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Eternal-Hope
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Österreich

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Insgesamt 85 Bewertungen
Bewertung vom 14.08.2025
Wagner, Jan Costin

Eden


ausgezeichnet

Aufrüttelnd, berührend und authentisch:

"Eden" - eine Utopie, das gelobte Land, das wir nie wieder erreichen können, das verlorene Paradies... danach sehnen sich Markus und Kerstin, die verwaisten Eltern von Sofie. Ihre Tochter war ein Sonnenschein, clever, fröhlich, immer ein Lächeln auf den Lippen. Die drei hatten ein richtig schönes, gut situiertes Familienleben, alles war harmonisch, materiell waren sie gut situiert, bis die Katastrophe passierte.

Am Ende des Konzertes des Stars, den die Tochter so bewundert, kommt es zu einem Attentat, ein IS-Anhänger zündet eine Bombe und Sofie befindet sich direkt daneben und ist auf der Stelle tot. Vorbei ist es mit dem Paradies, nie wieder wird sie zu ihren Eltern zurückkommen, nie wieder lachen, tanzen und fröhlich sein. Von einem Augenblick auf den anderen mitten aus dem Leben gerissen.

Dieses für Eltern schrecklichste und vorstellbare Ereignis wird im neuen Roman von Jan Costin Wagner sehr authentisch, berührend und aus verschiedenen Perspektiven geschildert. Abwechselnd erzählen die Eltern Kerstin und Markus, aber auch der Schulkollege Toby, der heimlich für Sofie geschwärmt hat und nun erschüttert um sie trauert, und die Perspektive des Attentäters und seiner Familie kommt vor.

Wir begleiten die Familie und Freunde über mehrere Monate nach dem Todesfall, erleben mit, wie unterschiedlich die Eltern trauern und wie das bei aller langjährigen Verbindung und Liebe zueinander sie nun auch auseinander zu treiben und zu entzweien droht.

Wie insbesondere der Vater nach Antworten, Sinn und Begreifen sucht, dabei sogar die Mutter und den Bruder des Attentäters direkt bei sich zu Hause besucht und konfrontiert. Wie er sich aber gleichzeitig nicht zum Werkzeug der Neuen Rechten machen will und nicht pauschalisieren möchte, wie er den Hass hasst, aber sich selbst nicht zum Werkzeug von diesem machen will.

Es ist ein aufrüttelndes und berührendes Buch zu einem in dieser Zeit leider hochaktuellen Thema. Neben der persönlichen Geschichte und dem Aufzeigen der verschiedenen Trauerprozesse macht es auch nachdenklich über die Bewegungen am Rande der Demokratie in Mitteleuropa, sowohl von Seiten islamistischer Hassprediger als auch von denen, die seit einigen Jahren immer mehr ins Milieu der Verschwörungstheoretiker abdriften, in dem leider ebenfalls viel Hass verbreitet wird (exemplarisch dargestellt durch Tobys Vater, von dem sich Toby dadurch immer mehr distanziert).

Insgesamt ist es ein sprachlich sehr gut geschriebenes, auf seine Weise trotz des tragischen Themas auch unterhaltsames und sehr wichtiges Buch, das ich einer breiten Leserschaft empfehlen kann.

Bewertung vom 12.08.2025
Engler, Leon

Botanik des Wahnsinns


ausgezeichnet

Lieber verrückt als einer von euch?

Es gibt ein Klischee über Psychologinnen und Psychologen: die hätten das alle studiert, um sich selbst besser zu verstehen. Oder zumindest ihre verrückte Familie. Selbst Erfahrung mit psychischen Erkrankungen im persönlichen Umfeld zu haben, kann aber auch durchaus ein Vorteil für die berufliche Arbeit in diesem Bereich sein: wenn diese Erfahrung gut verarbeitet und reflektiert wurde.

Ein leuchtendes Rollenvorbild dafür ist der Psychologe und Autor Leon Engler. In seinem autofiktionalen Roman erzählt er berührend, einfühlsam und zugleich humorvoll von seiner eigenen Familiengeschichte und seinem Weg hin zur Psychologie sowie von seinen Erfahrungen mit einer einjährigen Tätigkeit als Psychologe an einer Wiener stationären Psychiatrie nach seinem Studium, wo er auf verschiedenen Stationen mit an Schizophrenie Erkrankten, Depressiven sowie Suchtkranken arbeitet.

Seit frühester Kindheit prägen die diversen psychischen Erkrankungen seiner Eltern und Großeltern sein Leben: die Großmutter überlebt zwölf Suizidversuche, bis sie am Ende doch in höherem Alter an einer körperlichen Erkrankung stirbt. Ihre Tochter, die Mutter des Autors, ist fest entschlossen, nicht in ihre Fußstapfen zu treten, übt das ständige Lächeln und Fröhlich-Sein, schafft es mit hoher Begabung und Glück trotz kaum formaler Ausbildung zur erfolgreichen Journalistin... und wird doch später ebenfalls von Depressionen und Alkoholsucht eingeholt. Auch auf der väterlichen Seite sieht es nicht viel besser aus.

Was bedeutet das für den Autor? Die hohe erbliche Komponente psychischer Erkrankungen ist bekannt. Er liest sich in das Thema ein und er ist der erste in seiner Familie, der nicht einfach von psychischen Erkrankungen eingeholt werden und darüber schweigen will, sondern sich schon im Vorfeld aktiv damit beschäftigt und konfrontiert. Denn so wie seine Familie möchte er es nicht machen.

Er beschäftigt sich auch mit der historischen Entwicklung des gesellschaftlichen Umgangs mit Menschen, die in Verhalten oder Erleben von der damaligen Norm abwichen, und lässt uns im Buch an seiner Reise teilnehmen. An dieser Stelle hat das Buch auch Sachbuchkomponenten und man erfährt so einiges Interessantes und Wissenswertes über den Wandel in der Einstellung gegenüber psychisch Erkrankten.

Schließlich konfrontiert sich der Autor nach abgeschlossenem Psychologiestudium ganz bewusst mit dem Ort, an dem so viele seiner Vorfahren immer wieder gelandet wird und zu denen es dort zum Teil bis heute dicke Akten gibt.

Ehrlich und reflektiert beschreibt er, wie sehr auch die Ärztinnen und Ärzte, Psychologen und Psychologinnen oft immer noch im Dunkeln tappen, wenn es darum geht, ihren psychisch kranken Patienten zu helfen. Und dass oft gar nicht so leicht erkennbar sei, wer Helfer und wer Patient sei: als er einmal sein Namensschild nicht trug, wurde er von einer Pflegerin aus dem Pausenraum geschmissen, weil sie ihn für einen Patienten hielt und ihm nicht glaubte, dass er ein Psychologe sei, denn das würden auch die Patienten ständig von sich behaupten.

Sehr sympathisch finde ich auch, dass der Autor im Buch immer wieder klarstellt, dass das, was wir als psychisch krank definieren und die Umstände, die dazu führen, dass Menschen in der jeweiligen Gesellschaft nicht so funktionieren (können oder wollen), wie wir das gerne hätten, immer auch sehr viel mit der jeweiligen Gesellschaftsordnung zu tun hat.

Das ist etwas, was die Psychiatrie aber kaum adressieren oder verändern könne, dort sei nicht der richtige Ort für gesellschaftliche Veränderungen, und das Personal dort schon mit der täglichen Arbeit, den Personalengpässen und den vielen hilfsbedürftigen Patienten voll ausgelastet bis überfordert.

"Botanik des Wahnsinns" ist ein liebevoll geschriebenes, humorvolles und zutiefst berührendes, persönliches Buch über den Umgang eines sehr weisen und reflektierten jungen Menschen mit einer herausfordernden Familiengeschichte. Trotz all der Dunkelheit scheint so viel Wärme und Liebe aus diesem Buch und es wird spürbar, wie sehr dem Autor sowohl seine Familie als auch insgesamt Menschen, die sich schwer tun, ihren Platz in unserer leistungsorientierten Gesellschaft zu finden, am Herzen liegen und wie er ehrlich nach Antworten auf seine Fragen sucht.

Ich kann das Buch allen, die sich für das Thema psychische Erkrankungen in der Familie und im Wandel der Zeit interessieren, nur sehr ans Herz legen: in diesem persönlichen Memoir liest man nicht nur eine berührende Geschichte, sondern kann auch jede Menge lernen und wird selbst aufgefordert, die Gesellschaft, in der wir leben, zu hinterfragen.

Dazu noch ein letztes der unzähligen schönen Zitate aus diesem besonderen Buch: in dieser Szene beendet der Autor seinen einjährigen beruflichen Aufenthalt auf der Psychiatrie und erhält ein Abschiedsgeschenk:

"Ich packe das Geschenk aus. Eine Kaffeetasse: Lieber verrückt als einer von euch." (S. 154)

Bewertung vom 11.08.2025
Rivera Garza, Cristina

Lilianas unvergänglicher Sommer


ausgezeichnet

Erinnerung an ein viel zu kurzes Leben

In ihrem vielfach preisgekrönten Memoir „Lilianas unvergänglicher Sommer“ begibt sich Cristina Riverza Garza mit Hilfe der umfangreichen Hefte, Notizen, Aufzeichnungen, Collagen, Pläne, Briefe, Kassetten und Kalender, die ihre Schwester hinterlassen hat, auf eine sehr persönliche Reise, um das kurze, aber eindrucksvolle Leben Lilianas und die Zeit bis zu ihrer Ermordung festzuhalten und mit der Welt zu teilen. Zusätzlich zu der Materialfülle, die ihre Schwester selbst hinterlassen hat, hat Cristina Interviews mit Verwandten und Freunden Lilianas geführt.

Es ist ein eindrucksvolles und sehr persönliches Buch über eine lebensfrohe und intelligente junge Frau, das mich sehr berührt hat. Das Buch ist in verschiedene Teile gegliedert, die sich sehr unterschiedlich lesen.

Für mich persönlich am wenigsten interessant waren die ersten ca. 40 Seiten, in denen sich Cristina gemeinsam mit einer Freundin auf Spurensuche durch die Kriminalarchive Mexikos begibt und an der Bürokratie und Ignoranz des Staatsapparats scheitert: die Akte ihrer Schwester bleibt verschwunden und kann nach 29 Jahren nicht mehr gefunden werden, auch wenn ihr schriftlich bescheinigt wurde, dass sie als Schwester ein Recht auf Aushändigung einer Kopie hätte, wenn die Originalakte auftauchen würde.

Die Autorin erzählt ihre mühsame Suche authentisch und in vielen Details, das entspricht bestimmt ihrer realen Erfahrung damit und der Frustration über das Scheitern, aus der aber schließlich auch ihr Entschluss für die Arbeit an diesem Buch entstand. Wer sich jedoch beim Reinlesen in diese Teile noch nicht so sehr für das Buch erwärmen kann, dem empfehle ich, diese Seiten zu überblättern und mal in die späteren, sehr persönlichen und berührenden Kapitel hineinzuschauen, für die sich das Buch definitiv lohnt.

Danach lernen wir Lilianas Leben und Familiengeschichte kennen: ihre Schwester erzählt von ihr, aber wir dürfen auch ganz direkt in Kontakt mit ihr kommen: durch die vielen Briefe und Notizen, die für das Buch aus dem spanischsprachigen Original übersetzt, aber ansonsten originalgetreu wiedergegeben werden.

Wir erleben mit, wie Liliana sich für das Schwimmen begeistert, genauso wie für das Briefe schreiben, wie sie als Jugendliche und junge Erwachsene unzählige Briefe mit Freunden und Verwandten austauscht, wie viel Liebe sie in sich trägt und herzlich ausdrückt, aber auch, wie sie als sehr junge Frau erstmals Ángel in einem Fitnessstudio kennen lernt, der jahrelang um sie wirbt, bis sie eine Beziehung mit ihm beginnt. Liliana ist Ángel in vielerlei Hinsicht überlegen: sie ist eine sprachbegabte junge Frau, er ringt um Worte und kämpft mit der Rechtschreibung. Ihr Vater arbeitet an seiner Promotion und forscht im Bereich Genetik, während er aus sehr einfachen Verhältnissen stammt. Und doch geht sie erst einmal auf sein Werben ein und genießt es, dass der zwei Jahre ältere Mann sie mit Auto und Motorrad herumfahren kann. Doch bald wird ihr die Beziehung zu eng, Ángel ist misstrauisch und eifersüchtig, er engt sie ein, während sie frei sein will. Diese Konflikte verschärfen sich, als Liliana zu studieren beginnt, während Ángel die Aufnahmeprüfung für die Universität nicht geschafft hat.

Die Zeit Lilianas auf der Universität nimmt auch großen Raum in dem Buch ein. Basierend auf den Interviews, die ihre Schwester Cristina geführt hat, wird die Perspektive verschiedener Freundinnen und Kommilitonen Lilianas auf die junge Frau lebendig: auch hier zeigt sich wieder das Bild einer lebensfrohen, extrovertierten, vor Witz sprühenden und selbstbewussten jungen Frau, die frei sein will und die spricht und sich bewegt wie eine freie Frau.

Doch im Hintergrund spitzt sich das Drama zu: Liliana will sich mehrmals von Ángel trennen und beendet die Beziehung schließlich endgültig, doch er stellt ihr nach, bedroht sie, erpresst sie und es gibt erste Spuren auf körperliche Misshandlung, bis zu ihrer Ermordung durch ihn.

Zusätzlich zu Lilianas persönlicher Geschichte beschäftigt sich die Autorin, die selbst Soziologie studiert hat, mit dem Stellenwert des Femizids in der mexikanischen Gesellschaft. Sie beschreibt, wie es damals, 1990, dieses Wort noch nicht in der öffentlichen Wahrnehmung gab und den ermordeten Frauen meist zumindest eine Mitschuld zugeschrieben wurde. Gleichzeitig arbeitet sie klar heraus, wie falsch diese Ansicht ist und dass der Unterschied, ob man als junge Frau von einem eifersüchtigen, gewalttätigen Mann ermordet wird oder nicht, oft einfach ein zufälliger ist: ob man das Pech hatte, einem Mörder über den Weg zu laufen, oder ob man davon verschont geblieben ist.

Ein wichtiges und sehr berührendes Buch, das völlig zu Recht den Pulitzer-Preis und weitere Auszeichnungen bekommen hat, das für ein sehr wichtiges Thema sensibilisiert und gleichzeitig einer beeindruckenden jungen Frau ein Denkmal setzt und dem ich eine breite Leserschaft wünsche!

Bewertung vom 26.07.2025
Kloeble, Christopher

Durch das Raue zu den Sternen


ausgezeichnet

Ein Mädchen kämpft um das scheinbar Unmögliche:

Es ist Anfang der 1990er Jahre und Arkadia Fink, genannt Moll, ist 13 Jahre alt und liebt die Musik. Sie lebt allein mit ihrem Vater, der grundsätzlich liebevoll ist, darum kämpft, wirtschaftlich über die Runden zu kommen und dem aber auch manchmal „die Hand ausrutscht“.

Die Mutter ist ein Freigeist, unkonventionell und begabt passt sie nicht so wirklich in ein kleines bayrisches Dorf. Sie hat ihrer Tochter die Liebe zur Musik vermittelt, mit ihr schräge Abenteuer erlebt und sie in ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Individualität bestärkt. Beethoven sei eine Frau gewesen, ist die Mutter überzeugt, und mit ihr die Tochter, für die Beethoven damit ein großes Rollenvorbild ist, denn auch Moll ist fest entschlossen, als Lichtgestalt in die Musikgeschichte einzugehen.

Leider ist die Mutter vor etwa einem Jahr „kurz weggegangen“, wie Moll sich immer wieder erinnert und auf ihre Rückkehr hofft. Immerhin schickt sie der Tochter in unregelmäßigen Abständen per Post einzelne Sätze einer selbst komponierten Symphonie zu. Dann gibt es auch noch Bernhardina im Altersheim, eine gute Freundin von Arkadia, mit der das Mädchen regelmäßig telefoniert und sie besucht.

Vor diesem Hintergrund werden an den bayrischen Schulen Talente für einen renommierten Knabenchor gesucht, dazu kommt eine Frau an die Schulen und lässt die Kinder vorsingen. Sie bemerkt Molls Talent, doch leider… es ist ein Knabenchor und dort werden keine Mädchen aufgenommen, so heißt es. Doch dabei wird die selbstbewusste und entschlossene Arkadia es nicht bewenden lassen. In dem humorvoll und berührend erzählten Buch erleben wir mit, wie sie darum kämpft, sich einen Platz in diesem Chor zu erobern, allen Widerständen zum Trotz.

Passend zum Thema ist das Buch in fünf Sätze einer Symphonie eingeteilt, die sich in Ausdruck und Tempo unterscheiden: von schnell, aber nicht zu schnell, über sehr lebendig bis zu langsam, dann wieder schneller und schließlich so, wie einem gerade ist.

Beeindruckt hat mich an diesem Buch ganz besonders das Selbstbewusstsein der gewitzten Arkadia, die von dem Autor sehr treffend und glaubwürdig porträtiert wird, sodass ich mich von Anfang an mit ihr zutiefst verbunden gefühlt und mit ihr mitgefiebert habe. Das aus der Ich-Perspektive geschriebene Buch hat sich für mich angefühlt, als wäre es tatsächlich die eigene Erzählung eines ganz besonderen, begabten und eigensinnigen Mädchens am Anfang der Pubertät. Hier ein zwei Zitate aus dem Buch zur Illustration:

„Ich war eine Sängerin des Knabenchors. Der Knabenchor wusste das nur noch nicht.“ (S. 42)

„Auf der Busfahrt zum Kurkonzert sprach niemand. Für manche Knaben aus dem Landkreis war es der erste Auftritt. Sie waren nervös. Ich nicht.“ (S. 176)

Insgesamt ist es ein humorvolles und unterhaltsames, dabei zugleich tiefgründiges Buch über die Liebe zur Musik und das unerschütterliche Festhalten an eigenen Zielen, den Umgang mit scheinbar unüberwindbaren Hindernissen, das Anders-Sein und die Suche nach Anerkennung und Zugehörigkeit sowie das Verfolgen der eigenen Träume. Dabei kommen die Lesenden der Ich-Erzählerin sehr nahe, erleben ihren Kampf im Außen genauso wie im Innen mit und können sich tief berühren lassen. Es ist auch ein Buch, das sich für Gleichberechtigung einsetzt und tief für das Thema Diskriminierung sensibilisiert. Ein Kompliment an den männlichen Autor, sich so gut in ein jugendliches Mädchen hineinversetzen zu können und sich diesem wichtigen Thema angenommen zu haben.

Ich kann dieses Buch einer breiten Leserschaft, angefangen von Jugendlichen bis zu Erwachsenen jeglichen Alters, nur wärmstens empfehlen! Für mich wird es ganz bestimmt nicht das letzte Buch dieses talentierten Autors bleiben.

Bewertung vom 24.07.2025
Knecht, Doris

Ja, nein, vielleicht


sehr gut

Über Vergänglichkeit und nicht wiederkehrende Chancen:

Beim ersten Hineinlesen in das neue Buch von Doris Knecht war ich sofort fasziniert von dem Thema Vergänglichkeit und Älter-Werden als Frau und davon, was für passende Bilder, die ich zum Teil aus meiner eigenen Lebenserfahrung kenne, die Autorin dafür findet. Der nicht mehr reparierbare Zahn als sichtbares Zeichen dessen, was nicht mehr umkehrbar ist im eigenen Leben. Oder der Moment, als der Ich-Erzählerin klar wurde, dass sie in diesem Leben wohl nicht mehr in einer Rockband spielen würde. All diese Momente der Erkenntnis und Reife, wenn einem bewusst wird, was man sich im Leben bisher aufgebaut hat, aber auch, welche Türen sich unwiederbringlich geschlossen haben - das ist eine Stimmung, die speziell im ersten Teil des Buches für mich sehr gut eingefangen wurde.

Die Ich-Erzählerin ist in der Mitte ihres Lebens angekommen. Die Kinder sind erwachsen, die Beziehung mit deren Vater hat nicht auf Dauer gehalten, nun ist sie schon seit zehn Jahren alleine und eigentlich ganz zufrieden damit. Sie verbringt ihr Leben zwischen einer Wiener Stadtwohnung und einem Haus am Land, ehemals das gemeinsame Wochenendhaus mit Mann und Kindern. Nun ist es für sie, gemeinsam mit ihrem Hund, ein Ort der Stille und Erholung geworden.

Als eine ihrer vier Schwestern - übrigens zwei Paare von Zwillingen - sie bittet, auf die unbestimmte Zeit einer nicht näher definierbaren Fortbildung in der Stadtwohnung der Ich-Erzählerin unterkommen zu dürfen, willigt diese ein; sie hat ja noch das Haus am Land und war in der Familiendynamik noch nie gut darin, eine Bitte abzulehnen. Ihre Schwester wird deutlich länger in der Wohnung bleiben als ursprünglich erwartet, und als die Ich-Erzählerin mal dort vorbeikommt, öffnet ihr ein unbekannter Mann und schlägt ihr die eigene Wohnungstür vor der Nase wieder zu. Also bleibt sie erst einmal - abgesehen von den häufigen Zahnarztterminen, die sich durch das ganze Buch ziehen - mit ihrem Hund in ihrem Haus am Land, wo sie zufällig Friedrich wiedertrifft. Friedrich, mit dem sie vor 25 Jahren als junge Frau eine kurze Affäre hatte, und der nun ebenfalls erwachsene Kinder hat und von seiner Frau getrennt lebt. Wird nun zwischen den beiden etwas beginnen?

Die Beantwortung dieser Frage ist einer der Handlungsstränge dieses Buches, aber aus meiner Sicht gar nicht der hauptsächliche (auch wenn es am Klappentext so wirkt). Über weite Teile des Buches, insbesondere in der Mitte und gegen Ende, folgen wir einfach den Reflexionen und Erkenntnissen der Autorin über die Mitte des Lebens und die Vergänglichkeit des menschlichen Körpers. Waren die Zahnarztbesuche dafür am Anfang für mich noch eine interessante Metapher, so nützt sich dieses Bild für mich durch die Wiederholung im Buch zunehmend ab. Vielleicht ist es aber auch so, dass ich, als eine der vielen Menschen, die nicht gerne zum Zahnarzt gehen, nicht gerne so viel und so oft darüber lesen wollen? Vielleicht auch eine Erinnerung an meine eigene Vergänglichkeit, wer weiß?

Insgesamt ist es ein solides und interessant geschriebenes, schnell und leicht zu lesendes Buch mit so vielen nachdenklich machenden Metaphern über das Leben und seine Flüchtigkeit und mit einigem Humor. Zwischendrin gibt es aber auch Längen, bei denen ich mir mehr Handlung gewünscht hätte. Aber auch durchaus interessante Reflexionen darüber, wie sich die gesellschaftlichen Normen und der Zeitgeist seit der Jugend der Ich-Erzählerin geändert haben, was sich speziell in einem veränderten Verständnis dessen, was in der Annäherung zwischen Männern und Frauen okay ist (sichtbar geworden durch die MeToo-Bewegung), zeigt. Es ist jedenfalls ein stilles und ruhiges Buch, in dem nicht sehr viel passiert... auch eher wenig Charakterentwicklung der Ich-Erzählerin, die mir bis zum Ende gegenüber ihrer Herkunftsfamilie und gesellschaftlichen Konventionen etwas zu angepasst scheint. Als angenehme Sommerlektüre zwischendurch kann ich das Buch aber durchaus einer breiten Leserinnenschaft empfehlen.

Bewertung vom 01.07.2025
Kempton, Beth

Kokoro


ausgezeichnet

Macht neugierig auf die japanische Kultur und Weisheit:

Die studierte Japanologin Beth Kempton ist Mitte 40 und in einer Lebenskrise. Kurz nacheinander hat sie sowohl ihre beste Freundin, die gerade mal Anfang 40 war, als auch ihre geliebte Mutter an den Krebs verloren. Nun steht sie da, verheiratet, mit zwei kleinen Töchtern, mehreren veröffentlichen Büchern und insgesamt gut im Leben stehend... und sieht sich vor die existenziellen Fragen des Lebens gestellt: wofür sind wir hier? Wie viel Zeit haben wir hier überhaupt? Und was passiert danach?

Da erinnert sich Beth daran, was ihr schon seit vielen Jahrzehnten Kraft gibt: die uralte Weisheit von Japans Kultur, Religionen und Mystik. Davon hat sie sich schon als Teenager angezogen gefühlt und damals als Auslandsschülerin erste Japan-Erfahrung gesammelt, danach Japanologie studiert, das Land bereist und dort gearbeitet. Nun ist es Zeit für ein weiteres Eintauchen in die japanische Kultur. Zuerst möchte die Autorin das gemeinsam mit ihrem Mann und ihren Töchtern während der Sommerferien machen, doch zeigt sich schnell, dass die Interessensschwerpunkte der Kinder ganz woanders liegen als in dem, was sie selbst näher erforschen möchte. Mann und Töchter fliegen vorzeitig heim und die Autorin nimmt sich mehrere Wochen eine Auszeit, um sich auf ein neues Buch vorzubereiten und einige der Mysterien Japans näher zu erforschen. Viel von dem, was sie in diesem Buch mit uns teilt, stammt aus dieser Zeit, und außerdem aus ihrer jahrzehntelangen Erfahrung mit der japanischen Kultur.

Das Buch ist, analog zu den entsprechenden drei heiligen Bergen Japans "Hagurosan", "Gassan" und "Yudonosan" in drei Abschnitte geteilt, die wiederum aus mehreren thematischen Unterkapiteln bestehen. Hagurosan ist der Berg der Gegenwart, der Schwarzflügel-Berg: hier geht es um Themen wie Achtsamkeit und Still-Werden. Gassan ist der Berg der Vergangenheit und des Todes, hier geht es um Sterblichkeit, Fallen, Befreiung und Altern. Mutig lässt sich die Autorin auf eine Selbsterfahrung dazu ein und besteigt in einer geführten Wanderung gemeinsam mit Japanern und Japanerinnen den nebelumzogenen, mystischen Berg. Yudonosan schließlich ist der Berg der Wiedergeburt und der Zukunft. In dem dazugehörigen Abschnitt geht es um ein gutes Leben in der Zukunft, mit einem vollen Herzen, den richtigen Absichten und guter Selbstfürsorge, z.B. genussvolle, gesunde Ernährung. Auf jedes Unterkapitel folgen Übungen und Fragen zur persönlichen Reflexion und Auseinandersetzung mit den besprochenen Themen.

Die hier genannten Themen sind keine neuen, und wer sich schon öfters mit Persönlichkeitsentwicklung auseinandergesetzt hat, der kennt sie. Doch dieses Buch bringt einen interessanten neuen Twist hinein: es ist voll von aus der japanischen Kultur geprägten Einsichten, die richtig neugierig auf diese Kultur machen. Bei mir hat das geklappt: am liebsten würde ich sofort die vielseitige japanische Sprache lernen, die so reich an Metaphern und Philosophie zu sein scheint, und eine Reise nach Japan buchen. Ich kann das Buch allen, die sich für eine persönliche Lebenserfahrung eingebettet in japanische Weisheit und Philosophie interessieren, sehr empfehlen.

Bewertung vom 27.06.2025
Kadota, Yumiko

Emotional Female


sehr gut

"Emotional Female" von Yumiko Kadota ist der ausführliche Lebens- und Berufsbericht einer jungen Frau mit japanischen Wurzeln, die im öffentlichen australischen Gesundheitssystem als Ärztin so sehr ausgebrannt ist, dass sie dieses am Ende verlassen musste.

Angesprochen hat mich bei dem Thema schon der Titel "Emotional Female". Auf diesen geht die Autorin gleich am Anfang ein und bestärkt Menschen, zu ihrer Emotionalität zu stehen und diese als etwas Positives zu sehen. Das hat sie mir gleich sympathisch gemacht und mich für ihre Erzählung emotional geöffnet.

Das sehr umfangreiche Buch beginnt mit ein paar drastischen Szenen aus Yumikos Alltag als Ärztin, um danach ganz zurück zum Anfang zu gehen: erst einmal begleiten wir Yumiko ausführlich durch ihre Kindheit, Jugend und Studentinnenzeit. Wer schon neugierig darauf ist, endlich mehr über ihre Erfahrungen als Ärztin zu erfahren, für den könnte dieser Teil stellenweise etwas langatmig wirken.

Jedoch lernen wir dabei Yumikos Persönlichkeit und familiären und kulturellen Hintergrund besser kennen: sie stammt aus einer extrem leistungsorientierten, japanischen Familie, und hat auch selbst eine sehr ambitionierte Persönlichkeit.

Diese Persönlichkeit, gemeinsam mit ihrer sicherlich hohen Intelligenz, verschafft ihr auch einen Platz im Medizinstudium, zu dem der Zugang sehr kompetitiv ist: alle erfolgreichen Erstsemestrigen haben mehr als 99 % der Punkte im Aufnahmeverfahren und unterscheiden sich nur in den Nachkommastellen. Das zeigt schon, was für ein ganz spezielles, extrem leistungsorientiertes und zur Selbstausbeutung neigendes soziales Milieu hier herrscht.

Besonders interessant waren für mich Yumikos tatsächliche Erfahrungen in den Kliniken: erst als Praktikantin während dem Studium und dann als Ärztin mit dem Wunsch, Fachärztin der Chirurgie zu werden. In dem System gibt es nicht nur wenig Solidarität unter dem ärztlichen Personal, viel Konkurrenz, sexuelle Belästigungen, die kaum geahndet werden können, ohne sich ins berufliche Aus zu schießen, und rassistische Bemerkungen gegenüber der japanischstämmigen jungen Frau, sondern auch einen unglaublichen Leistungsdruck.

Yumiko lässt sich anfangs darauf ein und versucht sogar, noch mehr Stunden zu arbeiten, als von ihr gefordert wird, überall 150 Prozent zu bringen, jeden Tag vor dem Frühdienst noch ins Fitnesscenter trainieren zu gehen, an Laufwettbewerben teilzunehmen und ehrenamtlich tätig zu sein... das alles bis zum Zusammenbruch. "Messer vor Familie", das sei die Devise derjenigen, die eine Fachausbildung im Bereich Chirurgie anstreben... Yumiko hat noch keine eigene Familie, also modifiziert sie den Spruch zu "Messer vor Leben".

Dabei kann man sich beim Lesen durchaus die Frage stellen: was hat zum Zusammenbruch geführt, das unbarmherzige, ausbeuterische System oder Yumikos extrem leistungsorientierte Persönlichkeit? Sicher ein Zusammenspiel von beidem... allerdings ist sie mit ihrer Persönlichkeit in diesem System sicherlich keine Ausnahme, denn von Anfang an wurde darauf hin selektiert: angefangen über die Zulassung zum Studium über das Studium selbst bis hin zur Bewerbung für Ausbildungsstellen danach.

Mit ihrer extremen Leistungsorientierung, ihrem Drang, sich als extrem fleißig und intelligent darzustellen und ihrem mangelnden Blick für eine mögliche Solidarisierung mit anderen ist die Autorin sicherlich nicht nur eine Sympathieträgerin für alle. Das laste ich dem Buch aber nicht an, denn die junge Frau ist, wie sie ist, und es hat kulturelle und systemische Gründe, warum sie so geworden ist.

Meinen Respekt hat sie für das Teilen dieser sehr persönlichen Erfahrung im medizinischen System Australiens und fürs Eröffnen einer wichtigen Debatte über die Arbeitsbedingungen für medizinisches Personal: das ist ein wichtiges Thema, das nicht nur Australien betrifft, sondern viele Länder.

Ein bisschen schade fand ich, dass so viel Raum im Buch der Vorgeschichte und dann dem Weg bis zum Burnout gewidmet ist, aber nur recht wenig Platz für die Zeit danach und mögliche Lösungsmöglichkeiten auf gesellschaftlicher Ebene geblieben ist.

Ich habe das Buch insgesamt gerne gelesen und kann es jenen, die bereit sind, sich auf eine etwas außergewöhnliche Persönlichkeit und deren ausführliche Erzählweise einzulassen, durchaus empfehlen.

Bewertung vom 17.06.2025
Montell, Amanda

Das Zeitalter des magischen Zerdenkens. Notizen zur modernen Irrationalität


sehr gut

Wie wir unsere gedankliche Realität verzerren und uns innerlich verrückt machen:

"Das Zeitalter des magischen Zerdenkens" ist das dritte Buch der amerikanischen Linguistin Amanda Montell. Schon in ihrem zweiten Buch, in dem es um Sekten und Kulte geht, hat sie sich intensiv mit den psychologischen Mechanismen beschäftigt, die dazu führen, dass wir scheinbar irrationale Entscheidungen treffen.

Dieses Buch führt diese Ideen nun fort, beschäftigt sich aber thematisch mit einer wesentlich größeren Bandbreite. Es beginnt damit, dass in den letzten Jahren die Häufigkeit psychischer Probleme enorm angestiegen ist, insbesondere unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, und wie das damit zu tun haben könnte, dass wir - angespornt durch Social-Media-Algorithmen - unser Leben und die Welt immer mehr zerdenken.

Auf dieser Idee aufbauend geht es um verschiedene Alltagsphänomene, beispielsweise die vielen "Stans" (ein Kunstwort aus "Stalker" und "Fan", das auf Eminems gleichnamiges Lied zurückgeht), die eine regelrechte Besessenheit für ihre Idole, etwa Taylor Swift, aufbauen und diese glühend verehren, sich aber ebenso schnell und drastisch von diesen abwenden oder Shit-Storms starten können, wenn die unrealistische Projektion, die sie um ihr Idol aufgebaut haben, zusammenbricht. Weiters geht es um Themen wie toxische Beziehungen, Idealisierung der eigenen Eltern, Glaube an Verschwörungstheorien und so einiges mehr. Interessant ist, wie die Autorin jeweils bekannte psychologische Theorien mit ihren eigenen Gedanken zum Thema und ihren persönlichen Erlebnissen verbindet.

Wer gerne solche persönlichen Geschichten mag, der findet hier ein unterhaltsames Buch vor, in dem die Autorin nahbar und persönlich etwa von ihrer distanzierten und idealisierten Beziehung zu ihrer extrem leistungsstarken, aber nur selten Gefühle zeigenden Mutter erzählt, genauso wie von ihrer problematischen ersten Beziehung, aus der sie sich erst nach sieben Jahren lösen konnte, von ihren eigenen Selbstwertproblemen in Bezug auf ihr Äußeres oder ihren Schwierigkeiten beim Einstieg in den Arbeitsmarkt nach dem Studium.

Die Autorin ist selbst Jahrgang 1992 und damit am Anfang ihrer 30er. Darum geht es im Buch natürlicherweise hauptsächlich um die Themen, Interessen und Probleme junger Menschen, und es ist somit auch am besten für Lesende in diesem Alter geeignet. Nebenbei lernt man noch so einiges Interessantes über psychologische Theorien, die erklären, warum Menschen scheinbar irrationale Entscheidungen treffen.

Für ihr Buch hat die Autorin sorgfältig recherchiert und sowohl im Fließtext als auch im Quellenverzeichnis sind viele Details zu den entsprechenden Studien und Experimenten zu finden, sodass man sich bei Interesse leicht noch weiter in die eine oder andere Theorie vertiefen kann. Ein durchaus unterhaltsames und dabei lehrreiches Buch zur Alltagspsychologie, das ich insbesondere jenen Menschen empfehlen kann, die es sehr mögen, nicht nur theoretisch über psychologische Phänomene zu lesen, sondern diese eingebettet in eine konkrete Lebensgeschichte und verbunden mit den persönlichen Gedanken einer jungen Frau zu erleben.

Bewertung vom 10.06.2025
Sauer, Anne

Im Leben nebenan


gut

Nabelschau einer selbstbezogenen Frau in zwei Szenarien:

"Im Leben nebenan", das Debüt von Anne Sauer, klang erst einmal wirklich vielversprechend: erzählt werden zwei parallele mögliche Leben einer jungen Frau. Abwechselnd lesen wir in kurzen Kapiteln von "Toni" und von "Antonia". Die Rahmenhandlung und Perspektive, aus der beide Leben reflektiert werden, bildet dabei Toni, deren Ich zum Teil in einer Parallelwelt landet, in der sie sich anders entschieden hat und als Folge daraus ein ganz anderes Leben führt.

Toni hat schon jung eine sehr innige Beziehung mit Adam geführt. Doch Adam hatte keine so großen Ambitionen wie sie, ihm reichte ein Studium in der Nähe, er ist heimatverwurzelt und wollte Familie. Toni hingegen wollte "etwas aus sich machen", in die große Stadt und dort studieren. Dafür hat sie ihn verlassen und ihm das Herz gebrochen. Danach hat sie sich in diverse Kurzzeitbeziehungen gestürzt und schließlich Jakob kennen gelernt. Die beiden haben - als Selbstzahler, denn heiraten möchten sie in ihrer alternativen Szene offenbar nicht oder zumindest ringt sich keiner von beiden dazu durch, das Thema anzugehen - unzählige erfolglose Kinderwunschbehandlungen einschließlich Fehlgeburten hinter sich. Nun will Toni das nicht länger mit sich machen lassen und hat einseitig ihren Kinderwunsch aufgegeben.

Parallel dazu erfahren wir das Leben von Antonia, einem Parallel-Ich von Toni, in das sie geschleudert wird, während gleichzeitig in den anderen Kapiteln Tonis Leben weitergeht. Toni/Antonia wacht auf einmal in einem Leben auf, in dem sie Adam nie verlassen hat, immer an seiner Seite war, in dem sie verheiratet sind und eine kleine Tochter haben. Sogar eine Kaiserschnittnarbe hat sie und es gibt Fotos, Sprachnachrichten und Erinnerungen vieler anderer Menschen an dieses Leben... nur Antonia erinnert sich an nichts davon, nicht an Schwangerschaft, Geburt, Hochzeit etc., denn ihre Erinnerungen sind die an das Leben von Toni mit Jakob in der großen Stadt.

Anfangs will Antonia unbedingt aus dem als fremd erlebten Leben flüchten und kann sich überhaupt nicht auf das neue Leben einlassen. Obwohl ihre innere Toni-Identität so viele erfolglose Kinderwunschbehandlungen im anderen Leben hinter sich hatte, an die sie sich erinnert, lehnt sie ihre Mutterrolle nun so sehr ab, dass sie mehrmals überlegt, sich selbst, ihrem Kind oder beiden das Leben zu nehmen und dafür sogar konkrete Pläne macht, die für alle, die mit dem süßen kleinen Baby Hanna mitfühlen, sehr schmerzhaft zu lesen sein könnten. Erst langsam gewöhnt sie sich an ihr neues Leben und kann ihm durchaus auch etwas abgewinnen.

Insgesamt lässt mich die Lektüre dieses Buches etwas ratlos zurück. Hängen bleibt bei mir das Psychogramm einer sehr selbstbezogenen Frau - das trifft sowohl für Toni als auch für Antonia zu - die viele Entscheidungen sehr unbedacht und egoistisch trifft und dabei andere Menschen verletzt, und der auch jeglicher Sinn dafür fehlt, zu schätzen, was sie Gutes in ihrem Leben hat: das gilt für beide Szenarien. Damit ist mir Toni/Antonia sehr unsympathisch. Das macht sie als Figur aber nicht unrealistisch, denn solche Menschen gibt es und in sich ist die Figur durchaus konsistent dargestellt.

Das Szenario mit den zwei parallelen Leben hätte hingegen mehr Potential gehabt. Dadurch, dass Toni so in Antonias Leben geschleudert wird, aber mit den Erinnerungen und der Persönlichkeit Toni bleibt, war wenig Raum für grundsätzlich unterschiedliche Persönlichkeitsentwicklungen, die bei zwei real so unterschiedlich verlaufenden Leben sehr wahrscheinlich gewesen wären. Wir haben somit einerseits die Kapitel aus Tonis Perspektive und andererseits jene, in denen Toni/Antonia am liebsten ihr Toni-Leben zurückwill. Das hat für mich das alternative Szenario sehr blass gemacht - da kenne ich deutlich gelungenere Bücher zu alternativen Leben. Auch das Ende war zumindest mir nicht ganz klar und hat mich rätselnd zurückgelassen.

In Summe ist es ein solides Buch, das durchaus interessant und unterhaltsam geschrieben ist und zum Nachdenken anregt. Aus der Idee hätte sich aber mehr machen lassen. Ich empfehle das Buch jenen, die sich für diese Thematik interessieren und die gerade kein persönliches Thema mit Kinderwunsch oder Kinderwunschbehandlungen haben (ansonsten könnte einiges im Buch sehr triggernd sein).

Bewertung vom 04.06.2025
Berkel, Christian

Sputnik


sehr gut

Coming-of-Age vor dem Hintergrund des Schweigens der Nachkriegsjahre:

Christian Berkel hat mit "Sputnik" sein drittes Buch veröffentlicht, alle davon tragen mehr oder weniger autobiografische Züge und haben mit seiner Familiengeschichte zu tun. Für mich war es das erste Buch des Autors, ich beurteile es also unabhängig von den anderen beiden.

Humorvoll startet die Geschichte mit dem Spermium und der Eizelle, die sich zu dem Embryo vereinen, aus dem schließlich der Ich-Erzähler werden wird, hier "Sputnik" genannt, aufgrund der zeitlichen Nähe der Geburt des Jungen zum Start des russischen Satelliten.

In dem Buch geht es sehr viel ums Spüren und Wahrnehmen, ergänzt um philosophische Gedanken des Autors. Das zeigt sich schon ganz am Anfang, als die vermutete Erfahrung des Embryos im Mutterleib beschrieben wird: "Die dunkle Stimme ist weg. Besser so. ich mag es lieber, wenn wir unter uns sind. Liegt es an den überschäumenden Lustgefühlen, die mich überfallen, wenn ich die Stimme meiner Mutter höre? Anfangs hielt ich sie für meine eigene. Wessen Stimme sollte es sonst sein? Ich nahm an, das Leben sei in mir, bis ihch begriff, dass ich in einem Leben war. Da beschloss ich, erst recht zu schweigen." (S. 17)

Dann begleiten wir den Autor durch seine Kindheit mit einem strengen Vater, der HNO-Arzt ist, und einer Mutter, die als Tochter einer Jüdin in der NS-Zeit verfolgt und in einem französischen Lager war, die kunstsinnig und sensibel ist, aber auch schwer traumatisiert, die immer wieder wie tot wirkt und deren Blick ins Leere gleitet. Sehr viel Entfremdung ist da zu spüren, zwischen den Eltern, zwischen ihnen und der Nachkriegsgesellschaft und auch zwischen dem heranwachsenden Jungen und seiner Umgebung.

Die Mutter spricht mit dem Jungen französisch und so wächst er mit dieser Sprache, neben dem Deutschen auf, was ihm später einige Türen öffnen wird: zuerst an eine französischsprachige Schule in Deutschland und schließlich nach Frankreich selbst. Es geht um die Kindheit, Jugend und die jungen Erwachsenenjahre des Ich-Erzählers, darum, wie er immer mehr zu sich und seiner eigenen Identität findet, wie er schon früh Schauspieler werden möchte und engagiert und eigeninitiativ Kontakte in die Schauspielszene knüpft, aber auch sehr viel um sein sexuelles Erwachen und Begehren und erste sexuelle Erfahrungen. Das alles vor dem Hintergrund des Schweigens und Relativierens im Nachkriegsdeutschland.

Über weite Strecken habe ich das Buch sehr interessiert gelesen. Ganz besonders spannend wurde es für mich immer dann, wenn einzelne Szenen den gesellschaftlichen Hintergrund der damaligen Zeit lebendig werden haben lassen und ich ein Gefühl dafür bekommen habe, in was für einem Zwiespalt sich die deutsche Gesellschaft zwischen dieser dunklen Vergangenheit und dem Wunsch, in die Zukunft zu streben, befunden hat, und wie dieser Zwiespalt noch einmal stärker sich in einem jungen Mann zeigt, dessen Mutter selbst von den Tätern verfolgt wurde, der aber gleichzeitig etwa in Frankreich unter der Fremdzuschreibung als "boche" (abwertender Begriff für einen Deutschen) leidet.

Die sexuellen Begehren und Erlebnisse des Jugendlichen und jungen Mannes hingegen waren zwar durchaus authentisch für diese Lebensphase geschildert, haben mich aber beim Lesen nicht so mitgenommen, ebenso wie die Beschreibungen der ersten Kontakte mit dem Theatermilieu. Vielleicht ist mir aber auch beides in dieser Form zu fremd.

Insgesamt ist es ein durchaus solides, lesenswertes Buch, das zum Nachdenken anregt.