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SimoneF

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Insgesamt 517 Bewertungen
Bewertung vom 25.07.2025
Reifenberg, Frank Maria

Aristide Ledoux - Meisterdieb wider Willen


ausgezeichnet

Der Waisenjunge Aristide Ledoux lebt Anfang des 19. Jahrhunderts in Paris. Tagsüber ein unscheinbarer Junge, verwandelt er sich nachts in einen wahren Meisterdieb, der im Auftrag eines mysteriösen Unbekannten die wertvollsten Juwelen entwendet. Eines Nachts gerät er in eine Falle, und die Kutsche, die ihn normalerweise zu den Tatorten bringt, wird in die Seine geworfen. Aristide wird von dem Taschendieb Julien gerettet, doch er leidet an Amnesie und erinnert sich an nichts mehr. Zusammen mit Julien und dessen Freundin Leontine, der Tochter des berüchtigten Chefs des Geheimdienstes Sûreté, macht sich Aristide auf die Suche nach seiner Identität und den Leuten, die hinter seinem Leben her sind…

Die Geschichte ist als eine Mischung aus Roman und Comic konzipiert, bei dem sich Text und Graphic Novel-Elemente abwechseln. Dieser Mix ist hervorragend gelungen und hält auch kleine Lesemuffel bei der Stange. Eine tolle Idee sind auch die immer wieder eingefügten Zeitungsseiten, die über die Diebstähle bzw. den Fortgang der Ermittlungen berichten, sowie die Kapitelnummerierung mittels der Uhrzeit auf einer Taschenuhr. Der Illustrator Maleek hat hierbei ein kleines Schmuckstück geschaffen, und die in kräftigen Blautönen und gelbgold gehaltenen Zeichnungen sind eine echte Augenweide. Mit präzisen Strichen entwirft er ausdrucksstarke Bilder, die mit liebevollen Details aufwarten, und auch die Mimik der Gesichter ist toll getroffen. Vor- und Nachsatzpapier zeigen eine Ansicht von Paris bei Nacht bzw. Tag. Das kräftige weiße Papier, die Fadenheftung und das liebevoll illustrierte Cover mit Spotlackelementen vervollständigen den hochwertigen Eindruck.

Die Geschichte entwickelt sich spannend und mit viel Tempo, und gerade gegen Ende hätte ich sie mir ausführlicher gewünscht. Hier überschlagen sich die Ereignisse, und die Logik bleibt leider etwas auf der Strecke. Das Ende ist sehr abrupt und recht verwirrend, und ich kann mir gut vorstellen, dass junge Leser:innen hier etwas überfordert oder ratlos sein könnten. Mir ist nicht ganz klar, warum der Autor Frank Maria Reifenberg hier nicht einige Seiten mehr spendiert hat und wesentliche Stellen des Abenteuers offen lässt. Insgesamt hätten der Handlung und der Figurenzeichnung 50 Seiten mehr gutgetan. Das Ende des Buches lässt ein Türchen offen für eine mögliche Fortsetzung.

Insgesamt bin ich hinsichtlich der Bewertung etwas zwiegespalten. Die grafische Gestaltung durch Maleek ist ein echtes Highlight und erhält volle 5 Sterne. Die Geschichte schöpft ihr Potential hingegen leider nicht voll aus und konnte mich nicht wirklich überzeugen, so dass ich hier leider nur 3 Sterne vergeben kann, was zu einer Gesamtbewertung von 4 Sternen führt.

Bewertung vom 25.07.2025
Knecht, Doris

Ja, nein, vielleicht


ausgezeichnet

Letztes Jahr war Doris Knechts "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" eines meiner Highlights, und so war ich sehr gespannt auf „Ja, nein, vielleicht“. Der Roman setzt die Geschichte der Ich-Erzählerin in gewissem Sinne fort, auch wenn er sich eigenständig lesen lässt.

Die Ich-Erzählerin ist Ende 50, und sie spürt den Zahn der Zeit, der an ihr nagt, im übertragenen Sinne und ganz konkret: Wegen einer Parodontose-Erkrankung muss sie sich damit auseinandersetzen, einen Backenzahn zu verlieren. Die Lücke, die zurückbleiben wird, macht ihr schwer zu schaffen, versinnbildlicht sie doch den Verfall des eigenen Körpers.

Seit der Trennung vom Vater ihrer beiden inzwischen erwachsener Kinder lebt sie allein, sie hat sich eingerichtet ohne Mann und genießt die Freiheit eines selbstbestimmten Lebens. Neben ihrer kleinen Stadtwohnung, die momentan ihre Schwester okkupiert, besitzt sie ein Häuschen auf dem Land, in dem sie den Sommer verbringt und an ihrem neuen Roman schreibt. Eines Tages begegnet sie im Supermarkt Friedrich, mit dem sie vor über 20 Jahren eine kurze Affäre hatte. Zwischen den beiden ist sofort eine gewisse Nähe da, und sie überlegt, wie es wäre, sich noch einmal auf einen Mann einzulassen. Ist die romantische Liebe nicht nur ein Trugbild? Ist es eine Beziehung wert, all die mühsam errungenen Freiheiten aufzugeben, sich wieder selbst mit dem prüfenden Blick eines Mannes von außen zu sehen, mehr oder weniger faule Kompromisse einzugehen, das Sehnen, Denken und Wünschen auf diesen einen Menschen zu fokussieren?

Doris Knecht erzählt fein beobachtend, präzise und klug, stellt der Figur Frauen mit unterschiedlichsten Lebensentwürfen zur Seite: Da ist Therese, die beste Freundin, die sich gerade zum ersten Mal verlobt hat und demnächst heiraten wird, die Schwester Alexandra, seit Jahrzehnten glücklich verheiratet, und Paula, eine weitere Schwester, die Trennungsabsichten hegt und den Ausbruch aus der Ehe probt.

Wie schon bei "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" liebe ich den Schreibstil von Doris Knecht, der leicht dahinfließt und die Gedanken der Protagonistin lebendig und authentisch auf den Punkt bringt. Beim Lesen ertappe ich mich immer wieder, wie ich zustimmend nicke, vieles kenne ich aus eigener Erfahrung, und Doris Knecht spricht mir aus dem Herzen.

Spannend finde ich die Kapitel, in denen eine Autorin von außen auf ihre Figur blickt. Hierbei wird nicht ganz klar, ob es sich um Doris Knecht handelt, die über die Ich-Erzählerin im Buch sinniert, oder um die Ich-Erzählerin, die ihr eigenes Leben autofiktional in einem Roman verarbeitet. An späterer Stelle vermischen sich die Ebene kurz und deuten eher auf die zweite Variante hin. Möglicherweise ist eine gewisse Unschärfe aber ja sogar beabsichtigt.

Mich hat Doris Knecht mit „Ja, nein, vielleicht“ wieder begeistert und ich es empfehle es rundum weiter – nicht nur vielleicht, sondern ganz unbedingt!

Bewertung vom 25.07.2025
Rundberg, Johan

Mika Mysteries - Der Ruf des Nachtraben


ausgezeichnet

Stockholm im Jahr 1880. Die zwölfjährige Mika lebt im Waisenhaus und kämpft während des klirrend kalten Winters zusammen mit den anderen Kindern ums Überleben. Eines Nachts klingelt es an der Türe. Als Mika vorsichtig öffnet, steht ein Junge davor, der ein neugeborenes Mädchen bringt. Kurz darauf geschieht ein Mord, und der ermittelnde Kommissar Valdemar Hoff kommt auch ins Waisenhaus, da er einen Zusammenhang mit dem abgegebenen Baby vermutet. Mika gerät unversehens mitten in einen mysteriösen Kriminalfall, der einer Mordserie ähnelt, die Stockholm bis vor kurzem in Atem gehalten hat. Doch der damalige Täter wurde bereits hingerichtet…

Das ungewöhnliche und etwas düster anmutende Setting hat meinen Sohn (11) und mich sofort neugierig gemacht, und wir haben das Buch gemeinsam gelesen. Von der ersten Seite an entwickelt das Buch einen Sog, so dass wir gar nicht mehr aufhören konnten zu lesen. Auf gerade einmal 176 Seiten entwickelt Johan Rundberg durch seinen präzisen Stil eine sehr atmosphärische Geschichte voller Spannung und Tiefgang, die mit der gewieften, sympathischen Mika und dem rauen, unkonventionellen Kommissar Hoff von zwei richtig starken Hauptfiguren getragen wird. Damit hebt sich dieses Buch, das ohne Magie- und Fantasy-Elemente auskommt, geradezu wohltuend vom aktuell boomenden Fantasy-Markt ab und zeigt, dass es bei entsprechender schriftstellerischer Klasse nicht hunderter Seiten bedarf, um eine komplexe Geschichte zu erzählen.

Das Buch richtet sich an Kinder ab 10 Jahren, und die Altersempfehlung ist für mein Empfinden passend. Die Atmosphäre ist doch recht düster, und neben Hunger, Armut und Mord werden auch Leichenschauen und Hinrichtungen thematisiert, jedoch immer in einem kindgerechten Rahmen.

Auch wenn die Kernhandlung in diesem Band zu einem Ende kommt, bleiben noch Fragen offen, und verweisen bereits auf den zweiten Teil, der im Frühjahr 2026 erscheinen wird. Im Schwedischen sind bereits fünf Bände der Reihe erschienen, und wir warten sehnsüchtig darauf, dass diese ins Deutsche übersetzt werden. Für mich ist „Mika Mysteries – Der Ruf des Nachtraben“ eine der Kinderbuch-Entdeckungen des Jahres und ein absolutes Highlight auch in erzählerischer Hinsicht. Es verwundert nicht, dass Johan Rundberg bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde. Unbedingt lesen!

Bewertung vom 21.07.2025
Camilleri, Andrea

Riccardino / Commissario Montalbano Bd.28 (4 Audio-CDs)


weniger gut

Ich kenne die Hörbücher um Commissario Salvo Montalbano seit vielen Jahren und schätze die oft ungewöhnlichen Kriminalfälle, vermischt mit dem sizilianischen Ambiente, sehr. Nach insgesamt 28 Bänden findet die Reihe mit „Riccardino“ nun seinen Abschluss.

Montalbano wird im Morgengrauen von einem Anrufer geweckt, der sich mit „Riccadino“ meldet und ihn fragt, wo er denn bleibe. Der Commissario ist verärgert über die Störung, sagt, er komme gleich, und legt sich wieder schlafen, obwohl ihm klar ist, dass eine Verwechslung vorliegen muss, da er keinen Riccardino kennt. Nur wenig später ist Riccardino tot, und Montalbano hat einen neuen Fall…

Die Geschichte beginnt wie ein klassischer Fall der Reihe. Skurille Figuren wie eine exzentrische Wahrsagerin und ihr Liebhaber sorgen für Abwechslung und humorvolle Momente. Andrea Camilleri webt ein Netz aus Verstrickungen zwischen Mafia, Kirche, Kleinkriminellen und korrupten Politikern, und je weiter der Roman fortschreitet, desto gespannter bin ich, wie sich alles auflösen wird. Gleichzeitig wächst jedoch die Befürchtung, dass ich enttäuscht werden könnte, denn ich ahne, dass dieser Fall anders sein wird, als ich es vom Autor gewohnt bin, und ich das Ende unbefriedigend finden werde. Dies bewahrheitet sich leider: Zu vieles bleibt vage, die Geschichte zerfasert und wirkt über weite Strecken unglaubwürdig und unlogisch.

Ungewöhnlich ist ein schriftstellerischer Kniff, den Camilleri in diesem Roman anwendet: Er lässt einen „Autor“ zu Wort kommen, der als „Schöpfer“ von Montalbano in Erscheinung tritt und Montalbano immer wieder in Zwiegespräche über die Lösung des Falles verwickelt. Diese Metaebene mag literarisch interessant sein, ich empfand sie allerdings als störend, da sie mich gedanklich immer wieder aus dem eigentlichen Fall herausgerissen hat. Zudem zerstört sie die Illusion der Geschichte, da man immer wieder damit konfrontiert wird, dass alle Figuren fiktiv und ein Konstrukt des Autors sind. Hinzu kommt, dass der Autor und Montalbano immer wieder betonen, dass sie des Schreibens bzw. Ermittelns müde sind, sie wirken kraftlos und resigniert. Diese deprimierende Grundstimmung übertrug sich beim Hören auf mich und zog mich emotional runter.

Sehr gut gefallen hat mir der Sprecher Hans Jürgen Stockerl, dessen angenehmer Stimme ich gerne zugehört habe. Er liest lebendig und unterhaltsam, und das Sprechtempo ist genau richtig.

Für mich ist „Riccardino“ leider der schwächste aller mir bekannten Montalbano-Fälle, und ich hätte mir für die Reihe einen anderen Abschluss gewünscht.

Bewertung vom 19.07.2025
Hauff, Kristina

Schattengrünes Tal


ausgezeichnet

Lisa, 39, lebt zusammen mit ihrem Mann Simon, einem Förster, in einem kleinen Dorf im Schwarzwald. Neben ihrem Job in der Touristeninformation hilft sie im Hotel ihres Vaters Carl mit, das inzwischen ziemlich in die Jahre gekommen ist. Im Dorf ist Lisa gut vernetzt, sie ist eine feste Größe im Chor und packt überall mit an.

Eines Tages checkt überraschend Daniela als Dauergast im Hotel ein. Sie wirkt verunsichert, und Lisa nimmt sie bereitwillig unter ihre Fittiche. Daniela knüpft überraschend schnell Kontakte, blüht regelrecht auf, und dringt immer tiefer in Lisas Lebensumfeld ein. Als bei Lisa die Alarmglocken läuten und ihr klar wird, dass Daniela ganz eigene Ziele verfolgt, ist es bereits zu spät…

Nach „In blaukalter Tiefe“ war „Schattengrünes Tal“ mein zweiter Roman von Kristina Hauff, und wieder erwartete mich ein spannender, psychologisch ausgefeilter Plot. Die Erzählform ist personal, wobei die Perspektive kapitelweise zwischen den Figuren wechselt.

Von Anfang an haben mich die zwischenmenschlichen Konflikte in diesem Buch fasziniert: Da ist Carl, der seit Jahren eine Affäre mit Margret hat, die ihn umsorgt und faktisch das Hotel führt, vom ihm jedoch wie eine Servicekraft behandelt wird. Auch gegenüber seiner Tochter Lisa kennt Carl keinen Dank. Für ihn zählt nur sein abwesender Sohn Felix, Lisas unermüdlichen Einsatz nimmt er als selbstverständlich an. Die Ehe von Lisa und Simon verliert sich in Routine, und auch zwischen Lisa und ihrer besten Freundin Johanna gibt es unterschwelliges Konfliktpotential. Und dann kommt plötzlich die geheimnisvolle Daniela ins Dorf. Wie Kristina Hauff diese Figur ausarbeitet, hat mir besonders gut gefallen. Daniela hat ein untrügliches Gespür für die wunden Punkte ihrer Mitmenschen und die Schwachstellen von Beziehungen und versteht es, diese gezielt zu nutzen.

Auch das dörfliche Setting, der heraufziehende Herbst mit den länger werdenden Schatten im tiefen Tal mit den Waldhängen passt hervorragend zur Stimmung des Buches.

Während mich die ersten beiden Drittel des Buches wirklich gefesselt haben, hätte ich mir einen etwas anderen, auf gewisse Weise konsequenteren Schluss gewünscht. Da ich nicht spoilern möchte, kann ich hier nicht näher darauf eingehen. Simon kam mir als Figur insgesamt etwas zu kurz und blieb charakterlich schwer greifbar, obwohl ihm eigentlich eine wichtige Rolle zukommt. Die Figur von Carl empfand ich als nicht ganz stimmig, und man merkte ihr meiner Ansicht nach am deutlichsten an, dass die Autorin nicht aus dem Süden kommt und mit der hiesigen Mentalität nicht so vertraut ist.

Unabhängig davon hat es mir sehr viel Freude gemacht, das Buch zu lesen, der Schreibstil ist eingängig und packend, und bis zum Schluss bleibt die Spannung hoch. Wer gerne psychologische Romane liest, wird hieran seine Freude haben!

Bewertung vom 19.07.2025
Schreiber, Jasmin

Im Schatten von Giganten


ausgezeichnet

In ihrem neuesten Sachbuch „Im Schatten von Giganten“ widmet sich die Biologin Jasmin Schreiber den Lebewesen, die wir im Alltag meist übersehen: Spinnen, Asseln, Hundertfüßern, winzigen Pilzen und Bärentierchen, die allesamt in kleinsten Ökosystemen wie Totholz, Moosen, Pfützen, Blüten und ähnlichem zuhause sind.

Etwas ungewohnt für ein Sachbuch ist die Erzählperspektive in der Ich-Form. Jasmin Schreiber beginnt mit einem kurzen einleitenden Kapitel, in dem sie über den Beginn ihrer Leidenschaft für die unscheinbaren Tierchen, die in unserer unmittelbaren Umgebung leben, erzählt.

Die einzelnen Kapitel widmen sich anschließend dem Leben unter Steinen, im Totholz, im Kraut, im Baum, im Moospolster, in der Blüte, in der Pfütze, im Kadaver und im Dung. Schöne Farbfotos begleiten den Text, der zugleich informativ und unterhaltsam geschrieben ist, so dass sich das Buch sehr flüssig und angenehm liest. Das Verhältnis von Text zu Bild empfinde ich als sehr ausgewogen.

Besonders faszinierend fand ich das Kapitel über das Leben im Totholz, da wir häufig im Wald spazieren gehen, und ich dort nun die verschiedenen Flechten und Pilze auf abgestorbenen Baumteilen mit anderen Augen sehe.

Das Buch gibt einen interessanten ersten Einblick in verschiedenste Mikro-Lebensräume und lädt dazu ein, die unmittelbare Umgebung genauer wahrzunehmen: Einen Stein umzudrehen, und zu beobachten, was sich darunter so tummelt, oder eine Pfütze näher zu betrachten.

Ich kann das Buch rundum weiterempfehlen!

Bewertung vom 19.07.2025
Gundar-Goshen, Ayelet

Ungebetene Gäste


ausgezeichnet

Während ein arabischer Handwerker den Balkon renoviert, ist Naomi mit ihrem einjährigen Sohn Uri allein in der Wohnung in Tel Aviv. Sie fühlt sich unwohl, spürt, dass sie Vorurteile gegenüber dem Mann hat und versucht, diese durch besondere Freundlichkeit zu kompensieren. Als der Arbeiter kurz die Toilette aufsucht und Naomi in der Küche abgelenkt ist, entwischt Uri auf den Balkon, stößt den auf der Brüstung liegenden Hammer vom Balkon und trifft damit einen jungen Mann tödlich. Auf der Straße kommt es zum Tumult, sofort wird ein Anschlag des arabischen Arbeiters vermutet, und die Polizei nimmt diesen fest. Naomi steht völlig neben sich und ist nicht in der Lage, das Missverständnis aufzuklären.

Ayelet Gundar-Goshen ist studierte Psychologin, und dies spürt man an den fein ausgearbeiteten Charakteren und der psychologischen Tiefe der Erzählung. Naomi und ihr Mann Juval sehen sich als moderne, aufgeklärte Menschen und sind doch selbst gefangen in einem Strudel aus Sprachlosigkeit, tradiertem Rassismus, Schuld, Angst und schlechtem Gewissen.

„Ungebetene Gäste“ besteht aus drei Teilen, wobei der erste und letzte in Tel Aviv spielen und der zweite in Lagos, wohin die Familie noch während des Gerichtsprozesses übersiedelt, da Juval dort eine zeitlich befristete Arbeit im Umfeld des israelischen Militärs annimmt. Auch in Lagos verfolgen die Schatten des Unglücks die Familie, die inneren Konflikte belasten Naomis und Juvals Beziehung, und auch Uri spürt die Spannungen zwischen seinen Eltern.

Vor allem im zweiten Teil führt die Autorin eine ganze Reihe weiterer Figuren wie die Psychologin Noga ein, schildert kleine Episoden, deren Bedeutung für die Handlung oder das Figurenprofil mir sich nicht immer erschließt. Hierzu gehören beispielsweise der verhaltensgestörte Junge Liam und der Anruf eines merkwürdigen Mannes, der um einen Termin bei Noga bittet, aber nie wieder in Erscheinung tritt.

Nahezu allen Figuren gemeinsam ist eine gewisse Unfähigkeit, miteinander zu kommunizieren, man schweigt oder redet aneinander vorbei. Persönliche Traumata vermischen sich mit gesellschaftlichen, und die Figuren sind teils wie gelähmt in ihrer Hilflosigkeit. Das Ende kam für mich etwas (zu) plötzlich, und ich hätte sehr gerne noch weitergelesen.

Sehr interessant fand ich einen Betrag in der ARD Mediathek der Sendung „titel thesen temperamente“, in dem die Autorin davon erzählt, inwiefern die Geschichte ihres eigenen Großvaters sie zu der politischen Ebene im Lagos-Teil inspiriert hat.

Auch wenn „Ungebetene Gäste“ speziell den jüdisch-arabischen Konflikt behandelt, sind einige Grundthemen auch auf unsere Gesellschaft übertragbar, und ich habe mich immer wieder gefragt, wie ich an Stelle von Naomi, Juval oder Noga handeln würde. Mich hat „Ungebetene Gäste“ sehr berührt und ich empfehle es unbedingt weiter. Nun bin ich neugierig auf weitere Werke der Autorin, und „Wo der Wolf lauert“ liegt schon bereit.

Bewertung vom 17.07.2025
Harkaway, Nick

Smiley


ausgezeichnet

Mit „Smiley“ setzt Nick Harkaway das Erbe seines Vaters John le Carré fort, aus dessen Feder der neben James Bond wohl berühmteste Spion der Literatur stammt.

Zeitlich ist „Smiley“ in den Jahren zwischen „Der Spion, der aus der Kälte kam“ und „Dame, König, As, Spion“ angesiedelt. Der Secret Service holt Smiley für einen heiklen Auftrag zurück, der ihn mit den dunklen Schatten der Vergangenheit konfrontiert.

Ich war gespannt, ob sich Harkaways Stil und seine Ausarbeitung der Charaktere in das bekannte Smiley-Universum einfügen würde, und ich bin sehr angenehm überrascht worden. Das Buch liest sich hervorragend und passt sich perfekt in das bestehende Gefüge ein. Die Story ist vielschichtig, geschickt konstruiert und hat mich von Anfang bis Ende gefesselt. Dem aktuellen Zeitgeist entsprechend, bietet Harkaway etwas mehr Action als le Carré.

Da zwischen Carrés Der Spion, der aus der Kälte kam“ und „Dame, König, As, Spion“ in der Handlung ca. zehn Jahre liegen, bietet dieser Zeitraum eine wunderbare Gelegenheit, ihn mit aufregenden Geschichten zu füllen, und Harkaways Smiley-Debüt macht Lust auf mehr. Sollte ein weiterer Band auf Deutsch erscheinen, werde ich ihn ganz sicher lesen!

Bewertung vom 16.07.2025
Rebanks, Helen

Die Frau des Farmers


gut

Helen Rebanks ist die Ehefrau des Farmers und Autors James Rebanks, der über sein Leben als Schäfer auf einer Farm schreibt. Nun hat sie mit „Die Frau des Farmers“ ein Buch über ihr Leben veröffentlicht. Darin schreibt sie am Beispiel eines langen Tages über den Alltag auf dem Hof als Bäuerin und Mutter von vier Kindern. Dieser Handlungsstrang wird immer wieder unterbrochen von Rückblicken in die Vergangenheit, in der sie vom Leben ihrer Großeltern und Eltern erzählt und auf ihr eigenes Leben zurückblickt, von der Kindheit über das Kennenlernen von James und den Beginn ihrer Ehe. Hierbei geht es oft erstaunlich wenig um den Hof, sondern eher um ein recht normales Dasein zweier Studenten bzw. junger Menschen, die sich ein gemeinsames Leben aufbauen, in schneller Folge mehrere Häuser nacheinander kaufen, renovieren und verkaufen, wie es in Großbritannien üblich ist, wo man selten zur Miete wohnt. Auch Helens Begeisterung fürs Kochen und Backen, ihre Arbeit als Backwarenlieferantin für Cafés und kleine Lädchen nimmt viel Raum ein. Der Text wird immer wieder unterbrochen durch diverse Rezepte für Snacks, Hauptgerichte, Nachspeisen, Kekse und Kuchen.

Diese sprunghafte Erzählweise zwischen verschiedenen Zeitebenen erschwert den Lesefluss. Die sehr britischen Speisen, die zudem recht fleischlastig sind, laden mich eher nicht zum Nachkochen ein, nur den einen oder anderen Kuchen werde ich vielleicht mal ausprobieren. Dennoch fand ich die Rezepte sehr interessant, weil sie einen guten Einblick in die traditionelle britische Landhausküche bieten.

Ich hatte mir einen stärkeren Fokus des Buches auf dem Hofleben erwartet und wurde hier enttäuscht. Helens Lebensweg und Familiengeschichte ist ganz unterhaltsam zu lesen, hat für mich jedoch keinen literarischen Mehrwert. Wer gerne Geschichten übers Leben einer Großfamilie liest, ist hier richtig, wer sich einen tieferen Einblick in die Arbeit auf einer Farm erhofft, wird nicht fündig werden.

Bewertung vom 08.07.2025
Welk, Sarah

FREI - Beste Freundschaft (FREI 2)


gut

Band 1 von FREI habe ich letztes Jahr mit großer Begeisterung verschlungen, und nun war ich sehr gespannt auf die Fortsetzung. Während Band 1 aus der Sicht von Joshua geschrieben ist, erlebt man den zweiten Teil nun aus Nasrins Perspektive.

Es sind in der Geschichte einige Wochen vergangen seit dem Wald-Abenteuer aus Band 1. Die Freunde Joshua, Nico, Koray, Nasrin und Nina gehen gemeinsam in die 8. Klasse einer weiterführenden Schule mit einem sehr eigenwilligen pädagogischen Ansatz. Hier bestimmen die Kinder alles selbst, auch die junge Rektorin Linda wurde von der Schulgemeinschaft gewählt, und bei Problemen entscheidet das „Klärwerk“. Joachim ist neu in der Klasse der fünf Freunde, und Nasri bekommt von Linda den Auftrag, sich seiner anzunehmen. Doch Joachim verhält sich seltsam, mal nahbar, mal abweisend, und auch um ihren Bruder macht sich Nasri Sorgen. Dieser hängt seit Kurzem mit einem merkwürdigen Mitschüler herum, und Nasri hat ein ungutes Gefühl dabei. Zu allem Überfluss muss sie auch noch Nico besänftigen, der Joachim partout nicht dabeihaben will.

Im ersten Band spielte die Schule nur eine Nebenrolle, hier lernen wir sie nun etwas besser kennen. Die Schule bekommt einen großen Geldbetrag zur Verfügung gestellt, und die Schüler:innen sollen Vorschläge machen und schließlich darüber abstimmen, was mit dem Geld geschehen soll. Ich möchte hier nicht spoilern, daher gehe ich nicht näher auf die Ideen ein, aber in meinen Augen war keine einziger sinnvoller oder kreativer Vorschlag darunter, und mich hat dies, ebenso wie das Verhalten der Direktorin Linda, eher in meiner Vorbehalte gegenüber reformpädagogischen Schulen bestätigt.

In Band 1 habe ich den trockenen Humor geliebt, ebenso die lebendige und authentische Erzählweise. Dieser Humor fehlt in Band 2 leider, und sprachlich wirkt er auf mich eintönig und ermüdend. Gefühlt jeder dritte Satz endet auf „ …, und alles klar.“, und vor allem Nico wirkt wie ein ungehobelter Prolet. Während ich die Jugendsprache im ersten Band als wohldosiert eingesetzt empfand, nimmt sie hier überhand. Es kommt kaum ein echter Dialog zustande, und Sätze im Stile von „Alter, okay, was war das denn?“ prägen den Roman.

Auch die Handlung konnte mich diesmal nicht überzeugen. Sie plätschert vor sich hin und wirkt auf mich unrund. Schade, denn Band 1 machte Lust auf eine vielversprechende Reihe. Ich hoffe nun, dass Sarah Welk im dritten Teil an den Charme und die Erzählqualität von Band 1 anknüpfen kann.