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Morten
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Köln

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Insgesamt 102 Bewertungen
Bewertung vom 18.09.2025
Schmitt, Caroline

Monstergott


ausgezeichnet

Gut möglich, dass Caroline Schmitts zweiter Roman auf ein kontroverses Echo stoßen wird, schreibt sie doch über Menschen in einer Freikirche. Zur Beruhigung all jener, die sich bereits mit Blasphemie-Plakaten auf dem Weg zum Verlag machen möchten: Glaube und Religion wird in „Monstergott“ nicht kritisiert – wohl aber diejenigen, die diese bigott ausleben und andere darunter leiden lassen.

Ben und Esther sind in ihren 20ern und seit Jahren in der Freikirche aktiv, deren Gründung ihre Eltern mitbegleitet haben. Der Pfarrer ist ein hipper Typ, der mit „Ostersonntag Mindset“-Cap und Elektroroller durch die Gegend düst und vor sich hinkumpelt. Neben ihren Jobs als Krankenpflegerin und Fluglotse sind die Geschwister Teil des Lobpreis-Teams, das die Gottesdienste musikalisch untermalt, ja, sogar aufwertet. Gleichzeitig haben sie zu kämpfen. Esther mit dem Pfarrer, Ben mit sich selbst. Und dann heiratet auch noch Esthers beste Freundin – und lädt Leute aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit ein.

Hatte schon ihr Debüt „Liebewesen“ großartig gezeichnete Figuren, legt Caroline Schmitt hier noch einmal eine Schippe drauf. Ausnahmslos alle Charaktere sind schlüssig, greifbar, bekannt. Man lernt sie zu lieben oder zu hassen, je nachdem welche Rolle sie in diesem Geflecht spielen.

Wie wunderbar Esther ausrastet, als sie ihre Jugendliebe wiedertrifft, Paul, der von jetzt auf gleich weg war. Und wie sie innerlich zusammenbricht, als sie den wahren Grund dafür erfährt.

Wie Ben hadert, mit sich und seiner nie ausgesprochenen, aber doch klar skizzierten sexuellen Orientierung, die doch scheinbar der Bibel widerspricht. Wie er Hilfe sucht und dabei doch nur erniedrigt wird, genötigt wird zu einer Konversationstherapie, die mehr Schein als sein ist und ihn in nur noch tiefere Depression stößt.

Wie der scheinbar sympathische Pfarrer Esther und Ben gleichermaßen manipuliert, welche Geheimnisse er selbst verbirgt und wie klein er wird, nachdem Esther Tacheles redet. Überhaupt, wie schlüssig sich die Figuren auf diesen nicht einmal 300 Seiten entwickeln, auf dieser Tour de Force im Namen des Herrn.

Ein ganz wunderbares Buch, das nicht nur Leute anspricht, die nicht (mehr) an Gott glauben, sondern auch von Christ:innen gelesen werden sollte. Denn es zeigt, wie sehr Menschen gleichzeitig an Gott glauben und denn von vermeintlich nächstenliebenden Gemeinschaften ausgegrenzt werden können. Dabei könnte es doch so einfach sein – mit etwas mehr Empathie, Weltoffenheit und Liebe. Halleluja!

Bewertung vom 16.09.2025
Braun, Stefan

Oishii!


sehr gut

Ist es ein Kochbuch? In Teilen. Eigentlich ist Stefan Brauns Oishii eine Reise in den kulinarischen Alltag Japans. Wundervoll bebildert, charmant beschrieben. Und mit einzelnen, auch in Europa leicht nachkochbaren Rezepten ergänzt. Kleine Abzüge gibt es allerdings in der B-Note. Dazu später mehr.

Oishii ist japanisch und heißt so viel wie lecker. Was im Buch selbst, wenn ich es nicht überblättert habe, gar nicht aufgelöst wird. Stattdessen geht es um den Tagesablauf der Japaner:innen und was diese dabei essen – auf dem Weg zur Arbeit, in der Pause und nach Feierabend. Und ganz besonders um letzteres, um die Izakayas, eine Art gemütlicher Gastro-Pubs, in denen einfache, leckere Speisen und Bier serviert werden. Auch schon mittags übrigens.

Was mir gut gefällt: Stefan Braun, renommierter Fotograf, zeigt das Leben in den Gaststätten mit wunderbaren Fotos. Die Menschen, die dort sitzen, essen und trinken. Er erklärt die Gewohnheiten, Begriffe, Bräuche und Sitten. Und er gibt ganz am Ende auch ein paar persönliche Tipps für die Suche nach den besten Izakayas. Davon hätte ich mir fast ein bisschen mehr gewünscht, aber er nennt auch passende Instagram Seiten, um Japans Kulinarik abseits der großen, teuren Restaurants zu entdecken.

Ich mag auch sehr die Vielfalt der Rezepte, vom Rührei für die Bentobox über gebratene Nudeln mit Hackfleisch bis zu Ramen und gefüllten Kroketten. Sachen, die in die Pausenbox oder für ein Picknick passen. Oder für ein familiäres Mittag- und Abendessen. Kein Rezept braucht exotische Zutaten, vieles findet sich in gut sortierten Super- oder wenigstens in anliegenden Asia-Märkten. Manche Rezepte setzen auf Fertigprodukte, was vielleicht in einem Kochbuch erst einmal befremdlich wirkt, aber mit Blick auf eine schnelle Zubereitung sinnvoll ist.

Ein (klitzeklein) wenig störend ist die Tatsache, dass sich manches wiederholt. So behandeln gleich zwei Doppelseiten, eine in der ersten Hälfte, eine gegen Ende, die Shokuhin Sampuru, Nachbildungen von Speisen vor Restaurants aus Kunststoff. Das ist interessant, aber eben auch leicht repetitiv. Und Leser:innen sollten wissen, dass Oishii kein klassisches Kochbuch ist. Dafür sind einfach zu wenige Rezepte enthalten. Eher ein schönes, toll inszeniertes Coffee Table Book über den kulinarischen Tag der Japaner:innen. Und das ist vielleicht ja auch ein Alleinstellungsmerkmal. Ein richtig gutes.

Bewertung vom 25.08.2025
Kuhn, Yuko

Onigiri


ausgezeichnet

Fünf Sterne für dieses Buch. Würde ich sagen. Ich weiß aber auch, dass vermutlich nicht alle Leser:innen meine Meinung teilen werden. Aber ich habe es gemocht, von der ersten Seite an, mehr als ich dachte und hoffte. Warum? Nun.

„Onigiri“ ist eine japanisch-deutsche Familiengeschichte. Eine Geschichte mit Familien aus zwei Gesellschaftsschichten. Aber auch eine Geschichte über das Vergessen, über Demenz, und was das mit Familien macht.

Die Hauptfigur in Yoko Kuhns Roman ist Aki, Tochter einer Japanerin und einem Deutschen. Ihre Mutter ist in ihren 20er-Jahren nach Deutschland gekommen, hat sich in mit Anfang 30 in einen zehn Jahre jüngeren Sohn reicher Eltern verliebt und er sich in sie. Sie haben geheiratet, zwei Kinder bekommen und sich wieder getrennt. Aki ist in München erwachsen geworden, bei ihrer Mutter und immer mal wieder bei ihren reichen Großeltern, hat geheiratet und mittlerweile selbst Kinder. Ihr Vater spielt keine allzu große Rolle, lebt in Berlin, meldet sich selten. Und dann gibt es noch die Familie in Japan, weit weg, immer mal wieder besucht, aber auch schon lange nicht mehr. Als Akis Großmutter stirbt und diese Nachricht nur wenig zu ihrer an Demenz erkrankten Mutter durchdringt, fasst sie einen Entschluss. Sie möchte noch einmal mit ihrer Mutter nach Japan reisen.

Vielleicht klingt das alles gar nicht so furchtbar aufregend und vermutlich ist es das auch nicht, soll es auch gar nicht sein. Aber Yoko Kuhn schreibt so ruhig, einfühlsam und gleichzeitig nüchtern, über das Leben ihrer Eltern, über ihre Großeltern, über sich selbst, aber vor allem über die Krankheit ihrer Mutter, dass ich das Buch kaum weglegen wollte. Auch nicht nach der letzten Seite.

Ich bin unglaublich gerne mit auf diese bewegende, traurige Reise gegangen, habe die kleinen Glücksmomente des Wiedersehens und Wiedererkennens miterlebt. Aber auch den Stress und die Hilflosigkeit, wenn Akis Mutter sich unwohl fühlt, ratlos ist, durch das Hotelzimmer geistert – aber dann ihren Frieden in ihrem Elternhaus findet. Die Ambivalenz, die Aki selbst im Haus ihrer deutschen Großeltern spürt, wie die Familie mit ihr umgeht und sie mit Geschenken überhäuft – und wie sehr sie gleichzeitig ihre Mutter ablehnen, nicht standesgemäß, fremd, selbst nach all den Jahren, selbst nach der Scheidung. Und Akis Wunsch, ihrer Mutter zu helfen, machtlos gegen diese Krankheit, für die es kein Heilmittel gibt – aber kleine Glücksmomente, vor allem, aber nicht nur in der fernen Heimat.

Ein leises Buch, ein sicher sehr persönliches Buch, vor allem aber: mein Geheimfavorit für die Lieblingsbücher 2025.

Bewertung vom 05.08.2025
Sauer, Anne

Im Leben nebenan


ausgezeichnet

Horrorfilme könnten so anfangen: Eine Frau wacht auf und auf ihrer Brust liegt ein Baby. Dabei ist sie gar nicht Mutter. Oder doch?

„Im Leben nebenan“ erzählt die Geschichte von Antonia. Einer Frau in den Dreißigern, Mutter von Hanna, verheiratet mit Adam, auf dem Land in einem schicken Einfamilienhaus lebend. Und die von Toni, liiert mit Jakob, kinderlos, Altbauwohnung in der Großstadt. Nur: Antonia und Toni sind die gleiche Person. Bloß in verschiedenen Leben. Und Antonia kennt Tonis Leben, es ist ihres, zumindest bis vor wenigen Minuten.

Ein spannendes Gedankenexperiment, das den Vibe von Matt Haigs „Die Mitternachtsbibliothek“ mitnimmt: Was ist, wenn ich in einem anderen meiner Leben lande, aber gar nicht weiß, wer ich in diesem Leben bin. Und vor allem in einer Rolle, in der ich noch nie war und vielleicht auch nie sein wollte. Das ist aber nur die eine Seite von Anne Sauers Romandebüt. Die andere ist eine, die in unserer Gesellschaft häufig tabuisiert wird: Kinderwunsch, Kinderlosigkeit, die Rolle der Frau als (Nicht-)Mutter.

Denn während Antonia gar nicht weiß, ob sie bereit ist, sich um das kleine, heulende Ding auf ihr zu kümmern, ist Toni durch das ganze Mühlrad gedrückt worden: Von „Und wie sieht’s bei euch aus?“ von Freund:innen und Kolleg:innen über das „Sollen wir nicht doch – jetzt?“ von Jakob und negativen Schwangerschaftstests bis zur nicht erfolgreichen Kinderwunschbehandlung. Und trotzdem erwarten alle, dass Toni … und dass Antonia ihre Mutterrolle perfekt ausübt, obwohl, na klar, die ersten Wochen nach der Geburt, alles anders, und überhaupt.

Anne Sauer fängt perfekt die verschiedenen Perspektiven ein, die Erwartungen an Frauen, an eigene Wünsche, aber vor allem an die der anderen. Sie zeigt verschiedene Leben, keines perfekt, aber beide leider ziemlich authentisch. Und sie spricht darüber, wie es für Frauen ist, wenn es mit dem Kinderwunsch – dem eigenen oder dem des Partners – nicht klappt. Wenn sie auf der Bürotoilette sitzt, merkt, dass es in diesem Zyklus schon wieder nicht funktioniert hat und sich fragt, wie sie weitermachen muss, mit diesem Arbeitstag, aber vor allem mit diesem Leben.

Ein paar kleinere Längen gibt es in der Antonia-Perspektive, aber das ist nicht schlimm, denn dieses Buch ist ein wichtiges und auch wenn es sicherlich als Frauenbuch abgestempelt wird: Männer, lest es, ihr werdet danach vieles besser verstehen.

Zum Abschluss meine Lieblingsstelle, eigentlich ganz leise und in einem anderen Kontext – Toni und ihr Vater besuchen das Grab der Mutter und „Ihr Vater zündete kein neues Grablicht an, seine Frau hatte Teelichter nie gemocht, und sie wollten sie auch nachträglich nicht verärgern“ – stattdessen stellen sie ihr Stück Donauwelle hin. Großes Herz für diese Szene und für dieses Buch.

Bewertung vom 25.07.2025
Myers, Benjamin

Strandgut


sehr gut

Fehlenden Arbeitseifer kann man Benjamin Myers nun wirklich nicht vorwerfen. 2020 erschien mit „Offene See“ sein erster ins Deutsche übersetzte Roman bei Dumont, ein echter Publikumsliebling. Anschließend zwei weitere Romane und eine Kurzgeschichtensammlung. Und nun also „Strandgut“. Ein Buch, das schon aufgrund seiner Haptik und seines wunderschönen Covers ein Blickfang in jedem Regal ist. Der Titel? Hätte vielleicht besser übersetzt werden können. Aber dazu später mehr.

Bucky Bronco wohnt in Chicago, ist seit einem Jahr Witwer und erträgt die körperlichen und vielleicht auch seelischen Schmerzen nur durch in den Staaten leicht erhältliche Opioide. Plötzlich erhält er eine Einladung zu einem Musikfestival in Scarborough. Nicht als einfacher Gast, sondern als Star – denn Bucky hat in seinen späten Teenager-Jahren zwei Soul-Songs aufgenommen, die auch fünf Jahrzehnte später noch eine Fangemeinde haben. Von der er selbst aber nie etwas wusste. Also macht sich Bucky auf den Weg in den Nordosten Englands.

„Strandgut“ ist mehr als eine einzelne Geschichte. Es ist die von zwei nicht mehr ganz jungen Menschen, die einen Neuanfang jagen. Es ist die, einer alten, grauen, salzwasserhaltigen Stadt. Und vor allem eine über die Kraft der Musik. Und alle drei Geschichten sind auf ihre Weise schön, manchmal etwas dick aufgetragen, aber durchaus liebens- und lesenswert.

Die Ungläubigkeit Buckys, dass sich noch jemand an seine alten Songs erinnert, ja, dass sich sogar junge Leute dafür begeistern, ist entzückend. Und auch die Gründe für seinen Abschied von der Musik sind durchaus glaubwürdig beschrieben. Dass er mit seinem Vertrag abgezockt wurde, nie auch nur einen Dollar Tantiemen gesehen hat, am Ende aber doch ein üppiges Salär auf ihn warten könnte … da kennen sich Anwälte vermutlich besser aus.

Wie Dinah hadert, sich von der Liebe zu ihrem Sohn loszusagen – bei ihrem Mann ist das weniger ein Problem. Aber zu erkennen, dass man sich auch von Kindern (oder natürlich, in anderen Fällen, auch Eltern) lossagen kann, ist kein einfacher, aber dringend notwendiger Schritt. Warum das erst an diesem Wochenende passiert? Sei’s drum, hauptsache es geschieht.

Und wie Ben Myers dem alten Hotel The Majestic ein ganz eigenes Leben einhaut, zwischen veraltetem Interieur, kaputten Aufzügen und dort nistenden Möwen, die „Strandgut“ immer wieder einen Hauch von Schauerroman verleihen. Ein Hotel, dass es wirklich gibt, wenn auch unter dem Namen Grand Hotel Scarborough, mit mäßigen Bewertungen und dem ein oder anderen gesundheitlich bedenklichem Zwischenfall in den letzten Jahren. Aber mit seinen Zahlen – den vier Türmen, 12 Etagen, 52 Schornsteinen und einst 365 Zimmern. Fast so etwas wie eine eigene Nebenfigur des Romans.

Zwei Punkte geben leichte Abzüge in der B-Note. Der Roman ist schon etwas zu konstruiert – nichts überrascht wirklich, es hat trotz der rauen Umgebung, menschlich wie geografisch, fast kitschige Wolldeckenroman-Züge, auf eine raue und kratzige Weise. Aber das ist ja auch mal in Ordnung, es muss nicht immer hochdramatisch in die Tiefe gehen.

Der zweite Punkt betrifft den Titel. Strandgut soll sich auf die beiden Protagonist:innen beziehen, im Leben gestrandete Personen. Aber sind sie das wirklich? Im Original heißt Myers Roman „Rare Singles“, seltene Singles also, bezogen auf die wenigen Aufnahmen Buckys. Und natürlich auch auf die menschlichen Singles wider Willen, der Witwer Bucky, die entfremdete Ehefrau Dinah, sicher auch die alleinerziehende Hotelangestellte Shabana – eine wundervolle Nebenfigur übrigens. Vielleicht wäre der Titel schöner, passender gewesen.

Myers neuer Roman ist trotz kleiner Kritikpunkte und schöner Roman für Fans von Musik, von England und von der Hoffnung, dass es im Leben immer wieder eine überraschende Wendung geben kann. Ein rauer, kratziger Wolldeckenroman eben. Und das ist ja gar nicht so verkehrt für eine kühle, nasse Sommerwoche oder den nahenden Herbst.

Bewertung vom 02.06.2025
Eng, Tan Twan

Das Haus der Türen


sehr gut

Eine kleine Kritik habe ich an „Das Haus der Türen“. Der Umgang der Kolonialmacht mit der Bevölkerung, mit den Angestellten, wird nicht bewertet, eingeordnet. Aber das wäre vielleicht auch zu viel verlangt, wird der Roman doch aus Sicht der britischen Oberschicht in Penang erzählt. Dennoch: Eine leise kritische Stimme, ein Hinterfragen des eigenen Handelns, wäre vielleicht aus heutiger Sicht die Kirsche auf der Torte gewesen.

Tan Twan Eng erzählt die Geschichte von Lesley Hamlin in den frühen 1920er-Jahren auf einer Insel in Malaysia. Damals noch die Federated Malay States bzw. Straits Settlements. Dort trifft die Anwaltsgattin auf einen Freund ihres Manns Robert, den Autor William Somerset Maugham. Und erzählt ihm ihre Erlebnisse mit der chinesischen Revolution von Sun Yat-sen sowie dem Prozess ihrer Freundin Ethel Proudlock.

Der Autor taucht dabei ganz behutsam und bedächtig in die Geschichte Englands, Malaysias und Chinas ein. Schreibt über Treue und Untreue – zwei Themen, die in Maughams Geschichten häufiger vorkommen. Über mehr oder weniger geheim gehaltene Homosexualität. Über demokratische Umbrüche. Über die Rolle der Frau. Und natürlich über die Liebe.

Das Besondere: „Das Haus der Türen“ ist kein rein fiktionaler Roman. Viele Figuren – von Maugham über Sun Yat-sen bis Ethel Proudlock – gab es wirklich. Ethel wurde wirklich dem Mord an William Steward beschuldigt, Sun Yat-sen war nach der erfolgreichen Revolution der erste Präsident Chinas, Maugham war mit seinem Geliebten auf Penang und hat über die Erlebnisse Bücher geschrieben.

So ist Tan Twan Engs Roman Geschichte im doppelten Sinne, ein semifiktionaler Historienroman, sprachlich wundervoll erzählt und übersetzt von Michaela Grabinger und ein tolles Buch für einerseits Fans der britischen Geschichte als auch die von asiatischer Literatur. Und dank doch halbwegs überraschender Plottwists und verschiedenen Handlungssträngen jederzeit unterhaltsam.

Was jetzt noch fehlt: eine Neuübersetzung von William Somersets Maughams „Der Kasuarinenbaum“. Denn in dieser Kurzgeschichtensammlung schildert der Autor seine Erlebnisse rund um das Leben in Penang zwischen 1910 und 1921. Und das wäre doch die perfekte Anschlusslektüre.

Bewertung vom 25.04.2025
Lorenz, Sarah

Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken


weniger gut

Über autofiktionale Geschichten zu urteilen ist immer schwierig. Schließlich steckt darin ja oft mehr als „Opa erzählt vom Krieg“ – wahre, traurige bis traumatische Erlebnisse, die in Buchform kanalisiert werden. Und manche davon sind für mich als Leser vielleicht nicht so berührend, wie es für die jeweiligen Autor:innen ist. Das ist auch leider bei „Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken“ von Sarah Lorenz der Fall. Was, bei längerem Nachdenken, für mich an zwei Dingen liegt: Es fehlt mir an Tiefe – und das Gespräch mit Mascha Kaleko ist mir zu bemüht und am Ende auch fast nicht mehr existent.

Sarah Lorenz gehört zu den Bluesky-Sweethearts des Landes. Launige Skeets, früher Tweets, als man noch nicht von Schwurblern auf diesem anderen Netzwerk überrannt wurde, nachdenkliche Einblicke ins Familienleben, ehrenwerter Antifaschismus, Mumin-Bilder, manchmal etwas quatschig. Große Fan-Bases im Netz mit Schreibtalent sorgen nicht selten für Buchverträge. Und manchmal geht’s gut, manchmal weniger. Die Autorin nimmt ihre Leser:innen mit auf eine fiktionalisierte Reise durch ihr Leben. Ob alles wahr ist, who knows, wer ihr schon länger folgt, kennt auf jeden Fall die ein oder andere Episode und freut sich sicher, mehr über Sarahs, hier Elisas, Leben zu erfahren. Trennung der Eltern, Monate im Heim, Punk-Leben mit Dosenbier und Domplatte, irgendwann zur Ruhe kommen in Hamburg, der Tod des Vaters in Eckernförde.

Kein einfaches Leben – Liebesmangel der Mutter, übergriffiges Verhalten von Männern gegenüber einer Minderjährigen, Krebserkrankung des Mannes. Stoff für sehr, sehr traurige, böse, wachrüttelnde Bücher. Leider kratzt die Autorin hier nur an der Oberfläche, als wolle sie es weglächeln. Es erzählen, aber dann mit einem Abwinken vom Tisch wischen. Das ist schade, vielleicht aber auch verständlich, wer spricht schon gerne über selbsterlebte Traumata, wie nackt möchte man sich vor tausenden Leser:innen wirklich machen? Daher: kein Vorwurf, nur schade.

Doch in „Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken“ gibt es noch eine weitere Hauptfigur, eigentlich: Mascha Kaleko. Die Dichterin, 1907 in Polen geboren, 1975 in der Schweiz gestorben, hat die Buchfigur Elisa und vermutlich auch die Autorin ihr Leben lang begleitet. Jedes Kapitel wird durch ein Gedicht Kalekos eingeleitet, das zum Geschehen danach passt. Eigentlich eine hübsche Idee. Immer wieder spricht die Erzählerin Mascha daraufhin an, versucht ihre Erfahrungen in Linie zum Gedicht zu bringen, stellt ihr rhetorische Fragen zum Leben oder zu historischen Figuren. Aber das geht, für mich zumindest, ziemlich schief, ist bemüht, wirkt mehr wie ein Geplapper eines Kindes, das mit Lego-Figuren oder Puppen spielt. Am Anfang noch halbwegs charmant, ist der Abnutzungseffekt recht hoch – und am Ende finden diese Einschübe kaum noch statt, was zwar für mich als Lesenden erleichternd, aber aus Buchsicht recht inkonsequent ist.

Weniger Zwiegespräche, mehr emotionale Tiefe, und Sarah Lorenz‘ Debüt hätte mich mit dem Mix aus Familiendrama, Punk und Antifaschismus zu 100 % gepackt – so leider so ziemlich gar nicht. Aber eines hat die Autorin dann doch geschafft: Ich möchte mehr von Mascha Kaleko lesen. Und ich glaube, das würde ihr dann zumindest doch gefallen.

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Bewertung vom 04.04.2025
Gmuer, Sara

Achtzehnter Stock


gut

Kann ein Buch ohne richtig sympathische Figuren funktionieren? „Achtzehnter Stock“ beantwortet diese Frage gleichzeitig mit Ja und mit Nein. Denn ja, Sara Gmuers Roman liest sich schnell und gut und interessant. Aber dennoch fehlte mir über große Strecken die Verbindung zu Wanda, der Protagonistin. Und das ist vor allem eines: schade.

Wanda ist Schauspielerin ohne Engagement. Als ihr endlich eine Rolle winkt, wird ihre Handtasche geklaut und ihre Tochter krank. Rolle futsch, aber immerhin hat sie nun die Telefonnummer von Adam, dem angesagtesten Schauspieler des Landes. Ein Ausweg aus der Plattenbauwohnung, in der sie im achtzehnten Stock lebt? Nur scheinbar. Denn erst einmal muss Tochter Karlie für drei Wochen ins Krankenhaus – und dann verschweigt Wanda ihre Tochter gegenüber Adam und Produzenten als endlich ein Jobangebot kommt. Kann sie das Geheimnis wahren? Und falls ja – zu welchem Preis?

„Achtzehnter Stock“ funktioniert als Geschichte über eine alleinerziehende Mutter. Man leidet mit Wanda, als Karlie mit Hirnhautentzündung in die Notaufnahme muss. Man fühlt ihre Sorgen, als sie trotz Wasserverbot ins Schwimmbad geht. Vielleicht hat man auch Empathie dafür, dass Wanda ihre Tochter zur Nachbarin gibt, um endlich einen Job zu bekommen, um ihre Rechnungen zu zahlen oder noch besser, den Plattenbau zu verlassen.

Gleichzeitig aber bleibt sie fremd, kühl. Vielleicht ist das ihrem Alltag geschuldet, ich möchte gar nicht wissen, wie es ist, alleine für ein Kind zu sorgen, dessen Vater zwar Kontakt wünscht, aber damals eine Abtreibung forcierte. Ständig am Existenzminimum zu knabbern. Träume platzen zu sehen und dennoch an ihnen festzuhalten. Das schafft die Autorin auf nachvollziehbare Art und Weise. Trotzdem springt der Funke nicht komplett über, denn Wanda blieb mir über die rund 250 Seiten fremd. Und selbst die Kulisse Platte mit den anderen einsamen Frauen und Kindern wirkt austauschbar – bis auf die letzten Seiten. Aber selbst da ist es nicht Wandas Verdienst.

So bleibt „Achtzehnter Stock“ für mich hinter seinen Möglichkeiten zurück, leider, obwohl es eine gute Geschichte ist, mit authentischen Problemen und ja, vielleicht auch authentischen Figuren. Nur fehlt das Herz.

Bewertung vom 02.04.2025
Würger, Takis

Für Polina


ausgezeichnet

Vermutlich ist „Für Polina“ nicht perfekt. Aber: Es war das perfekte Buch für diesen Moment. Es hat mich emotional gecatcht, mich mit Hannes und den teils wunderbar skizzierten Nebenfiguren leiden lassen, mich rasend schnell mit ins Moor und durch Europa geschickt. Ja, vielleicht ist Takis Würger Diogenes-Debüt ein bisschen kitschig, ein bisschen konstruiert, aber hey, es ist vor allem auch eines: gute Unterhaltung für Fans von Coming-of-Age-Geschichten.

Der erste Teil des Buchs ist wunderschön. In toller Sprache nimmt Takis Würger uns mit ins Moor, irgendwo bei Hannover, auf ein altes Gut, verwaltet von Heinrich Hildebrand, ein „alter Zausel“, dessen Herz der kleine Hannes, seine Mutter Fritzi, aber auch deren Freundin Gunes samt Tochter Polina schnell zum Schmelzen bringen. Dieses Zusammenleben ist so heimelig beschrieben, dass das Wörtchen Hygge sich verneigend aus dem Wortschatz verabschieden könnte. Bis zum Ende dieses Abschnitts zumindest.

Im zweiten Teil verlässt der etwas ältere Hannes nach dem Abitur seinen Vater, schleppt Klaviere durch Hamburg statt auf ihnen zu spielen, trifft dabei auf den sonderbaren, aber herzensguten Bosch mit seiner oft zitierten Vorliebe für Olivenöl-Gerichte, auf skurrile Gestalten der musikaffinen Oberschicht und auf Leonie, seine Liebe für die nächsten Jahre. Doch kann er eine Person nicht vergessen, die er über die Jahre aus den Augen, nicht aber aus dem Herzen verloren hat: Polina. Dann beginnt er wieder Klavier zu spielen. Auf der Straße. Und geht damit viral.

Ich kann durchaus verstehen, dass „Für Polina“ auf Kritik stößt, dass Leser:innen Takis Würger vorwerfen, nichts Neues zu schreiben, zu wenig Liebe in die Hauptfiguren gesteckt zu haben, hart auf der Kitschgrenze zu wandeln. Aber Würger hat hier auch wunderbare Figuren geschaffen, die mir mehr ans Herz gewachsen sind als Hannes und Polina. Allen voran die liebenswerte, toughe Fritz, den grummelig-herzensguten Heinrich, den wortkarg-fürsorglichen Bosch. Wenn Autoren es schaffen, dass einem die Nebenfiguren ans Herz wachsen, haben sie in meinen Augen etwas Besonderes geschaffen. So gut haben es nicht alle, manche tauchen zwar wieder auf, ohne besondere Eigenschaften, aber zumindest schließt sich so mancher Kreis.

Dazu ist Würgers Roman ein Coming-of-Age-Roman, ein Genre, dass nicht immer die allzu große Tiefe benötigt, um Emotionen zu wecken. Erinnerungen an die eigene Kindheit oder Jugend oder Zeit danach, Empathie für Hannes. Dass es ein virales Video benötigt, um die Geschichte zu einem Ziel zu führen, ist halt Zeitgeist. Auch das Namedropping von Sophie Passmann und Prince Harry hätte es vermutlich nicht benötigt, werden doch vorher schon andere, viel charmantere fiktive Figuren beim Sharing von Hannes‘ Video gezeigt. Völlig verzeihbar.

Mich hat „Für Polina“ erreicht, für zwei Abende bestens unterhalten, traurig und glücklich gemacht, abwechselnd oder zugleich – das schaffen nicht viele Bücher. Daher: vollste Empfehlung, trotz Hype und Kritik an eben diesem. Am besten aber ist es, das Buch völlig neutral anzugehen und sich von Hannes‘ Melodien durch die Seiten tragen zu lassen. Und hoffentlich entzückt zu sein.

Bewertung vom 31.03.2025
Uketsu

HEN NA E - Seltsame Bilder


sehr gut

Eigentlich ist der Titel ein Spoiler. Zumindest bis man in der zweiten der vier Geschichten ist, den Prolog einmal ausgeklammert. Denn die erste Geschichte aus „Hen na e – Seltsame Bilder“ wirkt fast wie eine in sich geschlossene, leicht mysteriöse Kurzgeschichte, in der zwei junge Männer über einen rätselhaften Blog diskutieren und einem möglichen Mordfall auf die Schliche kommen. Doch schon die nächste Geschichte zeigt: Bestimmte Personen tauchen erneut auf – und der Täter oder die Täterin hat mehrere Opfer auf dem Gewissen.

Ich lese selten Krimis, dafür umso lieber japanische Gesellschaftsromane, aber „Hen na e“ ist eigentlich beides. Mit einem Twist, denn der Kriminalroman von Uketsu gehört zum recht neuen Genre „Sketch Mystery Roman“. So sind Bilder ein wichtiger Teil der Ermittlungen – Bilder, die von Opfern hinterlassen wurden oder die auf eine besondere Beziehung der Figuren hindeuten. Ob es sie in jeder der insgesamt vier Geschichten gebraucht hätte oder ob die Leser:innen nicht auch so den Ermittlungen hätten folgen können, sei einmal dahingestellt. Aber sie machen durchaus einen gewissen Reiz bei der Lektüre aus. Auch die plastische Wiederholung von Ermittlungsnotizen wie die Tagesabläufe des Opfers und der Verdächtigen in der dritten Geschichte sorgen für ein ganz anderes Lesegefühl.

Vor allem aber ist „Hen na e“ eine recht dramatische, tragische Geschichte, die Leser:innen in die japanische Kultur eintauchen lässt – in Ehre, in Alltag, in den Umgang miteinander. Und mitreißend ist sie, schnell geschrieben, toll übersetzt von Heike Patzschke – 272 Seiten, die sich in einem Rutsch lesen lassen und auch müssen, möchte man doch direkt alle Geheimnisse und Verbindungen erfahren.

Bloß ein Geheimnis lässt sich nicht lösen – dass des unbekannten Autors, der sich hinter einer weißen Maske versteckt, die entfernt an Michael Myers aus Halloween erinnert. Aber vielleicht kommt das ja noch mit einem der nächsten Sketch Mystery-Romane, die hoffentlich bereits in der Arbeit oder Übersetzung sind.