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VolkerM

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Insgesamt 162 Bewertungen
Bewertung vom 14.07.2025
Seiderer-Nack, Julia

Das hilft bei CED


ausgezeichnet

Im Internet kursieren zahlreiche, teils widersprüchliche Informationen über Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. Auch die Pharmaindustrie stellt ansprechend gestaltete Patientenratgeber zur Verfügung. Doch nach meiner persönlichen Erfahrung als Betroffener bilden diese Angebote meist nur einzelne Facetten einer leider sehr komplexen Erkrankung ab – und haben mich ebenso häufig in die Irre geführt, als dass sie mir geholfen haben. Mein Wunsch nach sachlichen und unabhängigen Informationen sowie Behandlungsmöglichkeiten nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen blieben bislang weitgehend unerfüllt.

Nach der Diagnose ist der behandelnde Gastroenterologe zwar die zentrale Ansprechperson für Fragen rund um die Erkrankung, doch stellt sich zunächst die Frage: Welche Fragen sollte man überhaupt stellen? Für Menschen, die sich bislang nicht mit der Erkrankung auseinandergesetzt haben, ist die Fülle an möglichen Themen überwältigend. Genau hier setzt dieser Patientenratgeber von Prof. Julia Seiderer-Nack an – als Orientierungshilfe, um Schritt für Schritt Klarheit zu gewinnen.

Die Autorin beginnt mit einer verständlichen Einführung in die Funktionsweise eines gesunden Verdauungstrakts. Sie erläutert die Entstehung von Morbus Crohn und Colitis ulcerosa (zusammengefasst unter dem Begriff CED – chronisch-entzündliche Darmerkrankungen) und geht auf die Unterschiede der beiden Krankheitsbilder ein.
Darauf aufbauend widmet sie sich ausführlich verschiedenen Themenbereichen, insbesondere der Diagnostik, den verfügbaren Therapiemöglichkeiten sowie den Auswirkungen der Erkrankungen auf den Alltag der Betroffenen. Dabei schließt sie ergänzende Therapieansätze keineswegs aus. Auch Naturheilverfahren, Ernährungstherapien und die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) finden Beachtung.
Zudem stellt sie pflanzliche Präparate wie Weihrauch, Myrrhe und Kurcuma vor, die zwar häufig eine lindernde Wirkung auf die Beschwerden und das allgemeine Wohlbefinden entfalten können, jedoch keinen gleichwertigen Ersatz für die Behandlung mit Immunsuppressiva oder Biologika darstellen.

Der Gesundheitsratgeber überzeugt durch seine informative und gut verständliche Darstellung. Er bietet neutrale und aktuelle Informationen – etwa zu modernen Medikamenten und chirurgischen Behandlungsmöglichkeiten – und erweist sich als überaus hilfreich. Praktische Hinweise zu Ernährung, Impfungen, Infektionsschutz und sogar Reisetipps für Menschen mit CED in der Remissionsphase machen ihn zu einem wertvollen Begleiter im Alltag.
Kurz gesagt: Ein weitgehend normales Leben mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung ist möglich – eine Perspektive, die Mut macht und auch meine Zuversicht gestärkt hat.

Bewertung vom 13.07.2025
Muldoon, James;Graham, Mark;Cant, Callum

Feeding the Machine. Hinter den Kulissen der KI-Imperien


sehr gut

Das Buch „Feeding the Machine“ zeigt, wie wichtig menschliche Arbeit für Künstliche Intelligenz (KI) ist – auch wenn sie meist im Hintergrund bleibt. Damit KI funktioniert, braucht sie riesige Mengen an Daten. Diese Daten werden oft von Menschen in Ländern wie Uganda, Kenia oder Indien bearbeitet und ihre Arbeit ist hart: Sie sortieren und bewerten Inhalte, sehen teils traumatisierende Bilder und bekommen dafür nur wenig Geld. Viele arbeiten unter schlechten Bedingungen, ihre Leistungen werden kaum anerkannt. Die Autoren nennen KI deshalb eine „Extraktionsmaschine“, die menschliches Wissen und Arbeit nutzt, ohne sie sichtbar zu machen. Das Buch fordert mehr Gerechtigkeit und Schutz für die Menschen, die das Fundament moderner Technologien bilden.

Die drei Autoren James Muldoon, Mark Graham und Callum Cant verbindet eine gemeinsame zehnjährige Forschungsarbeit am Oxford Internet Institute der Universität Oxford. Ihre fachlichen Hintergründe sind vielfältig und reichen von Soziologie, Politikwissenschaft und Geografie über Geschichte und Jura bis hin zur Philosophie. Dieser interdisziplinäre Zugang spiegelt sich im Buch wider: Technische Details treten in den Hintergrund, stattdessen stehen gesellschaftliche und ethische Fragen im Fokus. Für ihre Recherchen führten die Autoren rund 200 Interviews mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Berufsfeldern – von gering entlohnten Datenannotatoren bis zu hochbezahlten Ingenieuren für maschinelles Lernen.

Die Autoren nähern sich dem Thema aus einer ethischen Perspektive und vertreten dabei eine deutlich linke Haltung. Dabei greifen sie bewusst klassenkämpferische Begriffe auf, etwa in Bezug auf soziale Ungleichheiten, historische Machtstrukturen oder wirtschaftliche Ausbeutung. Sie gendern moderat, es stört den Lesefluss nicht. Insgesamt ist die deutsche Übersetzung sehr gelungen – die Sprache bleibt zugänglich und liest sich angenehm. Zwar weisen die Autoren auf ihre einseitige Perspektive hin, dennoch hätte ich mir gelegentlich eine umfassendere und neutralere Betrachtung gewünscht. Der konsequente Einsatz linker Kampfbegriffe wie „Kapitalismus“, „Kolonialismus“ oder „Rassismus“ zieht sich als roter Faden durch das ganze Buch – auf mich wirkte das stellenweise ideologisch verzerrt, aufdringlich belehrend und wenig ausgewogen.

„Feeding the Machine“ ist ein wichtiges Buch, das einen kritischen Blick auf die dunklen Seiten der Künstlichen Intelligenz wirft. Es hinterfragt die oft übermäßig positiven Darstellung der KI und zeigt, wie viel menschliche Arbeit hinter den digitalen Prozessen noch immer steckt.

Bewertung vom 12.07.2025

MAGIC METAMORPHOSIS


ausgezeichnet

Der Begriff antiquarischer „Zauberbücher“ assoziiert in der Regel Bücher mit okkultem Inhalt. Diese sind sogar älter als der Buchdruck, aber es gibt neben der esoterischen „Zauberei“ auch noch die Zauberkunst, also die Unterhaltungskunst der Illusion. Bücher zu diesem Thema existieren in größerem Umfang erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, alles was älter ist, ist extrem selten und dementsprechend kostbar.
Eine der ältesten Formen illusionistischer Zauberbücher sind die sogenannten „Gauklerbücher“, die erstmals am Ende des 16. Jahrhunderts erwähnt werden. Nur etwa 10 Exemplare weltweit sind vor 1800 nachweisbar, das hier vorliegende Faksimile ist somit nicht nur eines der ältesten, sondern auch das wohl prachtvollste. Dabei ist es mehreren Zufällen und der Hartnäckigkeit des Schweizer Sammlers Thomas Stauss zu verdanken, dass die Zweckbestimmung dieses ungewöhnlichen Werkes überhaupt (wieder)entdeckt wurde, denn diesem Exemplar fehlt ein wesentliches Element, um es praktisch nutzbar zu machen: Es hat keinen Greifindex. Selbst Sotheby’s erkannte bei der ersten Auktion des Buches in 2010 nicht den wahren Zweck, sondern beschrieb es als „ungewöhnliche Sammlung von Aquarellen“. Dennoch erlöste das Exemplar fast 70 000 Pfund, für den Sammler Stauss, der bereits damals um das Geheimnis wusste, unerschwinglich. Das Buch sollte noch zweimal den Besitzer wechseln, bevor seine Chance kam.

Der englischsprachige Begleitband des Faksimiles erzählt nicht nur die spannende Jagd nach dem Buch, sondern auch die anschließende Erforschung von Inhalt und Nutzung. Nicht alles konnte abschließend geklärt werden, so z. B. auch nicht die Ursache für den fehlenden Index, aber Datierung und Provenienz sind weitgehend sicher.
Die Qualität der Aquarelle ist überragend und es gibt kein weiteres Beispiel für ein derart fein ausgeführtes Gauklerbuch dieser Zeit. Abweichend vom Original wurde dem Faksimile der Griffindex ergänzt, wodurch es jetzt erstmals seit seiner Schöpfung als illusionistisches „Zauberbuch“ funktioniert. Eine Anleitung findet sich im Begleitband.
Interessant ist, dass es sogar im „Simplicissimus“ eine Szene gibt, in der ein Gauklerbuch detailliert beschrieben wird. Sie spielt genau in der Zeit, in der auch Thomas Stauss‘ Exemplar entstand.

Faksimile- und Begleitband wurden in Deutschland gedruckt und gebunden und werden im soliden Schuber geliefert.

Wer sich für früheste illusionsmagische Literatur interessiert, für den ist dieses buchtechnisch und handwerklich hervorragend produzierte Faksimile ein Must-have, denn ein Original bleibt in der Regel ein unerfüllbarer Traum.

Bewertung vom 26.06.2025

Farben Japans


ausgezeichnet

Ende des 17. Jahrhunderts entwickelte sich in Japan eine aus China übernommene Druckkunst zur eigenständigen Kunstform: der Farbholzschnitt. Zunächst auf wenige Farben beschränkt, erweiterte sich im 18. Jahrhundert die Palette und erreichte durch raffinierte Einfärbetechniken eine unerreichte Detailfülle und räumliche Tiefe. Zu den berühmtesten Vertretern dieser Kunst gehören Utagawa Hiroshige, Utagawa Kunisada und natürlich der extrem produktive Katsushika Hokusai, dessen berühmte „Große Welle von Kanagawa“ ikonisch geworden ist.

Die Japan-Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek gehört zu den umfangreichsten und vor allem systematischsten in Europa. Der fast 100 000 Druckwerke umfassende Bestand wird immer noch strategisch erweitert. Das meiste davon sind Holzschnitt-Bücher, aber es gibt auch 1000 historische Einblattdrucke, darunter bedeutende Stücke, wie eben die Welle von Kanagawa. Die Jahresausstellung 2025 widmet sich jetzt erstmals ausführlich diesem Teil der Sammlung und zeigt rund 200 Einblattdrucke des 17. bis 20. Jahrhunderts von allen bedeutenden Holschnittkünstlern ihrer Zeit. Mit der Shin-Hanga-Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts, in dem europäische Traditionen auf den japanischen Holzschnitt übertragen werden, endet der betrachtete Zeitraum, auch wenn die künstlerische Entwicklung bis heute anhält.

Der Katalog zeigt nicht nur großformatige Abbildungen aller Exponate, sondern liefert auch qualifizierte Hintergrundinformationen zu den Entwicklungen, sowohl der Motive als auch der Techniken. Besonders hervorgehoben wird die Bedeutung der Farbholzschnitte im interkulturellen Transfer. Die Grundidee stammt aus China, die technische Weiterentwicklung und die Entstehung neuartiger Bildideen geschieht in Japan, moderne Synthesefarben werden aus Europa importiert, die neuartigen Bildfindungen inspirieren wiederum Jugendstil und Impressionismus im Westen (Stichwort „Japonismus“) und als geografisch gegenläufiger Einfluss prägt der Westen die Shin-Hanga-Bewegung um Kawase Hasui. Kaum ein Medium vereint derartig viele Kulturtransfers in alle Richtungen.

Die Sammlung ist aufgrund ihrer klaren systematischen Ausrichtung und qualifizierten Sammlungsstrategie eine „Lehrsammlung“ par excellence. Kaum irgendwo lassen sich die stilistischen und technologischen Entwicklungen so transparent und eindrucksvoll visualisieren. Die Qualität der Exponate misst sich dabei nicht nur im ökonomischen Wert der heute hoch gehandelten Stücke, sondern auch in ihrem enzyklopädischen Umfang. Buchstäblich alles, was Rang und Namen hat, ist hier vertreten. Ausführliche bibliografische Angaben zu Auflagen, Künstler- und Verlegersiegeln, Ikonografie und geschichtlichem Hintergrund stellen die Blätter in ihren jeweiligen Zusammenhang und sensibilisieren den Leser für zeittypische Farbgebungen oder Motivwahl. Die Vielfalt, insbesondere im 19. Jahrhundert, ist atemberaubend. Und immer reflektiert dieses „Massenmedium“ sehr zeitnah gesellschaftliche Entwicklungen in Japan.

Die Abbildungen sind originalgroß oder bei den Oban-Formaten etwa auf die Hälfte verkleinert und geben einen sehr detaillierten Eindruck vom Original. Der Katalog ist sowohl vom Umfang als auch der thematischen Eindringtiefe sehr zu empfehlen. Die Ausstellung selbstverständlich auch, aber das wird leider nur ein vorübergehendes Vergnügen sein.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.06.2025
Hochreiter, Sepp

Was kann künstliche Intelligenz?


ausgezeichnet

Sepp Hochreiters Buch „Was kann künstliche Intelligenz?“ beleuchtet die Potentiale und Grenzen der KI-Technologie aus der Sicht eines führenden Experten. Er erklärt, wie KI bereits heute beeindruckende Texte, Bilder und Videos generiert und industrielle Prozesse revolutioniert, aber auch, wo ihre Fähigkeiten überschätzt werden. Wenn ein Modell eine beeindruckende Antwort liefert, interpretieren wir oft Intelligenz oder Absicht hinein, wo lediglich gelernte Texte abgespult und mit statistischen Mustern und Wahrscheinlichkeiten kombiniert werden. Dies kann dazu führen, dass wir KI-Systemen Fähigkeiten zuschreiben, die sie nicht besitzen.

Der Universitätsprofessor Hochreiter, der mit der Entwicklung der LSTM-Technologie einen Grundstein für moderne Sprachverarbeitung legte, skizziert eine Zukunft, in der KI komplexe physikalische und biologische Prozesse simulieren kann. Dabei stellt er die Frage, ob KI tatsächlich globale Probleme wie den Klimawandel, tödliche Krankheiten und Pandemien lösen, komplexe wirtschaftliche und geopolitische Zusammenhänge besser als der Mensch verstehen kann oder ob sie lediglich eine gehypte Technologie bleibt.

Das Buch zeichnet die wechselvolle Geschichte der KI nach – von Durchbrüchen bis zu Durststrecken – und zeigt auf, wo Kontrolle notwendig ist. Hochreiter plädiert für eine realistische Einschätzung der KI und eine sinnvolle Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine. Sein Fazit: KI ist ein mächtiges Werkzeug, aber am Ende braucht es immer noch den Menschen, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Der Autor widmet sich auch der spannenden Frage nach Europas Rolle im globalen KI-Wettlauf – und seine Einschätzung fällt ernüchternd aus: Der Kontinent liegt zurück. Zwar skizziert er konkrete Verbesserungsvorschläge, doch vor allem im Übergang von exzellenter Grundlagenforschung zur wirtschaftlichen Verwertung erkennt er eine gravierende Schwäche. Während Unternehmen wie Google oder OpenAI ihre Entwicklungen zügig in marktfähige Anwendungen überführen, mangelt es Europa an einer schlagkräftigen Infrastruktur, an großen Technologiekonzernen sowie an einer engen Verzahnung zwischen Forschung und Industrie. Ein zentrales Hindernis erkennt er auch in der praxisfernen Umsetzung des EU-„AI Acts“: Die bestehende Rechtsunsicherheit schrecke Entwickler davon ab, Projekte anzugehen oder Unternehmen zu gründen – aus Sorge, dass ihre Anwendungen womöglich nicht den regulatorischen Vorgaben entsprechen.

Mit seinem Buch gelingt es Sepp Hochreiter, die komplexe Welt der Künstlichen Intelligenz fundiert und zugleich leicht verständlich zu erklären – besonders im Kontext der großen Herausforderungen unserer Zeit. Beeindruckend ist dabei seine Fähigkeit, wissenschaftliche Substanz mit gesellschaftlicher Relevanz zu verknüpfen, ohne sich in theoretischen Abstraktionen zu verlieren: Sein klarer, sachlicher Stil schafft eine Sprache, die sowohl Einsteigern als auch versierten Lesern den Zugang zu einem der spannendsten Zukunftsthemen eröffnet.

Einen Kritikpunkt möchte ich jedoch anmerken, der mir im Buch zu kurz kommt: Mitunter erscheint mir die Darstellung der Risiken Künstlicher Intelligenz als zu nachsichtig. In einer Welt, in der Technologien immer häufiger gegen Menschen eingesetzt werden, bedarf es einer kritischeren Auseinandersetzung. Zwar zielt der EU-„AI Act“ darauf ab, diesen Gefahren durch Regulierung zu begegnen, doch es wird stets Entscheidungsträger geben, die sich wenig um die Einhaltung solcher Vorgaben scheren. Moralisch sind wir zwar Spitze, aber wir kommen faktisch nicht mehr vom Fleck, während sich die Welt rasant verändert.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.06.2025
Qudan, Rie

Tokyo Sympathy Tower


gut

Tokyo in naher Zukunft. Die gefeierte Stararchitektin Sara Makina darf sich an dem Wettbewerb zum Bau des „Tokyo Sympathy Tower“ beteiligen, aber was ihr fehlt, ist Inspiration. Der Turm wird in Nachbarschaft zum umstrittenen Nationalstadion von Zaha Hadid und Tokyos größtem Park entstehen und die Stadt überragen. Aber Sara Makina findet keinen mentalen Zugang zu dem Projekt, denn die Bezeichnung „Sympathy Tower“ verleugnet den wahren Zweck des Gebäudes: Es wird ein luxuriöses Gefängnis werden, aber nicht nur der unbeholfen englische Name des Turms, sondern auch die politischen Vorgaben und Ideologien machen es der Architektin schwer. Obwohl ihr Arbeitsmittel der Zeichenstift ist, sind es letztlich die fehlenden Worte, die sie blockieren, bis ihr jugendlicher Liebhaber den Schlüssel findet. Aber eine Erlösung wird es nicht.

Mir war bisher nicht bewusst, dass auch in Japan ein existenzieller Kampf der Ideologien ausgetragen wird, ähnlich wie bei uns, aber bei näherer Betrachtung erscheint das egalitäre Gesellschaftssystem Japans dafür wie gemacht. Auch in Japan wird auf Sprache und Sprachgebrauch massiv Einfluss genommen. Bei Sara Makina führt der Verlust der Worte zum Verlust ihrer Kreativität. Was man nicht sagen kann, kann man auch nicht denken, so wie George Orwell in „1984“ mit „Neusprech“ die Hirne der Bevölkerung programmierte.

Heute definiert die woke Ideologie die Bedeutung der Worte um, verbietet sie oder schreibt sie vor, und übt als dogmatische Wächterin über das „Gute“ letztlich eine Gewaltherrschaft über die Sprache aus. So verkehrt sich in der Architektur des Tokyo Sympathy Towers der Sinn eines Gefängnisses in sein Gegenteil: Dem Verbrecher gilt unser Mitleid, nicht dem Opfer. Das ist nicht weniger wirr als die woke Wortschöpfung der „propalästinensischen Demonstrationen“. Das Opfer wird zum Täter und umgekehrt; wer anderes behauptet, wird isoliert und geächtet.

Rie Qudan nimmt in ihrem Buch mehrere Erzählperspektiven ein, jeweils aus der Ich-Sicht Sara Makinas und ihres Liebhabers Takuto. Sara steht für die Vergangenheit und Vergänglichkeit, Takuto für die Schönheit, Jugend und Zukunft. Saras Reichtum ermöglicht es ihr, sich vielen japanischen Regeln zu widersetzen: Sie hält sich einen deutlich jüngeren Liebhaber, sie ist laut und rücksichtslos und doch ist ihr Leben in gewisser Weise leer. Ihr elitärer Turm ist Vermächtnis und Schicksal zugleich.

Ich habe bis zum Schluss nicht herausgefunden, ob der Roman nun eine Kritik an der erzwungenen Egalisierung oder deren Lob ist. Einerseits bedient Rie Qudan in Japan weit verbreitete rassistische Vorurteile, indem sie den einzigen in der Geschichte vorkommenden Ausländer als übergewichtig, stinkend, haarig, laut, ordinär und rücksichtslos beschreibt, ohne jedes Verständnis für die japanische Kultur („das versteht man eben nur, wenn man Japaner ist“). Dabei ist sie selber, wie ihr Name verrät, ebenfalls nicht-japanischer Herkunft und musste ganz sicher unter Vorurteilen leiden. Andererseits durchzieht den Text aber der Wunsch nach Gleichheit, Toleranz und Glück für alle, ganz besonders für die von der Gesellschaft Ausgestoßenen. Aber vielleicht ist dieses Sowohl-als-auch in keinem Land so sehr Realität wie in Japan. Nur aus dem Gefängnis der Worte kann niemand entfliehen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.06.2025
Lloyd, Christopher

Der wohltemperierte Garten


gut

Es ist eine echte Schande! Christopher Llyods „Wohltemperierter Garten“ gilt als eines der unterhaltsamsten, lehrreichsten und stilistisch brillantesten Gartenbücher, die jemals geschrieben wurden. Es sprüht vor Witz, klugen Gedanken und es ist ein unendlicher Schatz des Wissens, vor allem (aber nicht nur), wenn man in England wohnt, denn Lloyds Gartenwissen fokussiert auf diese Klimazone. Viele haben sich später in Ähnlichem versucht, erreicht haben es nur ganz wenige.

Die hier vorliegende deutsche Ausgabe hat es nun nötig gehabt, diesen eleganten Text durch „geschlechtergerechte Sprache“ zu verhunzen. Da kommt der Gärtner nie ohne die Gärtnerin daher gestolpert und der generische Student wird zum Studierenden gezwungen, so als hätte Christopher Lloyd das Buch nicht 1970, sondern 2020 geschrieben. Man darf mit einigem Recht annehmen, dass ihm wokes Gedankengut fremd war, den Übersetzerinnen war dies offenbar aber ein Anliegen. Um es einmal ganz klar zu sagen: Es ist nicht die Aufgabe von Übersetzern (oder Verlagen) ihr identitäres Süppchen aus historischen Texten zu kochen.
Ich habe nach 10 Seiten aufgehört zu lesen, weil mir das stilistisch äußerst unelegante Rumgestolpere auf die Nerven ging. Nicht auf die Nerven ging mir der Inhalt, weshalb ich mir jetzt antiquarisch das englische Original anschaffen werde und das werde ich mit Genuss weiter lesen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.06.2025
Graham, David A.

Der Masterplan der Trump-Regierung


ausgezeichnet

David A. Graham analysiert in „Der Masterplan der Trump-Regierung: Project 2025” die radikalen Pläne der konservativen Heritage Foundation. Diese zielen darauf ab, die Macht des Präsidenten zu zentralisieren und die Gewaltenteilung zu schwächen. Die Umstrukturierung der Regierung soll durch einen massiven Austausch von Verwaltungsmitarbeitern erfolgen, bei dem loyale Anhänger anstelle erfahrener Beamter eingesetzt werden.

Das Konzept von Project 2025 wurde bereits vor dem letzten Präsidentschaftswahlkampf vom erzkonservativen Thinktank abgeschlossen, erstreckt sich über mehr als 1.000 Seiten und wurde von mehreren Autoren zu verschiedenen Themenbereichen zusammengefasst. Graham porträtiert wesentliche Mitverfasser in seinem Buch kurz. Positiv ist mir aufgefallen, dass er auch auf widersprüchliche und unklare Aussagen hinweist und die unterschiedliche Detailtiefe bemängelt.

Aus meiner Sicht ist die ideologische Agenda des Plans, die christlich-nationalistische Werte in den Mittelpunkt rückt, besonders brisant. Sie ist detailliert ausgearbeitet. Dazu gehören ein traditionelles Familienbild, ein striktes Abtreibungsverbot, Diskriminierung nicht heteronormativer Sexualität sowie die bevorzugte Förderung religiöser Schulen gegenüber öffentlichen Einrichtungen. In der Wirtschaftspolitik setzt das Konzept auf Protektionismus und eine fundamentale Neuausrichtung der Außenpolitik, welche die bisherigen diplomatischen Strategien der USA infrage stellt.

In seinem Buch verdeutlicht Graham immer wieder, dass Project 2025 als langfristiges Vorhaben gedacht ist, das auch über eine zweite Amtszeit Donald Trumps hinausgehen könnte. Obwohl sich Trump offiziell von diesem Konzept distanziert hat, weist der Autor darauf hin, dass viele seiner politischen Entscheidungen genau diesem Plan folgen, auch wenn vieles erratisch wirkt. In der Tendenz gibt es allerdings den „großen Plan“. Die Autoren von Project 2025 kennen den launischen Donald Trump genau und haben sein Verhalten bereits eingeplant. Sie haben verstanden, dass das vom Präsidenten für hochrangige Positionen ausgewählte Personal vielleicht nicht das qualifizierteste ist. Die nachgeordneten Ebenen werden jedoch strategisch mit gut vorbereiteten und engagierten Stellvertretern besetzt.

Der Journalist Graham hat alle bis zur Drucklegung des Buches bekannten Entscheidungen von Donald Trump in seine Ausführungen integriert. Ob diese Präsidentenerlasse vor dem Obersten Gerichtshof Bestand haben, bleibt jedoch ungewiss, wenngleich sie angesichts der Mehrheitsverhältnisse unter den Richtern durchaus wahrscheinlich erscheinen. Auch die Justiz macht sich mitschuldig.

Grahams Ausdrucksweise ist sachlich und gut verständlich. Die Übersetzung ins Deutsche ist ebenfalls gelungen. Das Buch besticht durch eine klare Gliederung und ein umfassendes Quellenverzeichnis. Ein Stichwortverzeichnis hätte jedoch dabei helfen können, gesuchte Informationen schneller und gezielter wiederzufinden.

„Der Masterplan der Trump-Regierung“ ist ein beunruhigendes Buch, das eine Entwicklung aufzeigt, die die USA grundlegend verändern könnte.

4 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.06.2025
Stålenhag, Simon

Swedish Machines


ausgezeichnet

Linus und Valter sind die engsten Freunde seit Kindertagen. Sie wohnen am Rand eines Sperrgebiets, in dem sich in den Achtzigerjahren ein Zwischenfall ereignet hat, in der der schwedische Rüstungskonzern Swedish Machines verstrickt war. Was damals genau passierte, blieb geheim, aber Valter lässt das Geheimnis um das Sperrgebiet nicht los. Während Linus nach Stockholm zieht, bleibt Valter in Torsvik und heuert bei der Firma an, die das Sperrgebiet bewacht. Was er dort entdeckt, sprengt im wahrsten Sinn Raum und Zeit.

Was als klassischer Sci-Fi-Roman beginnt, entwickelt schon bald eine zweite Ebene, denn die dominante Geschichte ist die Beziehung zwischen Linus und Valter. Aus der Ich-Perspektive beschreibt Linus, wie er sich zu Valter hingezogen fühlt, ein Gefühl, das zwar eindeutig auf Gegenseitigkeit beruht, aber zu dem er nicht offen stehen will. „Freundschaft plus“ im Geheimen, bis etwas passiert, was die Beziehung für immer ändert.

Simon Stålenhag hat früher bereits eine nonbinäre Person in seine Plots eingebaut, ich glaube, es war in „Electric State“, aber dass die sexuelle Identität absolut zentral für die Story wird, ist neu. Mit großem Einfühlungsvermögen, bei dem ich permanent das Gefühl hatte, Stålenhag verarbeitet da sehr persönliche Dinge, beschreibt er Linus‘ innere Zerrissenheit und wie es ihm nicht gelingt, die richtigen Worte zu finden, obwohl Valters Signale so eindeutig sind. Es ist der normative Druck von Freunden und Familie und einige dunkle Geheimnisse in Valters Vergangenheit, die letztlich zum Scheitern führen. Es gibt einige anrührende Szenen, die Stålenhag mit so großer Sensibilität schildert, dass ich „Swedisch Machines“ als den bei weitem ausgereiftesten Roman aus der Serie bezeichnen würde. Er hat mehrere Metaebenen, eine ausgeklügelte Charakterzeichnung und Dramaturgie und die Illustrationen faszinieren durch ihre stimmungsvolle Pseudorealität, für die Stålenhag bekannt ist. Mich erinnern sie immer an die Production-Design-Zeichnungen von Ralph McQuarrie, der das Star-Wars-Universum entworfen hat. Die Faszination ist durch die heutigen Fähigkeiten von KI-Bildgeneratoren zwar nicht mehr ganz so groß wie 2014, als sein Erstling „Tales from the Loop“ erschien, aber zum ersten Mal gibt Stålenhag seinen Protagonisten ein eigenes Gesicht. Bisher sah man Menschen immer nur von hinten und konnte sie nach den eigenen Vorstellungen formen, Linus und Valter dominieren aber die Geschichte deutlich stärker als in allen Vorgängerbänden, so dass der Autor diesmal von seinem Prinzip abgewichen ist.

Simon Stålenhag variiert mit großer Einfühlsamkeit und konzentriert auf das Wesentliche das alte Thema „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Ob Linus und Valter den Weg in ihr richtiges Leben finden, will ich hier nicht verraten, aber die beiden auf dem langen Weg zu begleiten, ist sehr berührend.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.06.2025
Bullinger, Winfried

Pastoralist Homes


ausgezeichnet

Wer die Fotografien von Bernd und Hilla Becher kennt, der hat vielleicht ein kleines Déjà-vu in „Pastoralist Homes“. Während die Bechers sich den ästhetischen Qualitäten moderner (aber damals schon verschwindender) Industriearchitektur widmeten und in zahlreichen Serien festhielten, fotografiert Winfried Bullinger die temporären Behausungen nomadischer und seminomadischer Hirtenvölker in West- und Zentralafrika. Diese Architektur ist noch mehr vom Verschwinden bedroht als die Wassertürme und Stahlwerke zu Bechers Zeiten, denn sie ist ohne Ausnahme aus vergänglichen Materialien erbaut. Zwar stimmt nicht, was Thomas Schirmböck im Nachwort behauptet: „nomadic People leave no ruins“. Ein etwas zu kurz geratener Gedanke, denn gerade nomadische Architektur hinterlässt aufgrund der oft isolierten Wüstenlage ganz besonders langlebige „Ruinen“, aber sie sind meist im Boden verborgen. Dennoch ist die nomadische Lebensform im Rückzug und wie das industrielle Kulturerbe in den Sechzigern vom Verschwinden bedroht. Winfried Bullingers Monografie ist daher nicht nur ein serielles Kunstprojekt im Becherschen Sinn, sondern auch eine ethnologische Dokumentation, nicht zuletzt, da er die Orte und Kulturen genau zuordnet, aus denen seine Objekte stammen. Es ist keine touristisch angehauchte Fotografie. Es gibt keine Folklore, nur auf wenigen Abbildungen sieht man Menschen, die Bauten stehen als ästhetische Qualität für sich. Die Vielfalt, aber auch die kennzeichnenden Gemeinsamkeiten werden sichtbar: Organische Formen, zweckmäßig kombiniert mit einfachen Geometrien; das sind über Jahrtausende überlieferte Bautraditionen, die Archäologen schon in der Steinzeit nachweisen können. Dass ausgerechnet diese uralten, bewährten Behausungen vom Untergang bedroht sind, scheint der unvermeidliche Gang der Geschichte.

Winfried Bullinger zeigt die Schönheit der Hütten, die denen von Palästen in nichts nachsteht, ihre Wildheit und Eleganz, ihre Zweckmäßigkeit und wenn man so will, auch ihre Nachhaltigkeit. So wie die Bechers 1972 die Öffentlichkeit für die untergehende Industriearchitektur sensibilisierten, so könnte Winfried Bullinger dasselbe für die nomadische Architektur Afrikas leisten. Wer weiß, vielleicht liegt in dieser Vergangenheit ja ein wenig unserer Zukunft.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.