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Bücherbummler

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Insgesamt 122 Bewertungen
Bewertung vom 15.08.2025
Garmus, Bonnie

Eine Frage der Chemie (MP3-Download)


sehr gut

Wir befinden uns in den 1960er Jahren. Elizabeth Zott ist Chemikerin, eine äußerst intelligente und sehr begabte. Aber leider auch eine weibliche, und das passt natürlich überhaupt nicht in das Frauenbild ihrer Zeit. Der einzige ihrer Kollegen, der sie ernst nimmt, ist Calvin Evans, potenzieller Nobelpreiskandidat und Außenseiter. Aus dem Respekt füreinander wird schnell Liebe, die beiden werden ein Paar, bleiben aber zum allgemeinen Entsetzen unverheiratet. Doch dann passiert ein Unglück und Elizabeth bleibt als alleinerziehende Mutter und ohne Job zurück. In ihrer ungünstigen Lage sieht sie sich gezwungen, die Moderation einer Kochshow im Fernsehen zu übernehmen. Elizabeth nutzt diese neue Position, um ihre Zuschauerinnen in die Chemie einzuführen und ihnen gleichzeitig zu zeigen, dass ihnen, wenn sie wollen, auch andere Wege offenstehen, als sich um Haushalt und Kinder zu kümmern. Dieser unkonventionelle Ansatz gefällt allerdings längst nicht jedem …

Der Hauptcharme von “Eine Frage der Chemie” von Bonnie Garmisch liegt auf jeden Fall vor allem bei der Hauptperson. Elizabeth Zott ist einfach erfrischend in ihrer trockenen, direkten und unbeeindruckten Art. Auch die anderen Personen sind gut gezeichnet und charakterisiert (wenn vielleicht auch ein wenig zu stereotypisch). Aber jetzt, nachdem es schon ein wenig her ist, dass ich dieses Hörbuch gehört habe, stelle ich fest, dass neben Elizabeth alle anderen Akteure dieser Geschichte ziemlich verblasst sind. Ihr auf ihrem Weg zu folgen ist von Anfang bis Ende … ich würde sagen, ein Vergnügen, wenn das aufgrund der sporadischen Tragik des Geschehens nicht ein wenig unangemessen wäre.

Weshalb ich trotzdem nicht die vollen fünf, sondern nur vier Sterne vergeben habe, hat mehrere Gründe. Einer davon ist, dass mir im Nachhinein die Kalibrierung des Ganzen etwas in Schieflage geraten zu sein scheint. Ich würde jetzt behaupten, ich hätte einen zwar guten Roman, aber dann doch einen, der schon in Richtung heitere Unterhaltungsliteratur tendiert, gelesen. Das ist kein sonderlich passender oder korrekter Nachklang, wenn man ein Buch gelesen hat, in dem sexuelle Belästigung, Frauenfeindlichkeit, häusliche Gewalt, Tod, Trauer, Suizid und mehr thematisiert werden. Ich kann nicht genau sagen, woran es gelegen hat, aber ich fand den Ton für die schwierigen, aber wichtigen Themen nicht genügend getroffen.

Ein weiterer Grund ist, dass mir der Roman insgesamt doch zu gefällig war. Er hinterließ bei mir das Gefühl, dass er sehr konkret dafür geschrieben wurde, der breiten Masse zu gefallen. Das schließt natürlich nicht aus, dass Garmischs Herz voll und ganz in ihrem Werk steckt, und ist darüber hinaus nur reine Spekulation, aber mir kam das Triggern meiner Gefühlspalette schon fast manipuliert vor.

Luise Helm als Sprecherin fand ich eine recht gute Besetzung. Sie hat mich nicht umgehauen, aber das Hörerlebnis überzeugend getragen. Und ich bin bei Sprechern oft sehr mäkelig, bei weiblichen besonders häufig.

Alles in allem ist “Eine Frage der Chemie” ein interessanter Roman, der Spaß macht, gut unterhält, dabei aber auch tiefere Themen behandelt, die auch heute nicht an Aktualität verloren haben. Und das ist natürlich eine Leseempfehlung wert.

Bewertung vom 11.08.2025
Bryla, Kaska

Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich


gut

Die namenlose Ich-Erzählerin/Autorin wohnt, zumindest vorübergehend, in einem Wohnwagen in einer Art Kommune. Gut geht es ihr nicht, sie hatte Corona und kommt nicht so richtig wieder auf die Beine. Wenn sie sich aufraffen kann, arbeitet sie an den aufgezeichneten Gesprächen mit ihrem polnischen Vater, mit dem sie seit dessen Tod innere Dialoge führt. Sie hat ihm versprochen, ein Buch über seine Zeit im Widerstand und seine Inhaftierung im Gulag zu schreiben. Darüber hinaus ist sie recht einsam, denn die anderen 35 Kolonie-Bewohner trauen sich nicht zu nah an sie ran, zu groß ist die Angst vor einer Ansteckung. Ein wenig kommt sie aus ihrer Einsamkeit heraus, als sie die Pflege einer jungen Krähe übernimmt und es dauert nicht lange, bis das Tier der Mittelpunkt ihres Lebens wird.

Ich habe sehr lange nicht viel mit “mein vater, der gulag, die krähe und ich” von Kaśka Bryla anfangen können, habe weder zu den Personen Zugang gefunden, noch verstanden, was Bryla eigentlich erzählen möchte. Zum einen lag das sicher auch an Brylas Stil. Sie geht mehr als sparsam mit Punkten um, was dem Text einen Atemlosigkeit verleiht, die so gar nicht zur Erschöpfung der Ich-Erzählerin passen will und für eine erste Schieflage sorgt.

Zum anderen habe ich aber auch den Umgang mit ihren Sujets nicht begriffen. Da haben wir die schrecklichen Erlebnisse des Vaters im Gulag, die Umstände in den Anfangszeiten der Pandemie, die Homosexualität der Ich-Erzählerin und natürlich die Aufzucht des Rabens mit allen Gefahren einer Vermenschlichung. Viel Stoff, aber meinem Empfinden nach ist sie keines dieser Themen wirklich angegangen, alles läuft nebenher, ohne viel Tiefe und ohne jeden Mehrgewinn.

Deswegen habe ich versucht, die Bedeutung des Ganzen in eventuellen Parallelen zu suchen. Was haben ein Krähenjunges und der Gulag gemein? Was verbindet Homosexualiät und Long-Covid … wirklich fündig wurde ich allerdings nicht.

Bis, ja, bis im letzten Drittel des Buches Bryla selbst einen Hinweis gibt. Ich kann nicht sagen, dass ich ihren Vergleich wirklich überzeugend fand, und ob es ein gutes Zeichen ist, wenn eine Autorin mit dem Zaunpfahl winken muss, bevor man was begreift, aber ab da konnte ich mich ein wenig mit dem Roman aussöhnen und einen Hauch von Interesse entwickeln, der über meine Zuneigung zu Krähen im Allgemeinen hinaus ging.

Man möge mich nicht falsch verstehen, ich sage nicht, dass Bryla eine schlechte Autorin ist. Sie kann schreiben, sie hat schöne Ideen. Nur haben in diesem speziellen Fall das Buch und ich nicht zusammengepasst. Dabei könnte ich mir sogar vorstellen, vielleicht einen anderen ihrer Romane durchaus zu mögen (auch wenn mir durchgehendes Gendern wirklich auf die Nerven geht). Aber in diesem Fall kann es von mir nur eine schwache Leseempfehlung geben.

Bewertung vom 09.08.2025
Mehmood, Tariq

Sing to the Western Wind


sehr gut

“Sing to the western wind
The song it understands…”

70-year-old Saleem Khan wanders the streets of Manchester, a suicide bomb strapped to his body. As he walks towards his death, he reflects on his life. His childhood and youth in Pakistan, where he became a teacher. His emigration to England, where he turned into “just another Paki”, doing underpaid nightshifts. His return to Pakistan, his loves, his losses, all he has seen, all he has done. And all he did not do. Everything that led up to this moment, where he not only wants to end his life, but also take others down with him.

“Sing to the Western Wind” by Tariq Mehmood is not an easy read. To some extent, because of its partly brutal and horrifying plot, of course, but also due to Mehmood's style of writing. Since English isn’t my mother tongue, it is hard for me to judge, but his use of the English language seems to me like what is often referred to as “better than a native speaker”, meaning the use of uncommon words and structures. This might be the reason why I didn't get into a reading flow, but felt more like driving on a very bumpy road. Additionally, I found the dialogues to be somewhat strange and awkward at times. Maybe Mehmood kept very close to a literal translation from Pothowari (if I am not mistaken, and that’s what the people in this part of Pakistan speak … Side note: a glossary would have been nice), or he was just stressing how much they had their wires crossed. Still, at times I had the impression that somebody forgot to check for coherence.

Another thing I noticed is that I didn’t like any of the characters. Not a single one! Well, maybe apart from cousin Habib. I also missed a deeper insight. I had the impression that we didn’t get much from the inner perspectives, something I would have thought vital for the subject at hand. But I really appreciated that Saleem Khan was portrayed as an atheist, and his decision wasn’t just explained away with religious fanaticism. The reader has to ask himself what it would do to him if he had to face the same circumstances. And yet, we only get explanations worth discussing, no excuses, no acquittal.


All in all, “Sing to the Western Wind” wasn’t a novel I couldn’t put down. Quite the opposite, at times I had to persuade myself to keep on reading. But with a bit of distance, I notice now that I value it much more in retrospect than I thought I would. All the issues I had with it fit perfectly. Those feelings of dissatisfaction and crudeness are completely in tune with the incidents. This is a novel that will stay with you for a long time. A story that gives no easy answers, but broadens the mind. A book that should be read.

Bewertung vom 05.08.2025
Hülk, Walburga

Victor Hugo


sehr gut

Victor Hugo, einer der großen Meister der französischen Literatur, soll angeblich heutzutage nicht mehr so viel gelesen werden. Dafür dürfte er vielen trotzdem bekannt sein, und sei es nur durch die sehr großzügig interpretierte Disney-Version des “Glöckners von Notre Dame” oder eine der vielen Adaptionen von “Les Misérables”. Ich selbst habe auch nur diese beiden Romane von ihm gelesen. Dass er, besonders in seiner ersten Zeit, vor allem für seine Theaterstücke bekannt war, von denen einige die Vorlagen für Verdi-Opern geliefert haben, war mir genauso neu, wie dass er auch zeichnen konnte. Über den Privatmenschen Hugo, der viele schwere Schicksalsschläge einstecken musste, wusste ich genauso wenig, wie über den politisch engagierten Aktivisten, der auf Grund seiner Einmischungen viele Jahre im Exil verbracht hat. Grund genug, die Nominierung von Walburga Hülks Buch “Victor Hugo - Jahrhundertmensch” für den Deutschen Sachbuchpreis als Anlass zu nehmen, diese Wissenslücke endlich zu schließen.

Am Anfang hatte ich Probleme, richtig in das Buch hineinzukommen. Hülk nimmt sich viel Zeit, die politische Situation Frankreichs vor und um Hugos Geburt zu skizzieren. Erst hatte ich dafür wenig Verständnis, habe nicht verstanden, warum sie nicht endlich mit Hugos Lebensgeschichte anfängt. Aber schnell wurde mir klar: ein Victor Hugo ohne Politik existiert nicht. Hugo ist mit der Geschichte seiner Zeit verwoben, wie nur wenige Autoren, hat sich engagiert, seine Epoche vielleicht auch geprägt. Hülk hat das verstanden, und womöglich ist es auch das, was ihr Buch von anderen Hugo-Biografien abhebt.

Besonders gut gefallen hat mir die Stimmung, die Hülk schafft. Ich habe mich richtig in die Zeit Hugos zurückversetzt gefühlt, konnte sozusagen die Kutschenräder über das Kopfsteinpflaster rumpeln und die Feder über die Seiten kratzen hören. Diese atmosphärische Dichte hat das Leseerlebnis genau zu eben diesem gemacht, einem Erlebnis. Unterstützt auch von der perfekten Auswahl der Bilder, durch die wir sowohl mit historischen Persönlichkeiten, Hugos Familie, aber auch seinen Häusern und eigenen Zeichnungen vertraut gemacht werden.

Was ein Sachbuch natürlich auch immer besonders auszeichnet, ist sein Stil. Und hier findet Hülk eine sehr gute Mitte zwischen den Polen von Infotainment und trockener Wissenschaft. Ja, man merkt ihr die Akademikerin an, und für mich hätte es durchaus auch noch ein wenig lockerer geschrieben sein können. Aber ihre Schreibweise ist auf jeden Fall so leicht zugänglich, dass es bis zum Ende interessant bleibt und keine Längen oder Durststrecken auftreten. Gleichzeitig werden aber auch genug weitere Informationen geboten, Quellenangaben und Verweise, die Lesern, die sich tiefer mit Hugo auseinandersetzen wollen, genug Material dazu liefern.

Alles in allem fand ich Hülks Buch sehr bereichernd. Sie hat mir den Autor Hugo in aller seiner Vielfältig- und Widersprüchlichkeit um einiges näher gebracht. Und ein Buch geschrieben, dass man immer wieder in die Hand nehmen kann, um neue Details zu entdecken oder altes Wissen zu vertiefen. Eine Leseempfehlung für alle, die sich Victor Hugo selbst oder aber auch der französischen Literatur und Geschichte annähern möchten.

Bewertung vom 03.08.2025
Slocombe, Penelope

Sunbirds


ausgezeichnet

Seit sieben Jahren sucht Anna nach ihrem Sohn Torran, der auf einer Reise durch Indien spurlos verschwunden ist. Seit drei Jahren war sie schon nicht mehr in ihrer Heimat Schottland, wo ihr Mann Richard auf sie wartet. Er ist sich sicher, dass Torran nicht mehr lebt und hat die Hoffnung, seinen Sohn je wieder in die Arme schließen zu können, längst aufgegeben.
Doch dann stößt Richards Nichte Esther auf neue Spuren und fliegt zu Anna, um sie bei der Suche nach Torran zu unterstützen. Gemeinsam machen sich die beiden Frauen, zwischen denen noch einige ungeklärte Angelegenheiten schwelen, auf den Weg in den Himalaja. Eine Reise, die unerwartete Perspektiven öffnen wird.

„Sunbirds“ von Penelope Slocombe hat mich tief beeindruckt. Hier hat eine Autorin schon in ihrem Debüt eine ganz eigene Stimme gefunden, die so komplex und vielschichtig ist, wie ihr Plot und ihre Charaktere. Undramatisch, fast schon subtil im Ton, entfaltet sie vor ihren Lesern eine Geschichte, die durchgehend durchtränkt ist von Möglichkeiten. Eine Vielfältigkeit, die sich auch in den Persönlichkeiten und den Entwicklungen ihrer Figuren spiegelt. Undramatisch und subtil, aber trotzdem mit einer Intensität, die einen die Tiefe des Schmerzes am eigenen Körper fühlen lässt. Eines Schmerzes, der bei allen Beteiligten viele alte Wunden aufreißt.

Was mich weiter fasziniert hat, ist, wie die Atmosphäre dieses Romans, obwohl so spürbar, doch für mich auch immer in der Schwebe blieb, sich nicht richtig greifen ließ. Und wie großartig dieses Gefühl passt, wie gerade diese Haltlosigkeit die Geschehnisse spiegelt. Dass Slocombe aus verschiedenen Perspektiven erzählt und auch immer wieder in die Vergangenheit zurückblickt, verstärkt dieses Gefühl noch und gibt gleichzeitig dem Leser eine Chance, sich seine Puzzleteile zusammenzusuchen und langsam ein Bild zu formen.

Ebenfalls gut gefallen hat mir, einmal ein anderes Bild von Indien vermittelt zu bekommen, als es in den meisten Büchern, die ich bisher gelesen habe, gezeichnet wird. Bewohnern des Landes oder dem indischen Alltag begegnen wir hier kaum. Wir erleben vielmehr ein Land, das von Touristen und Menschen auf der Suche nach sich selbst überrannt wird, eine Art Parallelwelt, die mich ein wenig ernüchtert.

Auf die vielen interessanten Fragen, die der Roman aufwirft, würde ich gerne näher eingehen, werde es aber nicht tun, weil ich das Gefühl habe, dann zu viel zu verraten. Fakt ist, dass es davon viele in diesem Roman gibt und der einem viel Raum lässt, seine eigenen Antworten zu suchen.

Ein sehr gelungenes Debüt, das in einem nachhallt. Ein Roman, der Vorfreude auf weitere Werke dieser Autorin weckt, und den man sich nicht entgehen lassen sollte. Große Leseempfehlung!

Bewertung vom 23.07.2025
Fonthes, Christina

Wohin du auch gehst


gut

Bijoux ist 12, als ihre Mutter sie aus ihrer Heimatstadt Kinshasa zu der ihr völlig unbekannten Tantine Mireille nach London bringt. Das Zusammenleben gestaltet sich schwer, Bijoux findet keinen Zugang zu der streng religiösen und verschlossenen Mireille. Und das wird auch nicht besser, als Bijoux sich verliebt … in eine Frau.

Ich habe mich schwergetan mit „Wohin du auch gehst“ von Christina Fonthes. Das lag zuerst einmal daran, dass ich mir auf Grund des Cover-Textes eine falsche Vorstellung von dem Buch gemacht habe. Ich wollte viel über Zaire bzw. die DR Kongo erfahren, über die Geschichte des Landes und das Leben der Menschen dort. Das alles ist zwar auch Teil des Ganzen, zumal der kulturelle Hintergrund eine wesentliche Rolle für den Plot spielt, aber für meine Erwartungen lag der Fokus zu sehr auf Themen, die mich weniger abgeholt haben, und war somit ein, wenn auch selbstverschuldeter, Dealbreaker.

Damit hätte ich mich vielleicht abfinden können, wenn da nicht Fonthes Stil wäre. Ich habe überhaupt nichts gegen einfache und klare Sprache, im Gegenteil, aber hier wird es jedes Mal, wenn zwei Leute mit Gefühlen für einander sich begegnen, schmerzhaft kitschig. Und die Häufigkeit dieser Passagen nimmt im Laufe des Buches ununterbrochen zu, sodass ich einen auffällig großen Teil meiner Lektüre mit verdrehten Augen und leichten inneren Krämpfen verbracht habe. Dass die meisten Wendungen verblüffend vorhersehbar waren, hat auch nicht wirklich geholfen.

So bleibt mir leider nur zu sagen, dass „Wohin du auch gehst“ nicht mein Buch war. Auch wenn ich mich, da ich mich nach den erwähnten Anfangsschwierigkeiten, zumindest nicht mehr gelangweilt habe, zu sehr knappen drei Sternen durchringen konnte. Zum Glück sind Geschmäcker verschieden, was für den einen ans Unerträgliche grenzt, ist für den anderen von großer Schönheit, und bestimmt werden sich auch für diesen Roman viele begeisterte Stimmen finden. Aber von mir kann es dieses Mal keine Leseempfehlung geben.

Bewertung vom 22.07.2025
Kuhn, Yuko

Onigiri


ausgezeichnet

Aki ist die Tochter einer Japanerin und eines Deutschen, in Deutschland geboren und aufgewachsen. Der Kontakt zu ihren japanischen Verwandten ist seit einigen Jahren eingeschlafen, sodass Aki erst spät vom Tod ihrer Großmutter erfährt. Für Akis Mutter, die mittlerweile an Demenz erkrankt ist, ist diese Neuigkeit immer nur für wenige Minuten greifbar. Darum beschließt Aki, ihre Mutter ein letztes Mal in ihre alte Heimat zu bringen.

„Onigiri“ von Yuko Kuhn war für mich eine Zufallsentdeckung. Wären in der Inhaltsbeschreibung nicht die Wörter „Japan“ und „dement“ gefallen, wäre dieses von mir gar nicht in Erwägung gezogen worden, denn Nahrungsmittel als Titel überzeugen mich überhaupt nicht, und auch Cover-Gestaltung und -Text fand ich weniger ansprechend. Aber wie froh bin ich, mich dann doch darauf eingelassen zu haben, denn dieser Roman ist so viel mehr, als das Cover verspricht und sehr schnell zu einem meiner Lese-Highlights des Jahres geworden.

Das liegt zum einen an Kuhns fast schon nüchternem Stil. Beinahe könnte man sich fragen, wie es zu den so tief einschneidenden Ereignissen passen soll, so emotionsfrei erzählt zu werden. Wenn da nicht dieser Unterton mitschwingen würde, der einem die Fragilität erahnen lässt, die jeden Moment das „Funktionieren“ im Alltag kippen lassen kann. Ich weiß nicht, wie sie das macht, aber sie macht es großartig.

Was Kuhn auch kann, ist viele große Themen überzeugend anzugehen. Ich habe oft das Gefühl, dass sich Autoren zu viel aufladen, ehrgeizig viele Themen einbringen wollen, sich dann aber verzetteln. „Onigiri“ beschäftigt sich mit einer Natürlichkeit mit Krankheit, Ver- und Entwurzelung, kulturellen und sozialen Unterschieden, langsamen und plötzlichen Abschieden, die einfach das Leben spiegelt.

Ein weiteres Plus ist die Echtheit der Personen. Mir ist nicht bekannt, ob Kuhn Autobiografisches in ihren Roman hat einfließen lassen, und wenn ja, wie viel, aber so oder so sind ihre Charaktere zum Greifen nah. Nach der Lektüre hat man ein paar Bekannte mehr, einige davon in Japan.

Lesen ist für mich eine sehr private Sache, nur selten habe ich das Bedürfnis, andere von den Büchern, die mir gut gefallen haben, zu überzeugen. Bei „Onigiri“ ist das anders. Für dieses wunderbare Debüt wünsche ich mir viele Leser, für Yoko Kuhn mindestens eine Nominierung für den nächsten Deutschen Buchpreis und für mich noch weitere Romane von dieser Autorin, die mich genauso begeistern. Eine sehr große Leseempfehlung!

Bewertung vom 15.07.2025
Vuong, Ocean

Der Kaiser der Freude (MP3-Download)


sehr gut

Fünf Jahre ist es her, dass ich Ocean Vuongs Debüt „On Earth We're Briefly Gorgeous“ gelesen habe. Damals begegnete einem dieser Roman überall, doch zu den ganz großen Fans habe ich nicht gehört. Es war eins dieser Bücher, von denen mir schon nach kurzer Zeit nichts mehr im Gedächtnis geblieben ist, aber immerhin habe ich damals solide vier Sterne vergeben. Auf dieser Grundlage hatte ich an Vuongs zweiten Roman „Der Kaiser der Freude“ keine übertriebenen Erwartungen, ging aber schon davon aus, ihn zu mögen.

Und so ganz falsch war diese Annahme auch nicht, Vuong macht vieles richtig. Es hat etwas Anrührendes, wie er seine Figuren am Rand der Gesellschaft sucht, und sie mit so vielen Spleens und Eigenheiten ausstattet, dass sie einfach liebenswert sind. Wie der junge Hai, den seine Mutter beim Medizinstudium wähnt, sich stattdessen nach einem Aufenthalt in einer Entzugsklinik mit suizidalen Gedanken trägt, dann aber von der dementen Immigrantin Grazina aufgenommen und eine Art Pfleger für sie wird, das ist durchaus eine vielversprechende Ausgangslage. Die muntere Schar von Hais Kollegen im Imbiss, in dem er einen Job ergattert hat, kann man fast als ein Vergnügen bezeichnen. Und auch die Wahl der bevorzugten Themen unseres Autors – Armut, Sucht, Suizidgedanken, Krankheit, Homosexualität, Migration – macht seine Erzählung wieder interessant und lesenswert. Zumal er sie seinen Lesern nie unter die Nase reibt, sondern genug Raum für eigene Erkenntnisse und Gedanken lässt.

Und trotzdem habe ich mich für dieses Werk nicht voll und ganz erwärmen können. Was meiner Meinung nach daran liegt, dass vieles einfach zu viel ist. Vuongs Figuren sind alle so originell, dass es schon wieder gewöhnlich, fast langweilig ist, und sie an Individualität verlieren lässt. Dasselbe gilt für die Ereignisse, die immer mehr an Glaubwürdigkeit verlieren und einen Hauch von Melodramatik annehmen. Und Vuongs Sprache – und man merkt, dass er Sprache liebt und aus dem Vollen schöpft – überschreitet für mein Empfinden des Öfteren die Grenzen der Bescheidenheit und wirkt schon fast schwülstig.

Auch Fabian Busch als Sprecher der Hörbuchversion stehe ich ein wenig zwiegespalten gegenüber. Ich mag seine Stimme und vieles hat er gut gemacht, mich auch zum Lachen gebracht. Aber die Interpretationen einiger Charaktere hat so gar nicht mit meinen Vorstellungen übereingestimmt, hat sie dümmer oder lächerlicher klingen lassen, als ich als fair empfunden habe. Was natürlich immer das Risiko bei Hörbüchern ist und ja auch das großartige an Büchern, dass jeder seine eigene Version liest.

Um noch eine letzte Quengelei der privaten Ebene anzubringen: Die Schlachthof-Szene fand ich eine extreme Zumutung. Ich weiß nicht, welcher Lebensweise Vuong in Ernährungsfragen folgt, eine Frage, die vielleicht klären könnte, was er mit diesem sich ewig hinziehendem Grauen erreichen wollte, aber so oder so hätte ich unbedingt drauf verzichten können.

Und trotzdem sind es wieder vier Sterne geworden. Warum? Weil mir, bei allem, was mir zu übertrieben war, die Grundideen und -strukturen gut gefallen haben. Weil Vuong eine Leidenschaft für seine Inhalte ausstrahlt, die durchaus etwas Ansteckendes hat. Weil er vom Leben erzählt, wie es ist, und nicht, wie man es gerne hättet. Und weil dieser Roman für mich die Botschaft enthält, dass zwar jeder von uns in seinen Funktionen ersetzbar ist, aber niemals in seiner Ganzheit als Individuum.

Bewertung vom 10.07.2025
Beka;Poupard;Jutge, Joel

Rugby


sehr gut

Ich habe bisher wenig über Rugby gewusst und hatte auch kaum Interesse daran, das zu ändern. Eine in England erfundene Sportart, aus der später der American Football entstanden ist (der mich ebenso wenig interessiert hat), daher ebenfalls mit einem eiförmigen Ball gespielt wird, aber ohne die ganze Schutzkleidung … das war mein gesammeltes Wissen. Bis ich das unterhaltsame Cover von „Rugby – Grundlagen, Spielidee, Regeln, Rugby weltweit“ von dem Illustratoren- und Texterteam Beka und Poupard sah und dachte „Warum eigentlich nicht?“ …

Was mir gefallen hat

Vor allem der weitgefasste Inhalt. Zwar geben die Autoren merkwürdigerweise gerade der Entstehungsgeschichte des Rugbys nicht sonderlich viel Raum, aber ansonsten fand ich die Themen zum und um das Spiel sehr gut abgedeckt. Dabei war für mich das letzte Kapitel, „Das Rugbyuniversum“ eigentlich der interessanteste Teil.

Auch die Strukturierung des Textes in Fragen und Antworten ist eine clevere Idee. So kann man jederzeit schnell die Antwort auf eventuell brennende Fragen finden und sein Wissen gezielt vertiefen.

Und dann muss ich natürlich die Zeichnungen erwähnen, deren Figuren aus der französischen Comicserie „Les Rugbymen“ (natürlich ebenfalls von Beka und Poupard) stammen. Sie lockern das Buch ungemein auf und machen in ihrem Detailreichtum einfach Spaß, auch wenn ich den Humor nicht immer teilen konnte. Vielleicht braucht es da mehr Hintergrundwissen.

Was mir weniger gefallen hat

Der Aufbau des gesamten Buches hat für mich persönlich nicht den größten Sinn ergeben. Ob man sich jetzt direkt am Anfang die Zeit nehmen muss, die Spielbeteiligten vorzustellen, sei dahingestellt, aber die Spielregeln dann gleich so detailliert zu erläutern, hat mir nicht wirklich geholfen. Da fielen schon direkt am Anfang Fachbegriffe, die mir überhaupt nichts gesagt haben, über die ich aber auch erst viel später aufgeklärt werden sollte, als mein Interesse sich schon leicht frustriert abgewandt hatte. Für echte Anfänger hätte ich es sinniger gefunden, wenn als allererstes die Regeln ganz grob erklärt und dann in die Tiefe gegangen worden wäre.

Auch hätte ich mir mehr Zeichnungen gewünscht, die direkt die Spielsituation wiedergeben. Vieles konnte ich mir alleine von dem Geschriebenen gar nicht visualisieren, und die auch durchaus mal satirischen Illustrationen haben da eher zu mehr Verwirrung geführt.

Fazit

Habe ich durch die Lektüre dieses Buches gelernt, wie Rugby funktioniert? Nein, nicht wirklich. Ich habe mir direkt im Anschluss ein Spiel angeguckt, kann eine Gasse und ein Gedränge erkennen, ebenso wie einen Versuch und die Erhöhung eines ebensolchen. Aber ansonsten waren es für mich weiter nur 30 Männer, die ein Stück gelaufen sind, um sich dann in wilden Haufen aufeinander zu werfen.
Würde ich zu dem Kauf dieses Buches raten? Für Interessierte auf jeden Fall. Für Menschen mit ein paar Vorkenntnissen sollte es ein gutes Lehr- und Nachschlagewerk sein, das dazu noch einfach sympathisch ist. Und auch ich werde dem Rugby-Sport bestimmt eine weitere Chance geben, eventuell auch mal durch „Les Rugbymen“ blättern und darauf hoffen, dass Beka und Poupard auf die Idee kommen, einen Film zu den Rugbyregeln produzieren.

Bewertung vom 15.06.2025
Gundar-Goshen, Ayelet

Ungebetene Gäste


ausgezeichnet

Es ist nur ein kurzer Moment, in dem Naomi nicht auf ihren kleinen Sohn Uri aufpasst, doch er reicht, um zu einer Katastrophe zu führen. Uri stößt einen Hammer vom Balkon, der einen Teenager unten auf der Straße tödlich trifft. In Verdacht gerät aber nicht das israelische Kind, sondern der arabische Handwerker, der bei Naomi tätig war, und sofort als Attentäter verhaftet wird. Und Naomi schweigt …

So die Ausgangssituation in Ayelet Gundar-Goshens neuem Roman „Ungebetene Gäste“, und mehr möchte ich eigentlich auch nicht verraten. Ich hatte von dieser Autorin bisher noch nichts gelesen, aber sie hat mich sofort in ihre Geschichte hineingezogen. Besonders hat mich dabei die Vielschichtigkeit ihres Romans gefesselt, die Tragik, die gleich drei Familien betrifft: Naomis, die des Handwerkers und die des erschlagenen Jungen. Die Komplexität durch den politischen Hintergrund, den seit Ewigkeiten verfestigten Alltagsrassismus, das Misstrauen und die Vorurteile. Dabei wird uns Lesern die Thematik trotz aller Dramatik eher subtil vermittelt, jede Partei ist auf ihre Weise im Recht und im Unrecht, die moralische Antwort wird uns nicht unmittelbar serviert.

Ein kleiner Schwachpunkt war für mich der mittlere Teil. Er ist für sich genommen durchaus auch interessant und lesenswert, aber ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, vom eigentlichen Weg abgekommen zu sein. Ich habe den dunklen Verdacht, dass Gundar-Goshen hier einen neuen Aspekt einbringen und die Positionen verschieben wollte, aber für mich hat der Vergleich – so der denn einer sein sollte – gehinkt.

Aber dieser gefühlte kleine Schönheitsfehler hatte auf meinen Gesamteindruck nur wenig Einfluss. „Ungebetene Gäste“ ist ein Roman, der sich am Ende rund anfühlt, den ich sehr gerne gelesen habe, von einer Autorin, von der ich nun noch mehr lesen möchte. Eine ganz eindeutige Leseempfehlung.