jungen gesagt, dass Deutschland den Krieg verloren hat und er in Sicherheit ist. Derweil trauert der gleichaltrige Hermann seiner Zeit als HJ-Führer hinterher, während Traute ihre Freundinnen vermisst und in den Trümmern des Krieges Anschluss sucht...

Hinter dem etwas sperrigen Titel "Heul doch nicht, du lebst ja noch" verbirgt sich der neue Jugendroman der Hamburger Autorin Kirsten Boie. Und hätte ich nicht ihren Namen auf dem Cover entdeckt, wäre dieser Roman wohl an mir vorbeigegangen, denn angesprochen hat mich dieser Titel nicht.

Verpasst hätte ich ein abermals bewegendes und gut recherchiertes Buch, das die - allerdings auch wahrlich überragende - Qualität und Intensität des inoffiziellen Boie-Vorgängers "Dunkelnacht" jedoch nicht erreicht. Dennoch leistet Boie erneut einen wertvollen und wichtigen Beitrag gegen das Vergessen.

Besonders gelungen ist, dass die Autorin sich konsequent in die Perspektiven ihrer drei jugendlichen Protagonist:innen versetzt. Dabei schafft sie es, sich einer Bewertung zu enthalten. Denn die Figuren sind nicht schwarz-weiß gezeichnet, sondern ambivalent, sie alle machen Fehler, doch sie alle reflektieren auch ihr Verhalten. Es wäre einfach gewesen, den HJ-Jungen Hermann als Antihelden darzustellen, gerade zu Beginn des Romans verhält er sich wie ein klassisches Ekel. Doch in seinem Zuhause erkennen wir einen Jungen, der ebenfalls ein Opfer des Krieges ist. Denn während Hermann von Amerika träumt, wartet daheim ein tyrannischer Vater, der beide Beine im Krieg verloren hat und von Hermann regelmäßig auf die ein Stockwerk tiefer liegende Toilette getragen werden muss.

Doch im Mittelpunkt steht Jakob, dessen Schicksal stellvertretend für die Verfolgung jüdischer Familien in Hamburg steht, wie Boie auch im Nachwort noch einmal betont. Es ist die wahrlich traurige Geschichte eines Jungen, der vor lauter Angst vor Verfolgung nicht einmal mitbekommt, dass der Krieg längst vorbei ist. Dass nicht auch er in seiner Not einen schwerwiegenden Fehler begeht, verhindert ausgerechnet - Hermann.

Während die beiden Jungenfiguren und ihre Schicksale den Leser:innen ans Herz gehen sollten, bleibt Traute als einzige weibliche Protagonistin verhältnismäßig blass. Sie spinnt die Fäden eher im Hintergrund, wird leider nicht mehr als eine Art verbindendes Element zwischen den beiden so unterschiedlichen Jungen.

Ohne etwas über das Ende verraten zu wollen, muss ich konstatieren, dass es mich wirklich schockiert hat. Boie leitet es ein wenig knapp mit den Worten "Bis das Schreckliche passiert" ein. Gerade jüngeren Leser:innen dürfte es einigermaßen schwerfallen, dieses für eine der Figuren erdachte Finale verarbeiten und akzeptieren zu können.

Der Sprachstil der Autorin ist insgesamt gewohnt empathisch, doch hat es mich diesmal ziemlich gestört, dass sie sehr oft auf Pronomen verzichtet. "Gab ja keine mehr", heißt es dort, oder "Waren weniger und weniger geworden". Mir erschloss sich der Zweck nicht, und auch jugendliche Leser:innen könnten dies etwas seltsam finden. Zudem zieht sich dieser Tonfall durch den kompletten Roman und unterscheidet nicht zwischen den einzelnen Perspektiven der drei Protagonist:innen, wodurch die Stimmen ziemlich ähnlich klingen - auch die der Erwachsenen.

Trotz dieser kleineren Kritikpunkte ist "Heul doch nicht..." ein berührender Jugendroman geworden, der für eine Altersgruppe ab 13 Jahren empfohlen wird. Gerade auch an Hamburger Schulen kann ich ihn mir sehr gut als aufregende Lektüre vorstellen. Den Vergleich mit "Dunkelnacht" verliert er aber recht klar.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.01.2022
Galgut, Damon

Das Versprechen


ausgezeichnet

Als die Mutter der 13-jährigen Amor im Jahre 1986 stirbt, herrscht Apartheid in Südafrika. Umso überraschender ist das titelgebende Versprechen, das sich die Schwerkranke von ihrem Mann kurz vor ihrem Tode hat geben lassen: Das Angestelltenhaus auf dem Gutsbesitz der Familie Swart soll in den Besitz des langjährigen Dienstmädchens Salome übergehen. Doch Ehemann Manie nimmt es mit diesem Versprechen nicht zu genau und so ist es an Zeugin Amor, sich für dessen Einhaltung einzusetzen. Ein Kampf, der nicht nur Amor mehr als 30 Jahre beschäftigen wird...

"Das Versprechen" ist der neue Roman des südafrikanischen Autors Damon Galgut, für den er mit dem Booker-Preis 2021 ausgezeichnet wurde. Es ist ein verdienter Preis, denn "Das Versprechen" ist ein Ereignis, ein außergewöhnlicher Roman, der eine schier unglaubliche Intensität ausstrahlt.

Das liegt vor allem an der ungewöhnlichen Art des Erzählens. Wie eine kleine Erzählerdrohne schwebt dieser allwissende Erzähler zwischen den handelnden Figuren hin und her. Oft wechselt die Perspektive mehrfach innerhalb von nur einer Seite. Dabei erinnerte er mich zeitweise an den großen katalanischen Schrifsteller Jaume Cabré, der diese Erzählweise allerdings auf die Spitze treibt und im großartigen "Die Stimmen des Flusses" manchmal gar innerhalb eines einzigen Satzes etwas völlig Neues erzählt. Ganz so experimentell geht Galgut nicht vor. Dennoch gelingt es ihm wirklich fantastisch, sogar kleinste Nebenfiguren so in den Erzählfluss einzubauen, dass man ihren Anteil an der Romanhandlung erst gar nicht richtig einschätzen kann und sich das erzählerische Wunder erst nach und nach entfaltet.

Besonders gelungen ist es, dass der Autor dabei auch vor Tieren und gar Wetterphänomenen keinen Halt macht. Da gibt es zwei Schakale, die wir in einer Nacht begleiten, nur um festzustellen, wie kurz der Weg zwischen Leben und Tod sein kann. Da gibt es einen alles hinwegspülenden Regenguss, der in einer großen Szene gleich mehrere Schicksale miteinander verknüpft. Und es gibt Bob, einen Obdachlosen, der sich eigentlich nur kurz seinem kleinen Geschäft widmen wollte, doch damit die Handlung des Romans fast schon nebenbei auf beeindruckende Art und Weise vorantreibt.

Der Erzähler spielt mit den Figuren, mit den Leser:innen, spricht diese manchmal direkt an, mischt eine Prise Sarkasmus in seine Bemerkungen und verliert darüber die Familie Swart doch nie aus den Augen. Denn letztlich sind es vor allem die drei Swart-Kinder Anton, Astrid und Amor, die sich mit den Folgen des "Versprechens" auseinandersetzen müssen - und daran kläglich scheitern. So verfällt nach und nach nicht nur die Familie selbst, sondern auch ihr Haus scheint - frei nach Edgar Allan Poe - seinem Untergang geweiht.

Doch "Das Versprechen" ist mehr als ein Familienroman. Es ist eine Generalabrechnung mit Südafrika, denn egal ob 1986 oder 2018 - nahezu immer schwingt die Enttäuschung des Erzählers über sein eigenes Land mit. Selbst nach der Apartheid ist dieses Land noch weit entfernt von einer Normalität, wenn es so etwas überhaupt je geben kann. Vom rassistischen Botha über den AIDS-Leugner Mbeki bis zum korrupten Zuma bekommen gleich drei ehemalige südafrikanische Präsidenten ihr Fett weg. Anhand der weißen Familie Swart und ihrer Angestellten macht Galgut nur scheinbar oberflächlich die Auswirkungen dieser Politik deutlich.

So ist "Das Versprechen" ein brillanter Roman geworden, der mich über weite Strecken staunend zurückließ. Staunend darüber, dass es dieser so klug konstruierte Roman geschafft hat, mich gleichermaßen zu bewegen, aber auch immer wieder zum Lachen zu bringen. Staunend vor allem aber auch deshalb, weil ich mir diese enorme Intensität, die das Buch ausstrahlt, manchmal selbst gar nicht erklären konnte.