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MarcoL
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Füssen

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Insgesamt 241 Bewertungen
Bewertung vom 17.07.2025
Maraini, Dacia

Tage im August


ausgezeichnet

Der Sommer einer Vierzehnjährigen 1943 – sehr lesenswert und eindrücklich!

Bereits 1962 erschien dieser aufwühlende Klassiker aus der Feder der 1936 geborenen italienischen Autorin Dacia Maraini, der jetzt neu aufgelegt wurde. Sie gilt als Pionierin der feministischen Literatur. Der vorliegende Roman ist wegweisend, teilweise befremdlich im Inhalt – und heute aktueller denn je.
Die Ich-Erzählerin Anna, vierzehn Jahre, und ihr um einige Jahre jüngerer Bruder Giovanni, werden zu Sommerbeginn von ihrem Vater aus dem Nonneninternat in Rom mit dem Motorrad abgeholt. Er bringt sie zu zu seiner neuen Partnerin Nina. Im Haus in Nähe des Strandes wohnen im Obergeschoss sein Arbeitgeber mit dessen Frau und dem achtzehnjährigen Sohn Armando.
Die beiden fühlen sich zunächst unwohl, auch Nina findet sich erst schwer in ihre neue Rolle als Stiefmutter ein, auch wenn es sich nur um eine kurze Zeit im Sommer handelt. Denn kaum beginnt die Schule, werden sie von ihrem Vater wieder im Internat abgeliefert. Er hat seine „Schuldigkeit“ getan. Die Beziehung der Kinder zum Vater ist kühl und distanziert. Auch fragt er sie immer, ob sie ihn lieb haben und sucht damit Bestätigung für sein hilfloses Tun.
Aber die beiden leben sich ein. Giovanni findet im Dorf „Freunde“, mit denen er am Strand meistens abhängt. Das Miteinander der Kinder ist aber sehr rau, beinahe toxisch. Und Anna versucht sich in ihrer aufkeimenden Pubertät zurecht zu finden. Sie beobachtet die Welt, lässt sich treiben. Die Sicht auf „Liebe“ und Sexualität ist befremdlich und verstörend. Die Suche nach ihrer Freiheit pendelt zwischen dem masturbierenden Armando und lüsteren, alten geilen Männern, die glauben, mit Geld alles kaufen zu können.
Es ist das Jahr 1943. Es herrscht der Krieg, Rom wird bombardiert und die Kampfflieger der Alliierten sind oft über dem Meer zu hören.
Kurzum: Anna und Giovanni sind in diesen Wochen am Meer auf sich alleine gestellt. Es kümmert sich niemand so richtig um sie, auch wenn Anna Nina im Haushalt zur Hand geht, bleibt ihre Freizeit ein Loch voller Fragen um das Leben.
Der Krieg hängt wie eine dunkle Wolke über den Ferien. Die Eltern tun ihn mit einer Handbewegung ab, also könnten sie diese Wolke beiseite schieben, um die Sonne wieder durchzulassen. Es wird getrunken, geraucht und Karten gespielt, als wäre alles eitle Wonne. Erst als Armando den Stellungsbefehl bekommt, zerplatzt die Seifenblase einer schöngeredeten Welt.
Es ist kein leichter Roman, oder mal schnell eine Sommerlektüre. Ganz im Gegenteil. Die Tage im August könnten leicht und unbeschwerlich, voller Sonnenschein sein. Aber Regen und Winter holen ein nicht vorhandenes Idyll ein. Die Autorin drückt der Gesellschaft ihren Stempel auf, kritisiert mit feiner Feder zwischen den Zeilen das italienische Kleinbürgertum. Es ist nicht zwingend ein Coming-of-Age Roman, sondern eine sehr gezielte Kritik am Kleingeist und am Faschismus.
Ein Buch, das Eindruck hinterlässt, und auch manchmal die Nackenmuskeln ob des Kopfschüttelns während der Lektüre strapaziert. Keine leichte Kost – aber, oder eigentlich gerade deswegen, sehr lesenswert. Ganz große Leseempfehlung .
Auch das Vorwort der Autorin zu dieser neuen Ausgabe möchte ich als sehr lesenswert hervorheben.

Bewertung vom 13.07.2025
Steiner, Markus

Odyssee nach Westafrika


ausgezeichnet

Viel mehr als ein Reisebericht! Spannend! Fesselnd! Informativ! Leseempfehlung!

Wow! Wenn so unser damaliger Geschichte- und Geographieunterricht verfasst gewesen wäre, er hätte wohl alle Mitschüler*innen begeistert. Der Autor erzählt auf unglaublich fesselnde Weise über die westafrikanischen Länder Marokko, Westsahara (als Teil Marokkos), Mauretanien (äußerst interessant), Senegal und Guinea-Bissau. Es ist weitaus mehr als ein spannendes Reiseabenteuer. Es werden uns tiefe Einblicke in Land und Leute geboten, die momentane Gesellschaftslage, und natürlich auch in die Geschichte und Geopolitik – alles wunderbar in die Erlebnisse eingepackt.
Der Ich-Erzähler und Mara lernten sich in Lissabon kennen und lieben. Es entstand eine innige Beziehung, aber Mara musste fort. Zurück in das Land ihrer Wurzeln – nach Guinea-Bissau, um nach dem Tod ihrer Großeltern deren Austernlokal zu übernehmen. Der Autor beschließt, in Lissabon zurück zu bleiben. Er ist für ein sesshaftes Leben noch nicht bereit. Aber der Ruf des Herzens ist stärker, und so macht er sich auf die Reise zu Mara; - über den Landweg entlang der afrikanischen Westküste.
Seine erste Station ist Tanger in Marokko. Von dort versucht er mit Bussen nach Süden zu gelangen – erste Hürden stehen im Weg. Wer schon mal in dieser Stadt war, wird einiges wiederfinden, sich bald in den Zeilen heimisch fühlen und den Flair der Stadt aufsaugen.
S. 46: „ […] und blicke auf den tiefblauen Atlantik im Westen und das silberglänzende Mittelmeer im Osten, suche im gleißenden Morgenlicht das andere Ufer. Hier endet Afrika, dort beginnt Europa. So nah, denke ich, und beginne zu begreifen, das Träumen, das Verlangen.“
Der Autor trifft auf Einheimische, spricht mit ihnen, erzählt von den Begegnungen. Gekonnt bringt er uns um diese Treffen auf erzählerische Weise die Probleme, Ängste, Nöte, Sorgen aber auch Hoffnungen der Bevölkerung näher (unabhängig vom jeweiligen Ort seiner Reise).
Der Weg führt nach Süden – selten wie geplant, selten ohne Stolpersteine. Und die Zeit drängt. Guinea-Bissau droht auf Grund von Wahlen, in wenigen Tagen die Grenzen zu schließen …
S. 144: „ Die EU […] hat in der Sahara eine unsichtbare Todeszone geschaffen. Die Menschen sollen hier scheitern. Denn weil die EU die Sahara-Regierungen zwang, die Unterbringung und den Transport von Migranten zu verbieten und mit Haft zu bestrafen, nehmen Schmuggler immer gefährliche Routen ...“
Besonders fesselnd fand ich die Erlebnisse und Beschreibungen von Mauretanien, mit den teils äußerst frauenfeindlichen Praktiken der Tuareg. Und dann natürlich das Eintauchen in die Tropenwelt des Reiseziels Guinea-Bissau.
Spannend! Fesselnd! Informativ! Ganz große Leseempfehlung für dieses Buch.

Bewertung vom 05.07.2025
Karlweis, Marta

Die Insel der Diana


ausgezeichnet

Stimmungsvolles, dramaturgisches Bild über das Fin-de-Siècle, in welchem der Geldadel gnadenlos regierte.

Das vergessene Buch – darum kümmert sich dieser Verlag mit vollstem Engagement, und brachte den erstmals 1919 erschienenen, und in Vergessenheit geratenen Roman, neu heraus.
Karlweis beschreibt darin die dekadente Lebensweise zur Jahrhundertwende, wozu der Geldadel alles fähig war und anrichten konnte. Dem gegenüber steht die arme Bevölkerung, die nur „geduldete“ Erfüllungshilfe“ für die Reichen ist. Karlweis versucht zu polarisieren zwischen den macht-strotzenden Männern, denen jedes Mittel zum Erfolg recht ist und den Frauen, die zwar ein selbstbestimmtes Leben führen möchten, aber immer in der Abhängigkeit dieser Männer gefangen bleiben.
Diana wird als Junge erzogen. Ihr Vormund hatte von Anfang Pläne für sie und benutzte sie dazu schamlos. Sie soll später dessen Sohn Stephan Lantin ehelichen.
S. 11: „Sie wusste nichts von ihrem Geschlecht. Mit dreizehn Jahren weinte sie sehr, weil ihr Wunsch, Marineoffizier zu werden, Widerspruch und Gelächter hervorrief.“
Die Ehe scheiterte sehr bald, denn Stephan unterhielt eine Affäre vor und während der Ehe mit seiner Stiefschwester Isabella. Sie war damals gleichzeitig einer der besten Freundinnen Dianas. Isabella taucht während des Romans immer wieder an der Seite von Börsenspekulanten auf und versucht ihren Teil des Kuchens zu erhaschen. Stephan selbst macht eine beachtliche Karriere vom Diplomaten in Südamerika und China zu einen der reichsten Männern an der Börse. Er kennt keine Skrupel, und nützt seinen Reichtum schamlos aus, um ihm und seiner Macht verfallene junge Frauen in Elend und Tod zu stürzen.
Diana selbst flüchtet aus der Ehe auf eine kroatische Insel, die ihrem Vater gehörte. Sie schafft es mit Ehrgeiz, Fleiß und den nötigen Investoren (hier schließt sich letztendlich der Kreis), die Insel zu einem Paradies umzugestalten um wiederum reiche Gäste anzulocken. Trockenlegungen der Sümpfe, sowie die Ausrottung der Malaria sind die größten Aufgaben, die es zu bewältigen gilt. Diana ist gutmütig und hilfsbereit, versucht den Fischern und Arbeitern auf der Insel angenehme Wohnverhältnisse zu schaffen.
Der Esprit des Fin-de-Siècle treibt die Leserschaft durch die Seiten, immer vor Auge haltend die Suche nach dem eigenen Platz im großen Rad der Macht versus der Abhängigkeit von den Mächtigen. Diana scheint mehr als einmal an der Welt des Adels zu zerbrechen, sieht darin eine gewisse Sinnlosigkeit und muss feststellen, wie sehr die Frauen nur Marionetten in der Welt der Männer sind. Letztendlich unterscheidet Karlweis in den Geschlechtern, wie sich das Leiden abspielt.
Es ist ein sehr intensiver Roman, dicht gepackt mit den Erlebnissen und Emotionen der Protagonist*innen. Es bedarf der Ruhe und Muse für diese Lektüre, nicht zuletzt auch wegen des ausschweifenden, für uns antiquierten und manchmal umständlich anmutenden Sprachstils, der vor hundert Jahren natürlich seine volle Berechtigung hatte.
Ausführliche Anmerkungen über die Autorin und das Werk von Johann Sonnleitner runden das Buch, welches auch große optische und haptische Vorzüge aufweist, ab. Daher: Große Leseempfehlung für diesen Debütroman von Marta Karlweis.

Bewertung vom 28.06.2025
Zijian, Chi

Das letzte Viertel des Mondes


ausgezeichnet

Bildgewaltiges Familienepos über den nordchinesischen Nomadenstamm der Ewenken

Die preisgekrönte chinesische Autorin hat mit diesem Roman ein wahres Familienepos geschaffen. Selbst im nördlichsten Dorf Chinas an der Grenze zu Russland geboren, nimmt sie uns mit auf eine beinahe hundertjährige Reise in das Reich der Ewenken – ein Nomadenvolk, das bis zu Letzt dem sesshaften Leben abtrotzt und seine Freiheit nicht aufgibt. Dennoch ist diese Lebensweise mehr oder weniger zum Sterben verurteilt, zu sehr mischt sich der Staat ein, zu sehr werden die Rechte und Freiheiten durch die Politik eingeschränkt. Und was Gesetze und Abholzung nicht schaffen, erledigt der Klimawandel, der vor keinem Fleckchen Erde halt macht.
Die namenlose Ich-Erzählerin, geboren 1912, beginnt mit ihren ältesten Erinnerungen an ihre Kindheit und führt uns durch das Leben des Nomadenstamms. Sie leben von der Rentierzucht, ziehen durch die Wälder und Berge des weiten nördlichen Landstriches und leben von dem, was die Natur ihnen bietet. Natur und Ewenken sind gleichsam nicht verschwenderisch. Das Leben ist karg, oftmals mühsam, durchzogen von den verschiedensten zwischenmenschlichen Querelen, erfüllte und verschmähte Liebschaften, von Neid und Zorn, von Geburt und Tod, und von Empathie und Nächstenliebe. Hilfe bekommen all jene, die sie benötigen. Besonders die Schaman*innen arbeiten erschreckend uneigennützig, und geben, was zu geben ist um das Leben eines Menschen zu retten (manchmal sehr erschreckend!).
Im Laufe der Zeit lernen wir ihre Familie und ihren zugehörigen Urireng (ihre Gruppe, vergleichbar mit einem wandernden Dorf) kennen, werden in die Sitten, Bräuche und komplette Lebensweise eingeführt, lernen zu verstehen, wie sehr dieses Volk in Verbundenheit mit der Natur lebt. Nur selten führen sie Kontakte zur Außenwelt, und dann auch nur zu fahrenden Händlern, um Dinge wie Salz, Munition oder sonstige unabdingbare Gegenstände gegen Felle oder Trockenfleisch zu tauschen.
Aber der Mensch rückt näher. Im Nordwesten ist es der Russe als Feind, von der anderen Seite rückt der Japaner an und versucht, alle zu unterwerfen.
Und schließlich kommt die maoistische Bürokratie an, zuletzt die Verlockungen der Sesshaftigkeit samt Klimawandel.
Es ist ein sehr intensives Buch, das mich einige Zeit gekostet hat zu lesen – keine Sekunde habe ich dabei bereut, ganz im Gegenteil. All die vielen kleinen Episoden und zwischenmenschlichen Geschichten, von denen einige sich tatsächlich so oder so ähnlich abgespielt haben und der Autorin zugetragen wurden, tragen dazu bei, ein sehr umfangreiches und detailgetreues Bild dieser Volksgruppe zu bekommen.
Meinen allergrößten Respekt geht an die Übersetzerin Karin Betz. Allein der Eröffnungssatz erweckt eine Erwartungshaltung an den Roman, die voll und ganz erfüllt wird.
S. 7: „Ich bin eine langjährige Vertraute des Regens und des Schnees. Neunzig Jahre bin ich alt. Regen und Schnee haben mich alt werden sehen, und auch ich habe sie alt werden sehen. Der Sommerregen wird heutzutage immer seltener und auch der Winterschnee Jahr um Jahr dürftiger. Sie sind wie die abgewetzte, verschlissene Rentierfellmatte unter mir, deren einst dichtes Haar wie vom Wind fortgetragen scheint.“

Ganz große Leseempfehlung für diese Hommage an das Nomadenvolk der Ewenken.

Bewertung vom 25.06.2025
Fremlin, Celia

Onkel Paul


ausgezeichnet

Geniale Charaktere, ein chaotischer Urlaub und die Schatten der Vergangenheit. Superber beinahe-Krimi

Onkel Paul! Onkel Paul? Immer wieder Onkel Paul. Er zieht die Handlung durch diesen äußerst unterhaltsam wie spannenden Roman, obwohl er physisch gar nicht vorkommt. Er bleibt ein Geist, ein Mythos. Er ist ein wegen versuchten Mordes Verurteilter, dessen fünfzehnjährige Haftzeit gerade abläuft und Meg samt ihren Schwestern als den Urlaub Schreckgespinst vergällt.
Dabei könnte es so schön sein. Megs Halbschwester Mildred (die Ex-Frau von Onkel Paul) leidet an zarter (Untertreibung) Hysterie und Überheblichkeit, nur das Beste ist gut genug für sie, alle anderen Menschen in ihrem Umfeld nur ihre Lakaien. Aber sie hat Angst und ruft Meg zur Hilfe in einen beschaulichen Badeort an der See. Dort steht auch ein ziemlich abgeschiedenes Cottage, in dem vor besagter Zeit alles geschah, und Mildred, die es sich zunächst nicht nehmen lässt, dort alleine zu residieren und in der Nacht glaubt, Schritte zu vernehmen, benötigt im ausgebuchten Ferienort dann doch ein Hotelzimmer. Meg organisiert. Meg kommt in den Ort, zieht in den Ferienwohnwagen ihrer Schwester Isabel, zusammen mit deren Kindern. Das Chaos ist vorprogrammiert, denn Isabel ist leichtgläubig, eingeschüchtert und möchte es allen und jedem nur recht machen. Auch sie hat Angst, angestachelt durch Mildred.
Einzig Meg scheint Herrin der Lage zu sein, denn jedes ungeklärte Phänomen lässt sich schnell, einfach und logisch aufklären. Aber Mildred (man könnte sie manchmal hinter den Mond und noch weiter schießen) schafft es immer wieder für Unruhe. Als dann noch Megs Freund Freddy, eine etwas dubiose Gestalt, und Isabels undurchsichtiger Ehemann auftauchen und nach belieben verschwinden, kommt keinesfalls Ruhe in die illustre Gesellschaft. Ganz im Gegenteil. Könnte vielleicht einer der beiden Onkel Paul sein? Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit, wer weiß da schon, wie sich ein Mann verändert …
Tja, und immer wieder das Cottage – knappe drei Meilen vom Ort entfernt, dunkel, kein Strom, ein überwucherter Vorgarten … ein Brunnenschacht … viel Regen … perfekt für …

Der Roman entartet zwar zeitweise wie ein hektischer Klamauk aus Hollywoods Glanzzeiten, aber die Anspannung, das was-wäre-wenn eines möglichen drohenden Unheils begleitet einen von Anfang bis zum Ende.
Die Szenen sind sehr gekonnt gesetzt, man bleibt als Leser immer einen kleinen Informationsschritt im Rückstand. Die Charakterbildung der Protagonist*innen ist ohne Frage mehr als genial gelungen.
Das ist ganz große Erzählkunst und man kann sich während der Lektüre ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen der Autorin sehr gut vorstellen.
Sehr gerne gelesen, und daher gibt es eine riesengroße Leseempfehlung für diesen wunderbaren Krimi der etwas anderen Art.

Bewertung vom 21.06.2025
Murasov, Andrej

Der Himmel ist so laut


ausgezeichnet

Tiefgründige, wunderbar erzählte Coming-of-Age, Coming-to-life Geschichte.

Wie treffend kann ein Titel sein? - Hier passt es zu 1000 Prozent. Der Himmel so laut ist eine tiefgehende coming-of-age und coming-to-life Geschichte über die Liebe, tiefe Freundschaften mit all ihren hellsten und dunkelsten Facetten, über Identität und Verlust. Es ist hauptsächlich der Verlust eines jungen Menschen, um den sich dieser Roman dreht.
Nejla und Arthur haben einander gefunden, haben ihre Liebe zueinander gerade erst entdeckt, als Arthur in Sarajevo, zehn Jahre nach dem Krieg, von einem Auto erfasst wird.
Es ist nun schon das zweite Mal, dass Nejla in dieser Stadt einen geliebten Menschen verliert. Ihre Freunde Dilek und Bobby, selbst ein Paar, brechen ihren Urlaub sofort ab, und fahren mit einem klapprigen Transporter zusammen mit dem Rapper Kazim nach Bosnien.
Alle fünf Personen stammen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und Ethnien. Alle haben mit ihrer Umwelt, ihrem Leben zu kämpfen, müssen sich behaupten in einer Welt voller Gewalt und Rassismus.
Aus den verschiedenen Perspektiven der handelnden Personen erzählt uns der Autor davon. Mal einfühlsam, mal mit der vollen realen Brutalität. Es gibt Familienbande, die es gilt zu halten, wie bei Kazim, ein Jeside. Es gibt aber auch das Gegenteil davon. Sie alle haben ihr spezielles Leben, und ihre Art, damit umzugehen.
Um mit ihrer Trauer fertig zu werden, versucht Nejla, die Musik-Arbeiten von Arthur fortzusetzen, bzw. zu beenden. Mit tatkräftiger Unterstützung von Arthurs Rap-Partner Kazim. Doch was für sie als Therapie gilt, mag für andere als Einmischung oder Selbstbehauptung gelten. Die Welt prasselt auf alle nieder, manchmal ist es nur Regen, manchmal sind es dicke Steine. Und was zählt am Schluss? Der eigene sprichwörtlich nähere Rock oder ist das Band einer Freundschaft doch dicker? - Lest es und findet es heraus.
Die Freunde sind wie Passagiere auf einem Karussell, das sich mal langsam, aber meistens schnell um die eigene Achse drehend, die Sitze nach außen drückt. Sie greifen mit ihren Händen nacheinander, versuchen den Halt zu finden, den sie tagtäglich glauben zu verlieren.
Der Autor hat es hier mit viel Insider-Wissen und Recherche geschafft, verschiedene ethnische und kulturelle Grundsätze mit großem Fingerspitzengefühl in das Buch einfließen zu lassen, sei es die Religion der Jesiden oder auch die tiefen Weisheiten des Schamanismus'.

Es ist ein Roman, der intensive Eindrücke hinterlässt, und den ich sehr gerne gelesen habe. Es gibt einen Vorgängerroman der Protagonist*innen mit dem Titel „Alles Gold“, den man, so wie ich, für dieses Werk nicht zwingend kennen muss, aber ganz gewiss lesen sollte.
Eine Playlist der Songs von Arthur und Kazim rundet dieses Buch für alle Rap-Begeisterte perfekt ab.
Ganz große Leseempfehlung!

Bewertung vom 16.06.2025
Schulte, Birgitta M.

Ruhrgemüse, polnisch


ausgezeichnet

Bewegende Zeitgeschichte über das Erstarken der sozialistischen Arbeitnehmerbewegungen, eingepackt in einen fesselnden Familienroman

Adam und Zuzanna emigrieren Ende des neunzehnten Jahrhunderts von Westpreussen nach Dortmund. Es gibt dort viel Arbeit, die Zechen und metallverarbeitende Betriebe laufen auf Hochtouren. Sie sprechen polnisch, obwohl sie sich ja eigentlich auch als Deutsche sehen. Dennoch haben sie keinen leichten Stand, und werden trotz Namensänderung und bester Eingliederung immer Menschen zweiter Klasse bleiben. Adam ist ein guter Meister, doch ein unverschuldeter Arbeitsunfall, der ihn ein Auge kostet, ändert alles. Sein Posten ist begehrt, und Adam gerät in einen Kampf, den er nicht will und dennoch ausfechten muss. Er ist ein guter (für manche zu gut), gerechter Mann, steht zu seinen Schützlingen und sieht manchmal weg oder zeigt Verständnis, und das wird ihm zur Last gelegt. Er engagiert sich für die Arbeitnehmerinteressen, auch nachdem er seinen Job endgültig verloren hat. Im Spar- und Bauverein sieht er seine Aufgaben, genauso wie in der Gewerkschaft. Er schafft vieles, darunter auch eine größere Wohnung für die ständig wachsende Familie. Zuzanna tut was sie kann, damit genug Geld zum Leben hereinkommt. Als Näherin ist sie talentiert und bekommt zum Glück aller bei einer guten Familie, sie sehr sozial eingestellt ist, eine Beschäftigung.
Der Roman ist nicht nur eine Familiengeschichte, er erzählt uns auch vieles über das Erstarken der sozialen Bewegungen in jenen Zeiten (ca. 1890-1932). Es wurden damals schon viele Grundlagen für bessere Arbeitsbedingungen geschaffen, wie zum Beispiel der Acht-Stunden Tag aus dem Jahr 1918.
Auch geht es viel um die eigene Identität und das Andenken an die Herkunft. So bemühen sich Adam und Zuzanna sehr, sich zu integrieren. Sie wollen sich zwischen gelebtem Katholizismus und ihren polnisch-preussischen Wurzeln als Deutsche sehen und nennen, doch das Leben ist und bleibt ungerecht, der Rassismus scheint in den meisten Fällen in den Genen verankert zu sein. Und das macht diesen Roman aktueller denn je.
Sehr gerne gelesen und nebenbei viel dabei gelernt. Große Leseempfehlung für dieses schön aufgearbeitete Stück Zeitgeschichte.

Bewertung vom 04.06.2025
Lazar, Maria

Viermal ICH


ausgezeichnet

Eine intensive, feministische Auseinandersetzung anhand von vier weiblichen Charakteren in den 1920er Jahren

Der in den Jahren 1928/29 verfasste, bislang unveröffentlichte Roman der Autorin wurde 2023 im Verlag „Das vergessene Buch“ erstmals anhand der Original-Typografie, und nun in ungeänderter Form als Taschenbuch im btb-Verlag veröffentlicht.
Die Ich-Erzählerin berichtet von vier Frauen, denen die Unterschiede zueinander stärker verbindet, als sie wahrhaben. Die Erzählerin selbst berichtet natürlich von sich, beginnt damit, wie sie als zwölfjährige biologisch zur Frau wurde – nicht direkt, aber in Andeutungen. Sie ist sehr sensitiv, versucht sich in ihrer eigenen Welt zurechtzufinden, doch der Blick auf ihre Freundinnen nagt an ihrer Zellwand.
Grete, eine behütete Tochter eines Professors mit hellem, durchscheinenden Teint, verletzbar. Anette ist sinnlich, hübsch, erscheint freizügig, um nicht zu sagen frech. Und Ulla wird als unattraktiv beschrieben, dafür als äußerst klug.
Es sind verschiedenste Eigenschaften von vier Frauen, die sich in einer männerdominierten Welt behaupten wollen und müssen. Die Erzählerin sieht mit lachendem und weinenden Augen auf ihre drei Freundinnen, die sich durch die Zwanzigerjahre kämpfen. Vieles möchte sie haben, was die anderen haben, manches nicht. Sie schreibt es auf, oftmals in Rückblicken, manchmal forsch, manchmal peinlich berührt von ihrer eigenen Gedankenwelt. Sensitiv und mauernd. Beides steckt in ihr. Und vor allem eines: der Drang, der ungeheuerliche Druck zur Selbstverwirklichung. Doch die Schranken der Gesellschaft sind stark. Die Themen wie Liebschaften, Untreue, Eifersucht, oder Schwangerschaftsabbrüche beherrschen den Roman. Die Gedanken wild und sprunghaft – und genau so präsentiert die Autorin die Welt der Erzählerin. Wenn sie sich schon selbst nicht im klaren ist, was die Welt für eine heranwachsende Frau nach dem Krieg bereithält, wie kann, ja wie dürfen es dann die Leser*innen wissen. Und noch dazu mit dem Hintergrund der politischen Wirren in jenen Jahren und das Erstarken der Nationalsozialisten.
Die erste Hälfte des Buches war tatsächlich ein wenig wirr. Man hüpft von einem Gedankensplitter zum nächsten wie ein flatternder Schmetterling von einer Blüte zur anderen. Erst in der zweiten Hälfte verdichtet sich die Erzählweise mehr und mehr zu einer Gesellschaftsstudie.
Aus einer inneren Zerrissenheit manifestiert sich mehr und mehr die Gewissheit, dem Patriarchat ausgeliefert zu sein.
Es ist eine Suche nach dem eigenen Ich in der damaligen Zeit. Die Versuche der Selbstbestimmung gehen ihre Wege, der Titel könnte mit den vier Protagonistinnen nicht treffender sein.
Auch die wiederkehrenden Szenen mit verschiedenen Spiegeln, in denen sich die Erzählerin sieht und das Abbild als „Fremde“ betitelt, begleiten das Buch. Meist treten sie ein, wenn unliebsame Begebenheiten auftauchen und können tiefenpsychologisch erklärt werden. Das Unbewusste frisst sich irgendwann durch, von Innen nach Außen. Vom Denken ins Handeln.
Es ist ein sehr intensives Buch, für das man sich ruhige Minuten gönnen soll, um es in der ganzen Tiefe mit Genuss erfassen zu können. Sehr gerne gebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 02.06.2025
Liassine, Yasmina

Utopia Algeria


ausgezeichnet

Ein Algerien für alle? Sehr kluge Gedanken der Autorin! Leseempfehlung!

Ich habe schon so einige Romane über das Land Algerien gelesen. Über Bürgerkriege, Polizeiarbeit, Buchhandlungen, Albert Camus und vor allem über die Geschichte der Kolonialisierung durch Frankreich und dem Widerstand der zur Unabhängigkeit führte, mit all den Einmischungen der ehemaligen Kolonialherren.
Auch dieser Roman beschäftigt sich mit diesen Dingen, aber nicht vordergründig. Denn die politischen Entwicklungen sind natürlich Fakten, an denen man nicht vorbeikommt. Hier dreht es sich aber viel mehr darum, was es heißt, algerisch zu sein (oder auch nicht). Das Wort „Volksseele“ (ich mag es nicht, finde es auch nicht gut) drängt sich mir hier auf, weil mir nichts besseres einfällt.
S. 27: „Wir Algerier, wer auch immer wir sind, wir wissen immerhin, dass, egal wie unvollkommen, wie schrecklich es sein mag, wir wissen, dass ein lebendiges Algerien existiert, das den Ausgangspunkt der Hoffnungen für uns oder für die darauffolgenden Generationen bildet. […] Aber sie, die Armen, was können sie tun? Ihr Sancta Algeria ist defintiv tot und wird niemals wieder auferstehen können ...“
Algerien existiert schon lange, die verschiedensten Kulturen haben sich angesiedelt. Griechen, Römer, Christen und Muslime. Ein Mix, aus dem es wahrlich nicht einfach wird, seine Wurzeln und Identitäten zu finden.
Die Autorin ist Tochter einer Französin und eines Algeriers. Sie arbeitet die eigene Familiengeschichte auf, erinnert sich an ihre Kindheit, an den Duft der Orangen und Kräutern. Doch was ist geblieben, rückblickend? Wem gehört(e) das Land. Und kann es wieder zu dem werden, was es einst war? Eine (naive) Heimat aus beglückten Kindheitstagen? Zu sehr beutelt die Geschichte das Land, und somit auch die Menschen, die dort Leben, und auch diejenigen, die es verlassen mussten, um in Frankreich eine Existenz aufzubauen, und mit einem lachenden und weinenden Auge über das Mittelmeer blicken.
Die Unabhängigkeit von 1962 barg viele Hoffnungen, vor allem der Wunsch nach einem Ende der Gewalt.
S. 54: „Viele konnten es sich nicht vorstellen, woanders zu leben als dort. Maria, die Hausmeister […], Albert, der Konditor, der gerade seinen Laden gekauft hatte und lachend sagte, die Leute würden nicht aufhören, Kuchen zu essen, ganz zu schweigen von all den anderen, den Intellektuellen, den Künstlern, deren Enthusiasmus nicht nachließ …
Die Hoffnung auf ein Algerien, in dem Christen, Juden und Muslime, Reiche und Arme, nachkommen von Maltesern, Spaniern und Elsässern zusammenleben könnten, war noch nicht gestorben.“
Sancta Algeria … Ein Wunsch, ein Traum … etwas, das nicht existiert, es keine reinen Algerier noch ein reines Algerien gibt. Auch nicht mit Gewalt, auch wenn es dazu natürlich nationalistische und rassistische Bestrebungen (Menschen eben, besonders die FLN) gab.
Wer hat tatsächlich Platz in diesem Land? Ist es legitim, sich als Algerier*in bezeichnen zu dürfen, wenn man den französischen und algerischen Pass besitzt? Die Autorin versucht es zu ergründen, und nimmt uns mit ihrer Familie mit auf diese Reise. Wie alles zusammenhängt, und zu welchen Schlüssen die Autorin kommt – bitte selber lesen. Es sind sehr kluge Gedanken!
Spannend und sehr interessant, wunderbar übersetzt , gebe ich gerne für diesen Roman eine Leseempfehlung , denn der Blick über den eigenen Tellerrand lohnt hier einmal mehr.

Bewertung vom 28.05.2025
Rosenblum, Emma

Very Bad Company


ausgezeichnet

Unterhaltsam und amüsant. Ganz feines Lesevergnügen!

John Shiller ist CEO seines IT-Tech StartUps Aurora. Die Zahlen sind mehr als vielversprechend. Innerhalb weniger Jahre hat er seine Firma zu einem großen Namen in der Branche gemacht, beinahe eine Milliarde Dollar wert. Es gibt Interessenten, und somit einen gewaltigen Geldfluss für die Führungsriege - allesamt Chief...dies und Chief...das; mit John zehn Personen, die sich auf Reichtum freuen können.
Doch zuvor müssen sich die neun Untergebenen noch auf ein Retreat im luxuriösen Miami einlassen. Zur Förderung des Betriebsklimas - gemeinsame Essen, Partys und natürlich dürfen die viel gepriesenen Sportveranstaltungen zur Teamstärkung nicht fehlen. Mitten im Hochsommer im brütend heißen Florida. Denn der CEO will es so, und seine personelle Assistentin, die alles für ihn tun würde, blüht darin richtig auf, den reichen Angestellten den eng gepackten Tagesablauf zu präsentieren.
Und wie es mit so einem Häuflein Menschen nun mal ist; die einen können miteinander, die anderen weniger. Heimliches Bettgehüpfe auf der einen Seite, Intrigen und Bosheiten auf der anderen. Und als dann noch eine Mitarbeiterin verschwindet und später tot aufgefunden wird, geht das interne Getuschel um Posten und Firmenanteile so richtig los. Jede*r weiß was, jede*r hat ein besonderes Geheimnis. Spannend und amüsant!
Die elf handelnden Personen werden vor uns abwechselnd in den Kapiteln aufgeblättert. Das Charaktersetting ist sehr genial – privates und berufliches wird nach und nach preis gegeben, genau so wie deren Schwächen und Stärken. Im Laufe der 360 Seiten glaubt man Jede und Jeden gut zu kennen. Das besondere daran: es bilden sich dabei keine Sympathieträger oder Antipathiepersonen heraus. Es gibt niemanden, den man während des Lesens vergöttert oder hinter den Mond schießen möchte. Es haltet sich in Summe alles die Waage. Peu à peu wird man an die genaueren Umstände des Todesfalles herangeführt, mit all den kleinen Intrigen.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen klug aufgebauten und sehr unterhaltsamen Roman aus der High-Society-Tech-Szene.