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Adelebooks
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Bremen

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Insgesamt 154 Bewertungen
Bewertung vom 01.10.2025
Gerhardt, Sven;Dulleck, Nina

Der OktoBus auf großer Fahrt


ausgezeichnet

Kurzweiliges Lese- und Bilderbucherlebnis: liebevoll erzählt und wundervoll gezeichnet, wie ein Regenbogen

Was für ein tolles Kinderbuch! Der Oktobus unternimmt eine Reise, sein Fahrer Otto der Oktopus, ebenso wie die Tiere an jeder Haltestelle sind in freudiger Erwartung auf ihr Ziel. Doch dieses Ziel rückt beim Lesen angenehm in den Hintergrund, denn das Entdecken der Passagiere, ihre Zeichnung und Charakterisierungen sind bereits ein Erlebnis für sich, das jede Seite zu einem Vergnügen macht. Egal ob Otto selbst oder Gerlinde die Giraffe, Carlo das Chamäleon, Krokodil Friedhelm, Ingo Flamingo, Faultier Fanni oder Dackel Rudi, jedes Tier wird in seinen Besonderheiten liebevoll beschrieben. So wird die Geschichte zu einem wundervollen Symbol für den Wert von Vielfalt. Der geschickt eingebundene Hinweis auf die unpünktliche Bahn, bringt darüber hinaus sicher auch vorlesende Eltern zum Schmunzeln.

Sowohl die Geschichte als auch die wundervollen Illustrationen überzeugen auf ganzer Linie. Hier fallen nicht nur die liebevoll gezeichneten Tiere auf, sondern auch die Farbwahl ist von allen Farben des Regenbogens bestimmt und sorgfältig aufeinander abgestimmt, sodass jede Seite für sich ein kleines Erlebnis und Augenschmaus ist. Das Buch lädt so neben dem Lesen auch zum Entdecken ein, fast wie ein Wimmelbild.

Der Oktobus auf großer Fahrt ist ein ebenso liebevoll erzähltes, wie wundervoll gezeichnetes Buch zum Vorlesen und Entdecken!

Bewertung vom 01.10.2025
Everett, Percival

Dr. No


ausgezeichnet

Gesellschaftskritisch, satirisch, anspruchsvoll

Wer hätte gedacht, dass ein Roman über Nichts so klug und humorvoll sein und dabei gleichzeitig ganz tief den Finger in die Wunden unserer Gesellschaft legen kann? Vom Attentat auf Martin Luther King bis in die Gegenwart verwandelt Percival Everett seine pointierte Gesellschaftskritik in einen skurrilen, humorvollen und nicht weniger anspruchsvollen Spionageroman im Stile James Bonds. Wer hier der Bond ist, bleibt gewiss oft zweifelhaft.

Im Mittelpunkt: Wala Kitu, Mitte 30, Professor an der Brown University, brillanter Mathematiker und Experte für nichts. Eines Tages wird Wala vom Milliardär John Sill angesprochen, der seine Unterstützung benötigt, um nicht weniger als ein Superschurke zu werden und die moderne USA zu zerstören. Und dafür benötigt er nichts, für das zufällig Kitu der Experte ist. Klingt verwirrend und skurril? Ist es auch! Und genau das macht den Reiz dieses Romans aus, der sich stets zwischen Philosophischer Theorie, Mathematik sowie Logik und Paradoxie bewegt.

Als Bond-Girl firmiert in einer spektakulären Verwandlung Walas Kollegin Professor Eigen Vector. In der Auseinandersetzung mit Vector spielt Everett nicht nur mit dem Klischee des Bond Girls, zu dem Eigen erst wird, nachdem sie unter Drogen gesetzt und ihr komplette Identität als intelligente Frau abgelegt hat, sondern thematisiert auch andere Formen von Sexismus in der modernen Gesellschaft, zum Beispiel in der Gehaltsstruktur.

Ich denke der Roman macht am meisten Spaß, wenn man die philosophischen, logischen und mathematischen Aspekte darin tatsächlich mitdenkt und versteht, ohne dass ich an der Stelle behaupten möchte, dass mir das durchgängig gelungen ist. Was oft so absurd klingt, ist es jedoch tatsächlich nicht, sondern verweist auf zentrale wissenschaftliche, philosophische Fragestellungen. Sicher nicht zufällig kommen sehr schnell Sartre und Heidegger in den Sinn, die dem Nichts eben viel mehr als nichts zuschreiben, sondern, obgleich durchaus theoretisch different, es als zentrale Bedingung des Seins herleiten. Ich habe den Eindruck, dass der Autor sich hier richtig austoben konnte und so geschrieben hat, wie er selbst denkt und fühlt, ohne dabei auf kommerzielle Aspekte Rücksicht zu nehmen. Für mich ein echter Lichtblick in der Fülle aktueller Literatur, in der sich gefühlt jede Journalistin/Schauspielerin/Influencerin etc. als Schriftstellerin berufen fühlt.

Ich mochte den Humor unglaublich gern, so wunderbar trocken und klug. Trotz aller Bissigkeit fand ich gerade die Einblicke in die Lebenswelt im Autismus-Spektrum sehr gut herausgearbeitet, ebenso wie die beginnende emotionale Bindung zwischen Eigen und Wala.

Everest beweist in Dr. No einmal mehr, was für ein aufmerksamer Beobachter unserer Gesellschaft er ist, denn neben der rassismuskritischen Perspektive, die gewissermaßen Grundlage des Romans ist, integriert er u.a. auch Kirchenkritik und Sexismus sehr deutlich in den Plot.

Für mich war Dr. No ein echtes Highlight, das ich unbedingt allen ans Herz lege, die sich gern in theoretische Konzepte reindenken und bitterböse Gesellschaftskritik zu schätzen wissen!

Bewertung vom 27.09.2025
Bähr, Julia

Hustle


sehr gut

DIE MORAL VON DER GESCHICHT: EHRLICH UND EHRBAR SEIN, LOHNT IM KAPITALISMUS NICHT!

Leonie Hendricks, beinahe 30 Jahre alt, studierte Biologin, Pflanzenexpertin, Hobby: Schimmelpilzexperimente. Schon die Hauptprotagonistin in diesem Roman ist so liebevoll, klug und skurril gezeichnet, dass es Lust macht, ihren Lebensweg für ein paar Stunden zu verfolgen. Nachdem Leonie mit einer Sabotageaktion ihren letzten Arbeitsplatz bei einem ethisch umstrittenen Saatguthersteller aufgegeben hat, ist sie zunächst in ihrem Kinderzimmer in Bocholt bei ihren stets streitenden Eltern gestrandet. Da dies nun überhaupt nicht der Ort ist, den man mit fast 30 im Leben erreichen möchte, kommt Leonie das Jobangebot im Münchner Staatsarchiv gerade gelegen. Hauptsache raus, Hauptsache Arbeit, auch wenn es in Bayern ist und der Job nicht viel Spannung verspricht.

Der Neustart in München gestaltet sich jedoch nicht nur kulturell für Leonie herausfordernd. Anschluss zu finden fällt ihr schwer, sie wird von ungewohnter Einsamkeit begleitet, der sie mit One Night Stands für ein paar Stunden zu entfliehen versucht. Schnell wird ihr schmerzlich bewusst, dass das Leben in München teuer ist und sie mit ihrem Gehalt nicht einmal eine 1,5 Zimmer Wohnung anmieten kann. Wie machen das all die anderen Menschen in München, die dazu auch noch immer adrett in Kaschmir gekleidet und perfekt gestyled in teueren Restaurants sitzen?

Als sie zufällig auf die eindrucksvolle Genevieve trifft, meint sie eine Verbundenheit zu spüren, und von Genevieve und deren Freundinnen Yasmin und Kim, soll sie schließlich auch erfahren, wie man in München gut leben und sein Dasein genießen kann. Doch auch dies kommt nicht ohne Preis. Ist Leonie bereit diesen zu zahlen?

Gelungen umgesetzt sind für mich die Themen Schwesternschaft und Freundschaft im Roman. Leonie, Yasmin, Genevieve und Kim bilden ein imposantes und inspirierendes Freundinnengespann, das sich erfolgreich durch patriarchal-kapitalistische Strukturen navigiert und gegenseitig unterstützt.

Für mich nicht ganz konsequent und schlüssig umgesetzt ist der vermeintlich kapitalismuskritische Aspekt im Roman. Letztlich bedient Leonie, ebenso wie ihre Freundinnen die gleichen kapitalistischen Mechanismen und ist von bestimmten Ausdrucksformen kapitalistischen Wohlstands, wie Kleidung und Aussehen, fasziniert, eifert dem sogar nach. Hier habe ich die an anderen Stellen durchaus berechtigte Kritik an kapitalistischer Funktionslogik, wie unbezahlbar hohen Mieten oder Feinkostläden für kleine Hunde, als nicht konsequent erlebt. Ich denke mir fehlt an der Stelle ein revolutionäres Element im Plot, denn bei allen clandestinen Aktivitäten der Freundinnen, sind diese nicht geeignet ein System zu stürzen, sondern eher sich selbst eine Nische darin zu suchen, es damit zu stabilisieren und sich ein gutes Leben zu machen. Die grundlegende Funktionslogik des Kapitalismus wird so nicht wirklich in Frage gestellt, ebenso wenig wie die Rolle der einzelnen Person darin. Leonie und ihre Freundinnen reflektieren nur ansatzweise sowie eher oberflächlich und plakativ, wie sie selbst kapitalistisch-patriarchale Anerkennungsformen internalisiert haben und mit ihrer Lebensweise reproduzieren.

Unterhaltsam ist diese Geschichte jedoch allemal! Und so bleibt die Moral von der Geschicht: ehrlich und ehrbar sein, lohnt im Kapitalismus nicht!

Bewertung vom 19.09.2025
Kuang, R. F.

Katabasis


sehr gut

Endlich ein neues Werk von Rebecca F. Kuang! Wie von der Autorin gewohnt hervorragend geschrieben und natürlich bereits auf den ersten Seiten wieder mit klugen Verweisen in Philosophie und Mythologie, die es zu entschlüsseln gilt. Im ersten Moment erscheint es viel, so schnell werden Figuren und Ereignisse eingeführt, Alice, Peter, Prof. Grimes. Aber gleichzeitig entsteht so auch unmittelbar Alice Welt vor dem inneren Auge, ihr Campus, Arbeitsplatz, die Hölle und natürlich die Magie!

Aber zunächst von vorn: Alice studiert Analytische Magie in Cambridge. Durch ein Versehen bei einem Experiment ist ihr Doktorvater Prof. Grimes verunglückt und nun in der Hölle gelandet. Da Alice glaubt auf Grimes für ihre akademische Zukunft angewiesen zu sein, fasst sie einen Plan: sie geht in die Hölle, um Grimes zurückzuholen. Unverhofft schließt sich ihr Kollege und Erzfeind Peter diesem Höllentrip an. Was die beiden in der Hölle erwartet, soll sich oft nicht wesentlich von ihrem realen akademischen Alltag als Nachwuchswissenschaftler:innen unterscheiden. Werden die beiden Grimes finden und wenn ja, werden sie wohlbehalten zurückkommen und zu welchem Preis?

Mich hat besonders die doppeldeutige und bitterböse Botschaft des Romans abgeholt: Wissenschaft ist die Hölle - genau das ist sie für so viele junge Akademikerinnen, die in absoluter Abhängigkeit ihrer Doktorväter, ja es sind tatsächlich meist Männer, versuchen sich weiter zu qualifizieren. Da wird die Liebe zum Fach schnell zur ganz persönlichen Hölle. So viele Details dieser Abhängigkeitsbeziehung baut die Autorin in Katabasis ein, zum Beispiel die Erwartung die eigene Forschung zurück zu stecken und dafür dem Betreuer uneingeschränkt zur Verfügung zu stehen, natürlich ohne, dass der eigene Name in den entsprechenden Publikationen erwähnt würde oder die langen Arbeitszeiten weit über das honorierte Maß hinaus. All dies transportiert Kuang in eine magische Welt, in der Alice tatsächlich in die Hölle geht und dort auch auf andere Opfer ihres Professors und des Systems trifft.

An Alice Geschichte werden außerdem die Widersprüche und Entwicklungen innerhalb des Feminismus deutlich. Die Autorin arbeitet im Gespräch zwischen der Vertrauensperson Helen und Alice pointiert die Positionen zu und innerhalb des Feminismus heraus und macht deutlich, dass patriarchale Strukturen eben auch wirken, wenn man versucht sie zu ignorieren. Alice spürt das am eigenen Leib, so sehr sie es ignorieren möchte. Wobei sich Klassismus und Sexismus im Falle Alice vermischen.

All das ist faszinierend, inspirierend und amüsant zugleich und genau auf dieser Ebene, als Kritik an patriarchalen Machtstrukturen in der Wissenschaft funktioniert der Roman für mich wunderbar!

Was für mich nicht durchgängig gelungen ist, ist die Transformation dieser Kritik in die Hölle. Der Weg durch die verschiedenen Höfe der Hölle hat sich für mich insbesondere im letzten Drittel oft eher zäh gelesen. Hinzu kamen verschiedene Logikfehler.

Die Geschichte zwischen Alice und Peter hat mich auf einer Ebene sehr berührt. Sowohl Alice als auch Peter kämpfen gegen eine Objektifizierung, als Lustobjekt und als Wohltätigkeitsprojekt. So haben beide erfahren, was es bedeutet ihrer Individualität beraubt zu werden. Gerade dieser Aspekt ist für mich sehr gut herausgearbeitet von Kuang. Die Entwicklung der sozialen Beziehung zwischen den beiden war für mich jedoch zum Ende hin zu klischeebeladen und vorhersehbar.

Auch wenn der Roman für mich Schwächen in der Umsetzung zeigt, ist er noch immer eine sehr gute Lektüre, die zum Nachdenken anregt und im Gedächtnis bleibt. Ich habe noch keine andere so scharfe, erlebbare Kritik an patriarchalen Machtstrukturen in der Wissenschaft gelesen, auch wenn für mich am Ende der Blick auf mögliche strukturelle Veränderungen fehlte. Das magische Höllensetting hat mich für ein paar Tage in andere Welten eintauchen lassen und wunderbar unterhalten.

Bewertung vom 04.09.2025
Noort, Tamar

Der Schlaf der Anderen (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Über Schlaflosigkeit, zwei Frauen und die Kraft der Freundschaft


Janis Templin ist seit 2 Jahren Nachtwache im Schlaflabor. Die Krankenschwester hat zuvor auf der Orthopädiestation im selben Klinikum gearbeitet. Als Nachtwache hat sie nun einen völlig anderen Rhythmus und Aufgabenbereich: sie schaut anderen Menschen beim Schlafen zu. Eine dieser Patientinnen ist Sina. Sina wollte einmal Künstlerin werden, nun ist sie Lehrerin, Mutter, Ehefrau und trotzdem seltsam einsam und unglücklich, als ob sie sich ab einem bestimmten Punkt in ihrem Leben verloren hat. Das drückt sich nicht zuletzt in ihrer Schlaflosigkeit aus, die sie zu Janis ins Schlaflabor geführt hat.

Bereits nach kurzer Zeit verspürt Janis eine seltsame Verbundenheit mit der Lehrerin, die in ihrem Alter ist, ihr Geburtstag ist am selben Tag mit genau einem Jahr unterschied. Noch bevor Sina alle Elektroden angelegt bekommen hat, führt diese Vertrautheit, die Janis spürt, dazu, dass sie Grenzen überschreitet, zunächst ist es nur das vertrauliche Du in der Ansprache, doch dabei soll es im Laufe der Nacht nicht bleiben.

Vor dem Hintergrund dieses Settings begleitet Der Schlaf der Anderen zwei Frauen, in der Mitte ihres Lebens, die seltsam verloren scheinen und sich vielleicht gerade deshalb in der anderen erkennen und aneinander festhalten.

Die Perspektive alterniert zwischen Janis und Sina, wobei die Autorin raffiniert in der Form variiert. Während in etwa der ersten Hälfte Sina in der Ich-Form erzählt und Janis Perspektive über eine Erzählerin vermittelt wird, wird dies im Laufe der Erzählung gespiegelt und wir lernen Janis in der Ich-Form kennen und Sina über die Erzählerin.

Sensibel zeichnet Tamar Noort so zwei Frauenleben und eine Begegnung dieser nach. Wann begann Sinas Schlaflosigkeit? Wann hat sie sich selbst verloren? Wie hat es Janis ins Schlaflabor verschlagen? Die Frauen geben sich gegenseitig Einblicke in ihr Leben, Sinas abweisende Mutter und Janis Trauer, um den Tod der ihren, und zeigen so ein Verständnis und Verstehen, dass beide sonst im Alltag mit anderem Menschen vermissen. Was aus dieser Begegnung zweier Schlaflosen erwächst, ist im besten Fall Mut das eigene Leben zu ändern, bei sich selbst anzukommen und so auch wieder die Ruhe der Nacht zu finden.

Über Janis, der Krankenschwester, und Sina, der Lehrerin, erfasst Noort auch scharfsichtig die Herausforderungen dieser Berufsgruppen und die immer schnelllebigere Gesellschaft in der die menschlichen Bedürfnisse der und des Einzelnen immer weniger Beachtung finden und der Effizienz untergeordnet werden. Dies zeigt sich nicht zuletzt in unserem Umgang mit Kindern wie Jugendlichen und kranken Menschen und den Personen, die diesen Menschen, oft zulasten ihrer eigenen Gesundheit versuchen in einem dysfunktionalen System gerecht zu werden.

Der Schlaf der Anderen ist ein sensibler und klug konstruierter Roman, der zentrale Fragen der Gegenwart aufgreift und an zwei Frauenleben erlebbar macht. Ganz klare Empfehlung!

Bewertung vom 27.08.2025
Kuhn, Yuko

Onigiri


weniger gut

Viele lose Fäden und leider wenig Tiefe und Reflexion

Halbjapanerin Aki hat seit jeher ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter. Mit der beginnenden Demenz von Mutter Keiko blickt sie auf diese Beziehung mit anderen Augen und einer neuen Dringlichkeit. Als sie dann noch vom Tod ihrer japanischen Großmutter erfährt, fällt sie einen Entschluss: ihre Mutter noch einmal in deren Heimat Japan zu bringen. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich der Roman, wobei knapp die erste Hälfte der Erzählung komplett der Aufarbeitung Keikos Vergangenheit und auch Akis Rolle darin gewidmet ist. Über einzelne Anekdoten werden Schlaglichter auf prägende Ereignisse geworfen, der Weg der Mutter nach Deutschland, ihr Ankommen im fremden Land und seiner Kultur, das Kennenlernen, die Heirat und Scheidung der Eltern, die vielfältigen Konflikte mit der dominanten, wohlhabenden Schwiegerfamilie und die schwierige Zeit nach der Scheidung. Auch während der Reise nach Japan spielt die Autorin mit Rückblicken, hier steht die japanische Familie mehr im Mittelpunkt.
Onigiri verpackt schwere Themen leicht - das ist Schwäche und Stärke des Romans zugleich. Als kurzweilige Unterhaltung, die in die Lebenswelt einer Tochter mit einer Mutter mit beginnender Demenz einführt und ein Aufwachsen zwischen Kulturen thematisiert funktioniert der Roman wunderbar. Hier vermittelt die Autorin authentischen Einblicke in die japanische Kultur, kontrastiert die zurückgenommene, japanische Kultur die Aki mit ihrer Mutter erlebt und das privilegierte Leben der deutschen Oberschicht bei den Großeltern. Auch die zarte Beschreibung der Demenz der Mutter und der Herausforderungen als Tochter damit umzugehen, haben mir im Ansatz gefallen. Mit Blick auf Keiko werden die Herausforderungen des Ankommens in Deutschland und seiner fremden Kultur und die latente Ablehnung durch die Schwiegerfamilie aufgegriffen.

In einer weiteren Dimension beschreibt Kuhn die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, die geprägt ist von Abhängigkeit (der Mutter) und Verantwortlichkeit (der Tochter). Hier kontrastiert die Autorin mit Akis Bruder Kenta, der auf den ersten Blick gelassener mit der Situation umgeht, jedoch gleichzeitig auf seine Art durch die Vergangenheit und Eltern geprägt ist, und keine eigene Familie gründet. Gerade der Aspekt der Mutter-Tochter-Beziehung war für mich der noch stärkste im Roman was die qualitative Aufarbeitung betrifft. Hier gibt es immer wieder Momente und Ansätze einer Tiefe, die der Roman sonst missen lässt und auch an diesen Stellen gerne weiter aufgegriffen hätte werden können. Auch die Prägung in einer Familie, in der beide Elternteile psychisch sehr belastet sind, spielt eine Rolle, wird jedoch nicht wirklich auserzählt.

Insgesamt konnte mich der Roman leider nicht überzeugen und lässt mich etwas frustriert zurück. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Wie der einleitende Überblick bereits verdeutlicht, möchte der Roman viele Themen auf wenigen Seiten behandeln, was zu Lasten von Tiefe und Relevanz geht. Die Geschichte entwickelt sich sehr anekdotenhaft, die eigentliche Reise findet etwa bis zur Hälfte des Romans überhaupt nicht statt, die einführenden Rückblicke sind für sich interessant, stehen aber oft atomisiert, ohne, dass die Autorin sich in die Tiefe einer Analyse wagt. Das ist leider ein Phänomen, dass ich zuletzt öfter in autofiktionalen Romanen beobachtet habe. Die angesprochenen Themen haben alle für sich ihre Berechtigung, sind sicher prägend, werden jedoch kaum in einen Kontext gesetzt und nicht wirklich entwickelt und auserzählt.

Sehr auffällig und mit Wirkung auf fast alle behandelten Themen im Roman ist das völlige Fehlen einer Reflexion der sehr privilegierten Klassenlage in der westdeutschen Oberschicht der Ich-Erzählerin und ihrer Familie. Geld spielt an keiner Stelle eine einschränkende Rolle für Reisen, Ausbildung und Pflege und auch Erwerbstätigkeit und Existenzsicherung sind keine Sorgen mit denen sich die Figuren in Kuhns Roman herumschlagen müssen.

Beim Thema Demenz hat mich der Roman an diesem Punkt, trotz der durchaus zarten Beschreibungen des Erlebens der Ich-Erzählerin, vollständig verloren. Der Roman wirkte hier auf mich wie eine emotional angehauchte Nabelschau Akis, ohne wirkliche Reflexion - viele Härten des Alltags Betroffener und Angehöriger finden nicht statt, spielen im privilegierten Milieu der Ich-Erzählerin offensichtlich auch gar keine Rolle: nicht-finanzierbare Eigenanteile im Heim, überhaupt das Finden eines guten Heimplatzes, der Kampf mit Behörden um Pflegegrade und Unterstützung, gefährliche Situationen im Alltag, Vereinbarkeit von Sorge, Pflege und Job und Familie, der ganze emotional, organisatorische, kraftzehrende Alltag - nichts davon begleitet die Ich-Erzählerin. Onigiri entwickelt sich so zu einem anekdotischen Roman, ohne wirkliche Tiefe, im Kreisen einer Ich-Erzählerin aus einem sehr privilegierten Milieu um sich selbst.

Bewertung vom 18.08.2025
Kelly, Julia R.

Das Geschenk des Meeres


ausgezeichnet

Atmosphärische Erzählung an Schottlands Küste

Skerry, Schottland, das Jahr 1900, an einem verlassen Strand findet der Fischer Joseph einen leblosen Jungenkörper und bringt ihn ins nahe gelegene Pfarrhaus. Das für sich schon ungewöhnliche Geschehen, ist umso bedeutender als an selber Stelle Jahre zuvor ein Junge im vergleichbaren Alter und mit verblüffender Ähnlichkeit verschwand. Und auch damals war Joseph in das Verschwinden involviert. Moses, der Sohn der Dorflehrerin Dorothy wurde seit seinem mysteriösen Verschwinden nie wieder gesehen. Noch immer werden Gerüchte und Geheimnisse darüber im Dorf erzählt und Dorothy trägt eine tiefe Wunde, die nichts und niemand jemals zu heilen vermag. Und nun, Jahre später, taucht Joseph mit diesem Jungen aus dem Meer auf. Für Dorothy beginnt ein Ausnahmezustand und auch im Dorf sorgt der Vorgang für Erinnerungen und Rätselraten. Was hat es mit dem Jungen auf sich? Und was ist damals tatsächlich passiert? Wie wird Dorothy damit umgehen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden und der Rettung des Jungen viele Jahre später? Bereits nach wenigen Seiten hat mich der Roman vollkommen eingenommen. Ich habe mich unmittelbar in die Szene und Dorfgemeinschaft an der Küste versetzt gefühlt und konnte Dorothy und Joseph quasi hautnah beobachten und an ihren Gedanken, und ja, auch ihrem Leiden und Zweifeln, teilhaben. Der Roman wird auf zwei Zeitebenen erzählt: damals und heute. So erfahren wir, wie Dorothy als junge Lehrerin aus Edinburgh nach Skerry kommt, geprägt von einer lieblosen Kindheit mit einer herrischen, kalten Mutter. Eine beginnende Romanze zwischen Dorothy und Joseph wird bereits in ihren Anfängen von Dorftratsch und Intrigen zerstört. Aus den Perspektiven der beiden Zeitebenen setzt sich behutsam ein Bild der Geschehnisse um das Verschwinden von Moses damals zusammen und der Geheimnisse, die einige Bewohnerinnen seitdem mit sich herumtragen. Gelungen zeigt die Autorin nicht nur Dorothys emotionale Widersprüche über den Verlust des Sohnes damals und die Konfrontation mit dem Jungen aus dem Meer heute auf, sondern fängt auch die Traditionen und Eigenheiten eingeschworener Dorfgemeinschaften sensibel ein. All dies fasst die Autorin in einen ruhigen, poetischen Erzählstil, der den Fokus auf die Entwicklung der Figuren und sozialen Dynamiken legt. Die Gemeinschaft, die Natur, das Meer - aus diesen Elementen webt die Autorin eine atmosphärische Erzählung über Verlust, Liebe und das Leben. Sehr lesenswert!

Bewertung vom 16.08.2025
Erdmann, Kaleb

Die Ausweichschule


ausgezeichnet

Eine Annäherung an das Unbegreifliche - Zweifelnd, tastend, mitnehmend

Wie nähert man sich dem Unbegreiflichen? Mit Fakten, Fiktion, Distanz oder Emotion? Und wer darf darüber schreiben? Kann man zu sehr oder zu wenig betroffen sein, um sich dafür zu legitimieren oder zu disqualifizieren? Diese Fragen stellt sich der Ich-Erzähler und zugleich der Autor in die Ausweichschule - benannt nach der Schule, in die die Schüler des Erfurter Gutenberg Gymnasiums nach dem Amoklauf 2002 umquartiert wurden - zur Distanz vom Geschehen und schließlich auch der umfangreichen Sanierung des Gebäudes.

Kaleb Erdmann war, ebenso wie der Ich-Erzähler, zum Zeitpunkt des Amoklaufs Schüler am Gymnasium. Als Elfjähriger erlebt und überlebte der Ich-Erzähler den 26.4.2002, dachte lange das Geschehene verarbeitet zu haben und spürt doch noch 20 Jahre später, dass es etwas gibt, dass er noch in sich trägt, Symptome verursacht, etwas über das er schreiben muss, vielleicht um es und sich selbst, als Erwachsenen und auch den elfjährigen Jungen, der das erlebt hat, besser zu verstehen.

Der Roman ist daher eine Annäherung, an das Erleben des Elfjährigen im Jahr 2002, den Amoklauf und was danach mit ihm, seinen Freunden, der Familie und Gesellschaft geschah, an die Erinnerung und Belastung des Mitte 30-jährigen, und an den Schriftsteller, der sich fragt, wie sich all dies in eine Form bringen lässt, die den Betroffenen, und auch ihm selbst, als Teil davon, gerecht wird.

Seine größte Stärke entfaltet der Roman in seinem tastenden Vorgehen, dem Zweifel und einer schonungslosen Ehrlichkeit und Einsicht in die Unzulänglichkeit des Projekts. Lässt sich wahrhaft begreifen, was damals Geschehen ist? Das Ausmaß an Gewalt und Verlust für alle Betroffene ? Und was einen Menschen dazu treibt? Kann man all dem überhaupt je gerecht werden, im Erinnern und künstlerischen Verarbeiten? Besonders ist dabei immer wieder der Blick des 11-Jährigen, die kindliche Unbefangenheit, Verdrängung und hintergründige Traumatisierung, die durch die Zeilen scheinen.

Erdmann kombiniert Selbstbefragung mit Recherche, bezieht literarische (Ines Geipel) und journalistische Referenzen ein, Fakten aus dem Gasser-Bericht gleicht er mit eigenen Erinnerungen (des Ich-Erzählers) ab, immer im Bestreben ein Bild entstehen zu lassen, zusammenzusetzen, zu verstehen. Was ist geschehen? Was geschah danach? Und wie wirkt es bis heute? Dabei zeigt er auf, dass es keine einfachen Antworten geben kann, nie geben wird und auch individuell der Umgang mit dem Erlebten verschieden ist und jeweils seine Berechtigung hat. Erinnerung, Schuld, Verantwortung auf verschiedenen Ebenen, vor und nach der Tat werden in die Ausweichschule thematisiert, nie verurteilend, immer tastend und fragend.

Mich hat der Roman gerade durch das persönliche, behutsame und zweifelnde Vorgehen darin sehr bewegt. Ich war damals 16, an einem anderen Thüringer Gymnasium und musste den Text mehrfach unterbrechen, weil er für mich die bedrückende Stimmung, die geprägt war von persönlichen Kontakten in Schüler- und Lehrerschaft zu Betroffenen, in die Gegenwart geholt und mich auf andere Weise als als 16-jährige darüber nachdenken hat lassen, was dies für unmittelbar und mittelbar Betroffene eigentlich bedeutet hat und wie wir gesamtgesellschaftlich damit umgehen. Genau dies erreicht der Autor nicht etwa über die Darstellung des Tathergangs sondern gerade über das Erforschen des Danachs, der anderen, veränderten Welt nach dem Amoklauf und wie jede einzelne Person, Behörden, Strukturen, die Gesellschaft damit umgegangen sind und was dies gerade für Betroffene bedeutet hat und bis heute bedeutet.

Trotz der Funktion des Tastens und Zweifelns im Text für die Gesamterzählung wurden mir an einigen Stellen die Ausschweifungen zu viel, hier hätte dem Roman etwas mehr Fokus gut getan, indem nicht jede Anekdote des schreibenden Ich-Erzählers, während der Textwerdung ausbuchstabiert wird. Angesichts der sehr guten Gesamtqualität und des ungewöhnlichen, gelungenen literarischen Ansatzes des Romans fällt dies für mich in der Bewertung jedoch nicht entscheidend ins Gewicht.

Die Ausweichschule stellt die richtigen Fragen, findet wenige Antworten und regt gerade deshalb zum Nachdenken an! Der Roman wird zu einem Buch über das Schreiben eines Buchs, dadurch zu dem Versuch einer Annäherung an das Unmögliche wie Unbegreifliche und seine Folgen, und schafft so die Distanz und den Zweifel, der der Thematik vermutlich am ehesten gerecht wird.

Bewertung vom 16.08.2025
Rebanks, Helen

Die Frau des Farmers


gut

Authentische Einblicke in die weibliche Lebensrealität auf einer Farm

In die Frau des Farmers teilt Helen Rebanks ihren Alltag auf einer Farm im Lake District. Ausgangspunkt für die Reflexionen über das Landleben ist die Biografie der Autorin selbst sowie ihrer Familie bis zur Generation der Urgroßeltern. So entsteht ein recht umfassendes, wie eindrückliches und vielfältiges Bild der verschiedenen Herausforderungen des, aber auch Haltung gegenüber dem, Landleben. Während beispielsweise ihre eigene Mutter der Organisation des Haushalts und dem Kochen nicht viel abgewinnen konnte, ist es für Rebanks eine echte Passion, verbunden mit einem ausgesprochenen Talent.

Ein großes Verdienst sehe ich in der authentischen Darstellung des Farmlebens. Hier wird nichts romantisiert, Positives wie Negatives, Freuden und Herausforderungen in ihrer Gesamtheit betrachtet. Für mich am besten gefasst mit dem UND: schön UND beschwerlich, einschränkend UND voller Möglichkeiten zugleich ist das Leben der Autorin und ihrer Vorfahrinnen. Denn genau hier liegt ein weiterer Wert für mich, indem die Autorin einen Fokus auf das weibliche Farmleben und seine speziellen Charakteristika legt. Dass die Autorin dabei letztlich ihre eigene Biografie und Familiengeschichte beschreibt, habe ich grundsätzlich nicht als Nachteil empfunden. Das Werk wirkt so absolut authentisch und zeigt über die Betrachtung verschiedener Generationen auch eine Varianz der Lebensrealitäten, Kontinuität und Veränderungen im Farmleben auf.

Eine Bereicherung sind grundsätzlich auch die zahlreichen Rezepte und Tipps zur Vorratshaltung, die die Autorin sowohl am Ende, aber auch lose in den Textteil eingeflochten, integriert. Hier, ebenso wie im Text, wird jedoch deutlich, dass sich das Buch wohl primär an hauswirtschaftlich unbedarftere und mit dem Landleben wenig vertraute Menschen richtet. Ein Rezept zum Zubereiten von Pudding mit handelsüblichem Puddingpulver ist aus meiner Sicht schon sehr basic und nichts was einer Rezeptsammlung bedarf, ebensowenig wie die Zubereitung von Kakao mit Kakaopulver oder heiße Schokolade.

Helen Rebanks schreibt eingängig, der Stil ist jedoch eher sehr einfach, mit wenig Varianz in der Satzstruktur und Wortwahl. Die Schilderungen hatten für mich durchaus einige Längen, aus meiner Sicht war nicht jede Ausschweifung der Gesamterzählung im dargestellten Ausmaß zuträglich. Insgesamt ist die Frau des Farmers ein authentischer und einfach geschriebener Einblick in die weibliche Lebensrealität auf einer Farm, wenngleich Menschen ohne eigene Vorerfahrung im Landleben und der Hauswirtschaft hier wohl den größten Erkenntnisgewinn haben werden.

Bewertung vom 21.07.2025
Buckley, Katie

Hero


ausgezeichnet

Eine moderne, feministische (Anti-)Liebesgeschichte - Aufwühlend, verletzlich, sanft und kämpferisch zugleich

Wie ist es möglich in einer Welt, die nur funktioniert indem du deine Rolle als Frau einnimmst, mit all ihren Erwartungen, du selbst zu sein? Eine eigene Identität überhaupt zu entwickeln? Und wenn du das einmal geschafft hast - was bedeutet es in dieser Situation als Frau einen Mann zu lieben und gleichzeitig sich selbst treu zu bleiben? Und ist Liebe überhaupt genug vor diesem Hintergrund? Mit diesen Fragen sieht sich Hero konfrontiert, als ihr Partner von ihr ein Bekenntnis zur Heirat möchte. Sieben Tage Auszeit sollen sie einer Entscheidung näher bringen. Genau diese sieben Tage, mit Heros Erinnerungen an vergangene Beziehungen, ihre Sozialisation als Frau, und Reflexionen der Beziehung und Liebe zu ihrem aktuellen Partner begleitet der Roman, verfasst als eine Art Brief in Tagebuchform in der Du-Form, adressiert an ihren Partner.

Über geschickt und poetisch eingeflochtene Referenzen in Antike, Mittelalter, aber auch die jüngere Vergangenheit mit Blick in die frühen Jahre von Heros Mutter, zeigt die Autorin in Heros Erleben die Kontinuität und Macht patriarchaler Strukturen und Kultur auf und wie sich Frauen in jedem Zeitalter immer wieder darin verfangen, sich beugen, täuschen lassen und immer wieder enttäuscht werden. Sexismus, Misogynie und alle Auswüchse des Patriarchats werden von der Hexenverbrennung bis in die Gegenwart geschickt in die Erzählung und Heros Reflexionen eingeflochten. Neben der persönlichen Ebene sehe ich es als besonderes Verdienst der Autorin auch die systemischen Aspekte dieser Strukturen herauszuarbeiten. Die Unterwerfung der Frau unter die Wünsche des Mannes stabilisiert heute ein patriarchales System ebenso wie es früher Königreiche stabilisiert hat. Und gleichzeitig zeigt dies umgekehrt wie viel Macht Frauen hätten, wenn sie sich solidarisieren und Aufbegehren, nicht nur um sich selbst aus der Unterdrückung zu befreien, sondern um die permanente Reproduktion patriarchaler Gesellschaftssysteme endlich zu durchbrechen. Auch hierzu zeigen sich im Roman einzelne Szenen der Schwesternschaft, die berühren und Hoffnung machen.

Vor diesem Hintergrund wird auch die gleichberechtigte Liebe auf Augenhöhe zu einer fast unauflösbaren Aufgabe, denn die Frau, hier Hero, hat in diesen Strukturen noch immer das meiste zu verlieren. Genau diesen Widerspruch arbeitet Buckley unglaublich kraftvoll, ebenso wie sensibel heraus. Heros Zerrissenheit, der Drang nach Selbstbestimmung und gleichermaßen die Liebe zu ihrem Partner und aufrichtige Erwiderung dieser werden mit jeder Zeile spürbar. Es ist zum Teil schwer auszuhalten und sehr authentisch wie Hero ihre Sozialisation als Frau beschreibt, in der ihr vermittelt wurde, dass nichts zu groß ist, um es einem Mann recht zu machen und es letztlich das Einfachste ist, jegliche eigene Kontur verschwinden zu lassen und ganz in den Wünschen des Mannes aufzugehen. Dabei spielt die Autorin im Laufe der Erzählung immer wieder hintergründig und gekonnt mit dem Heldenmotiv, als Zielgröße für Hero selbst und ihre eigene Entwicklung, aber gleichzeitig auch als Projektion in die Männer ihrer Vergangenheit.

Die Sprunghaftigkeit, Schnelligkeit und sich wandelnde Melodie der Erzählung mögen beim Lesen machmal kurzzeitig verwirren, doch spiegeln sie dabei gleichzeitig gelungen Heros Gefühlsleben authentisch in Stil, Struktur und Wortwahl des Romans wider.

Hero ist ein Buch, das ich gerne viel früher in meinem Leben gelesen hätte und mir auch als zeitgemäße Lektüre in der Oberstufe vorstellen könnte, um junge Frauen und auch Männer, in einer authentischen Sprache und auf Augenhöhe abzuholen und für patriarchale Strukturen, ihre Macht und Prägung zu sensibilisieren. Ganz klare Empfehlung für diese ungewöhnlich erzählte, moderne, emanzipatorische (Anti)Liebesgeschichte!