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Insgesamt 61 Bewertungen
Bewertung vom 16.08.2025
Nicholas, Anna

Das Teufelshorn


sehr gut

*Vielversprechender Auftakt einer neuen mallorquinischen Krimi-Reihe*
Mit ihrem stimmungsvollen Mallorca-Krimi „Das Teufelshorn“ hat die britische Autorin Anna Nicholas einen vielversprechenden Auftakt zu einer neuen Regionalkrimi-Reihe vorgelegt.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 33jährige, ehemalige Polizistin Isabel Flores Montserrat, die eine kleine Agentur mit Ferienimmobilien leitet und, nachdem sie ihre Karriere als erfolgreiche Kommissarin an den Nagel gehängt hat, ein eher beschauliches Leben auf der Insel führt. Als jedoch ein kleines britisches Mädchen spurlos am Strand verschwindet, kann sie ihrem alten Freund Hauptkommissar Tolo Cabot ihre Mithilfe nicht verwehren und unterstützt ihn bei den immer verzwickter werdenden Ermittlungen. Schon bald hält sie nicht nur die mysteriöse Kindesentführung, sondern auch noch ein brutaler Mord an einem älteren Mann auf Trab.
Sehr schön stimmt das hübsche Cover mit einem idyllischen Postkartenmotiv auf den eher ruhigen Krimi mit viel Lokalkolorit ein. Mit viel Liebe zum Detail zeichnet die auf der Insel lebende Autorin ein authentisches Bild des mediterranen Lebens auf Mallorca abseits des trubeligen Massentourismus. Gekonnt entführt sie uns in eine idyllische Welt aus Olivenhainen, kleinen Bars und verschwiegenen Buchten ohne jedoch auch die Schattenseiten des Inselparadieses auszublenden.
Neben der idyllischen Landschaft, malerischen Dörfern und dem ländliche Hinterland beschreibt die Autorin die regionalen Besonderheiten lebendig und sehr anschaulich. Man merkt deutlich, dass die Autorin die Schauplätze hervorragend kennt und spürt ihre Liebe für Land und Leute. Glaubwürdig fängt sie das herrliche Flair der Mittelmeerinsel, die mediterrane Lebensart sowie die Eigenheiten ihrer Bewohner ein, so dass beim Lesen des Krimis ein herrliches Urlaubsfeeling aufkommt. Nicholas ansprechender Schreibstil ist sehr lebendig und bildhaft sowie oft von feinem Humor durchzogen. Die Autorin versteht es, mit ihren atmosphärisch dichten Beschreibungen die Handlung abwechslungsreich und unterhaltsam zu gestalten, so dass bei diesem klassischen Whodunnit kaum Längen aufkommen.
Geschickt hat Nicholas verschiedene Handlungsstränge miteinander verwoben und lässt zudem viel Raum für die persönlichen Belange der Charaktere. Obwohl die Handlung insgesamt gemächlich voranschreitet, versteht es die Autorin, eine subtile Spannung aufzubauen. Die verschiedenen Verdächtigen und mögliche Motive sind glaubwürdig ausgearbeitet, so dass man beim Lesen gut miträtseln kann. Nach geschickt platzierten, falschen Fährten und einigen unerwarteten Wendungen zieht der Spannungsbogen schließlich deutlich an und gipfelt in einem spannenden Showdown. Die Auflösung der Fälle ist zwar etwas vorhersehbar, aber in sich schlüssig und glaubhaft, auch wenn ich mir noch etwas mehr Hintergrundinformationen zu den jeweiligen Tatmotiven gewünscht hätte.
ie verschiedenen Charaktere sind abhängig von ihrer Rolle vielschichtig und glaubwürdig ausgearbeitet. Äußerst gelungen ist vor allem die sympathische und sehr authentisch wirkende Hauptfigur Isabel Flores Montserrat und ihr interessantes Privatleben. Sie ist eine bemerkenswerte Frau mit Ecken und Kanten und eine versierte Ermittlerin, die sich von ihrer untrüglichen Intuition leiten lässt. Insbesondere ihr feines Gespür für menschliche Befindlichkeiten und ihre umfassende Kenntnis der lokalen Verhältnisse kommen ihr bei ihren Ermittlungen zugute.
Teilweise etwas stereotyp und eindimensional wirken allerdings einige Nebenfiguren.

FAZIT
Insgesamt ein ruhiger, aber sehr stimmungsvoller und unterhaltsamer Regionalkrimi - mit einem vielschichtigen Fall, viel mallorquinischem Lokalkolorit und einer sympathischen Ermittlerin. Ein gelungener Krimi-Auftakt, der Lust auf neue Fälle mit Isabel Flores Montserrat macht und auf einen weiteren literarischen Kurzurlaub auf Mallorca!

Bewertung vom 16.08.2025
Deya, Claire

Eine Welt nur für uns


sehr gut

*Vielschichtiger historischer Roman*
Mit ihrem historischen Roman "Eine Welt nur für uns" gelingt der französischen Autorin Claire Deya eine eindrucksvolle und facettenreiche Darstellung der unmittelbaren Nachkriegszeit in Frankreich im Jahr 1945 gelungen. Auch nach dem offiziellen Waffenstillstand bleiben die verheerenden Folgen des Kriegs allgegenwärtig und prägen das Leben der Menschen nachhaltig. Feinfühlig und atmosphärisch dicht erkundet Deya die menschliche Natur in Zeiten extremer Herausforderungen - zwischen Desillusionierung, Zerstörung, Versöhnung, Hoffnung und Neuanfang nach dem 2. Weltkrieg. Mit der gefahrvollen Minenräumung an den Stränden der Côte d’Azur widmet sich die Autorin zudem einem wenig bekannten Aspekt jener Zeit.
Angesiedelt ist die Handlung in der südfranzösischen Küstenstadt Hyères.
Durch wechselnde Erzählperspektiven gewinnen wir vielschichtige Einblicke in das Leben und die Gefühlswelt der unterschiedlichen Figuren. Sie kämpfen nicht nur täglich ums Überleben, sondern müssen sich auch ihren Traumata stellen und nach einem neuen Sinn für ihr Leben suchen.
Im Mittelpunkt der Erzählung steht der französische Arzt Vincent, der nach seiner Rückkehr aus deutscher Kriegsgefangenschaft verzweifelt nach seiner große Liebe Ariane sucht, die spurlos verschwunden ist. Seine Nachforschungen führt ihn zu einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Minenräumern, die aus ehemaligen Resistancekämpfern, Freiwilligen und deutschen Kriegsgefangenen besteht. Unter ihnen ist auch der Deutsche Lukas, der seine lebensgefährliche Arbeit als Chance für einen Fluchtversuch sieht. Vincent erhofft sich von ihm Hinweise auf Arianes Verbleib zu erhalten.
Parallel dazu lernen wir die junge Jüdin Saskia kennen, deren Schicksal bersonders erschüttert. Als einzige Überlebende ihrer Familie kehrt sie zurück und muss fassungslos feststellen, dass ihr einstiges Elternhaus inzwischen von einer anderen Familie bewohnt wird. Buchstäblich vor dem Nichts stehend begegnet das traumatisierte Mädchen Vincent, der ihr Unterschlupf gewährt.
Deya entwirft ein vielschichtiges Porträt der französischen Gesellschaft sowohl während der Besatzungszeit als auch im Übergang zur Nachkriegsordnung. Mit atmosphärisch dichten und detailreichen Schilderungen gelingt es ihr, die beklemmende und angespannte Stimmung jener Zeit einzufangen. Eindringlich beleuchtet sie die komplexe Realität dieser Epoche, die von tiefem Misstrauen, gesellschaftlichen Umbrüchen und vielfältigen moralischen Verstrickungen geprägt war, aber auch von Menschlichkeit, Versöhnung und Hoffnung auf Normalität.
Für besondere Authentizität und Spannung sorgen die präzise recherchierten und anschaulich geschilderten Minenräumarbeiten. Wir erleben die nervenaufreibenden, lebensgefährlichen Einsätze hautnah mit, bei denen ehemalige Feinde Seite an Seite arbeiten müssen – eine Aufgabe, die höchste Konzentration, gegenseitiges Vertrauen und eingespieltes Teamwork verlangt.
Sehr einfühlsam und differenziert sind die faszinierenden Charaktere gezeichnet. Ihre komplexen Persönlichkeiten und inneren Widersprüchlichkeiten sind sorgfältig und überzeugend ausgearbeitet. Eindrücklich stellt Deya die Verletzlichkeiten, Schwächen, Ängste und moralischen Dilemmata ihrer Figuren in all den verschiedenen Grautöne des menschlichen Verhaltens dar. Besonders anschaulich sind sind nicht nur die psychologischen Spannungen zwischen den Figuren ausgearbeitet, sondern auch das fragile Band von Vertrauen und Freundschaft, dass sich allmählich zwischen den Minenräumern entwickelt.
Die Figuren und ihre inneren Konflikte hätten allerdings deutlich glaubwürdiger und authentischer gewirkt, wenn die Autorin sie stärker durch ihr Handeln, ihre Entscheidungen und Reaktionen hätte sprechen lassen, statt ihre Gefühle und Motive explizit zu benennen. Zudem wirkt die Darstellung der deutsch-französischen Zusammenarbeit etwas idealisiert; tief verwurzelte Ressentiments, gegenseitige Vorbehalte und Misstrauen hätten noch tiefgründiger thematisiert werden können.
Besonders lesenswert ist das interessante Nachwort der Autorin, in dem sie autobiografische Bezüge offen legt. Die Figur des Vincent basiert auf Deyas Großvater, dessen Briefe aus der deutschen Kriegsgefangenschaft als Vorlage für den Roman dienten. Auch Saskia ist keine erfundene Figur, sondern geht auf eine reale Begegnung der Autorin mit einer KZ-Überlebenden zurück, die ihr ihre Geschichte anvertraute. Diese Authentizität und emotionale Tiefe sind auf jeder Seite des Romans spürbar und machen ihn zu einem ein bewegenden Leseerlebnis, das lange nachhallt.
FAZIT
Ein vielschichtiger, atmosphärisch dichter Roman, der eine wenig bekannte Facette der französischen Nachkriegszeit beleuchtet und trotz kleiner Schwächen durch seine emotionale Tiefe und Authentizität zu überzeugen weiß.
Ein bewegender Roman, der die Erinnerung an eine schwierige Zeit lebendig hält und zum Nachdenken anregt.

Bewertung vom 16.08.2025
Wagner, Jan Costin

Eden (eBook, ePUB)


sehr gut

*Ein aufrüttelnder Roman*
Mit „Eden“ legt Jan Costin Wagner einen vielschichtigen, nachdenklich stimmenden Roman vor, der sich ebenso eindringlich wie sensibel mit den Folgen einer erschütternden Familientragödie auseinandersetzt. Die zutiefst berührende Geschichte beginnt mit einem dramatischen Einstiegsszenario: Bei einem Popkonzert kommt es zu einem Anschlag eines jungen Selbstmordattentäters, bei dem die zwölfjährige Sofie ihr Leben verliert.
Wagner gelingt es, existenzielle Fragen von Trauer, Schuld, Vergebung und dem Umgang mit persönlichem Verlust sowie der Verantwortung des Einzelnen in der Gesellschaft facettenreich zu beleuchten.
Durch die multiperspektivische Erzählweise lässt er uns unterschiedlichste Sichtweisen auf die Ereignisse und ihre Nachwirkungen erleben. Mit großem Feingefühl zeichnet Wagner das Innenleben vieler seiner Charaktere nach.
Besonders gelungen sind die differenzierten und eindringlichen Schilderungen, wie Sofies Eltern in einen Strudel aus Schmerz, Sprachlosigkeit und Entfremdung stürzen. Besonders überwältigend ist es mitzuerleben, wie beide ganz eigene Wege finden (oder suchen), um mit dem Verlust, ihrer Ohnmacht und Trauer umzugehen und nach Halt zu ringen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang insbesondere Markus’ Entwicklung, der – trotz aller Verbitterung – den Dialog mit der Familie des Attentäters sucht und damit einen ungewöhnlichen Versuch zur Verständigung wagt.
Darüber hinaus richtet Wagner den Blick auf weitere Betroffene, etwa die Familie des jugendlichen Täters. So wird deutlich, dass die Folgen der unfassbaren Katastrophe nicht auf eine einzelne Familie beschränkt bleiben, sondern sich auf das soziale Umfeld und die gesamte Gesellschaft ausdehnen. Geschickt thematisiert Wagner schließlich auch, wie Medien und Politik das Geschehen für eigene Zwecke instrumentalisieren und so zur gesellschaftlichen Spaltung beitragen.
Der Schreibstil des Romans verlangt den Lesenden jedoch einiges ab. Wagners Reduktion auf das Wesentliche, seine distanzierte Erzählweise und die oft knapp gehaltenen, fast fragmentarisch wirkenden Dialoge lassen vieles unausgesprochen und offen. Vieles bleibt im Vagen, wodurch häufig erst die eigene Vorstellungskraft die Leerstellen hinsichtlich Innenleben und Motivationen der Figuren füllen muss.
Der konsequent eingehaltene Blickwinkel der dritten Person erschwert es jedoch, eine echte Nähe zu den Charakteren herzustellen und mit ihnen zu fühlen.
Gerade Sofies Mutter und ihren Freund Tobias blieben für mich überraschend blass und wenig greifbar; auch die Innensicht des Attentäters und die Erklärung für die Hintergründe seiner Tat werden nicht umfassend ausgearbeitet, was zu einer gewissen Distanz führt.
Gleichzeitig sorgen die häufigen Perspektivwechsel und die episodisch strukturierten, kurzen Kapitel für eine spürbare Unruhe, was sehr stimmig das Gefühl von Ohnmacht, Aufgewühltheit und Fassungslosigkeit unterstreicht und hervorragend zur Thematik und den Figuren passt.
Kritisch anzumerken ist allerdings, dass Wagner in seinem Roman eine Vielzahl gesellschaftlich relevanter Themen wie Rassismus, rechtsextremistische Radikalisierung und den Umgang mit Demenzerkrankungen zwar aufgreift, diese aber meist nur andeutet und selten in ihrer vollen Komplexität beleuchtet. Dadurch bleiben manche Aspekte eher an der Oberfläche und werden teilweise nur schlaglichtartig und ohne eingehende Vertiefung gestreift. Die wichtigen Zwischentöne und Ambivalenzen, die gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatte nötig wären, fehlen stellenweise, wodurch der Roman leider etwas von seinem Potenzial einbüßt.
Positiv hervorzuheben ist jedoch, dass Wagners sachliche Sprache und die klar strukturierte, oft kurze und prägnante Erzählweise den Roman gerade für die jüngere Leserschaft sehr zugänglich machen. Dies prädestiniert „Eden“ als Schullektüre und schafft vielfältige Anknüpfungspunkte für Diskussionen über Schuld, Verantwortung, gesellschaftliches Miteinander und die Rolle der Medien.

FAZIT
Ein bewegender Roman, der viele gesellschaftlich brisante und drängende Themen der Gegenwart aufgreift und zum Nachdenken über Verlust, Schuld und gesellschaftlichen Zusammenhalt anregt. Auch wenn manche Themen nur angerissen und einige Figuren etwas schemenhaft bleiben, beeindruckt der Roman durch seine emotionale Wucht und ist eine bereichernde Lektüre!

Bewertung vom 11.08.2025
Vuong, Ocean

Der Kaiser der Freude


ausgezeichnet

*Ein bewegendes, sehr poetisches Porträt der Unsichtbaren*
Mit „Der Kaiser der Freude“ legt Ocean Vuong nach seinem gefeierten Debüt einen weiteren außergewöhnlichen Roman vor, der die Schattenseiten des amerikanischen Traums eindrucksvoll beleuchtet und all jenen eine Stimme gibt, die am Rand der gnadenlosen Konsumgesellschaft ums Überleben ringen.
Mit viel Feingefühl thematisiert Vuong zudem Themen wie Migration, Rassismus, Identität, Außenseitertum, soziale Marginalisierung sowie die Last von Trauma und Erinnerungen.

Angesiedelt ist die in vier Abschnitte gegliederte Handlung in der trostlosen fiktiven Kleinstadt East Gladness in Connecticut, die stellvertretend für das postindustrielle, abgehängte Amerika steht.
Im Mittelpunkt steht Hai, der neunzehnjährige Sohn einer vietnamesischen Einwanderin, der an der eigenen Ausweglosigkeit und Einsamkeit zu zerbrechen droht und kurz vor einem Suizid steht. Während er auf einer Brücke steht, hält ihn Grazina, einer älteren, an Demenz erkrankten Frau mit litauischen Wurzeln, von seinem Vorhaben ab. Aus dieser zufälligen Begegnung entwickelt sich eine fragile, aber tief berührende Beziehung, die für beide zu einem Wendepunkt wird. Hai findet als Grazinas Pfleger nicht nur Unterkunft und eine Aufgabe bei ihr, sondern auch eine neue Form von Zuneigung, Halt und Zugehörigkeit.

Vuong gelingt es, mit großer poetischer Kraft und Genauigkeit die trostlose Atmosphäre von East Gladness einzufangen - eine kontrastvolle Welt, in der Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Drogenkrise und Armut allgegenwärtig sind. Äußerst beeindruckend ist Vuongs bildgewaltiger Schreibstil; voller Metaphern und sinnlich-intensiver Beschreibungen taucht er das Alltägliche in eine schmerzlich-melancholische Schönheit. Zudem versteht es hervorragend, uns die widersprüchliche Gefühlswelt seiner Figuren sehr plastisch nahe zu bringen.
Seine fragmentarische, von Rückblicken und inneren Monologen durchzogene Erzählweise ist von faszinierender Leichtigkeit, verlangt aber eine erhöhte Aufmerksamkeit.
Ein besonderes Highlight sind die vielschichtigen, liebevoll gezeichneten Charaktere, die in all ihrer Fragalität und ihren Eigenheiten sehr lebensnah eingefangen sind. Sie stellen keine klassischen Helden dar, sondern verletzliche, gebrochene und vereinsamte Figuren, die von der Gesellschaft ausgegrenzt werden, aber trotz aller Widrigkeiten auch in ihrer kleinen Zweckgemeinschaft Nähe, Freundschaft und Solidarität finden können.
Mit Hai hat der Autor einen beeindruckenden Protagonisten geschaffen, der mit seiner Identität, Herkunft und Erwartungen im Lebensalltag zu kämpfen hat. Mit großer Empathie und psychologischer Tiefe zeichnet er seine Unsicherheit, Sehnsucht nach Zugehörigkeit und seinen Kampf gegen seine Drogensucht und inneren Dämonen.
Auch Grazina ist eine sehr beeindruckende Hauptfigur. Eindrucksvoll führt Vuong uns vor Augen, dass ihre Demenz nicht nur individuelles Vergessen, sondern auch eine kollektive Komponente des Erinnerns an andere Zeiten und Traumata umfasst und manchmal einen befreienden Schutz bietet. Gekonnt verdeutlicht er, dass das kollektive Verdrängen von Geschichte, Leid und Verantwortung sinnbildlich für ein grundlegendes gesellschaftliches Klima steht. Einfühlsam und glaubwürdig schildert Vuong die zarte, freundschaftliche Beziehung zwischen Hai und Grazina, die neben den alltäglichen Problemen und Missverständnissen auch berührende Momente von menschlicher Nähe und gegenseitigem Verständnis aufweist.
Auch die Nebenfiguren wie Hais Cousin Sony und seine Arbeitskollegen im Diner sind vielschichtig und glaubwürdig ausgearbeitet. Sie stehen exemplarisch für die „Unsichtbaren und gesellschaftlich Abgehängten“ der amerikanischen Gesellschaft - Menschen, die von Armut, Sucht, Krankheit und Ausgrenzung gezeichnet sind, aber dennoch in der Gemeinschaft auch die faszinierende Kraft von menschlicher Verbundenheit erleben und die beflügelnde Hoffnung auf eine zweite Chance im Leben finden können.
Mit schonungsloser Klarheit kritisiert Vuong in seinem anspruchsvollen und sehr facettenreichen Roman die zerstörerischen Folgen des Spätkapitalismus, der Prekarisierung von Arbeit und der gnadenlosen Ausgrenzung der Schwächsten. Gleichzeitig gelingt es ihm, inmitten der Hoffnungslosigkeit Momente von Zärtlichkeit, Freundschaft und Solidarität zu zeigen, die dem gelungenen Roman eine besondere emotionale Kraft verleihen

FAZIT
Ein herausfordernder und berührender Roman über die Kraft von Gemeinschaft und über die Möglichkeit von Schönheit und Würde in einer oft grausamen Welt.
Ein ebenso schmerzliches wie hoffnungsvolles Porträt der Ausgegrenzten und Unsichtbaren in der amerikanischen Gesellschaft, das noch lange nachhallt!

Bewertung vom 03.08.2025
Koch, Manfred

Rilke


ausgezeichnet

*Rilke jenseits des Mythos - Eine beeindruckende Biografie*
Anlässlich des 150. Geburtstag des berühmten Lyrikers Rainer Maria Rilke legt der Literaturwissenschaftler Manfred Koch mit seiner umfangreichen Biografie „Rilke: Dichter der Angst“ eine spannende, tiefenpsychologisch fundierte Gesamtschau vor, die den Dichter und sein Werk neu und eindrucksvoll beleuchtet.
Mit seinen eingehenden Analysen präsentiert er uns überraschende Erkenntnisse über den Menschen hinter dem Mythos und einen frischen Kontrapunkt zu den gängigen Rilke-Vorstellungen. Koch gelingt es überzeugend, bekannte Klischees aufzubrechen und Rilke nicht als idealisierten „Dichterpriester“, sondern als sensiblen Künstler darzustellen, der zeitlebens von Selbstzweifeln und existenziellen Ängsten geprägt war.
Beeindruckend verbindet der Literaturwissenschaftler akribische biografische Rekonstruktionen mit präziser Werkdeutung. Sehr anschaulich zeigt er, wie Rilkes literarisches Schaffen als eine Art Überlebensstrategie diente – als Reaktion auf traumatische Kindheitserlebnisse, psychische Krisen und permanente Unsicherheit, die ihn ein Leben lang begleitete.
Besonders eingehend widmet sich Koch der Kindheit Rilkes und analysiert anhand bislang weitgehend unbeachteter Briefe, Tagebuchfragmente und medizinischer Unterlagen die problematische Mutter-Kind-Beziehung. Er macht deutlich, wie diese Beziehung seine Schwierigkeiten im Aufbau von Bindungen sowie seinen hohen Perfektionismus im Schreiben nachhaltig beeinflusste.
Darüber hinaus beleuchtet Koch die Ambivalenzen in Rilkes Beziehungen zu Frauen und Mäzenen, die häufig von Abhängigkeiten geprägt waren und auf seinen tiefen existentiellen Ängsten beruhten.
Besonders faszinierend sind zudem Kochs Deutungen in Bezug auf Rilkes nuancierter Haltung zu Geschlechterrollen und Identitätsfragen. So zeigt er auf, dass Rilke in seinen Gedichten bewusst mit den Grenzen von Geschlecht spielte – als ein Versuch, Schutzräumen gegenüber der Komplexität realer zwischenmenschlicher Beziehungen zu schaffen.
Koch scheut sich nicht davor, auch die weniger schmeichelhaften Seiten und Widersprüche des Genies zu thematisieren: Hierzu gehörten beispielsweise dessen finanzielle Abhängigkeiten, sein egoistisches Verhalten gegenüber Freunden und Geliebten sowie die Tendenz, alltägliche Probleme philosophisch zu überhöhen. Dabei bewahrt die Biografie stets einen fairen und empathischen Ton, der Rilkes Schwächen und seine tiefe Verwundbarkeit menschlich nachvollziehbar macht, ohne sie moralisch zu verurteilen.
Die Verbindung von Biografie und Werk wird durch zahlreiche neue Quellen gestützt, darunter viele bislang unveröffentlichte Briefe und Notizen, die im äußerst umfangreichen wissenschaftlichen Anhang dokumentiert sind. Diese fundierte Quellenbasis belegt gekonnt die Thesen des Autors und verleiht dem Werk großes Gewicht.
Zu kritisieren bleibt jedoch, dass sich Koch teilweise zu stark auf seine „Angst-These“ fokussiert, die nicht immer durchgängig überzeugt und womöglich auch andere Deutungs- oder Lebensaspekte Rilkes etwas zu kurz kommen lässt.
Dennoch ist die Biografie ein bedeutender Fortschritt in der Rilke-Forschung, der den Dichter aus einer neuen, zeitgemäßen Perspektive zeigt.
Kochs einfühlsame Biografie eröffnet einen spannenden Zugang zu Rilkes Werk, indem sie psychologische Tiefe und literarisches Verständnis gekonnt vereint und so den Dichter-Mythos differenziert relativiert.
Gekonnt zeichnet Koch ein sensibles und schonungslos ehrliches Porträt eines zutiefst verletzlichen Menschen, der sein Leben lang mit inneren Dämonen rang und einen hohen Preis für seine Kunst zahlte.
Für alle, die hinter das Bild des Genies schauen wollen, die eine Verbindung von Psychologie und Literatur schätzen und keine klassische, rein werkorientierte Biografie erwarten, bietet Kochs Werk neue, faszinierende Einsichten und frische Zugänge zu Rilke – ein Meilenstein voller Empathie und kritischer Reflexion.

FAZIT
Ein beeindruckendes, psychologisch nuanciertes Porträt eines zutiefst komplexen Künstlers, das den bekannten Rilke-Mythos herausfordert und die Ängste, Widersprüche und Verletzlichkeiten des Dichters eindrucksvoll in den Mittelpunkt stellt.
Eine äußerst anspruchsvolle, aber bereichernde Lektüre für alle, die hinter das Genie blicken wollen!

Bewertung vom 01.08.2025
Brooks, Sarah

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland (eBook, ePUB)


sehr gut

*Faszinierende Fantasy-Reise ins Unbekannte *
Mit ihrem Roman „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ ist Sarah Brooks ein faszinierendes und, atmosphärisch dichtes Debüt gelungen.
Der Roman besticht durch eine ungewöhnliche Genrevielfalt auf, die sich am ehesten dem „Magischem Realismus“ zuordnen lässt. Geschickt verwebt die Autorin Elemente aus historischem Roman, Krimi und Fantasy mit surrealen Einschüben und erschafft so eine originelle, facettenreiche und ungemein fesselnde Geschichte, die uns immer wieder aufs Neue überrascht.
Die Ende des 19. Jahrhunderts angesiedelte Handlung nimmt uns mit auf eine ungewöhnliche Reise mit dem Transsibirien-Express - mitten durch die bedrohlich wirkende, feindselige Landschaft des legendären Ödlands. Obwohl die Transsibirien-Kompanie ihren Reisenden vollkommene Sicherheit in dem hermetisch abgeriegelten Zug verspricht, offenbaren sich hinter der vertrauenerweckenden Fassade schon bald unberechenbare Gefahren.
Die wendungsreiche Geschichte wird aus den wechselnden Perspektiven verschiedener Passagiere und Angestellter des Transsibirien-Express erzählt, von denen jeder seine eigenen Beweggründe für die Reise hat. Ob nun das Findelkind Weiwei, das als „Zugkind“ sein ganzes bisheriges Leben im Zug verbracht hat, die rätselhafte Frau Maria Petrowna, die unter falschen Namen reist und den Selbstmord ihres Vaters aufklären möchte oder der in Ungnade gefallene Naturforscher Henry Grey, der um seine wissenschaftliche Reputation kämpft – sie alle bringen ihre individuellen Schicksale, Hoffnungen und Geheimnisse mit, die erst im Verlauf der Handlung allmählich enthüllt werden. 
Einfühlsam und facettenreich sind die verschiedenen Figuren mit ihren Eigenheiten, Geheimnissen und Verletzlichkeiten beschrieben, so dass man ihnen gerne durch die Geschichte folgt. Dennoch erschienen mir die Charaktere oftmals etwas blass und zu wenig greifbar, was es erschwerte, eine wirkliche emotionale Bindung zu ihnen aufzubauen.
Eingestreut in die Handlung finden sich immer wieder Passagen aus dem „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“, verfasst von einem gewissen Rostow, der die mystische und gefährliche Natur des  Ödlands und seine Durchquerung akribisch erforscht und niedergeschrieben hat.
Mit ihrem lebendigen, äußerst anschaulichen Erzählstil gelingt es der Autorin hervorragend, sowohl das einzigartige Ambiente des Transsibirien-Expresses als auch die geheimnisvolle Weite des Ödlands samt seiner bizarren Kreaturen eindrucksvoll und facettenreich zu beschreiben. Rasch verliert man sich in dieser faszinierenden, von unheilvoller Atmosphäre und ungewöhnlichen Ereignissen geprägten Welt, die vor originellen Details nur so sprüht.
Das Geschehen entfaltet sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln und nimmt erst allmählich Fahrt auf, wodurch sich das Gesamtbild erst schrittweise zusammensetzt. Es braucht eine gewisse Zeit, bis sich anfangs verwirrende Details zuordnen und gewisse Zusammenhänge erkennen lassen. Teilweise gerät die Handlung jedoch ins Stocken und wirkt phasenweise etwas langatmig. Gleichzeitig lockert Brooks die Erzählung zunehmend mit magischen und surrealen Elementen auf, die für eine zusätzliche Vielschichtigkeit sorgen.
Mit zahlreichen unerwarteten Wendungen gewinnt die Geschichte aber schließlich deutlich an Dynamik und Spannung und steuert auf ein höchst packendes Finale zu, das mit einigen überraschenden Verwicklungen aufwartet.
Brooks thematisiert in ihrem Roman grundlegende Fragestellungen zum respektvollen Umgang mit der Natur sowie den Risiken von Industrialisierung und Kommerzialisierung. Das Ödland wird zum kraftvollen Symbol für das Unbekannte und Unkontrollierbare, das sich einer Vereinnahmung durch die Menschen widersetzt. Durchzogen von subtilen gesellschaftskritischen Anklängen liest sich der Roman zugleich als eindringliche Mahnung, einen harmonischen Einklang mit der Natur zu suchen und zu bewahren – eine wunderbare Botschaft dieses faszinierenden und tiefgründigen Romans!

FAZIT
Ein beeindruckendes, atmosphärisch dichtes Debüt voller origineller Ideen - mit einem faszinierenden Genre-Mix, einer fesselnden,  tiefgründigen Handlung und einer wichtigen, zeitlosen Botschaft!
Trotz gelegentlicher Längen und etwas distanzierter Figurenzeichnung empfehlenswert für alle, die Lust auf eine ungewöhnliche Mischung aus Abenteuer, Fantasy und literarischer Reise haben!

Bewertung vom 30.07.2025
Rundberg, Johan

Mika Mysteries 1: Der Ruf des Nachtraben (MP3-Download)


ausgezeichnet

*Fesselnder Auftakt*
Mit „Der Ruf des Nachtraben“ ist Johan Rundberg ein faszinierender Auftakt seiner historischen Jugendkrimi-Reihe „Mika Mysteries“ gelungen. Im Mittelpunkt steht die zwölfjährige Mika, die unter entbehrungsreichen Zuständen in einem Stockholmer Waisenhaus lebt und nebenbei als Schankmädchen arbeiten muss.
Die stimmige Mischung aus spannendem Kriminalfall, beklemmender Milieubeschreibung und feinsinniger Sozialkritik entfaltet von Beginn an eine große Sogwirkung.
Rundbergs bildhafter Erzählstil, der auch auf eine jüngere Leserschaft ab 10 Jahren zugeschnitten ist, lässt uns unmittelbar in das historische Stockholm mitten im bitterkalten Winter des Jahres 1880 eintauchen. Der Autor zeichnet ein eindrucksvolles Bild jener düsteren Zeit, in der bittere Armut, soziale Not und täglicher Überlebenskampf allgegenwärtig sind. Es gelingt ihm hervorragend, die recht bedrückende Atmosphäre des späten 19. Jahrhunderts lebendig werden zu lassen, so dass man die Härten und Ungerechtigkeiten des Alltags gut nachempfinden kann.
Als eines Nachts ein Findelkind von einem mysteriösen Unbekannten im Waisenhaus abgegeben wird, wird die clevere, aufgeweckte Mika befragt. Der ermittelnde Kommissar Valdemar Hoff erkennt Mikas scharfen Verstand und außergewöhnliche Beobachtungsgabe und bindet sie in die Ermittlungen zu einem äußerst rätselhaften Mordfall ein, bei dem ein bereits totgeglaubter Serienmörder – der berüchtigte Nachtrabe - erneut sein Unwesen in der Stadt zu treiben scheint. So begibt sich das äußerst ungleiche Ermittlerduo auf eine gefahrvolle und abenteuerliche Spurensuche, bei der nicht nur die Lösung des Falls, sondern auch die gesellschaftlichen Zwänge jener Zeit eine bedeutsame Rolle spielen.
Mit der sympathischen Mika hat Rundberg eine Hauptfigur geschaffen, die sowohl lebensnah als auch vielschichtig ist. Ihre Gefühle, Sorgen und Nöte sind auch für Kinder nachvollziehbar, so dass man sich gut in sie hinein versetzen und mit ihr mitfiebern kann. Mit Scharfsinn, Witz und Mut stellt sie sich den gesellschaftlichen Zwängen ihrer Zeit entgegen. Doch hinter Mikas Stärke verbergen sich auch nachdenkliche, verletzliche Momente, in denen ihre Zweifel und Einsamkeit spürbar werden, , was ihre Figur besonders einnehmend und glaubwürdig macht.
Auch die Nebenfiguren sind entsprechend ihrer Rollen facettenreich ausgearbeitet. Allen voran der anfangs sehr spröde, vermeintlich hartherzige Kommissar Hoff, der Mika erst abschätzig als „Lumpenfräulein“ tituliert, im Laufe der Ermittlungen aber mehr und mehr Respekt und Wertschätzung für ihre Fähigkeiten entwickelt.
Die realistischen, teils schonungslosen Beschreibungen des historischen Alltags und der dunklen Seiten Stockholms dürften allerdings eher eine erwachsene Leserschaft ansprechen und könnten für Jüngere stellenweise durchaus Angsteinflößend sein. Dennoch wird die düstere, oft bedrückende Stimmung durch humorvolle, scharfzüngige Dialoge zwischen Mika und Kommissar Hoff immer wieder angenehm aufgelockert.
Es entfaltet sich eine clever angelegte, fesselnde Geschichte, die mit überraschenden Wendungen für viel Abwechslung sorgt, und bei der die Spannung bis zur überraschenden Auflösung konstant auf hohem Niveau bleibt.
Viel Neugier wecken zudem die interessant angelegten Nebenstränge, allen voran das Rätsel um Mikas Herkunft, das Lust auf weitere Bände macht.
ZUM HÖRBUCH
Die Film- und Theaterschauspielerin Julia Nachtmann überzeugt mit einer lebendigen und absolut mitreißenden Interpretation der Geschichte. Mit ihrer ruhigen, warmherzigen und nuancenreichen Stimme fängt sie sie dichte Atmosphäre hervorragend ein, sodass auch jüngere Zuhörer mit ausreichend Konzentration den Geschehnissen gut folgen können. Vielschichtig und mit großer Sensibilität transportiert sie dabei die mitunter bedrückende Atmosphäre. Gekonnt erweckt sie das historische Stockholm eindringlich und packend zum Leben.
Durch ihre variantenreiche Stimmgestaltung verleiht Nachtmann den verschiedenen Figuren durch nicht nur Glaubwürdigkeit, sondern auch individuelle Charakterzüge und eine klare Unterscheidbarkeit. Besonders die sympathische Mika wirkt in ihrer gesamten emotionalen Bandbreite lebendig und authentisch. Nachtmann gibt ihr eine eigene, passende Stimme, wodurch Zuhörer ganz unmittelbar an Mikas Sicht auf die Welt teilhaben und eine enge Bindung zu ihr aufbauen können.
Auch Nebenfiguren werden mit ihren jeweiligen Eigenheiten stimmlich gut unterscheidbar interpretiert, was die Handlung besonders lebendig und nachvollziehbar macht.
Insgesamt bietet dieses ungekürzte Hörbuch eine äußerst gelungene Umsetzung des Auftaktbands!

FAZIT
Ein anspruchsvoller und außergewöhnlich atmosphärischer Jugendkrimi vor historischem Hintergrund, der mit einer liebenswerten, starken Protagonistin und vielschichtigem Kriminalfall überzeugt!
Ein rundum gelungener Auftakt, der jugendliche wie auch erwachsene Fans von historischen Krimis begeistern wird!

Bewertung vom 13.07.2025
Pötzsch, Oliver

Der Totengräber und die Pratermorde / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.4 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

*Eine fesselnde Rückkehr ins Wien der Jahrhundertwende*
Mit „Der Totengräber und die Pratermorde“ - dem bereits vierten Band seiner erfolgreichen historischen Krimireihe rund um den jungen, charismatischen Inspektor Leo von Herzfeldt, die ambitionierte Journalistin und Fotografin Julia Wolf sowie den eigenwilligen Totengräber Augustin Rothmayer – legt Oliver Pötzsch eine mitreißende Fortsetzung vor und entführt uns erneut ins quirlige Wien der Jahrhundertwende.
Vorkenntnisse aus den vorherigen Bänden sind für das Verständnis der Handlung nicht zwingend erforderlich. Dennoch empfehle ich allen Liebhabern historischer Krimis, auch die früheren Geschichten dieser absolut lesenswerten Reihe kennenzulernen.
Auch im aktuellen Band beweist Pötzsch sein außergewöhnliches Talent als Erzähler und hat einen spannenden, höchst komplexen Kriminalfall entworfen, der mich auf ganzer Linie überzeugen konnte.
Der neue, knifflige Fall spielt im Jahr 1896 und lässt uns in die faszinierende Welt des Wiener Praters eintauchen - mit seinen Artisten, Schaustellern, aber auch den dunklen Seiten der Vergnügungen.
Der auf mehreren Handlungssträngen angelegte Krimi beginnt mit einem spektakulären Auftakt. Während der Premierenvorstellung des berühmten Zauberers Charles Banton und seinem neuesten Zaubertricks „Die zersägte Jungfrau“ kommt es vor den Augen des Publikums zu einer tragischen und schockierenden Katastrophe - die junge Assistentin kommt dabei tatsächlich auf der Bühne ums Leben. Die für die Lokalpresse schreibende Reporterin Julia ist vor Ort und beginnt sogleich mit eigenen Nachforschungen.
Die offiziellen Ermittlungen zu dem rätselhaften Todesfall übernimmt wieder Inspektor Leopold von Herzfeldt. Doch schon bald verdichten sich zudem Hinweise auf das spurlose Verschwinden von jungen Frauen rund um den Prater. Nur gut, dass Leo bei seinen schwierigen Ermittlungen auf die Unterstützung seines hochgeschätzten Weggefährten Augustin Rothmayer und dessen speziellem Fachwissen zählen kann.
Pötzsch überzeugt mit einem temporeichen, lebendigen und mit feinem Humor gewürzter Schreibstil. Die detailreich beschriebenen Schauplätze und sorgfältig recherchierten historischen Hintergründe, die geschickt in die Handlung eingeflochten werden, lassen das historische Wien gekonnt lebendig werden und vermitteln ein besonderes, nostalgisches Flair.
Neben dem authentischen Zeitkolorit und der stimmungsvoll eingefangenen Atmosphäre lebt der Roman vor allem von seinen vielschichtigen und liebevoll gestalteten Figuren. Besonders das unkonventionelle Ermittlerteam aus dem engagierten Inspektor, der cleveren Julia Wolf und dem skurrilen Totengräber Rothmayer ist einem inzwischen ans Herz gewachsen und sorgt für allerlei Abwechslung und Charme. Neben den facettenreichen Ermittlungen sind natürlich auch das Privatleben der Hauptfiguren und ihre persönlichen Entwicklungen wichtiger Bestandteil der Geschichte. Rothmayers Wiener Charme, aber auch seine Hilflosigkeit angesichts seiner pubertierenden Ziehtochter Anna bringen immer wieder humorvolle und unterhaltsame Momente in die fesselnde Handlung. Schön ist es auch, die Weiterentwicklung der Beziehung zwischen Leo und Julia mitzuerleben.
Die zahlreichen Nebenfiguren sind abwechslungsreich und originell gestaltet und bereichern die Geschichte zusätzlich.
Die Handlung ist durchweg spannend und voller unerwarteter Wendungen, sodass man beim Miträtseln und Mitfiebern mit den vielschichtigen Charakteren voll auf seine Kosten kommt. Das packende Finale hält einige Überraschungen bereit, und die Aufklärung der Fälle sowie die Motive werden schlüssig und nachvollziehbar präsentiert.
Ich freue mich schon sehr auf weitere Bände dieser farbenfrohen und unterhaltsamen historischen Krimireihe und hoffe, den liebgewonnenen Charakteren bald wieder zu begegnen.
FAZIT
Eine unterhaltsame und rundum gelungene Fortsetzung der historischen Krimireihe – atmosphärisch und mitreißend erzählt mit authentischem Zeitkolorit, lebendigen Figuren und einer packenden Krimihandlung!
Ein Muss für Fans historischer Krimis!

Bewertung vom 12.07.2025
Mommsen, Janne

Das Licht in den Wellen


sehr gut

*Eine bewegende Familiensaga*
Mit „Das Licht in den Wellen“ ist dem Bestseller-Autor Janne Mommsen erneut ein facettenreicher Wohlfühlroman gelungen, der auf beeindruckende Weise das Herz berührt und zum zugleich zum Nachdenken anregt. Mommsen nimmt uns mit auf eine fesselnde und emotionale Reise und führt uns mit seiner bewegenden Lebensgeschichte nicht nur durch vergangene Epochen, sondern auch geografisch von der nordfriesischen Insel Föhr bis in die faszinierende Metropole New York.
Gekonnt erzählt Mommsen eine vielschichtige Geschichte gelungen über Mut, Charakterstärke, Neuanfang, die Macht der Erinnerungen sowie die Bedeutung familiärer Bindungen und den Umgang mit Verlusten und verpassten Chancen.
Im Mittelpunkt steht die beeindruckende Protagonistin Inge Martensen, die kurz vor ihrem 100. Geburtstag gemeinsam mit ihrer Urenkelin Swantje von ihrer Heimatinsel noch einmal nach New York aufbricht – an den Ort, an den sie vor über acht Jahrzehnten als junge Frau auswanderte.
Geschickt hat Mommsen die Rahmenhandlung der Gegenwart mit Inges Rückblicken in die Vergangenheit verwoben. Eindrucksvoll schildert er, wie sich Inge ihrer Urenkelin während der Atlantiküberquerung allmählich öffnet und prägende Erlebnisse aus ihrem bewegten Leben offenbart. Trotz anfänglicher Unsicherheiten und Schwierigkeiten findet die unbedarfte Bauerntochter ihren Platz in der pulsierenden Weltstadt, arbeitet sich hoch und avanciert schließlich mit ihrer berühmten Kartoffelsalat-Kreation zur gefeierten Gastronomin mit eigenem Restaurant. Ihre Erzählung ist geprägt von persönlichen Erfahrungen des Aufbruchs und des Heimwehs, von Triumphen und Niederlagen, von Freundschaft und Liebe – und lässt zugleich ein faszinierendes Kapitel Zeitgeschichte lebendig werden. Wie im ausführlichen Nachwort erläutert, wurde der Autor während seiner umfassenden Recherchen durch die zahlreichen Lebensgeschichten von Föhrern, die in die USA ausgewandert sind, inspiriert und hat diese in seinen Roman einfließen lassen.
Mommsen versteht es hervorragend, die verschiedenen Schauplätze und die Atmosphäre der so gegensätzlichen Welten sehr bildhaft und mit viel Liebe zum Detail einzufangen. So kann man sich nicht nur mühelos in das raue, ländlich geprägte friesische Inselleben, sondern auch in den turbulenten Melting pot von Manhattan hineinversetzen kann. Besonders gelungen sind zudem die eingestreuten historischen Informationen und interessanten Hinweise auf die Auswanderungstradition der Föhrer Insulaner, die auch in der Fremde stets zusammenhielten.

Mit der 100-jährigen Inge hat Mommsen eine wundervoll lebendige, vielschichtige Protagonistin geschaffen. Mit ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit, ihrer Lebensfreude und Tatkraft beeindruckt sie auf der ganzen Linie, denn sie lässt sich trotz herber Rückschläge und Lebenskrisen nie unterkriegen. Mit ihrer lebensklugen, humorvollen und manchmal auch eigensinnigen Art wächst sie einem schnell ans Herz. Mommsen versteht es, ihren Rückblick auf ein langes, erfülltes Leben mit all seinen dunklen Flecken und Geheimnissen feinfühlig und glaubwürdig zu schildern. Recht authentisch ist zudem ihre enge Beziehung zu Swantje dargestellt, die sich an einem Wendepunkt ihres Lebens befindet und auf der Suche nach Sinn und Identität ist. Etwas blass bleiben leider die Nebenfiguren, denen etwas mehr Tiefe gut getan hätte.
Auch wenn Mommsen ein sehr idealisiertes Bild des American Dream zeichnet und Inges märchenhafter Aufstieg in New York insgesamt etwas zu überzeichnet wirkt, konnte mich die warmherzig erzählte Familiengeschichte dennoch gut unterhalten. Für alle, die mehr gesellschaftskritische Nuancen oder überraschende Wendungen schätzen, dürfte der Roman jedoch insgesamt zu vorhersehbar und mit seinen Wohlfühlmomenten als zu harmonisch wirken.
Das etwas überstürzt wirkende Ende des Romans deutet bereits darauf hin, dass die turbulente Familiengeschichte noch nicht zu Ende ist: Im April 2026 erscheint mit „Das Salz in der Luft“ die Fortsetzung, in der weitere spannende Kapitel aus Inges bewegter Lebensgeschichte erzählt werden.
FAZIT
Eine unterhaltsame, warmherzige Familiensaga, die von der Kraft der Erinnerung, dem Mut zum Neuanfang und der Bedeutung von Familie erzählt und durch ihre authentische, sympathische Protagonistin auf ganzer Linie überzeugt.
Wer auf der Suche nach einem inspirierenden, emotionalen Roman mit viel Herz ist, wird hier voll auf seine Kosten kommen!

Bewertung vom 24.05.2025
Williams , Niall

Das ist Glück


ausgezeichnet

*Liebevolle Irland-Hommage*
Mit seinem Roman „Das ist Glück“ ist Niall Williams eine außergewöhnliche literarische Hommage an Irland und an das Leben in all seinen Facetten.
Der Autor verbindet philosophische Betrachtungen, humorvolle und poetische Passagen gekonnte zu einer berührenden Geschichte über das Erwachsenwerden, über Gemeinschaft, Glauben, Tradition sowie über Liebe, Verlust und Vergebung, die gleichermaßen zum Nachdenken wie zum Schmunzeln einlädt.
Mit einem warmherzigen Blick auf die Eigenheiten der Dorfbewohner und einer tiefen Verbundenheit zur irischen Kultur gelingt es Williams, den Zauber vergangener Tage einzufangen und uns auf eine atmosphärische Zeitreise mitzunehmen.
Die Geschichte ist im verschlafenen irischen Dorf Faha Ende der 1950er Jahre angesiedelt. Es ist ein vom Wetter und zeitloser Beschaulichkeit geprägter Ort am Übergang zwischen Tradition und Moderne. Mit der Elektrifizierung kündigt sich nun ein Wandel für das fast ein wenig aus der Zeit gefallene Dorf an.
Der 78-jährige Ich-Erzähler Noel "Noe" Crowe erzählt rückblickend über den für sein weiteres Leben prägenden Sommer seiner Jugend. Wegen einer Glaubenskrise hat der damals 17-Jährige kurzerhand das Priesterseminar verlassen und ist zu seinen Großeltern Ganga und Doudy nach Faha gezogen. Dort begegnet er Christy, der während der Elektrifirierungsarbeiten als Untermieter bei seinen Großeltern wohnt. Dieser geheimnisvolle, weitgereiste Mann mit bewegter Vergangenheit, dessen wahre Absichten sich erst allmählich offenbaren, wird für Noe zum Freund und Mentor. Während Noe erste romantische Gefühle entdeckt und beginnt, die Welt um ihn herum neu zu begreifen, sucht Christy nach Vergebung und innerem Frieden, indem er alte Wunden zu heilen versucht. Während das Dorf sich langsam verändert, entwickelt sich die fein verwobene Geschichte in einem bedächtigen Tempo und beleuchtet geschickt die kleinen Glücksmomente des Alltags und grundlegenden Fragen des Lebens.

Williams’ Schreibstil ist poetisch, detailverliebt und oft verschachtelt. Zusammen mit feinen philosophischen Betrachtungen und einem subtilen Humor verleiht er der Geschichte eine ganz eigene, wundervolle Dynamik. Die Handlung entfaltet sich in einem gemächlichen Tempo, lädt zum Innehalten ein und eröffnet Raum für eigene Gedanken über die Essenz des Lebens.
Williams versteht es, sowohl die Schönheit der irischen Landschaft in all ihren Nuancen, als auch die irische Mentalität eindrucksvoll einzufangen: ein Leben im Einklang mit der Natur, getragen von einer Gelassenheit und einer tiefen Verbundenheit der Gemeinschaft zu überlieferten Bräuchen und Traditionen.

Ein besonderes Highlight ist die feinfühlige und vielschichtige Zeichnung der Charaktere.
Williams gelingt es hervorragend, die Dorfbewohner von Faha mit all ihren Stärken und skurrilen Eigenheiten auf beeindruckende Weise lebendig, glaubwürdig und liebenswert zu porträtieren. Mit feinem Gespür für Details und einem ausgeprägten Sinn für Humor verleiht er seinen Figuren eine bemerkenswerte Authentizität, die für zahlreiche amüsante und berührende Momente sorgt.
Ob nun Noes wundervolle Großeltern mit ihrer stillen Lebensklugheit oder der faszinierende Christy mit seiner bewundernswerten persönlichen Mission - sie alle verkörpern eindrucksvoll die Herausforderungen, Hoffnungen, Sehnsüchte und Glücksmomente, die das menschliche Leben ausmachen.
FAZIT
Ein humorvoller und berührender Roman über die kleinen und großen Momente des Glücks und eine wundervolle Hommage an Irland und das Leben!
Ein literarischer Glücksfall voller Weisheit, Poesie und Warmherzigkeit – eine absolute Empfehlung für Liebhaber anspruchsvoller Literatur!