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Marion Sens
Wohnort: 
Augsburg

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Insgesamt 6 Bewertungen
Bewertung vom 03.08.2009
Ein Gedächtnis für das Vergessen
Darwisch, Machmud

Ein Gedächtnis für das Vergessen


ausgezeichnet

In EIN GEDÄCHTNIS FÜR DAS VERGESSEN schildert Machmud Darwisch in einer dichten, poetischen, manchmal zynischen Sprache einen Tag im August 1982 in Beirut während der israelischen Belagerung, die die Vertreibung der Palästinenser aus der libanesischen Metropole zum Ziel hatte.
Machmud hatte seit 1972 in Beirut gelebt. Noch nie zuvor und niemals wieder hielt er sich so viele Jahre in einer Stadt, in einem Land auf. Beirut war für ihn eine feste Adresse, wo er ein kleines Büro mit Blick aufs Meer unterhielt. Wenn er frühmorgens durch die Straßen lief, hatte er manchmal eine Ahnung, was Heimat sein könnte:
der Geruch frisch gebackenen Brotes, der Duft des ersten Morgenkaffees und auch das Meer:
das Meer, das mal ruhig, mal wild vor ihm lag, wenn er in seinem Büro saß und schrieb. Das Haus, in dem er sein Büro angemietet hatte, wurde 1982 von den Israelis vom Mittelmeer aus beschossen und zerstört. Machmud überlebt und schreibt später:
Das Meer läuft durch die Straßen. Das Meer hängt aus den Fenstern und an dürrer Bäume Zweigen. Das Meer stürzt vom Himmel herab und kommt ins Zimmer herein. Blau. Weiß. Schaum. Wogen. Ich will das Meer nicht denn ich sehe kein Land und keine Taube. Sehe auf dem Meer nichts als das Meer. Sehe kein Land, sehe keine Taube.
So endet sein Prosawerk EIN GEDÄCHTNIS FÜR DAS VERGESSEN, in dem er die Belagerung Beiruts beschreibt, der er am frühen Morgen mit dem Zubereiten einer Tasse Kaffee trotzen will.
Die Explosionen haben die ganze Nacht angehalten, Häuser stürzten ein, Straßen wurden aufgerissen, Menschen verschmolzen mit Glas und Beton. Beirut liegt unter Dauerbeschuss aus der Luft und vom Meer. Einen Freund, der im Koma liegt und dem durch israelische Fliegerbomben beide Beine und ein Arm abgetrennt wurden, kann er nicht besuchen. Machmud setzt sich an diesem Morgen den israelischen Tieffliegern aus und schlendert langsam durch die menschenleeren Straßen. Er ist bereit zu sterben und will am liebsten zerrissen werden, von einer Bombe, plötzlich und ohne Vorwarnung. Er ist lebensmüde angesichts der Zerstörung um ihn herum:
Rauchende Häuser. Ein Feuer, das sich von oben nach unten ausbreitet. Hilferufe aus den oberen Stockwerken dringen an unser Ohr, tun weh. Im Feuer eingeschlossene Menschen, einer um den anderen kollabierend nach dem ersten Schock. Der Versuch, menschliches Fleisch zu retten.
Machmud schreibt auch von den sogenannten Vakuumbomben, die alles aufsaugen und zerstören. Er berichtet von der vollständigen Verwüstung eines Wohnhauses in West- Beirut durch zwei israelische Bomben am 6. August 1982, durch die mehr als 250 Zivilisten in wenigen Sekunden ihr Leben verloren.
Und er berichtet auch vom Schicksal der Palästinenser, vom Fremdsein und vom Exil, von seiner Zeit in israelischen Gefängnissen, von Begegnungen mit Dichterkollegen, von seiner Liebe über Jahrzehnte zu einer Jüdin und von überschlagenden Ängsten beim Kaffeekochen, während israelische Tiefflieger Bomben auf Beirut werfen.
Das Buch wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt.

Machmud Darwisch gilt als der bedeutendste palästinensische Dichter der Gegenwart. Als Siebenjähriger flieht er 1948 während des israelischen Unabhängigkeitskrieges in den Libanon und kehrt nach der Gründung des Staates Israel heimlich in sein Mutterland zurück, wo er bereits als Jugendlicher immer wieder inhaftiert und unter Hausarrest gestellt wird. Wegen zunehmender Repression lebt er ab 1970 im Exil und erhält den Status eines internen Flüchtlings bzw. den des anwesenden Fremden. Dieser Status wird für ihn bis zu seinem Tod in 2008 zum poetischen Programm. Weder die kommunistische Partei noch die PLO, deren Kulturchef er jahrelang war, werden ihm zur Heimat, auch nicht Haifa, Moskau, Kairo, Tunis, Paris, Zypern oder Beirut.
Machmud Darwisch schuf sich seine Heimat aus Worten, hauptsächlich in Prosaform, die heute von Palästinensern wie Volkslieder gesungen wird. Er starb am 9. August 2008 in Houston, Texas nach seiner dritten Herzoperation.

Bewertung vom 03.08.2009
Belagerungszustand
Darwisch, Mahmud

Belagerungszustand


ausgezeichnet

HALAT HISAR nannte Mahmoud Darwish seinen 2002 in arabischer Sprache veröffentlichten Gedichtband, der 2005 zweisprachig unter BELAGERUNGSZUSTAND im Hans Schiler Verlag, Berlin erschien.
Es ist eines seiner wichtigsten Bücher und erschien zur Zeit der zweiten Intifada, des zweiten Aufstandes der Palästinenser gegen die israelische Besatzung. Sie begann im September 2000 und zog Palästina und Israel in blutige Gemetzel, von denen sich viele der hineingerissenen Menschen bis heute noch nicht erholt haben.
Es war die Zeit
der Selbstmordattentate durch Palästinenser, vorwiegend in der Gegend um Hadera,
des Lynchens israelischer Soldaten in der Westbank, die sich verfahren hatten,
der Exekutionen führender Palästinenser durch die israelische Armee,
des Panzerrollens im Gazastreifen und der Westbank und
der Diskussion um den Mauerbau, um das Westjordanland endgültig abzuriegeln.
Es war die Zeit,
in der der Hass die Luft verseuchte und die Menschen auf beiden Seiten in tiefe Angst und Trauer stürzte,
in der auch zahlreiche jüdische Israelis auswanderten.

BELAGERUNGSZUSTAND beginnt mit konfrontierenden Versen unter dem Eindruck der israelischen Invasion und endet mit einem Gesang über den ersehnten Frieden.
Mahmoud reflektiert hier das alltägliche palästinensische Leben unter der Belagerung, er sucht Menschlichkeit bei den Israelis und hinterfragt den Märtyrermythos der palästinensischen Selbstmordattentäter.
Der Gedichtband umfasst sowohl politische Lyrik wie auch Liebesgedichte:

Hier, an den Hängen der Hügel, im Angesicht der sinkenden Sonne
und des Schlundes der Zeit
nah den schattenberaubten Gärten
tun wir, was Gefangene tun,
tun wir, was Menschen tun ohne Arbeit:
wir nähren die Hoffnung.

Kein homerisches Echo hier von irgend etwas.
Die Mythen pochen an unsere Türen, wenn wir sie brauchen
kein homerisches Echo von irgend etwas ...
Hier ist ein General, der gräbt nach einem schlafenden Staat
unter den Trümmern eines künftigen Troja

Soldaten messen den Abstand zwischen dem Sein
und dem Nichts
mit dem Zielrohr eines Panzers
Wir messen den Abstand zwischen unseren Körpern
und der Granate mit dem sechsten Sinn

ICH ODER ER
so beginnt der Krieg.
Doch er endet mit einer beschämenden Begegnung
ICH UND ER.

Die Seele steige ab,
um auf ihren seidenen Füßen zu gehen
an meiner Seite, Hand in Hand, wie zwei alte Freunde,
die sich das alte Brot
und den Kelch des alten Weines teilen,
auf dass wir diesen Weg gemeinsam gehen
bevor unsere Tage sich in zwei Richtungen scheiden:
Ich gehe ins Jenseits, sie aber hockt,
die Arme um ihre Beine geschlungen,
auf einem hohen Felsen

Die Belagerung macht mich von einem Sänger
zu einer sechsten Geigensaite


Mahmud Darwisch, die poetische Stimme des palästinensischen Volkes, war einer der herausragenden zeitgenössischen Dichter in der arabischen Welt. Zu den internationalen Auszeichnungen, die er für seine Arbeiten erhielt, zählen u.a. der Lenin-Friedenspreis (1983), der Lannan Cultural Freedom Award (2001), der Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück (2003 zusammen mit dem jüdisch-israelischen Schriftsteller und Psychologen Dan Bar-On) sowie der Goldene Kranz (2007).
Mahmud Darwisch wurde 1941 in Barwa in der Nähe von Akko (damaliges Britisch-Palästina) geboren. Er starb am 09. August 2008 nach seiner dritten Herzoperation in Houston, USA.
Als Siebenjähriger musste Darwisch mit seiner Familie während des israelischen Unabhängigkeitskrieges unter israelischem Gewehrfeuer in den Libanon flüchten. Heimlich kehrte er nach Gründung des Staates Israel in sein Geburtsland zurück. Als Jugendlicher wurde er mehrfach inhaftiert und unter Hausarrest gestellt. 1971 ging Mahmoud Darwish ins Exil ( Moskau, Kairo, Beirut, Tunis, Paris, Amman) und lebte schließlich seit 1996 wieder teilweise in Ramallah (Westjordanland), wo er 2008 bestattet wurde. So blieb ihm zumindest der Blick auf den Gazakrieg Dezember 2008 - Januar 2009 erspart.

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Bewertung vom 03.08.2009
Fremd meinem Namen und fremd meiner Zeit
Milich, Stephan

Fremd meinem Namen und fremd meiner Zeit


ausgezeichnet

Der Islam- und Literaturwissenschaftler Stephan Milich, der in Freiburg und Kairo mit dem Schwerpunkt Arabische Literatur studierte, entdeckt in seiner nun vorliegenden Veröffentlichung auch für das deutsche Publikum der alten Bundesländer den palästinensischen Exildichter Mahmoud Darwisch.
Bereits in den siebziger Jahren erregte Mahmoud als junger Dichter mit ersten, aus dem Arabischen übersetzten Gedichten in Europa Aufmerksamkeit. Vor allem in Frankreich und im Ostblock wurde er als sogenannter Widerstandsdichter gefeiert. Zu diesem Zeitpunkt, noch nicht einmal dreißig Jahre alt, war er bereits, zusammen mit Adonis, der bekannteste Dichter der arabischen Welt.
Bis zu seinem Tod am 09. August 2008 galt Mahmoud fast vierzig Jahre lang als DIE STIMME PALÄSTINAS, die dem entrechteten und in seiner Existenz bedrohten palästinensischen Volk ein kollektives Selbstbewusstsein gab.
Bemerkenswert ist, dass Mahmoud Darwisch in dieser Rolle niemals aufging: besonders in seinen letzten Lebensjahren stellte er persönliche Liebesgedichte über seine politische Dichtung und erntete damit immer wieder Kritik seiner politischen Weggefährten. Und doch waren auch seine ganz persönlichen Gedichte - Liebesgedichte auf seine jüdische Geliebte und Trauergedichte auf seine Freunde - immer politisch. Wahrscheinlich wären sie gar nicht entstanden, wenn die politische Entwicklung im Nahen Osten irgendwann andere Wege eingeschlagen hätte ...
Mahmoud wird 1948 siebenjährig im israelischen Unabhängigkeitskrieg aus dem damaligen Palästina in den Libanon vertrieben. 1950 kehrt er heimlich in seine alte Heimat, die nun Israel heißt, zurück. 1970 muss er den sogenannten Judenstaat unter politischem Druck erneut verlassen, wo er in Haifa in der Redaktion einer kommunistischen Literaturzeitschrift arbeitete. Nach Aufenthalten in Moskau und in verschiedenen arabischen Ländern lebt er ab 1972 fast zehn Jahre lang in Beirut, wo er sich der palästinensischen Befreiungsbewegung anschließt. 1982 vertreibt die israelische Armee die Palästinenser aus dem Libanon, den Mahmoud gemeinsam mit Jassir Arafat über Zypern Richtung Paris verlässt.
In der französischen Metropole lernt er das Werk des großen Exildichters Paul Celan kennen, mit dem er sich gleich verwandt fühlt. In Paris und später nach seiner Rückkehr in die arabische Welt, in Ramallah (Westjordanland) und Amman (Jordanien) reflektiert Mahmoud sich schließlich selbst als Dichter des Exils.
Celan zur Antwort schreibt er:
EINE WOLKE ZOG VON SODOM NACH BABEL
VOR HUNDERT JAHREN, DOCH IHR DICHTER, PAUL
CELAN, BRACHTE SICH HEUTE UM IN DER SEINE ...
WER BIN ICH?
WER BIN ICH NACH DEINER NACHT,
DER LETZTEN WINTERNACHT?

Stephan Milich geht in dieser Monographie über Mahmoud Darwisch insbesondere ein auf seine früheren Gedichte, die bereits in jugendlichen Jahren auf sein endgültiges Exil vorbereiten:

ERZÄHL MIR VON DEN NESTERN, DIE DER WIND VERSTREUT,
VOM RAUSCHEN DER MAULBEERBÄUME MITTEN IM DORF,
VON IHREM DUFT, DER DURCH UNSERE TRÄUME ZIEHT.

Jahre später schreibt er über seine jüdische Geliebte:

NICHT GENUG WAR ES, DASS WIR ZUSAMMEN SIND
NUR UM ZUSAMMEN ZU SEIN ...
UNS FEHLTE EINE GEGENWART, UM ZU ERKENNEN,
WO WIR SIND. DAMIT WIR GEHEN, WIE WIR SIND,
EINE FREIE FRAU
UND EIN ALTER FREUND
DAMIT WIR GEMEINSAM AUF ZWEI VERSCHIEDENEN WEGEN GEHEN ...

Und im GAZAL (Niedriger Himmel) schreibt schreibt er später:
DA GIBT ES EINE LIEBE, DIE AUF ZWEI SEIDENEN FÜSSEN GEHT,
GLÜCKLICH MIT IHRER FREMDHEIT IN DEN STRASSEN.
EINE KLEINE, ARME LIEBE, DIE DER VORBEIZIEHENDE REGEN DURCHNÄSST
SO ÜBERFLUTET SIE DIE PASSANTEN:
MEINE GESCHENKE SIND GRÖSSER ALS ICH
ESST VON MEINEM WEIZEN
UND TRINKT VON MEINEM WEIN
DENN MEIN HIMMEL LIEGT AUF MEINER SCHULTER UND MEINE ERDE GEHÖRT EUCH .