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Insgesamt 215 Bewertungen
Bewertung vom 28.05.2022

#Antikriegslyrik


ausgezeichnet

„#Antikriegslyrik“ versammelt 64 Gedichte, die sich inhaltlich mit dem Krieg in der Ukraine auseinandersetzen. Die Gedichtsammlung geht auf das gleichnamige Social-Media-Projekt von Fabian Leonhard (Lyriker und Verleger) zurück, der unmittelbar nach dem russischen Angriff auf die Ukraine dazu aufrief, Gedichte unter dem Hashtag „Antikriegslyrik“ zu posten. Eine Auswahl dieser geposteten Gedichte findet sich in „#Antikriegslyrik“. Die Gedichte sprechen unterschiedlichste Gefühle an: Es geht um das Finden von Wörtern in einer sprachlos machenden Zeit, Fassungs- und Hilflosigkeit, die seelische Belastung durch den Krieg, das Gefühl des Erschlagenseins oder den Umgang mit den Nachrichten. Auch die Diskrepanz zwischen dem Leben in Deutschland, das weitgehend normal weitergeht, und dem Kriegsgeschehen in der Ukraine spielt in einem Gedicht eine Rolle. Weitere Gedichte beschäftigten sich mit dem Frieden und der Hoffnung auf ein baldiges Ende des Kriegs. Der Ton der Gedichte ist nachdenklich, bedrückt, teilweise auch hoffend – je nach dem, womit sich das jeweilige Gedicht inhaltlich auseinandersetzt. Insgesamt ist „#Antikriegslyrik“ ein vielstimmiges lyrisches Plädoyer für den Frieden und gegen den Krieg.

Bewertung vom 23.05.2022
Pötzsch, Oliver

Das Mädchen und der Totengräber / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.2


ausgezeichnet

Ein spannender historischer Kriminalroman mit lebhaften Figuren

Inhalt: Wien 1894. Im Kunsthistorischen Museum wird zufällig ein sonderbarer, ja unmöglicher Fund gemacht: Der Leichnam eines anerkannten Ägyptologen – nach altägyptischem Ritus mumifiziert und in einen Sarkophag gebettet. Besonders merkwürdig: Der Professor sollte sich eigentlich auf einer Forschungsreise in Ägypten befinden; schrieb bis vor Kurzem sogar noch Briefe aus Kairo. Mutmaßungen, es könne sich um einen Pharaonenfluch handeln, machen die Runde. Inspektor Leopold von Herzfeldt behält allerdings einen kühlen Kopf und versucht mit Hilfe des Totengräbers Augustin Rothmayer den Fall rational zu klären. Gleichzeitig muss Leopold aber noch in einem weiteren Fall ermitteln: Verteilt in Wien werden bestialisch verstümmelte Leichen junger Männer gefunden, die an die Ripper-Morde erinnern…

Persönliche Meinung: „Das Mädchen und der Totengräber“ ist ein historischer Kriminalroman von Oliver Pötzsch. Es handelt sich um den zweiten Band der Totengräber-Serie. Man kann „Das Mädchen und der Totengräber“ aber auch ohne Kenntnis des Vorgängers lesen: Die Handlung ist in sich abgeschlossen und die Beziehungen zwischen den Figuren werden anschaulich beleuchtet, ohne dass der erste Band gespoilert wird. Erzählt wird der Roman wechselweise aus den Perspektiven von Leopold von Herzfeldt und Julia Wolf, die als Tatortfotografin für die Wiener Polizei arbeitet. Die Figuren sind lebendig ausgestaltet: Julia ist eine starke Figur, die gegen die Konventionen der männerdominierten Welt des 19. Jahrhunderts aufbegehrt; Leopold ein reformorientierter Inspektor, der auch moderne Ermittlungsmethoden nutzt, dafür aber von seinen Kollegen belächelt wird. Der Totengräber August Rothmayer ist kauzig und sehr eigen, hat das Herz aber am rechten Fleck. Schön ausgestaltet und dicht beschrieben ist auch der Handlungsort: Das Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist in „Das Mädchen und der Totengräber“ geprägt von einer aufkeimenden technischen Revolution, aber auch von Vorurteilen und stereotypen Denkmustern. Es changiert zwischen Okkultismus und Naturwissenschaft. Die Krimihandlung ist gut durchdacht, fesselnd und besitzt ein überraschendes Ende. Weiterhin ist die Spannungskurve durch die parallele Ermittlung in zwei Fällen konstant hoch. Interessant hierbei sind auch die eingestreuten Informationen zur Ägyptologie, zur Mumifizierung und zum Umgang mit den Mumien im 19. Jahrhundert. Während der Ermittlungen besuchen die Protagonisten zudem einige atmosphärisch beschriebene Handlungsorte (u.a. den Wiener Zentralfriedhof). Neben der Krimihandlung spielt in „Das Mädchen und der Totengräber“ auch die sich verändernde Beziehung zwischen Julia und Leopold eine Rolle. Der Schreibstil von Oliver Pötzsch ist anschaulich und packend, wodurch er sich flüssig lesen lässt. Insgesamt ist „Das Mädchen und der Totengräber“ ein atmosphärischer historischer Kriminalroman mit einer spannenden Handlung und lebendigen Figuren.

Bewertung vom 22.05.2022
Seemann, Selina

#kleingedrucktes


ausgezeichnet

#kleingedrucktes von der Poetry-Slammerin und Autorin Selina Seemann versammelt Tweets, Kurztexte und 25 Gedichte. Geordnet sind die Texte nach den Uhrzeiten ihrer Entstehung in 25 Kapitel (falls ihr euch fragt, warum es dann nicht 24 Kapitel sind: Zeitumstellung

Bewertung vom 19.05.2022
Faber, Henri

Kaltherz


ausgezeichnet

Ein wahrer Pageturner!

Inhalt: Marie, ein fünfjähriges Mädchen, verschwindet spurlos, als ihre Mutter Clara sie für kurze Zeit allein lässt. Clara und ihr Mann Jakob sind verzweifelt, wollen allerdings nicht an die Öffentlichkeit gehen; der Fall wird zu einem Cold Case. Doch dann übernimmt Kommissarin Kim Lansky, frisch in die Vermisstenabteilung versetzt, den Fall. Sie erkennt ein Indiz, das zuvor übersehen worden ist, und plötzlich besteht wieder Hoffnung, Marie zu finden. Wird Kim Lansky das Rennen gegen die Zeit gewinnen?

Persönliche Meinung: „Kaltherz“ ist ein Thriller von Henri Faber. Mein Inhaltsteaser greift eigentlich viel zu kurz: Der Thriller ist viel komplexer, als die Ausgangslage vermuten lässt. Doch dazu später mehr. Erzählt wird „Kaltherz“ abwechselnd aus verschiedenen Ich-Perspektiven: Kim Lansky, Clara, Jakob und Marie. Während im Lansky-Handlungsstrang die (auch unorthodoxen) Ermittlungen thematisiert werden, stehen bei Clara und Jakob deren Gefühle und Umgang mit dem Verschwinden Maries im Fokus. Der Marie-Strang behandelt, was Marie während ihres Verschwindens erlebt (authentisch fand ich hier den spezifischen Sprech von Marie und ihre kindliche Gedankenwelt). Die Perspektivwechsel führen dazu, dass die Handlung ein schönes Tempo aufweist. Spannend ist außerdem, dass eine Figur unzuverlässig erzählt – welche es ist, verrate ich nicht. :D Zu dem Fall selbst möchte ich ebenfalls nicht zu viel spoilern. Nur: Die Spannungskurve ist sehr hoch. Immer wieder werden Verdachtsmomente gestreut, permanent geschieht etwas Unvorhersehbares. Auch zeigen einige Figuren nicht ihr wahres Gesicht. Die Handlung ist wendungsreich und ein Twist jagt den nächsten – bis zum fulminanten Finale. Nichts ist in „Kaltherz“ so, wie es den Anschein hat. Gleichzeitig ist die Handlung schön komponiert, durchdacht und sehr stimmig. Der anschauliche und mit einer Spur Witz angereicherte Schreibstil von Henri Faber lässt sich angenehm und flüssig lesen. Durch den anschaulichen Schreibstil, die hohe Spannungskurve und die verschiedenen Erzählstränge/Perspektiven ist „Kaltherz“ ein fesselnder Thriller, den man schwer beiseitelegen kann. Kurzum: ein wahrer Pageturner!

Bewertung vom 15.05.2022
Strefford, Catherine

Zwischeneinander


ausgezeichnet

Ein emotionaler Liebes-/Coming of Age-Roman mit lebendigen Figuren

Im Mittelpunkt des Jugendromans „Zwischeneinander“ von Catherine Strefford steht Richie, einer der beiden Protagonisten von „Nur kurz leben“. Um sich an „Zwischeneinander“ erfreuen zu können, muss man nicht zwangsläufig „Nur kurz Leben“ gelesen haben: Beide Romane besitzen eine eigenständige, in sich abgeschlossene Handlung. Allerdings gibt es in „Zwischeneinander“ kleine Easter Eggs, die man nur erkennt, wenn man auch „Nur kurz Leben“ gelesen hat. „Zwischeneinander“ setzt sich aus drei Teilen zusammen und erzählt zwei Liebesgeschichten. Der erste Teil (ca. 110 Seiten) spielt kurz vor „Nur kurz leben“. Dieser Teil handelt von der Beziehung zwischen Richie und Maximilian, kurz Maxi genannt. Die Beziehung zwischen den beiden ist eigentlich perfekt: Sie ist rein, liebevoll und beruht auf gegenseitigem Respekt. Allerdings hat Richie mit selbstzerstörerischen Gedanken zu kämpfen und gerät immer wieder in Gedankenschleifen, was sich mit der Zeit auf die Beziehung auswirkt. Teil 2 (ca. 100 Seiten) behandelt die zweite Liebesgeschichte. Zu dieser möchte ich gar nicht zu viel spoilern. Nur: Hier wird der Ursprung der selbstzerstörerischen Gedanken Richies erzählt. Neben der Liebesgeschichte besitzt dieser Part auch einen schönen Coming of Age-Anteil. Teil 3 (ca. 20 Seiten) spielt nach „Nur kurz leben“. Hier werden der Handlungsbogen und die (noch) offenen Fragen zu einem stimmigen Ende geführt. In allen Teilen tritt eine auktoriale Erzählinstanz auf. Weiterhin besticht „Zwischeneinander“ durch eine einfühlsame Figurenausgestaltung. Die Figuren sind sowohl lebendig als auch authentisch gezeichnet. Dabei besitzen sie auch Ecken und Kanten und haben – wie man besonders an Richie sieht – mit ihrer Vergangenheit zu kämpfen. Neben Richie ist eine meiner Lieblingsfiguren Stella. Stella ist die beste Freundin von Richie und steht ihm immer bei. Dabei ist sie humorvoll und empathisch. Gleichzeitig ist sie aber auch diejenige, die Richie einen kleinen Schubs gibt, ihn zu seinem Glück zwingt, sollte er mal zaudern. Die Handlungen der drei Teile sind sowohl alltagsnah und realistisch als auch emotional. Man fährt geradezu eine Achterbahn der Gefühle: Auf Situationen der größten Glückseligkeit folgen Ernüchterung, Trauer oder Enttäuschung – und umgekehrt. Der Schreibstil von Catherine Strefford ist angenehm und lässt sich sehr flüssig lesen. Insgesamt ist „Zwischeneinander“ ein sehr emotionaler, einfühlsamer Liebes-/Coming of Age-Roman, der durch lebendig ausgestaltete Figuren besticht.

Bewertung vom 11.05.2022
Malcovati, Marie

Als hätte jemals ein Vogel verlangt, dass man ihm ein Haus baut


ausgezeichnet

Ein tiefgründer Roman mit einem interessanten Figurengeflecht

Inhalt: Die hochschwangere Iona steht vor dem Haus von Tahvo, ihrem Vater, den sie noch nie getroffen hat. Doch auf ihr Klingeln reagiert niemand. Kurzerhand bricht sie in das Haus ein. Allerdings bleibt der Einbruch nicht lange unbemerkt: Tine, eine Nachbarin, die eine besondere Beziehung zu Tahvo hat, wird bei Iona vorstellig. Da Tahvo verschwunden bleibt, begeben sich die beiden auf Spurensuche. Und ehe sie es sich versehen, schließt sich eine dritte Frau der Suche an…

Persönliche Meinung: „Als hätte jemals ein Vogel verlangt, dass man ihm ein Haus baut“ ist ein Roman von Marie Malcovati. Erzählt wird die Handlung von einem auktorialen Erzähler, der wechselweise Leben und Gedankenwelt der drei weiblichen Figuren (Iona, Tine und Karolin), die Tahvos Verbleib nachspüren, beleuchtet. Gerade zu Beginn der Handlung ist die Beziehung der drei suchenden Frauen, die gewissermaßen eine Schicksalsgemeinschaft bilden, eher durch rivalisierende Gedanken geprägt. Einziger gemeinsamer Bezugspunkt ist zunächst allein die Suche nach Tahvo, der Abdrücke in jedem der drei Leben hinterlassen hat. Je weiter der (unfreiwillige) Road-Trip jedoch voranschreitet, desto stärker entwickeln sich Sympathien zwischen den dreien. Was Iona, Tine und Karolin bewegt, was genau sie antreibt, bleibt anfangs eher offen und wird erst sukzessiv deutlich: Nach und nach, in Vergangenheitssequenzen, werden die Hintergrundgeschichten der drei weiblichen Figuren erzählt, wodurch sich eine latente Spannung durch den Roman zieht. Tahvo, gewissermaßen das Ziel der Handlung, ist im Vergleich zu den Protagonistinnen schemenhaft gezeichnet. Er agiert fast nur in den Vergangenheitssequenzen und bleibt – bis zuletzt – in einem diffusen Licht. Nicht Tahvo ist Kern des Romans, sondern die Lebenslinien von Iona, Tine und Karolin, die sich an einem bestimmten Punkt mit Tahvos Linie überschnitten. Auch der Erzählstil von Marie Malcovati hat mir sehr gut gefallen. Er ist immer klar und deutlich, zugleich poetisch und psychologisch-sezierend. So werden vergangene und gegenwärtige Problemlagen der Figuren geöffnet, innere Konflikte ausgefochten, Brüche im Leben thematisiert und traumatische Ereignisse behandelt. Dabei finden sich immer wieder tiefgründige Gedanken, die auch jenseits der Denke der einzelnen Figuren Relevanz besitzen. Insgesamt ist „Als hätte jemals ein Vogel verlangt, dass man ihm ein Haus baut“ ein sprachlich schöner, tiefgründiger Roman mit einem interessanten Figurengeflecht.

Bewertung vom 08.05.2022
Oppel, Kenneth

Jetzt greifen sie uns alle an / Bloom Bd.3


ausgezeichnet

Ein sehr gelungener Abschluss der Trilogie

Vorab: „Bloom – Jetzt greifen sie uns alle an“ ist der finale Band der „Bloom“-Trilogie. Da die Handlung der drei Bände aufeinander aufbaut, sollten sie chronologisch gelesen werden. Die Rezension beinhaltet daher auch Spoiler zu den ersten beiden Bänden.

Inhalt: Die Kryptogenen sind auf der Erde gelandet. Die endgültige Kolonisierung steht kurz bevor. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer: Nicht jedes kryptogene Wesen zielt auf eine Invasion. Im Gegenteil: Eine Gruppe von Rebellen möchte das kryptogene Herrschaftssystem stürzen und damit die beginnende Invasion beenden. Um die Erde zu retten, müssen Seth, Anaya und Petra mit den rebellischen Kryptogenen zusammenarbeiten – ob die drei wollen oder nicht.

Persönliche Meinung: „Bloom – Jetzt greifen sie uns alle an“ ist ein Jugendbuch von Kenneth Oppel. Anders als die ersten beiden Bände, die eher in Richtung Dystopie tendieren, ist der dritte Band mit dem Auftritt der Kryptogenen, ihren Raumschiffen, Waffen und technischen Gadgets stärker ein Sci-Fi-Roman (Die Sci-Fi-Elemente sind interessant und haben mir richtig gut gefallen – mehr kann ich ohne Spoiler nicht sagen). Erzählt wird der dritte Band – wie bereits die Vorgänger – aus den personalen Erzählperspektiven von Anaya, Petra und Seth, die sowohl menschliche als auch kryptogene DNA in sich tragen. Jede der drei Figuren steht anders zu ihrer hybriden DNA: Während Petra lieber vollständig menschlich wäre, möchte Seth seine kryptogenen Fähigkeiten nicht missen. Anaya hingegen versucht die goldene Mitte zwischen menschlicher und kryptogener Identität zu finden. Diese Identitätskonflikte, die in allen drei Bänden angelegt sind, werden im dritten Band zugspitzt, wodurch die Handlung an Spannung gewinnt. Die Entwicklung, die die Figuren über die drei Bände hinweg erfahren, wird im Abschlussband außerdem zu einem schönen Ende geführt. Auch der Handlungsbogen, der stimmig an die Vorgängerbände anschließt, hat mir sehr gut gefallen. Für Spannung beim Lesen sorgt, dass man sich nicht 100%ig sicher sein kann, welche Figuren auf welcher Seite steht. Auch gibt es die ein oder andere unerwartete Wendung, sodass der Fortgang der Handlung überraschend und schwer zu erahnen ist. Der Schreibstil von Kenneth Oppel ist angenehm und flüssig zu lesen. Insgesamt ist „Bloom – Jetzt greifen sie uns alle an“ ein spannender Sci-Fi-Roman, der die „Bloom“-Trilogie sehr gelungen und stimmig abschließt.

Bewertung vom 16.04.2022
Schmidt, Joachim B.

Tell


sehr gut

Eine rasant erzählte Neuinterpretation des Tell-Stoffes

Inhalt: Gemeinsam mit seinem Sohn Walter begibt Wilhelm Tell sich auf Bärenjagd. An einer schroffen, alpinen Felswand treffen die beiden auf den neuen habsburgischen Landvogt Hermann Gessler, der gemeinsam mit dem Soldaten Harras die Berge durchstreift. So zufällig die Begegnung der vier ist, so groß sind ihre Auswirkungen auf die Zukunft.

Persönliche Meinung: „Tell“, verfasst von Joachim B. Schmidt, ist eine moderne Interpretation des Tell-Stoffes. Erzählt wird der Roman in fast 100 kurzen Sequenzen (meist 2-3 Seiten lang) aus der Ich-Perspektive von 20 verschiedenen Figuren (u.a. dem Dorfpriester, Bauern, Mitgliedern der Familie Tell, Soldaten). Das Erzähltempo ist dementsprechend hoch; die Handlung wird rasant erzählt, sodass man nur so durch die Seiten fliegt. Spannend ist bei diesen Perspektivierungen, dass die Sichtweise des titelgebenden Helden erst zum Schluss des Romans eingenommen wird. Wer Tell wirklich ist, was ihn antreibt und bewegt, erfahren die Lesenden daher erst zum Ende hin. Zuvor lernen die Lesenden Tell nur aus den Perspektiven der anderen Ich-Erzähler kennen. Diese beurteilen Tell meist aus der Distanz, können aber nicht zu seinem Kern vordringen. Dadurch, dass sie Tell nicht greifen können, aber trotzdem über ihn reden, nähren sie gewissermaßen den Mythos „Tell“. Tell ist eine interessant ausgestaltete Figur mit einer modernen Hintergrundgeschichte, die man in dieser Form nicht erwartet hätte: Er tritt mürrisch auf, ist verschlossen und besitzt Züge eines Anti-Helden. Insgesamt ist er eine äußerst tragische Figur, geplagt von Geistern der Vergangenheit, gefangen in einer Rolle, die er nicht einnehmen wollte. Kurzum: Ein Freiheitskämpfer wider Willen. Tell gegenüber steht der habsburgische Landvogt Gessler, der Antagonist, der eigentlich keiner ist. Ähnlich wie Tell ist er eine tragische Figur, der eine Rolle übergestülpt worden ist, wodurch Gessler an Vielschichtigkeit gewinnt. Dem unfreiwilligen Freiheitskämpfer wird ein Despot wider Willen entgegengesetzt. Doch „Tell“ geht nicht allein in der Gestaltung dieser beiden Charaktere auf. Der im Tell-Stoff angelegte Hang zum Familiendrama wird in „Tell“ weitergedacht. Ohne inhaltlich zu viel spoilern zu wollen: „Tell“ erzählt nicht nur eine moderne Version des legendären Schweizer Freiheitskämpfers, sondern thematisiert in gleichem Maße die Familie Tell, deren Vergangenheit und Gegenwart nicht reibungslos ist. Der Schreibstil von Joachim B. Schmidt lässt sich angenehm und flüssig lesen. Insgesamt ist „Tell“ eine moderne, vielstimmige und rasant erzählte Neuinterpretation des Tell-Stoffes.

Bewertung vom 06.04.2022
Prose, Nita

The Maid / Regency Grand Hotel Bd.1


sehr gut

EIn kurzweiliger Cosy-Krimi

Inhalt: London. Molly Gray arbeitet als Zimmermädchen im Regency Grand Hotel. Hier blüht sie auf, weiß genau, was zu tun ist, und führt ihren Job perfekt aus. Doch ihre Welt gerät aus den Fugen, als sie bei einer routinemäßigen Reinigung die Leiche Mr. Blacks, eines Stammgastes des Hotels, auffindet. Schnell steht fest: Mr. Black ist ermordet worden. Unversehens findet Molly sich inmitten der polizeilichen Ermittlungen wieder und avanciert – unfreiwillig – zur Hauptverdächtigen.

Persönliche Meinung: „The Maid – Ein Zimmermädchen ermittelt“ ist ein Kriminalroman von Nita Prose. Erzählt wird der Roman aus der Ich-Perspektive von Molly, die auch im Mittelpunkt des Krimis steht und in deren Gedankenwelt man ausführliche Einblicke erhält. Molly wird insgesamt detailliert und lebendig gezeichnet. Sie ist eine liebenswürdige Figur, die es aber nicht leicht hat. Ihre einzige Bezugsperson (ihre Großmutter) ist vor Kurzem gestorben, sodass Molly sich einsam und verloren fühlt. Gleichzeitig fällt es ihr schwer, neue Freunde zu finden: Dadurch, dass sie bei ihrer Großmutter aufgewachsen ist, ist sie teilweise weltfremd und zu gutgläubig. Besonders zu Beginn der Handlung weist Molly – soweit ich es beurteilen kann – leicht autistische Züge auf. Es fällt ihr schwer, die Mimik anderer Personen zu verstehen, und oft nimmt sie Redewendungen, Vergleiche o.Ä. wörtlich. Insgesamt ist sie voller Herzensgüte, was aber die Wenigsten sehen. Durch Mollys Arglosigkeit ist man ihr während der Lektüre immer einen Schritt voraus – so scheint es zumindest. Denn: Die Handlung endet mit einem überraschenden Twist, durch den Molly bedingt in einem anderen Licht erscheint. Die Ermittlungen im Fall „Mr. Black“ rücken durch den Fokus auf Molly in den Hintergrund, was mich persönlich aber nicht gestört hat. Den Untertitel „Ein Zimmermädchen ermittelt“ finde ich allerdings etwas irreführend. Molly selbst ermittelt eigentlich gar nicht so viel: Sie gerät unfreiwillig in den Fokus der Ermittlungen und bedarf eines besonderen Beistandes, um ihre Unschuld zu beweisen. In diesem Punkt lag für mich auch die Spannung des Romans: Wie gelingt es, die Ermittlerfiguren bzw. das Gericht von Mollys Unschuld zu überzeugen, obwohl Molly sich selbst immer weiter in Widersprüche verstrickt? Der Schreibstil von Nita Prose ist eingängig und lässt sich flüssig lesen. Insgesamt ist „The Maid“ ein kurzweiliger und unterhaltsamer Cosy-Krimi mit einer liebenswürdigen Protagonistin.