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Havers
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Top100-Rezensent und Buchflüsterer

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Insgesamt 207 Bewertungen
Bewertung vom 08.08.2024
Becker, Martin

Die Arbeiter


ausgezeichnet

Martin Becker schämt sich seiner Herkunft nicht. Im Gegenteil. Er setzt in seinem autofiktionalen Roman „Die Arbeiter“ seiner Familie, stellvertretend für die Arbeiterklasse, ein Denkmal. Berührend und voller Emotionen schreibt er über (s)ein Aufwachsen in einer Familie, die zu kämpfen hat.

Der Vater Bergmann, die Mutter Näherin. Vier Kinder, eines davon adoptiert und lebenslang auf Hilfe angewiesen. Das Geld ist knapp, aber vielleicht hat ja die Lottofee irgendwann ein Einsehen. Wenigstens müssen sie keine Miete zahlen, auch wenn die Schulden für das kleine Reihenhaus selbst nach dem Tod noch nicht komplett getilgt sind. Das bisschen Wohlstand auf Pump erkauft. Wenn das Geld reicht, das jährliche kleine Glück. Eine Woche Urlaub am Wattenmeer. Nicht in einem schicken Hotel, sondern in einer schlichten Ferienwohnung. Viel Bier, Kurze und Kippen, billiges Fleisch auf dem Tisch.

Ein Leben, in dem man sich jeden Tag krumm legt, und das in Gestalt eines frühen Todes seinen Tribut fordert: „Das waren wir. Eine Familie aus der Vergangenheit. Aus der Kleinstadt, aus dem Reihenhaus. Das nie ganz uns gehörte. Wie alles. Ohne Geld, mit geringer Lebenserwartung. Arbeit taktet die Tage durch, bis sie stottern, bis sie gezählt sind.“ (S. 11)

Heute würde man diese Lebensumstände prekär nennen, damals waren sie in Arbeiterfamilien fast schon normal. Und so erinnert Becker nicht nur seine eigene Familiengeschichte, sondern erzählt auch von einer Klasse, die im Aussterben begriffen ist. Unter anderem, weil viele der typischen Arbeitsplätze in Bergbau und Schwerindustrie verschwunden sind, aber auch, weil die Automation in vielen Bereichen Einzug gehalten hat.

Martin Beckers Roman ist eine Geschichte des Erinnerns und des Abschiednehmens, voller Liebe und Melancholie. Keine Verklärung von Herkunft und Mangel à la „wir waren zwar arm, aber glücklich“, sondern ein wertfreies Betrachten aus der Distanz. Er versteht, denn auch wenn er qua Bildung den „Aufstieg“ geschafft, die Vergangenheit vordergründig hinter sich gelassen und Frieden mit ihr geschlossen hat, ist es ihm doch bewusst, dass er diese nie ganz abstreifen kann. Sie hat sich tief in ihm eingebrannt hat und wird immer ein Teil von ihm bleiben. Und das ist auch gut so.

Bewertung vom 06.08.2024
Chan, Vanessa

Nach uns der Sturm


ausgezeichnet

Die malaysische Autorin Vanessa Chan, seit ihren Studienjahren in den Vereinigten Staaten ansässig, thematisiert in ihrem ersten Roman „Nach uns der Sturm“ ein dunkles Kapitel der Geschichte ihres Heimatlands. Sie bricht damit das Schweigen der älteren Generation, die verstummt, wenn die Rede auf die Jahre zwischen 1935 bis1945 kommt. Für ihre Großeltern ein Tabu-Thema, das mit schmerzhaften Erinnerungen, aber offenbar auch mit belastenden Schuldgefühlen besetzt ist. Es sind wenige Informationen, die sie peu à peu von ihrer Großmutter bekommen hat, diese sind die Grundlage für diesen Roman.

Mitte der dreißiger Jahre ist Malaysia noch eine britische Kolonie. Die meisten Menschen haben sich mit den Kolonialherren arrangiert, arbeiten sogar für sie, haben ihren Stolz hinuntergeschluckt und erfüllen ihre Pflicht. Nicht so Cecily, gelangweilte Hausfrau und Mutter, deren Alltag eintönig ist. Sie vermisst die Abwechslung, sucht den Kick und ist deshalb eine leichte Beute für Fujiwara, den hochrangigen japanischen Offizier, mit dem sie bei einem offiziellen Dinner ins Gespräch kommt. Er verschleiert seine wahre Identität, sucht bei dieser Veranstaltung nach jemandem mit Verbindungen zu den Briten, und da kommt ihm Cecily gerade recht, arbeitet doch deren Mann für die Kolonialmacht. Es kommt, wie es kommen muss. Fujiwara politisiert sie mit der „Asien-den-Asiaten“ Parole. Und was macht sie? Sie spioniert ihren Mann aus, versorgt Fujiwara mit geheimen Informationen, die helfen, die japanische Invasion in Malaysia vorzubereiten.

Später, ihr Heimatland ist mittlerweile von den Japanern besetzt, muss sie erkennen, dass sie damals einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, gebärden diese sich doch um ein vielfaches brutaler im Umgang mit ihren Landsleuten. Auch ihre eigene Familie wird nicht verschont. Ihr Mann schuftet seither in einer Fabrik, die älteste Tochter arbeitet in einem Teehaus, der Sohn wird unter unsäglichen Bedingungen in einem Arbeitslager gefangen gehalten, und die gerade einmal Siebenjährige im heimischen Keller versteckt, damit sie nicht in die Prostitution verschleppt wird.

Der Roman teilt sich in zwei Hälften, ein Vorher und ein Nachher. Während der erste Teil sich im Wesentlichen noch auf Cecily konzentriert, stehen im zweiten Teil die Kinder und deren Schicksal im Fokus. Und es sind die ungeschönten, harten Beschreibungen der Gewalt, Schikanen und Demütigungen von Seiten der Besatzer, die kaum auszuhalten sind. Dennoch möchte ich der Autorin dafür danken, dass sie in ihrem Debüt einen kaum beachteten Zeitraum der Geschichte Asiens ausgewählt, darüber geschrieben und damit, zumindest bei mir, einen weißen Fleck auf der Karte getilgt hat. Sehr empfehlenswert!

Bewertung vom 03.08.2024
Godfrey, Jennie

Unser Buch der seltsamen Dinge


ausgezeichnet

Yorkshire in den Siebzigern, ehemals von Textilindustrie und Bergbau geprägt, nun im Niedergang. Die Zeichen stehen auf Sturm, hat die neugewählte „Eiserne Lady“ doch ihre eigenen Pläne mit dieser Region. Und dann ist da noch der Yorkshire Ripper, der dort sein Unwesen treibt.

Die Verunsicherung der Menschen ist groß, weshalb Mivs Tante Jean auch vorschlägt, einen Umzug in den Süden des Landes in Erwägung zu ziehen. Ein Vorhaben, das es zu verhindern gilt, zumindest wenn es nach der zwölfjährigen Miv geht, die ihre gewohnte Umgebung unter keinen Umständen verlassen will. Auch, oder gerade, weil in ihrer Familie nicht alles rund läuft. Ihre Mutter ist verstummt und hat sich in sich selbst zurückgezogen, weshalb die Tante eingezogen ist und sich um Miv, ihren Vater und den Haushalt kümmert.

Also schmiedet Miv einen Plan. Da die Polizei mit der Suche nach dem Yorkshire Ripper offensichtlich überfordert ist, beschließt sie, diesen auf eigene Faust ausfindig zu machen. Unterstützt wird sie dabei von ihrer Freundin Sharon. Die beiden Mädchen beobachten also Männer aus ihrem Umfeld, die ins Profil passen und deren Verhalten ihnen verdächtig vorkommt, und die Ergebnisse ihrer Observationen halten sie akkurat in einem Schreibheft fest, ihrem „ Buch der seltsamen Dinge“.

Auch wenn sie es, wie wir aus der Historie wissen, nicht geschafft haben, den Yorkshire Ripper zu entlarven, ist es doch den aufmerksamen Beobachtungen der beiden Mädchen zu verdanken, dass einige unschöne Vorkommnisse in der Gemeinde ans Licht kommen.

Randnotiz: Peter Sutcliffe aka der Yorkshire Ripper wurde 1981 bei einer Routinekontrolle gefasst. Noch im gleichen Jahr wurde er vor Gericht gestellt und zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt.

„Unser Buch der seltsamen Dinge“ ist eine einfühlsame Geschichte über die Freundschaft zweier Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, die überwiegend aus der Perspektive der zwölfjährigen Miv beschrieben wird. Jennie Godfrey kratzt nicht an der Oberfläche, sondern nimmt uns mit in deren Inneres, zeigt uns die vorpubertären Zweifel und die Ängste, die sie, teilweise bedingt durch ihre besondere familiäre Situation, plagen. Aber sie lässt uns auch an der Neugierde und der Euphorie der beiden Mädchen teilhaben, wenn sich eine neue Spur auftut. Das wirkt glaubhaft, nicht aufgesetzt, und befeuert unterschwellig die Spannung, auch wenn man den Ausgang der Ripper-Story kennt.

Sehr gut geplottet, durchgängig spannend und zu keinem Zeitpunkt langweilig. Große Liebe für dieses kleine Juwel von Jennie Godfrey!

Bewertung vom 30.07.2024
Karnick, Julia

Man sieht sich


weniger gut

„Am liebsten sitzen alle in der Küche“ habe ich gerne gelesen und die realistische Darstellung der Beziehungs- und Alltagsprobleme von drei Freundinnen in den Fünfzigern geschätzt. Ähnliches hatte ich auch von „Man sieht sich“ erwartet, aber das ist Julia Karnick diesmal leider nicht gelungen.

Erzählt wird die on/off Geschichte von Frie und Robert. Es ist eine Geschichte vom Zögern und Zaudern, von Gefühlen, die man sich nicht eingestehen kann oder will und von verpassten Gelegenheiten.

1988: Robert ist der neu an der Schule und verliebt sich in Friederika, genannt Frie, seine Mitschülerin mit den großen Füßen und dem Entengang, sie aber verhält sich ihm gegenüber indifferent. Also hält er den Ball flach. Man lernt sich kennen, freundet sich an. Es knistert, will aber nicht zünden. Beide sind unsicher, trauen ihren Gefühlen nicht, wollen sich keine Blöße geben, die Freundschaft nicht aufs Spiel setzen.

2002: Frie hat aus einer mittlerweile beendeten Beziehung eine kleine Tochter und ihre Karriereambitionen aufgegeben. Robert ist Musiker, hangelt sich von Auftritt zu Auftritt. Sie laufen sich zufällig über den Weg, haben sich aber wenig zu sagen, bleiben unverbindlich.

2022: Das Klassentreffen steht ins Haus. Werden sich die beiden mittlerweile Fünfzigerjährigen treffen? Und werden sie die alte Vertrautheit wieder herstellen können? Vielleicht sogar endlich ein Paar werden?

Interessiert das wirklich jemand, nachdem man sich ca. 400 Seiten durch diese langatmigen und redundanten Beschreibungen durchquälen muss, um am Ende zu einem Schluss zu kommen, der von Beginn an klar ist?

Zu Beginn ist diese Sie-konnten-zusammen-nicht kommen Geschichte ja noch ganz nett zu lesen, insbesondere was die Teenagerjahre samt erster Liebe angeht, aber mit zunehmender Seitenzahl macht sich Ermüdung und Langeweile breit, weil sowohl Höhepunkt als auch Katastrophen fehlen. Dafür gibt es banale Alltagsbeschreibungen in Hülle und Fülle.

Die langatmige Beziehungsgeschichte zweier Protagonisten, die keine Sympathien wecken und deren Verhalten man nicht unbedingt als erwachsen bezeichnen kann, gekrönt von einem Ende, das in diesem Genre vorhersehbar ist. Tut mir leid, Frau Karnick, aber das war nix.

Bewertung vom 29.07.2024
O'Connor, Elizabeth

Die Tage des Wals


ausgezeichnet

Als der Wal an der Küste des dünnbesiedelten Inselchens vor Wales strandet, versetzt dieses Ereignis deren Bewohner in helle Aufregung. Wir befinden uns im Jahr 1938, und nicht nur die Insulaner, sondern auch die übrige Welt ist in Aufruhr. Ist der gestrandete Wal vielleicht ein Vorbote des großen Unheils, das sich über den Häuptern der abergläubischen Fischer zusammenbraut?

Aber auch auf dem Festland hat man von diesem ungewöhnlichen Ereignis Notiz genommen. Und so gerät die Insel in den Fokus der beiden Wissenschaftler Joan und Edward, die dort für eine geplante Veröffentlichung ethnologische Feldstudien betreiben wollen. Vor Ort werden sie von der 18jährigen Fischerstochter Manod unterstützt, die wegen ihrer Englischkenntnisse als Bindeglied zwischen den Einheimischen und den beiden Wissenschaftlern fungiert.

Der Lebensweg Manods scheint schon vorgezeichnet. Der Vater legt für Hummer die Reusen aus, die Mutter ist bereits vor längerer Zeit gestorben, und so musste sie die Verantwortung für den Haushalt und ihre kleine Schwester Llinos übernehmen. Doch der Kontakt mit Joan und deren Ermutigung weckt in ihr die Sehnsucht nach Bildung, einem anderen Leben fernab dessen, was für die Frauen auf der Insel vorgesehen ist. Gleichzeitig himmelt sie Edward an, beginnt eine heimliche Affäre mit ihm und hofft, dass dieser sie bei seiner Abreise mit auf das Festland nimmt.

Elzabeth O’Connors Debüt ist eine gelungene Mischung: Nature Writing, bei dem sich poetische Beschreibungen der Umgebung mit Erzählungen aus der Vergangenheit der Insulaner abwechseln. Die Coming-of-Age Story der jungen Manod, die die sich der Bedürfnisse und Wünsche an ihre eigene Zukunft bewusst wird. Und last but not least der Abgesang auf eine Lebensart, die für immer im Verschwinden begriffen ist. Die Gründe dafür sind vielfältig, werden aber in erster Linie von außen auf die Insel gebracht. Ob das nun der Krieg ist, der seine Schatten vorauswirft, der Fortschritt, dem man sich nicht verschließen kann oder der Wunsch nach einem besseren, einem leichteren, einem selbstbestimmten Leben. Aber Vorsicht vor dem verklärenden Blick der Außenstehenden, die das harte Leben der Bewohner romantisieren und die Veränderungen bedauern, ohne je in deren Schuhen gesteckt zu haben.

Bewertung vom 27.07.2024
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


ausgezeichnet

Ausgehend von den politischen Veränderungen, die seit einiger Zeit in Europa zu beobachten sind, nimmt uns Paul Lynchs „Das Lied des Propheten“ (2023 mit dem Booker Prize ausgezeichnet) mit nach Irland. Das einstmals idyllische grüne Idyll wandelt sich nach der Machtübernahme der NAP, weicht einer Gesellschaft, in der bürgerliche Freiheiten nichts mehr wert sind.

„Die Nacht ist angebrochen, und sie hat das Klopfen nicht gehört…“.

Der Gewerkschaftler Larry ist nach eine Protestaktion spurlos verschwunden. Zurück bleiben seine Frau Eilish und ihre vier Kinder. Allmählich verändert sich das Klima im Land, zuerst nur in kleinen Schritten, aber dann nimmt es an Fahrt auf. Überwachung und Repressionen nehmen zu, die persönlichen Freiheiten werden tagtäglich weniger, bis sie ganz verschwunden sind. Der Ausbruch eines Bürgerkriegs ist dann lediglich die letzte Konsequenz. Um ihre Kinder zu schützen, scheint es für Eilish nur einen einzigen Ausweg zu geben. Sie müssen ihr bisheriges Leben aufgeben und ihre Heimat verlassen, bevor es zu spät ist.

„Das Lied des Propheten“ geht an die Nieren, bietet er doch einen hochgradig beängstigenden Ausblick auf den Alltag unter einem totalitären Regime. Ist das eine Dystopie? Beschreibt Lynch ein weit hergeholtes Szenario? Mitnichten, man muss sich ja nur einmal auf der Welt umschauen. Ich habe selten einen Roman gelesen, der dermaßen eindringlich sämtliche emotionalen Knöpfe drückt. Mit Sicherheit ist das der literarischen Form geschuldet, die der Autor gewählt hat. Wörtliche Rede wird nicht kenntlich gemacht, Gedanken, Gefühle und Beschreibungen reihen sich aneinander, ziehen sich ohne unterbrechende Satzzeichen über mehrere Seiten hin, man liest förmlich ohne Luft zu holen. Eine Verbeugung vorn Lynchs Landsmann James Joyce, der dieTechnik des „stream of consciousness“ in seinem Hauptwerk „Ulysses“perfektioniert hat.

Ein zeitgemäßes, ein politisches, ein wichtiges Buch. Ein Weckruf, der dazu auffordert, wachsam zu bleiben. Und eine nachdrückliche Leseempfehlung meinerseits!

Bewertung vom 23.07.2024
Casale, Alexia

Ein Mann zum Vergraben


gut

(2,5 von 5, aufgerundet)

England 2020. Covid und der verordnete Lockdown hat das öffentliche Leben zum Erliegen gebracht. Im Privaten wächst sich die Frustration zu aggressivem Verhalten aus. Kam es schon vor der Pandemie in vielen Beziehungen zu körperlichen Übergriffen und Misshandlungen, steigen sie während dieser Zeit sprunghaft an. In ihrem Nachwort weist die Autorin, die ehrenamtlich bei einer Hilfsorganisation arbeitet, darauf hin, dass zum einen die Zugriffe auf deren Website während des Lockdowns immens angestiegen sind, zum anderen aber auch die telefonischen Hilferufe um zwei Drittel zugenommen haben. Nicht zu vergessen, die Morde an Frauen haben sich in dieser Zeit in England verdoppelt.

Die Gewalt der Männer eskaliert und gepaart mit der räumlichen Isolation suchen die Frauen Hilfe, oder nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. So auch Sally, seit 23 Jahren mit Jim verheiratet, dem äußeren Anschein nach ein perfektes Paar. Was man allerdings nichts sieht, sind die physischen und psychischen Misshandlungen, die Sally seit vielen Jahren ohne Gegenwehr über sich ergehen lässt. Die Gewalt seitens Jim nimmt im Lockdown zu, Sally fürchtet um ihr Leben und so greift sie sich, als die Situation wieder einmal zu eskalieren droht, die gusseiserne Bratpfanne und schlägt ihm den Schädel ein. Und damit fangen die Probleme an, denn wird ihr jemand glauben, dass sie in Notwehr gehandelt hat? Wohl nicht, weil äußerer Schein und so. Aber was soll sie bloß mit der Leiche anfangen? Das Internet rät im ersten Schritt zu Katzenstreu, Plane, Gaffertape und Bleichmittel, und dann wird man schon weitersehen. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht, was noch zwei weitere Frauen aus der Nachbarschaft plus eine alte Freundin von Sally feststellen müssen.

Und jetzt wird die Story leider ziemlich märchenhaft. Bei ihren Ausflügen in den Heimwerkermarkt trifft Sally nämlich Frauen aus der Nachbarschaft. Man kennt sich zwar vom Sehen, aber erzählt man dem Gegenüber nach ein paar nichtssagenden Sätzen, dass man seinen Mann ins Jenseits geschickt hat? Never ever. Dazu dann noch die absurde Vorstellung, man könne 4 Männerleichen, ohne Aufsehen zu erregen, spurlos verschwinden lassen.

Weibliche Solidarität und Selbstverwirklichung hin oder her, dafür ist das Thema zu wichtig, als dass man es dermaßen unglaubwürdig in einem Roman verarbeiten sollte, der sich nicht zwischen schwarzhumoriger Komik und dem gebührenden Ernst entscheiden kann. Schade!

Bewertung vom 17.07.2024
Mckenzie, Elizabeth

Der Hund des Nordens


sehr gut

Elizabeth McKenzies „Der Hund des Nordens“ ist das richtige Buch für alle, die ein Herz für schräge Außenseiter und eine abgedrehte Story haben. Im Zentrum der Handlung steht Penny Rush, eine Mitdreißigerin, die nicht nur mit dem Trauma ihrer im australischen Outback spurlos verschwundenen Eltern kämpft, sondern auch vor einem gewaltigen Problemberg steht, denn gerade fliegt ihr ihr Leben um die Ohren.

Die Ehe im Eimer, die finanziellen Mittel eher übersichtlich und dann noch die Nachricht vom Amt, dass ihre allein lebende Messi-Großmutter Pincer die Essen-auf-Rädern Lieferantin mit einer Waffe bedroht hat. Keine Frage, Penny, fühlt sich für alles und jede/n verantwortlich und ist der Überzeugung, sämtliche Probleme der Welt nicht nur auf ihren Schultern tragen sondern auch lösen zu müssen. Also packt sie ihre Siebensachen und macht sich auf den Weg zur Oma.

Und damit nimmt eine völlig schräge Geschichte ihren Lauf, in dem die Begegnungen mit allerlei seltsamen Gestalten und ein abgewrackter Van namens „Der Hund des Nordens“ und dessen Besitzer nicht unwesentliche Rollen spielen (der Titel ist übrigens eine Verbeugung der Autorin vor „The Dog of the South“, einem Roman des True Grit-Autors Charles Portis).

Natürlich haben diese Aneinanderreihungen schräger Erlebnisse und die skurrilen Personen einen hohen Unterhaltungswert, aber es gibt auch einen ernsthaften Kern in diesem Roman. Da wäre noch das klassische Motiv der Helden- bzw. Heldinnenreise, die sich ihren Problemen stellen und zahllose Stufen der Bewusstwerdung und Bewältigung durchschreiten muss, ehe sich ihr Leben zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügt.

Ein höchst unterhaltsamer Roman mit einem Feuerwerk an Ideen, was ich so nicht erwartet hatte. Die etwas andere Lektüre für alle, die gerne auch abseits des Mainstream lesen. Lasst euch darauf ein und lest diesen außergewöhnlichen Roman!

Bewertung vom 15.07.2024
Stanisic, Sasa

Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne


sehr gut

Zwölf Erzählungen, wobei die Bitte des mehrfach für seine Romane ausgezeichneten Autors, diese nacheinander zu lesen, vermuten lässt, dass es Zusammenhänge zwischen den Inhalten gibt. Also doch ein Roman? Ich neige dazu, diese Frage mit Ja zu beantworten, zeigen sich doch im Verlauf immer wieder die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Menschen, von denen Sasa Stanisic uns hier erzählt, wobei „Neue Heimat“, die erste Geschichte, die Klammer ist, die alles zusammenhält.

Sommer 1994, eine Clique von vier Jugendlichen. Alle haben einen Migrationshintergrund, leben in prekären Verhältnissen und wünschen sich ein Leben, das besser als ihr gegenwärtiges ist, aber unerreichbar scheint. Sie fühlen sich fremd, chancenlos, aber noch haben sie ihre Träume. Fatihs Idee von einem Proberaum, in dem man die Zukunft testen kann, findet Anklang. Das Einloggen, kostet 130 DM, aber möchte man das Gesehene leben, wird ein sechsstelliger Betrag fällig.

Natürlich geht es um die großen Themen, die zentralen Fragen der menschlichen Existenz, die immer wieder in Stanisics Werken eine Rolle spielen: Migration, Herkunft, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Chancen und verpasste Gelegenheiten. Gewissheiten und Zweifel. Dem Streben nach Glück und der Sehnsucht nach einem lebenswerten Leben. Und natürlich beschreibt er diese sprachlich brillant, angereichert mit einer Prise Humor und den passenden Dosen Sensibilität und Melancholie.

Keine Frage, das ist gelungen, aber dennoch fehlt mir etwas. Die Texte bewegen sich zwar souverän auf dem Terrain, das wir von ihm kennen, legen aber mehr Wert auf sprachliche Brillanz, Querverweise und humoristische Einlagen, als auf Tiefe. Sie bleiben nicht haften, rufen nicht die gleichen Emotionen wie die Vorgänger ab. Ist zwar Jammern auf hohem Niveau, aber trotzdem schade.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.07.2024
Grandi, Alberto

Mythos Nationalgericht. Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche


ausgezeichnet

Liebt ihr italienisches Essen und dessen Zutaten? Und interessiert ihr euch für kulturwissenschaftliche Zusammenhänge? Dann seid ihr bei Alberto Grandi richtig, der seinen Blick auf die Geschichte der italienischen Küchenklassiker richtet und damit im Land einen Shitstorm ausgelöst hat. Die Behauptungen, die er in den Raum stellt, sind sowohl gewagt als auch entlarvend, denn er räumt mit dem Mythos auf, das alles, was wir heute an Gerichten und Zutaten mit dem Schlagwort „Italienische Küche“ beschreiben, sich im Lauf der Jahrhunderte aus Traditionen entwickelt hat.

Grandi ist Historiker mit Lehrstuhl an der Universität Parma und forscht seit Jahren an der Wirtschaftsgeschichte Italiens mit Schwerpunkt auf Herkunft der traditionellen Speisen und ihrer Zutaten. Dabei ist er auf zahlreiche Behauptungen gestoßen, die sich nicht beweisen lassen und einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten. Schon der Untertitel zeigt, was der Autor von den „Traditionen der italienischen Küche“ hält. Alles erfunden, weil Ergebnis einer cleveren Marketing-Kampagne aus den Siebzigern/Achtzigern, die durch die Wiederbelebung von angeblichen Traditionen die Verunsicherung im Land kompensieren sollte, die dem Ende des italienischen Wirtschaftswunders geschuldet war.

Um diese Aussagen zu untermauern schaut sich Grandi die Produkte an, die mit „typisch italienisch“ assoziiert werden, und ohne die die Zubereitung der Gerichte seines Heimatlandes nicht möglich wäre. Mit Blick auf den historischen Kontext und die regionale Verortung kommt er zu dem Schluss, dass gerade bei dem, was wir als Klassiker wahrnehmen, z.B. Parmesan, Tomaten, Pasta, Olivenöl, Balsamico, die Herkunft (und manchmal leider auch Qualität) überwiegend fragwürdig ist.

Ein höchst unterhaltsamer Blick auf die Geschichte der italienischen Küche. Und wer sich nun weiter mit dem Thema beschäftigen möchte, findet im Anhang zwei Bibliografien mit Werken, denen Grandi seine Erkenntnisse verdankt: „Literatur, für diejenigen, die mir vertrauen“ und, wesentlich umfangreicher, mit „Literatur, für diejenigen, die mir misstrauen“.