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angie99
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Insgesamt 54 Bewertungen
Bewertung vom 02.08.2025
Frattini, Stéphane;Manceau, Édouard

183 Pinguine. Das große Tier-Such-Buch


ausgezeichnet

2818 verschiedene Lebewesen wimmeln in diesem Buch: von 13 Blauwalen bis zu 1197 Kleinstlebewesen auf jeweils 1 Doppelseite. Pro Art gibt es acht bestimmte, namentlich genannte Tiere zu identifizieren, z.B. „Popeye, den Fisch, der Grünzeug liebt“ über „Kuhwazy, die verrückte Kuh“ bis „Zyklopa, die Spinne, die nur ein Auge hat“. Alleine schon diese Formulierungen machen Spaß, geschweige denn das Durchforsten dieser liebevoll aufgebauten und gezeichneten Seiten!
Mir und meiner 7jährigen Tochter ist es jedenfalls so schnell nicht langweilig geworden! Wir haben uns gemeinsam auf die Suche gemacht und nicht nur eifrig gekniffelt, sondern uns auch über viele Details unterhalten und amüsiert. Die Aufgaben sind abwechslungsreich und so schwierig, dass man auch mal länger über den Seiten brütet und gleichzeitig so einfach, dass der Erfolg nicht ausbleibt, also einfach perfekt für Wimmeldetektive ab 6 Jahren.
Es gibt in meinen Augen nur zwei kleine Mankos: Die Erklärtexte zu den jeweiligen Tierarten. Anscheinend war das reine Bildersuchen nicht pädagogisch wertvoll genug und so hat man noch ein paar halblustige Infos dazugepackt, die nicht zum Rest des Buches passen. Da hätte ich lieber noch ein paar Tierchen mehr gesucht! Ja, und da sind wir direkt beim zweiten Problem: Die 10 Doppelseiten sind allzu schnell weggerätselt. Natürlich kann man sich unabhängig der vorgegebenen Aufgaben weitere „Ich sehe was, was du nicht siehst“-Fragen stellen, doch ein paar Seiten mehr wären trotzdem schön gewesen. Denn ja: dieses Buch macht definitiv Spaß!!!

Bewertung vom 01.08.2025
Vuong, Ocean

Der Kaiser der Freude


ausgezeichnet

Der amerikanische Albtraum: Ausgrenzung, Armut, Depression und Sucht. Sehr eindrücklich umgesetzt mit glaubwürdigen, einzigartig gezeichneten Charakteren und menschlichem Zusammenhalt mitten in der Misere. Manchmal etwas schwurbelig, aber der dichte und langsame Schreibstil schafft eine unmittelbare Nähe, die mich schwer beeindruckt hat.

Bewertung vom 24.06.2025
Eng, Tan Twan

Das Haus der Türen


ausgezeichnet

„Das Haus der Türen“ ist großes Kino. Mit atmosphärischen Bildern und gewählter Sprache tauchen wir ein in die tropische Hitze von Penang, anfangs des 20. Jahrhunderts: Meeresrauschen, Vogelgekecker, Gläsergeklirre und das leise Rascheln von Baumblättern begleiten das höfliche Geplänkel, derer man sich auf der Veranda des Cassowary-Hauses hingibt. Es gehört Leslie und Robert Hamlyn, die ihre beiden Gäste, den berühmten Schriftsteller Willie Somerset Maugham und seinen Sekretär Gerald empfangen. Distinguiert und distanziert werden Nettigkeiten ausgetauscht – aber auch schon die ersten Andeutungen, dass das nicht so bleiben wird. Und tatsächlich, in einer schlaflosen Nacht bietet Leslie dem in einer Schreibblockade steckenden Willie eine bisher geheim gehaltene Geschichte an: ihre eigene.
Dass Tan Twan Eng mit diesem Werk für den Booker Prize nominiert war, verwundert nicht. Spielend leicht wechseln die Zeitebenen, ohne dass Knoten im Hirn entstehen. Und je tiefer man in Leslies – und auch Willies – Geschichte(n) eintaucht, in desto mehr Abgründe blickt man hinter der Fassade der britischen Kolonialherren und -damen. Es wird politisch, es wird gesellschaftskritisch, vor allem die undankbaren Geschlechterrollen bekommen so viel Fett ab, dass man fast darüber staunen muss, dass dieses Buch von einem Mann geschrieben wurde.
Trotz der vielfältigen Themen verliert der Autor nie den Faden, und alles fügt sich organisch ineinander. Vor allem die geschliffenen Dialoge haben mich begeistert, da sind wir wieder beim Thema Film: schwerelos entstehen die Szenen vor dem inneren Auge, man hat Willies leichtes Stammeln im Ohr, Leslies in Erinnerungen kramendes Zögern. Ich konnte mir immer bestens vorstellen, dass es genauso gewesen sein könnte…
… Und ja, ein Teil dieser filmreifen Story ist nicht nur einfach Fiktion. Tan Twan Eng schafft es, die historischen Eckpunkte zu einem nicht nur glaubwürdigen, sondern auch sehr emotionalen und bildreichen Lesevergnügen zu schustern, und das bis zum Abspann… Großes Kino eben!

Bewertung vom 24.06.2025
Dave, Raksha

Auf den Spuren unserer Vorfahren


gut

Schön gestaltet mit einem tollen Konzept, das leider inhaltlich nicht aufgeht
In diesem Buch reisen wir zu 14 alten Kulturen rund um den Globus, von der Steinzeit bis ins Mittelalter. Jedem Aufenthalt sind zwei Doppelseiten gewidmet: auf der ersten erhalten wir einen Überblick über Begebenheiten, Lebensgewohnheiten und Eigenheiten der vorgestellten Zivilisation, auf der zweiten dann konkrete archäologische Fundstücke (50 insgesamt), aus der sich diese Rückschlüsse ziehen lassen.
Das Konzept des Buches hat mich sofort gecatcht, soll doch Geschichte „neu erzählt“ werden, weshalb ich mir frische Erkenntnisse erhoffte auf einem Wissenszweig, der auf mich immer verstaubt und langweilig wirkte.
Außerdem ist Haptik und Optik des großformatigen Druckwerkes außen wie innen sehr ansprechend, vor allem die Farbwahl begeistert mich: bunt, aber nicht zu knallig, und immer wieder – den unterschiedlichen Kulturen entsprechend – anders. Auf den Bildern gibt es viele liebevolle Details zu entdecken, farbliche Abgrenzungen schaffen Übersicht.
Doch obwohl ich und mein 7jähriges „Testkind“ gerne bei den Illustrationen verweilten, hat es uns textlich nicht überzeugen können. Beim Vorlesen fiel mir schnell auf, dass sowohl Titel als auch Untertitel den Großteil des knappen Begleittextes zusammenfassen und somit wirken wie „wiedergekäut“ (In Çatalhöyük herrschte Gleichberechtigung / In der jungsteinzeitlichen Stadt Çatalhöyük waren Männer und Frauen gleich / Vielleicht denkst du, dass die Gleichstellung der Geschlechter ein modernes Konzept ist, dabei gab es bereits vor etwa 9000 Jahren Jäger- und Sammlergruppen ihr Nomadenleben auf und schufen in Çatalhöyük eine Gesellschaft, in der Männer und Frauen den gleichen Platz einnahmen. S. 14) Sogar meine sonst nicht so sprachsensible Tochter beschwerte sich irgendwann über die Wiederholungen („Das weiß ich doch schon, Mama!“) Erschwerend kommt aber dazu, dass diese redundanten Behauptungen nicht mit beweisstarken Argumenten unterfüttert werden. Die Fundstücke sollen zwar Erklärungen liefern, tun dies aber oft nur sehr oberflächlich. In Çatalhöyük z.B. war bei Frauen und Männern Ernährung, Bestattung, bildliche Darstellung und Aufenthalt in geschlossenen Räumen gleich – das sind prinzipiell interessante Fakten, aber genügt es schon aus, die komplette Gesellschaft als „gleichberechtigt“ zu kennzeichnen? Noch schwächer wirken die Argumente bei den Thule, die hier ebenfalls als gleichberechtigt bezeichnet werden, doch die Objekte erzählen rein gar nichts davon: da werden Harpunen genannt und dass Thule-Familien als Team zusammengearbeitet haben müssen, doch das können, ganz pragmatisch betrachtet, ja auch Männer-Teams gewesen sein (?!) Also mir zumindest erschließt sich der Zusammenhang zwischen Harpunen und Geschlechtergleichstellung nicht wirklich.
Des Weiteren werden mehrere Kulturen als nachhaltig und naturnah bezeichnet, was ich direkt schon als Werbe-Gag empfinde, denn was hätten sie damals – in einer Zeit vor der Industrialisierung, ohne Plastik, ohne Autos, ohne Elektrizität – auch Anderes sein sollen?! Da wäre es meiner Meinung schlauer gewesen, sich zu fragen: warum ist es heute nicht mehr so? Wollen wir wieder Plumpsklos, Ochsenkarren, Tauschhandel? Und wenn nicht: wie könnten wir gleichzeitig vorwärtsgerichtet und nachhaltig leben?
Dieses Buch liefert eine Fülle an prinzipiell spannenden Informationen, deren Interpretation jedoch ganz ähnlich kurz greift wie die frühere Geschichtsschreibung (als die Helden immer männlich waren), welche hier kritisiert wird. Es will dazu anregen, unsere patriarchal geprägte Sicht auf antike Zivilisationen zu hinterfragen, doch das geschieht in erster Linie, indem inflationär mit Begriffen wie Gleichstellung, Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und Toleranz um sich geworfen wird, es mangelt jedoch an harten Fakten und nachvollziehbaren Argumentationsketten.
So bleibt „Auf den Spuren unserer Vorfahren“ inhaltlich leider deutlich hinter meinen (elterlichen) Erwartungen zurück. Außerdem hätte ich mir eine Weltkarte gewünscht, in der die genannten Ortschaften und Gebiete (die heute oft anders heißen) gekennzeichnet sind, sowie Hinweise zur Aussprache der Namen – ja, lacht nur, aber ich mag es nicht, beim Vorlesen ständig über Zungenbrecher wie Ngiyampaa und Kwih-dich-chuh-ahtx zu stolpern. Es fallen auch viele andere komplizierte Wörter und Fachbegriffe (Osteoarchälogen, Luftzirkulation, Kolonialregierung, Röntgenfluoreszenanalyse,…), die ein flüssiges Lesen erschweren (man bedenke auch die angegebene Altersempfehlung ab 7 Jahren, sprich: Leseanfänger!) wobei das Fachgedöns glücklicherweise in einem Glossar erklärt wird.
Meine Tochter war von einigen Beschreibungen und Bildern durchaus beeindruckt, allerdings war auch sie von dem Buch nicht so nachhaltig gefesselt und begeistert wie erhofft.

Bewertung vom 30.05.2025
Ben Saoud, Amira

Schweben


sehr gut

„Begegnungen“ heißt der Dienst, der Emma anbietet – doch eigentlich heißt sie gar nicht Emma, Emma ist nur die Person, zu der sie sich gerade verwandelt. Vorher war sie Ona und noch vorher… Sie weiß selbst nicht mehr, wer sie eigentlich einmal war, wer sie ist, wer sie sein möchte.
Onaemmairgendwer lebt in einer dystopischen Zukunft nach der Hitze und den Kriegen, indem die Menschen in verstreuten Siedlungen leben, deren äußere Grenze sie nicht überschreiten dürfen. Genauso, wie auch jegliche Ausübung von Gewalt strikte verboten ist, die sich aber trotzdem illegal ihren Weg bahnt, wie wir gleich auf den ersten Seiten erfahren.
Und ich war von der ersten Seite an gefesselt an dieses Buch mit dem eigentümlichen Setting, in das man ohne jegliche Erklärung geworfen wird. Die Siedlung ist seltsam, die Protagonistin ist seltsam, und doch fließen tröpfchenweise mehr Informationen, die einen unheimlichen Sog entwickeln. Die Siedlung scheint zu bröckeln, aber mit ihrem neuen Auftrag zerfallen sogar „Emmas“ Sicherheiten, in denen sie sich bis anhin gewähnt hat. Unheimlich klug also der Aufbau der Story, der einem als Leser*in immer mehr Einblick in Verhältnisse bietet, welche gleichzeitig für die Hauptprotagonistin immer fremder werden.
Nach ungefähr zwei Drittel des Buches gibt es einen (für mich schwerwiegenden) Bruch in der sonst so spannenden Handlung, in dem Emma nur noch als Marionette auf der Bühne bewegt wird. Mir ist bewusst, dass es hier um die Unfähigkeit und Hilflosigkeit geht, sich aus einer toxischen Beziehung zu befreien. Trotzdem hat das für mich auf diese Weise überhaupt nicht funktioniert, weshalb ich einen Stern abziehe für einen ansonsten außerordentlich guten Roman, der Fragen nach Identität und Zukunft stellt, ohne zu belehren, und den ich sehr gerne gelesen habe.

Bewertung vom 11.04.2025
Ruban, Paul

Der Duft des Wals


sehr gut

Eigentlich müsste dieses Buch „Der Gestank des Walkadavers“ heißen – dass man sich stattdessen für „Der Duft des Wals“ entschieden hat, ist nicht einfach nur leserfreundlicher. Der Titel ist ein Euphemismus und führt somit elegant vor, um was es in diesem Roman eigentlich geht: um das menschliche Widerstreben, sich unschönen Wahrheiten zu stellen.
Erzählt wird die Story aus der Sicht von Hugo und Judith, die ihre Ehe mit einem Cluburlaub zu retten versuchen, ihrer Tochter Ava (die als einzige die vielen Schönredereien durchschaut), den Hotelangestellten Waldemar und Belén sowie der Flugbegleiterin Céleste, die in Mexiko die Seiten wechselt und sich selber Urlaub gönnt. So entsteht ein wohlkonstruiertes Panorama der Dinge, die da vor und hinter den Kulissen des Hotels passieren.
Und passieren tut da einiges; Autor Paul Ruben greift ziemlich tief rein in die Kiste filmreifer Szenen, von sich klischeeartig entwickelnden Begegnungen bis zu übernatürlichen Erscheinungen. Auch in der Charakterisierung spart der Autor nicht mit Absonderlichkeiten: Céleste hat eine (für die Leser*innen nur schwer erträgliche) Neigung zur Selbstkasteiung, Belén Narkolepsie, Hugo irgendwann eine olympische Bronzemedaille errungen. Zum Glück wird diesen Dingen, die nach „boah, das ist jetzt aber sowas von hinüber“ schreien, nicht allzu große Bedeutung beigemessen, so dass dieser Roman zwar oftmals ganz gefährlich am Rande des Klamauks balanciert, aber sich doch noch irgendwie fangen kann.
Ganz stark – neben den witzigen Dialogen – ist die Bildsprache Rubens, die einige Fragen aufwirft und Interpretationsmöglichkeiten zulässt: welche Bedeutungen haben die Nasenbären und der Uhu? Oder das Etch-a-Sketch, das nur waagrechte und senkrechte Linien zulässt? Wieso verschwindet der tote Wal, aber der Gestank nicht?
Leider bleibt der Schreibstil arg oberflächlich, was zwar für eine gute Lesbarkeit sorgt, aber die nötige Tiefe der angesprochenen Themen vermissen lässt. Die gesellschaftskritischen, satirischen und psychologischen Momente sind vorhanden, können aber nur wenig Wirkung entfalten.

Fazit: Eine unterhaltsame Lektüre, die sich leider nicht so richtig entscheiden kann, ob sie jetzt eigentlich böse und bissig sein will, oder doch lieber nur witzig und abstrus. Trotz der oberflächlichen Ausführung haben einige bildhafte Szenen das Potenzial, Nachhall zu erzeugen.

Bewertung vom 24.03.2025
Armstrong, Tammy

Pearly Everlasting


sehr gut

Pearly Everlasting wächst fernab der Zivilisation in einem Holzfällercamp auf, umgeben von rauer Natur, raubeinigen Waldarbeitern und einer liebevollen Familie; am tiefsten verbunden fühlt sie sich mit ihrem Bruder Bruno: einem Schwarzbären, den ihre Mutter mit ihr zusammen an der Brust aufgezogen hat.
Ausgerechnet dieser Part – das an einer Frauenbrust gestillte Bärenbaby – ist der historische Aufhänger dieser Geschichte, die in den Kanadischen Wäldern spielt: ein Fotograf hat 1903 ein Bild davon geknipst. Die restliche Story hat die Autorin Tammy Armstrong drum herum erfunden.
Sie tut dies auf eine unglaublich einfühlsame, lebendige und bildhafte Weise. Man wird als Leser tief in den kanadischen Wald versetzt, fühlt den kalten Wind im Gesicht und den Schnee unter den Schuhen, hört das Knacken von Ästen und die mysteriösen Geschichten der Holzfäller, riecht feuchte Kleidung, Feuer, Eintöpfe, Baumharz, hält den Atem an bei solchen Beschreibungen: „Ich wollte gerade etwas Gemeines rufen, als Bruno sich auf die Hinterbeine stellte und schnupperte. Ich stellte mir vor, wie Gerüche um seinen mächtigen Leib strichen: Pferde in fernen Ställen, nierenkrank vom Schwarzwasser, mithilfe von Spucke eingefädeltes Garn, der Lauf eines Windhundes mit einem Eschensplint, Hühner, die an ihren Läusen pickten, Hitze um eine menschliche Lüge.“ (S. 64) „Etwas Großes schwamm vorbei, uralt, sein rechtmäßiger Platz der in der trüben Unterwelt. Ein Kettenhecht mit dorniger Schnauze und rauer Haut, der aus nichts als Muskeln und Mysterium und lang gehüteten Geheimnissen bestand.“ (S. 186) Das ist Nature-Writing as its best.
Als Pearly auf der Suche nach Bruno die Wälder verlässt und gezwungenermaßen in einer Siedlung landet, verlagert sich die Story mehr in den menschlichen Bereich und versucht, eine Dorfgesellschaft abzubilden. Ich hatte irgendwie den Eindruck, einen in kältere Gefilde verfrachteten Wildwest-Roman zu lesen: mit den hartgesottenen, bärbeißigen Kerlen, die oft mehr mit Tieren als mit Mitmenschen anfangen können, aber in den wichtigsten Augenblicken natürlich doch zusammenhalten und ihren weichen Kern zeigen; mit Großmäulern, die aus diesen hart arbeitenden Männern Profit schlagen wollen; mit gemeinen Querschlägern und halbseidenen Predigern; mit Großmut und Gefahr und Gewalt; und mit den Frauen dazwischen, die auf ihre eigenen Weise mit den Herausforderungen eines solchen Alltags umgehen.
Tatsächlich sind es die starken Frauenrollen, die hier besonders positiv herausstechen. Die Männerfiguren sind bis auf wenige Ausnahmen ziemlich klischeehaft geraten. Und auch Pearly wirkt – so gern man ihrer Reise und ihren blumigen Gedanken auch folgt – immer wieder arg naiv für einen so willensstark ihren Bruderbären verteidigenden Teenager.
Darüber könnte man problemlos hinwegsehen, weil einen die abenteuerliche Geschichte um das Mädchen und den Bären so komplett aufsaugt.
Allerdings kommt es zu einem aufgeblasen dramatischen Showdown, der nicht mehr richtig zum poetisch-bedächtigen Beginn passen will, sondern einfach die gegebenen Klischees zu einem vorhersehbaren Happy End verpackt. Hier hat die Autorin leider ihre überzeugende schriftstellerische Stärke an Hollywood verspielt.
Dennoch: sehr lesenswert, wenn man sich literarisch auf die Schönheiten und Gefahren einer unwirtlichen Gegend und ihrer Bewohner einlassen will. Grandios übersetzt von Peter Torberg.

Bewertung vom 24.03.2025
Hagena, Katharina

Flusslinien


sehr gut

„Vielleicht gibt es auch eine Sprache mit einem Wort für Stille, nachdem man ausgeatmet hat…

Katharina Hagena hat abgeliefert. Ihr neues Werk ist mit 400 Seiten umfangreicher, gewichtiger als ihre bisherigen. Das schlägt sich auch im Text nieder. Er wirkt geschwätziger und ausformulierter als ihre früheren Romane, die etwas Hingetupftes hatten, etwas Flirrendes, was sich erst oft gegen Ende zu einem Bild zusammenfügte.
In anderem ist sich die Bestsellerautorin treu geblieben. „Flusslinien“ handelt grob von Menschen verschiedener Generationen, von Familiengeschichten und langgehüteten Geheimnissen. Dieses „man nehme ein Geheimnis und decke es erst am Ende auf“-Konzept wirkt leider etwas ausgelutscht und konnte mich in der Auflösung auch nicht wirklich abholen.
Dafür überzeugt Hagena in anderen thematischen Bereichen. Sie beschreibt eindrücklich die Natur in und an der Elbe – und damit auch die Veränderungen, die mit der Fahrrinnenvertiefung einhergehen. Und sie greift die sensible Problematik auf, wie mit Opfer von Vergewaltigungen gegangen wird - wie bei der jungen Luzie, der Enkelin der 102jährigen Margrit. Wie diese nicht nur unter einem seelischen Trauma, sondern auch unter Verniedlichung, Abwertung und sogar Spott zu leiden haben. Diese Passagen sind eindringlicher, als es so manche Aufklärungsschrift schafft. „Er (der Täter) fühlt sich wahrscheinlich immer noch missverstanden. Ein Opfer. Genau wie all die anderen Opfer feministischer Verschwörungen. (…) Praktischerweise kann er sich wegen des Alkohols sowieso an fast gar nichts erinnern. Glück gehabt. (…) Hat übrigens die Frau getrunken, hurra, wieder Glück für den Täter: Dann ist sie erstens willenlos und zweitens ihre Aussage hinterher unzuverlässig. Cheers.“ (S. 67)
Der Grund, warum ich prinzipiell jeden Roman von Katharina Hagena lese, liegt aber sowieso in ihrem Schreibstil – und auch daran hat sich glücklicherweise nichts geändert. Sie ist und bleibt für mich eine der Großen, was Erzählkunst angeht. Sie nimmt mich ein mit ihren feinen, detailverliebten Beobachtungen von Natur und Menschen, mit erlesenen und sinnlichen Sprachbildern, mit dem fortwährenden Spiel von Bedeutungen und Klängen von Wörtern. „Der Strand ist heute besonders schlickig, aber vielleicht kommt es ihm nur so vor, weil der Schlick wegen der Wärme so stark riecht. Er kann nicht sagen, dass es stinkt, denn er mag den Geruch von nassem Sand und fauligen Pflanzen. (…) Schlick, Schlacke, Schlucken. Schlucken und Schluchzen war einst dasselbe Wort, die alten Sprachen sind so weise.“ (S. 121) Auch mit den skurillen Eigenheiten ihrer Charaktere und dem freundlichen Humor: „Besser, sie fragt Arthur. Der hält dann sein Telefon an die Blätter und Früchte des Baums, und die Kamera schickt die Bilder weiter an einen jungen Mann, den Arthur Pflanzenerkennungssepp nennt, und der schreibt Arthur zurück, wie der Baum heißt.“ (S. 148)
Flusslinien zeichnet die Lebenslinien von Menschen am Ufer der Elbe nach. Im Mittelpunkt stehen drei von ihnen, doch auch ihre Vorfahren, ihre Vergangenheiten und ihre Begleiter nehmen wichtige Rollen in dieser Erzählung ein.
Leben, die mal schneller und bewegter, mal wieder gemächlicher dahinfließen.
Die Handlung dieser Lebensgeschichten mit ihren – aus meiner Sicht oft arg melodramatischen, schicksalshaften – Wendungen, hat mich nicht gänzlich abgeholt.
Ein Genuss war das Lesen dank der sprachlichen Feinheiten trotzdem.
… Oder für die Stille, nachdem eine Geschichte zu Ende ist.“ (S. 7)

Bewertung vom 11.03.2025
Westerboer, Nils

Lyneham


sehr gut

„Lyneham“ punktet mit Spannung, faszinierendem Worldbuilding, einem durchdachten Aufbau und nahbaren Charakteren. Es ist gefälliger zu lesen als sein komplexer Vorgänger „Athos 2643“ und versteht es vorzüglich, eine abenteuerliche Neu-Besiedlung-im-Weltall-Story mit philosophischen Fragen zu verknüpfen. Leider werden aufgeworfene Fragen nicht konsequent weiterverfolgt und das Ende misslingt in meinen Augen komplett.

Bewertung vom 25.02.2025
Henríquez, Cristina

Der große Riss (eBook, ePUB)


sehr gut

Ein Kontinent soll getrennt werden, damit die Schiffe passieren können: wenn das mal kein großer Riss ist! Der Plan, den Panamakanal zu bauen, ist irrwitzig und wird doch Anfang des letzten Jahrhunderts Wirklichkeit. Vor dieser historisch denkwürdigen Kulisse hat Cristina Henríquez ihren Roman aufgebaut.
Das Wort Kulisse ist hier jedoch ernst gemeint. Denn um den eigentlichen Bau des Kanals geht es hier nur indirekt. Der historische Hintergrund ist zwar präsent, steht aber nicht im Mittelpunkt des Interesses.
Die Autorin widmet sich vielmehr den Menschen, die 1907 in Panama ankommen, in Panama leben, in Panama arbeiten. Empathisch und lebendig beschreibt sie ihre Herkunft, ihre Träume, Wünsche und Hoffnungen, ihre Familien, ihren Alltag.
Da gibt es Ada, die von Barbados nach Panama flieht, um Geld zu verdienen. Marian Oswald, studierte Botanikerin und ihren Mann John, der die Malaria ausrotten will. Den Fischer Francisco, der seinen Sohn Omar alleine aufzieht. Valentina, die ins Dorf ihrer Kindheit zurückkehrt, um gegen den geplanten Staudamm zu protestieren. Aber noch einige weitere Angehörige, Bekanntschaften oder Vorgesetzte dieser Figuren kommen zu Wort.
Henriquez schafft es, an diesen fiktiven Figuren beispielhaft zu zeigen, dass sich der große Riss nicht nur durch die Landschaft, sondern durch die gesellschaftlichen Strukturen zieht. Weiße und Farbige, Männer und Frauen, Einheimische und Einwanderer, Arme und Reiche leben sozusagen auf zwei verschiedenen Kontinenten.
Trotz der beeindruckenden Anzahl an Menschen, die man bei der Lektüre kennenlernt, ist es leicht, sie zu unterscheiden; überhaupt liest sich dieses Buch sehr flüssig, die Sprache hat keinen großen literarischen Anspruch, ist aber durchwegs bildhaft und eloquent.

Fazit: „Der große Riss“ ist ein toller Schmöker mit eindrücklich viel Personal, das sich dank des angenehmen Schreibstils rasch und mühelos lesen lässt. Leider geht der historische Kontext in der Masse an Familiengeschichte etwas unter, aber in vielen interessanten Details scheint eine gute Portion Gesellschaftskritik durch.