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Bewertung vom 12.02.2022
Schoch, Julia

Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1


sehr gut

Reflexionen und Erinnerungen
Bei einer Lesung kommt auf die Ich- Erzählerin eine fremde Frau zu, mit der Bitte, ein Buch zu signieren und der Bemerkung: „ Wir haben übrigens denselben Vater.“
Dieses titelgebende Vorkommnis steht am Anfang des neuen autofiktionalen Buchs der deutschen Autorin Julia Schoch. Und dieser Zwischenfall ist Auslöser für vielfältige Reflexionen und Erinnerungen.
Mehrfach rekapituliert die Ich- Erzählerin dieses Zusammentreffen , analysiert auch ihr damaliges Verhalten (Sie fiel der fremden Frau um den Hals.)
Hatte sie nicht immer schon geahnt, dass es irgendwann zu einer solchen Begegnung kommen würde? Denn gewusst hatte sie von der Existenz eines Kindes, das ihr Vater vor seiner Ehe gezeugt hatte.
Sie beginnt ihre Kindheit in einem Provinzort an der DDR- Randzone zusammen mit ihren Eltern und einer sechs Jahre älteren Schwester in neuem Licht zu sehen. Die geometrische Form ihrer Familie wurde durch das Auftauchen eines neuen Mitglieds beschädigt. „ Bislang hatte die Familie, aus der ich kam, einem Quadrat geglichen….Einem recht großen Quadrat, die Ecken weit voneinander entfernt, aber noch in Sichtweite….Erst mit ihr, der fremden Frau, verschwand das Bild eines stabilen Quadrates. …wurde aus der sauberen geometrischen Form ein struppiges Gewächs.“
Beim Rekapitulieren der frühen Kinderjahre entsteht so gleichsam ein Bild vom Aufwachsen in der DDR.
Auch bei ihrem Aufenthalt in den USA Wochen später lässt die Ich- Erzählerin die Geschichte nicht los. Hierher ist sie gereist auf Einladung einer Universität, um Vorlesungen zu halten. Mit dabei sind die beiden kleinen Kinder der Autorin und ihre Mutter. Mit der führt sie Gespräche über früher, über das Leben der Mutter als junge Frau, über Kindererziehung damals und heute.
Sogar das Verhältnis zu ihrem Mann leidet unter dem „ Vorkommniss“. Gibt es auch in ihrer Beziehung Geheimnisse, Dinge, die verschwiegen werden? Wen kennt man wirklich und wem kann man vertrauen? Fragen, die Misstrauen und Zweifel wecken. „Auch die Beziehung zu meinem Mann, die mir bis dahin als die größte Liebesgeschichte des späten 20. Jahrhunderts erschienen war, bekam Risse - allein dadurch, dass ich über sie nachdachte.“
Julia Schoch geht in ihrem unglaublich dichten Text assoziativ vor und erzählt in kurzen Kapiteln. Die Sprache ist präzise und klar; dabei findet sie immer wieder beeindruckende Bilder und Vergleiche. Gekonnt verzahnt sie eigene Erlebnisse, Familiengeschichte und Erinnerungen mit Reflexionen und sucht Antworten auf existenzielle Fragen. Mit Themen wie Ehe und Muttersein, Kindheit und Geschwisterbeziehungen, Vertrauen und Liebe setzt sie sich auseinander. Dabei holt sie sich öfter Hilfe in der Literatur.
Gerne bin ich ihren Ausführungen gefolgt, wenn auch nicht jeder Gedankengang gleich nachvollziehbar war; habe manche kluge Sequenz unterstrichen.
Liebhaber anspruchsvoller Literatur werden ihre Freude an diesem zwar handlungsarmen, aber klugen Roman haben. Viele Sätze lassen den Leser innehalten und nachdenken. Sätze wie diese: „Wenn in unserem Rücken etwas Unerwartetes sichtbar wird, ist das beunruhigend. Genauso ist es mit den Dingen, die hinter uns liegen. Wir wollen nicht, dass aus dem Nebel der Vergangenheit etwas auftaucht, das uns dazu zwingt, umzudrehen. Wir wollen nicht rückblickend alles revidieren müssen. Lieber verteidigen wir unsere Vergangenheit.“
„ Das Vorkommnis“ ist, wie uns der Klappentext verrät, der Auftakt einer Trilogie „ Biografie einer Frau“. Man darf gespannt sein auf die nächsten beiden Bände.

Bewertung vom 12.02.2022
Everett, Percival

Erschütterung


ausgezeichnet

Aus der Spur

Der US- amerikanische Schriftsteller Percival Everett hat schon mehr als zwanzig Bücher veröffentlicht und dafür zahlreiche Preise erhalten. In Deutschland ist er bisher wenig bekannt. Das dürfte sich mit seinem neuen Roman „ Erschütterung“ ändern.
Hauptfigur ist der Ich- Erzähler Zach Wells; er ist von Beruf Paläontologe und arbeitet als Dozent und Wissenschaftler. Der Mittvierziger hat eigentlich alles, um ein glückliches oder wenigstens zufriedenes Leben zu führen: ein gesichertes Einkommen, eine kluge Frau und eine wunderschöne Tochter. Während die Liebe zu seiner Frau mittlerweile erkaltet ist, ist seine 12jährige Tochter Sarah sein Ein und Alles. Mit ihr kann er albern sein, mit ihr liefert er sich regelmäßig Schach- Duelle, bei denen er immer öfter den Kürzeren zieht.
Doch eines Tages wird sein ruhig dahinplätscherndes Leben jäh erschüttert. Es beginnt mit einer leichten Irritation. Sarah übersieht beim Schachspiel eine Figur. So etwas passt garnicht zu ihr. Kurz darauf schneidet sie sich in den Finger. Der Besuch beim Augenarzt bringt keine Ergebnisse. Am Ende einer Ärzte- Odyssee steht eine grauenhafte Diagnose: Sarah leidet am wenig bekannten Batten-Syndrom, einer unheilbaren Nervenkrankheit. Der Alptraum aller Eltern: „ Unsere Tochter war todgeweiht. Meine kleine Sarah würde diesen genetischen Defekt nicht überleben.“ Sie würde dement werden. „ Ich würde sie verlieren, noch ehe sie tot war.“
Wie geht man mit so einem Schicksalsschlag um? Zacks normale Reaktionen als Wissenschaftler versagen hier. Analysieren und nach Lösungen suchen - das war nicht möglich. Es gab keine Lösung.
Zeitgleich hat ein anderes Ereignis Zacks Aufmerksamkeit erregt. In einer bei eBay gekauften Jacke findet sich ein kleiner Zettel mit der Aufschrift „Ayudame“, was übersetzt „ Hilf mir“ bedeutet. Um sich von seinen persönlichen Problemen abzulenken, beginnt Zack nachzuforschen und kommt Verbrechern auf die Spur, die mexikanische Frauen entführten und sie als Arbeitssklaven halten. Er macht sich auf, diese Frauen zu retten. Eine Ausweichhandlung ?!
„ Ich war hier, um jemanden zu retten, irgendwen. Ich brauchte das.“
Was sich hier möglicherweise konstruiert anhört, liest sich keineswegs so, sondern wirkt schlüssig.
Es ist große Kunst, wie Everett sein Thema behandelt. Er macht kein rührseliges Melodram daraus, sondern beschreibt kühl und sachlich und deshalb umso eindringlicher, wie sich das Leben und Denken des Protagonisten angesichts dieser Tragödie verändert. Hat anfangs noch ein leichter und ironischer Erzählton vorgeherrscht, so ändert sich dieser im Verlauf der Geschichte, wird ernster und reflektierter.
Zack Wells ist eine komplexe Figur. Er ist zu sehr Wissenschafter und für das Zwischenmenschliche nicht sensibel genug. Das bekommen oft seine Studenten oder Kolleginnen zu spüren. Da wehrt er jegliche Nähe ab, ist schroff und abweisend und versucht sich aus allem herauszuhalten. Doch seiner Tochter gegenüber ist er zart und voller Gefühl.
Das Verhältnis zwischen ihm und seiner Ehefrau Meg ändert sich zwangsläufig. Er lässt sie zwar einige Zeit allein, als er sich auf die Suche nach den vermissten Frauen begibt. Doch das führt nicht zum Bruch zwischen den beiden .
Es gelingt dem Autor glaubwürdig, Zacks Verzweiflung und Erschütterung angesichts des Sterbens seiner Tochter darzustellen. Und es ist anrührend, wie er trotzdem versucht, Sinnhaftigkeit in sein Leben zu bringen.
Neben den beiden Handlungssträngen, dem familiären Schicksal und der Krimihandlung mit den verschwundenen Frauen, erzählt Everett auch vom beruflichen Umfeld des Protagonisten. Da reiht sich das Buch in die bekannten Campusromane der amerikanischen Literatur ein. Trotzdem erscheint mir die Geschichte nicht überfrachtet.
Immer wieder streut der Autor kleine und kleinste Schnipsel in seinen Text, die die Handlung unterbrechen; mal sind es Beschreibungen von Knochenfunden, Schachzüge, Gemäldetitel mit Anmerkungen aus dem Louvre, Zei

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