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Insgesamt 65 Bewertungen
Bewertung vom 30.08.2025
Myers, Benjamin

Strandgut


sehr gut

*Ein berührender Roman voller Musik*
In seinem neusten Roman „Strandgut“ erzählt der mehrfach ausgezeichnete britische Autor Benjamin Myers eine herzerwärmende, humorvolle und zugleich tiefgründige Geschichte über ungewöhnliche Freundschaften, Schicksalsschläge, das Älterwerden und zweite Chancen selbst in späten Lebensjahren.
Zugleich hat der Autor mit seinem feinfühlig erzählten Roman eine beeindruckende Hommage an die Magie und heilende Kraft von Musik verfasst.
Im Mittelpunkt der berührenden Geschichte steht Earlon „Bucky“ Bronco, ein über siebzigjähriger, vom Leben gezeichneter Soulsänger aus Chicago, der als Teenager zwei Soul-Hits für eine lächerlich geringe Einmalzahlung aufgenommen hat und dem durch tragische Umstände eine Musikkarriere verwehrt blieb. Nach dem kürzlichen Tod seiner geliebten Frau Maybellene ist er in Apathie versunken und hält seine Schmerzen mit Opioiden in Schach. Völlig unerwartet erhält Bucky eine Einladung zu einem Soul-Festival im nordenglischen Badeort Scarborough, wo er ein Comeback-Konzert geben soll.
Was er nicht ahnt, ist, dass seine alten Songs unter Großbritanniens Soul-Fangemeinde inzwischen Kultstatus genießen.

Gleich zu Beginn haben mich die faszinierende, beinahe nostalgisch angehauchte Atmosphäre dieser Erzählung und ihre subtile Melancholie in ihren Bann gezogen. Mit seinem entschleunigten, sehr poetischen Schreibstil ist Myers ein Meister der leisen Töne und feinen Nuancen. Mit detailreichen Schilderungen fängt er nicht nur gekonnt die raue Schönheit der nordenglischen Küstenlandschaft und Natur ein, sondern auch das komplexe Innenleben seiner Charaktere.
Myers versteht es hervorragend, seine Figuren und ihre Lebenswege mit wenigen Strichen lebendig und glaubwürdig zu zeichnen. Ihm gelingt es, die Gefühle und Stimmungen seiner Figuren und ihre innere Entwicklung authentisch und einfühlsam zu vermitteln. Ob nun Bucky in seiner beklemmenden Verlorenheit und Drogenmissbrauch, dessen tragische Vergangenheit erst nach und nach enthüllt wird, oder Dinah, einer vom Leben ebenfalls völlig desillusionierten Supermarktkassiererin und großem Fan von Buckys Songs, - sie alle sind vielschichtige Persönlichkeiten, die mit ihrer Herzlichkeit, ihrem feinsinnigen Humor und ihren Dämonen gleichermaßen berühren und dem Roman eine besondere emotionale Tiefe verleihen.

Beeindruckend ist es mitzuerleben, wie Buckys Begegnung mit Dinah sich allmählich zu einem Wendepunkt für beide entwickelt: Sie schenken einander Halt und schöpfen neue Hoffnung. Myers gelingt es dabei, ihre bedrückende Einsamkeit eindrucksvoll zu vermitteln und das Gefühl, am Rand der Gesellschaft gestrandet zu sein, für uns sehr greifbar zu machen.
Besonders gefallen hat mir, wie einfühlsam und detailreich Myers die faszinierende Welt des Northern Soul und ihre leidenschaftliche Fangemeinde porträtiert – eine Subkultur, die mir zuvor völlig fremd war. Seine Verbundenheit und Begeisterung für die Musik sind auf jeder Seite spürbar.

Mit großer Sensibilität zeigt Myers in seiner bewegenden und nachdenklich stimmenden Geschichte, wie Musik, Freundschaft und wertvolle Erinnerungen dabei helfen können, die dunklen Seiten des Lebens und den grauen Alltag zu überwinden. Er schließt den Roman mit der ermutigenden Botschaft, dass es niemals zu spät ist, einen Neuanfang zu wagen.

Bewertung vom 28.08.2025
Leciejewski, Barbara

Am Meer ist es schön


ausgezeichnet

*Ein Meer voller Narben – ein bewegender Roman*
Mit ihrem neuen Roman „Am Meer ist es schön“ widmet sich Barbara Leciejewski einem bislang verdrängten und wenig beachteten Kapitel der deutschen Nachkriegszeit und rückt das Schicksal der sogenannten Verschickungskinder eindrucksvoll in den Mittelpunkt. Unter dem harmlos anmutenden Deckmantel einer „Gesundungskur“ mussten zahllose Kinder seelische und körperliche Misshandlungen erdulden.
Mit feinem Gespür für Sprache und Psychologie gelingt der Autorin eine authentische und berührende Aufarbeitung dieses erschütternden Themas und setzt ein kraftvolles Zeichen gegen das Vergessen.
Die Handlung ist geschickt auf zwei miteinander verwobenen Zeitebenen angelegt und pendelt zwischen der Kindheit und der Gegenwart der Protagonistin Susanne. Im Rückblick begegnen wir der achtjährigen Susanne, die im Sommer 1969 von ihren Eltern zur vermeintlichen Erholung ins Kinderkurheim „Haus Morgentau“ an die Nordsee geschickt wird.
Aus der kindlichen Perspektive schildert die Autorin eindringlich das vermeintliche Ferienidyll und lässt uns hautnah miterleben, wie der Aufenthalt am Meer in einen realen Albtraum umschlägt. Sie macht den Alltag der Kinder im Heim unter den strengen, oft willkürlichen Regeln ebenso erfahrbar wie die beständige Bedrohung durch Einschüchterungen und harte Strafen durch die autoritären Erzieherinnen. Die unerträgliche Atmosphäre der Angst und Ohnmacht wird dabei ebenso fassbar wie das Gefühl des Ausgeliefertseins unter der rigiden „schwarzen Pädagogik“ der sogenannten „Tanten“.
Mit ihrem lebendigen, einfühlsamen Schreibstil entwirft sie ein vielschichtiges, erschütterndes Porträt alltäglicher Demütigungen und Grausamkeiten, und macht eindrücklich sichtbar, wie systematische Misshandlungen tiefe Spuren auf der kindlichen Seele hinterlassen.
Ihr gelingt es hervorragend, das Gefühl der Hilflosigkeit und das Leiden unter der allgegenwärtigen Angst so authentisch und ergreifend darzustellen, dass man sich dem Sog der Geschichte kaum entziehen kann. Äußerst anschaulich zeigt Leciejewski in vielen kleinen Alltagsszenen, wie Freundschaft, Solidarität und Mitgefühl zwischen den Kindern wachsen und zum wertvollen Schutzraum werden. Inmitten der traumatischen Erlebnisse gelingt es den jungen Protagonisten, sich gegenseitig Hoffnung und Halt zu schenken und auf diese Weise den beklemmenden Alltag zu überstehen, ja sogar zarten Widerstand gegen die Willkür der Erwachsenen zu formen. Mit schonungsloser Offenheit zeigt Leciejewski das kollektive Versagen von damaligen Institutionen aber auch Erwachsenen auf, die mit ihrem Schweigen die Kinder in ihrem Schmerz und ihren lebenslangen Traumata alleingelassen haben.
Gekonnt hat Leciejewski Susannes berührende Lebensgeschichte so angelegt, dass sie in kreisförmigen Bewegungen immer wieder zu den prägenden Wendepunkten und Verletzungen ihrer Kindheit zurückkehrt. So entsteht ein vielschichtiges Bild, in dem Vergangenheit und Gegenwart geschickt miteinander verwoben sind und für viel Spannung und emotionale Intensität sorgen.
Im Erzählstrang des Jahres 2018 begegnen wir Susanne am Sterbebett ihrer Mutter im Pflegeheim. Viele Jahrzehnte nach den Ereignissen ihrer Kindheit ringt sie gemeinsam mit ihrer eigenen Tochter darum, sich dem alten Trauma zu stellen und Antworten zu finden. Leciejewski versteht es hervorragend, einen Bogen zur Gegenwart zu spannen und faszinierende Parallelen im Umgang mit Abhängigkeit, Kontrolle und dem Verlust von Würde am Beispiel der heutigen Pflegeheime zu beleuchten. Eindrucksvoll gelingt es ihr, eine Auseinandersetzung darüber anzuregen, wie vergangene Verletzungen bis ins Jetzt hineinwirken und weitere Generationen berühren.
FAZIT
Ein bewegender Roman über das Schicksal der sogenannten Verschickungskinder, der mit viel Empathie und schonungsloser Offenheit ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte ans Licht bringt. Ein wichtiger literarischer Beitrag – eindringlich, vielschichtig und zutiefst berührend!

Bewertung vom 28.08.2025
Berkel, Christian

Sputnik


sehr gut

*Bemerkenswerte Einblicke*
Mit seinen beiden autofiktionalen Romanen „Der Apfelbaum“ und „Ada“ hat sich der bekannte Schauspieler Christian Berkel auf ein sehr ambitioniertes und zutiefst persönliches Projekt eingelassen, das uns tief in die eindrucksvolle und bewegende Geschichte seiner Familie eintauchen lässt. Sehr eindrucksvoll hat er seine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und seinen persönlichen Erfahrungen mit den dramatischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts und der deutschen Zeitgeschichte verwoben.
Mit „Sputnik“, dem dritten Band seiner Familien-Trilogie, knüpft Berkel an sein bisheriges Werk an und nimmt nun seine eigene Biografie zum Ausgangspunkt, um auf die prägenden Jahre seiner Kindheit und Jugend zurückzublicken. Er bleibt seinem mitreißenden Erzählstil treu und versteht es erneut, autobiografische Elemente gekonnt mit literarischer Fiktion zu einer abwechslungsreichen, atmosphärisch dichten Geschichte zu verflechten. Aus zahlreichen Erinnerungen und Anekdoten setzt er in seiner faszinierenden Rückschau ein facettenreiches Bild seiner Familiengeschichte und seines persönlichen Werdegangs zusammen.
Mit viel Gespür und erzählerischem Feingefühl berichtet Berkel mal humorvoll, mal melancholisch und bisweilen poetisch von seiner innere Zerrissenheit, dem Aufbruch ins eigene Leben und schließlich dem schmerzhafte Prozess der Loslösung von seiner Herkunftsfamilie. Besonders detailreich und lebendig gelingt es ihm, die besondere Atmosphäre der Nachkriegszeit, das Flair der Pariser Bohème und die deutschen Theaterwelt der 1970er Jahre einzufangen.
Angeregt vom symbolträchtigen Ereignis des 4. Oktober 1957, an dem der erste Satellit Sputnik ins All startet, erhält der kurz darauf geborene Protagonist den Spitznamen Sputnik (russisch für Begleiter). Im ersten Teil des Romans gewährt Berkel aufschlussreiche Einblicke in seine Kindheit in West-Berlin, die von den Erzählungen seiner traumatisierten Mutter Sala geprägt ist. Ihre ganz eigene Sicht auf die Wirklichkeit formt das Familienleben, während die Bücher seines Vaters Otto, ihm eine Welt voller Geschichten eröffnen. Immer wieder stößt Berkel in seinem Umfeld auf das Schweigen über die Verbrechen der NS-Zeit und nimmt als Kind die Spannungen und unausgesprochenen Konflikte innerhalb der Familie sehr sensibel wahr. Er begreift das Leben wie ein großes Theater, in dem jeder eine Rolle zu spielen scheint – für ihn vielleicht die einzige Möglichkeit, die Welt zu verstehen.
Besonders fesselnd ist der 2. Abschnitt, in dem Berkel als Jugendlicher schließlich das Weite sucht und bei einer Gastfamilie in Paris lebt. Frankreich wird für ihn zum befreienden Gegenpol zur Schwere der Familiengeschichte und des kollektiven Traumas. Dort erlebt er eine Zeit voller Leichtigkeit, Freiheit und kulturellen Offenheit und taucht ein in die inspirierende Welt der Literatur, des Theaters, der Musik und der Sprache. Spannend ist es mitzuerleben, wie seine Jugendzeit ihm neue Perspektiven eröffnet und es ihm ermöglicht, sich als Schauspieler auszuprobieren, neue Beziehungen zu knüpfen, die Facetten von Liebe und Begehren zu erforschen und schließlich eine eigene Identität zu finden.

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland begleiten wir den gereiften Sputnik weiter durch sein bewegtes Leben. An seiner Seite tauchen wir ein in die intellektuelle Szene der 68-Bewegung und erleben die pulsierende, experimentierfreudige Theaterlandschaft der 1970er Jahre, die sich in von revolutionärer Aufbruchstimmung geprägt ist. Wir nehmen Anteil an seiner Suche nach Identität, seinem Austesten von Rollen, neuen Lebensentwürfen und Drogen sowie an der intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Inmitten großer gesellschaftlicher und politischer Umbrüche setzt er eingehend mit der deutschen Nachkriegszeit auseinander und reflektiert über Schuld und Verantwortung.
Auch wenn mich im letzten Teil einige, etwas übersteigerte Episoden etwas weniger angesprochen haben, gelingt es Berkel doch mit großem Gespür für Atmosphäre den Bogen zu seinem Einstieg zu schlagen und die zahlreichen Mosaiksteinchen seiner persönlichen Reflexionen und Erinnerungen zu einer bewegenden, lebendigen Gesamtschau zu verdichten.
Seine faszinierende Reise in die Vergangenheit zeigt eindrucksvoll, dass wir ohne das Wissen um unsere Geschichte nie wirklich begreifen können, wer wir sind.
FAZIT
Ein berührendes und vielschichtiges Porträt einer bewegten Zeit und eines bewegten Lebens.
Eine empfehlenswerte Lektüre – auch wenn sie etwas an erzählerische Spannung vermissen lässt und nicht ganz an die Originalität der Vorgängerromane heranreicht.

Bewertung vom 25.08.2025
Mason, Simon

Ein Mord im November - Ein Fall für DI Wilkins


sehr gut

*Spannender, vielschichtiger Oxford-Krimi*
Mit seinem spannenden Kriminalroman „Ein Mord im November“ präsentiert der britische Autor Simon Mason einen vielversprechenden Auftakt einer neuen Reihe, die im altehrwürdigen Universitätsstadt Oxford angesiedelt ist und sich durch eine sozialkritische Note auszeichnet.
Im Mittelpunkt des Kriminalfalls steht das faszinierende und sehr originelle Ermittlerduo Detective Inspector Ray und Ryan Wilkins, das trotz desselben Nachnamens kaum unterschiedlicher sein könnte – sowohl hinsichtlich ihrer Herkunft als auch ihrer ermittlerischen Arbeitsweise.
Die beiden werden mit der Aufklärung eines mysteriösen Mordfalls an einer unbekannten jungen Frau beauftragt, die im Büro von Sir James Osborne, dem Provost des altehrwürdigen Barnabas College, tot aufgefunden wurde. Keine leichte Aufgabe, denn wegen fehlender Anhaltspunkte ist lange Zeit unklar, wer das Mordopfer überhaupt ist. Ihre Ermittlungen gehen in verschiedenste Richtungen und führen sie von elitären, privilegierten Universitätskreisen bis in die sozialen Brennpunkte der Stadt wie Blackbird Leys, wo Armut, soziale Spannungen und Unruhen den Alltag bestimmen. So eröffnet Mason uns einen ungewohnten Blick auf das traditionsreiche Oxford, das er eindrucksvoll als eine Stadt mit zwei Gesichtern porträtiert. Atmosphärisch dicht und schonungslos führt er uns die sozialen Gegensätze, gesellschaftlichen Abgründe und die Schattenseiten des akademischen Milieus vor Augen.
Die eigentliche Krimihandlung hat Mason äußerst komplex und vielschichtig angelegt, so dass es Aufmerksamkeit und Konzentration erfordert, die vielen bedeutsamen Details zu erfassen und den roten Faden nicht zu verlieren.
Geschickt verwebt Mason in Nebenhandlungen zahlreiche Themen wie sexuelle Belästigung, Intrigen und Machtmissbrauch im akademischen Umfeld, dubiose Machenschaften eines umstrittenen milliardenschweren Scheichs sowie Flucht und Menschenhandel in seinen vielschichtigen Krimi. Immer neue Verdachtsmomente schaffen ein undurchschaubares Geflecht aus potentiellen Tatmotiven und Verdächtigen und sorgen für zahlreiche überraschende Wendungen. Mason gelingt es, die Spannung bis zum Schluss hochzuhalten und uns immer wieder auf falsche Fährten zu locken.
Der Autor versteht es hervorragend, lebensnahe und glaubwürdige Charaktere mit vielschichtigen Persönlichkeiten zu erschaffen.
Einfühlsam und tiefgründig hat der Autor seine faszinierenden Hauptfiguren mit ihren persönlichen Stärken und Schwächen ausgearbeitet, so dass man ihre Handlungen gut nachvollziehen kann. Besonders beeindruckt hat mich vor allem die komplexe Figur des aggressiven, unangepassten Underdogs Ryan, der aus einem Trailerpark stammt und eine Aversion gegen das Establishment hegt.
Mit seinen verbalen Entgleisungen und Wutausbrüchen wirkt er anfangs fast etwas überzeichnet, wird aber schließlich mit seiner Hintergrundgeschichte über seine soziale Prägung und seinen Verletzlichkeiten immer überzeugender und gewinnt an Tiefe. Ryans extremes Verhalten und seine wiederholten Regelverstöße werfen allerdings gelegentlich Fragen hinsichtlich der Glaubwürdigkeit seiner Figur auf. Besonders gelungen ist zudem die Darstellung seiner liebevollen, fürsorglichen Beziehung als alleinerziehender Vater zu seinem kleinen Sohn, die uns die empathischen Seiten des Charakters hervorhebt. Während Ryan mit seinen höchst unkonventionellen Methoden die Ermitllungen vorantreibt, überzeugt der gebildete, wohlhabende Ray durch seine analytische Cleverness und angepasste Korrektheit. Als Universitätsabsolvent mit nigerianischen Wurzeln ist er charismatisch, sehr diszipliniert und ehrgeizig, doch muss auch er mit eigenen Unsicherheiten und dem starken Druck, sich in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft zu behaupten, kämpfen.
Das ungleiche Ermittlerduo Ray und Ryan Wilkins entwickelt eine faszinierende und glauwürdige Dynamik mit vielen Höhen und Tiefen und wächst einem zunehmend ans Herz. Im Verlauf der Ermittlungen wandelt sich ihre Beziehung von gegenseitiger Abneigung und Verachtung zu einer respektvollen Partnerschaft.
Mason verdichtet die Handlung zunehmend und verknüpft nach und nach die zahlreichen verwirrenden Details und Enthüllungen miteinander. Die vielen Nebenschauplätze lenken allerdings stellenweise sehr vom eigentlichen Kriminalfall ab. Gegen Ende hin zieht die Spannung nochmals deutlich an und der Krimi gipfelt in einem packenden Finale. Schließlich fügt sich alles zu einer erschütternden, für mich überraschenden, dabei jedoch sehr plausiblen und nachvollziehbaren Auflösung zusammen.
Ich bin sehr gespannt, auf die weitere Entwicklung im nächsten Band und hoffe sehr auf viele weitere packende Fälle für das ungleiche Ermittlerduo Wilkins.

Bewertung vom 16.08.2025
Nicholas, Anna

Das Teufelshorn


sehr gut

*Vielversprechender Auftakt einer neuen mallorquinischen Krimi-Reihe*
Mit ihrem stimmungsvollen Mallorca-Krimi „Das Teufelshorn“ hat die britische Autorin Anna Nicholas einen vielversprechenden Auftakt zu einer neuen Regionalkrimi-Reihe vorgelegt.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 33jährige, ehemalige Polizistin Isabel Flores Montserrat, die eine kleine Agentur mit Ferienimmobilien leitet und, nachdem sie ihre Karriere als erfolgreiche Kommissarin an den Nagel gehängt hat, ein eher beschauliches Leben auf der Insel führt. Als jedoch ein kleines britisches Mädchen spurlos am Strand verschwindet, kann sie ihrem alten Freund Hauptkommissar Tolo Cabot ihre Mithilfe nicht verwehren und unterstützt ihn bei den immer verzwickter werdenden Ermittlungen. Schon bald hält sie nicht nur die mysteriöse Kindesentführung, sondern auch noch ein brutaler Mord an einem älteren Mann auf Trab.
Sehr schön stimmt das hübsche Cover mit einem idyllischen Postkartenmotiv auf den eher ruhigen Krimi mit viel Lokalkolorit ein. Mit viel Liebe zum Detail zeichnet die auf der Insel lebende Autorin ein authentisches Bild des mediterranen Lebens auf Mallorca abseits des trubeligen Massentourismus. Gekonnt entführt sie uns in eine idyllische Welt aus Olivenhainen, kleinen Bars und verschwiegenen Buchten ohne jedoch auch die Schattenseiten des Inselparadieses auszublenden.
Neben der idyllischen Landschaft, malerischen Dörfern und dem ländliche Hinterland beschreibt die Autorin die regionalen Besonderheiten lebendig und sehr anschaulich. Man merkt deutlich, dass die Autorin die Schauplätze hervorragend kennt und spürt ihre Liebe für Land und Leute. Glaubwürdig fängt sie das herrliche Flair der Mittelmeerinsel, die mediterrane Lebensart sowie die Eigenheiten ihrer Bewohner ein, so dass beim Lesen des Krimis ein herrliches Urlaubsfeeling aufkommt. Nicholas ansprechender Schreibstil ist sehr lebendig und bildhaft sowie oft von feinem Humor durchzogen. Die Autorin versteht es, mit ihren atmosphärisch dichten Beschreibungen die Handlung abwechslungsreich und unterhaltsam zu gestalten, so dass bei diesem klassischen Whodunnit kaum Längen aufkommen.
Geschickt hat Nicholas verschiedene Handlungsstränge miteinander verwoben und lässt zudem viel Raum für die persönlichen Belange der Charaktere. Obwohl die Handlung insgesamt gemächlich voranschreitet, versteht es die Autorin, eine subtile Spannung aufzubauen. Die verschiedenen Verdächtigen und mögliche Motive sind glaubwürdig ausgearbeitet, so dass man beim Lesen gut miträtseln kann. Nach geschickt platzierten, falschen Fährten und einigen unerwarteten Wendungen zieht der Spannungsbogen schließlich deutlich an und gipfelt in einem spannenden Showdown. Die Auflösung der Fälle ist zwar etwas vorhersehbar, aber in sich schlüssig und glaubhaft, auch wenn ich mir noch etwas mehr Hintergrundinformationen zu den jeweiligen Tatmotiven gewünscht hätte.
ie verschiedenen Charaktere sind abhängig von ihrer Rolle vielschichtig und glaubwürdig ausgearbeitet. Äußerst gelungen ist vor allem die sympathische und sehr authentisch wirkende Hauptfigur Isabel Flores Montserrat und ihr interessantes Privatleben. Sie ist eine bemerkenswerte Frau mit Ecken und Kanten und eine versierte Ermittlerin, die sich von ihrer untrüglichen Intuition leiten lässt. Insbesondere ihr feines Gespür für menschliche Befindlichkeiten und ihre umfassende Kenntnis der lokalen Verhältnisse kommen ihr bei ihren Ermittlungen zugute.
Teilweise etwas stereotyp und eindimensional wirken allerdings einige Nebenfiguren.

FAZIT
Insgesamt ein ruhiger, aber sehr stimmungsvoller und unterhaltsamer Regionalkrimi - mit einem vielschichtigen Fall, viel mallorquinischem Lokalkolorit und einer sympathischen Ermittlerin. Ein gelungener Krimi-Auftakt, der Lust auf neue Fälle mit Isabel Flores Montserrat macht und auf einen weiteren literarischen Kurzurlaub auf Mallorca!

Bewertung vom 16.08.2025
Deya, Claire

Eine Welt nur für uns


sehr gut

*Vielschichtiger historischer Roman*
Mit ihrem historischen Roman "Eine Welt nur für uns" gelingt der französischen Autorin Claire Deya eine eindrucksvolle und facettenreiche Darstellung der unmittelbaren Nachkriegszeit in Frankreich im Jahr 1945 gelungen. Auch nach dem offiziellen Waffenstillstand bleiben die verheerenden Folgen des Kriegs allgegenwärtig und prägen das Leben der Menschen nachhaltig. Feinfühlig und atmosphärisch dicht erkundet Deya die menschliche Natur in Zeiten extremer Herausforderungen - zwischen Desillusionierung, Zerstörung, Versöhnung, Hoffnung und Neuanfang nach dem 2. Weltkrieg. Mit der gefahrvollen Minenräumung an den Stränden der Côte d’Azur widmet sich die Autorin zudem einem wenig bekannten Aspekt jener Zeit.
Angesiedelt ist die Handlung in der südfranzösischen Küstenstadt Hyères.
Durch wechselnde Erzählperspektiven gewinnen wir vielschichtige Einblicke in das Leben und die Gefühlswelt der unterschiedlichen Figuren. Sie kämpfen nicht nur täglich ums Überleben, sondern müssen sich auch ihren Traumata stellen und nach einem neuen Sinn für ihr Leben suchen.
Im Mittelpunkt der Erzählung steht der französische Arzt Vincent, der nach seiner Rückkehr aus deutscher Kriegsgefangenschaft verzweifelt nach seiner große Liebe Ariane sucht, die spurlos verschwunden ist. Seine Nachforschungen führt ihn zu einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Minenräumern, die aus ehemaligen Resistancekämpfern, Freiwilligen und deutschen Kriegsgefangenen besteht. Unter ihnen ist auch der Deutsche Lukas, der seine lebensgefährliche Arbeit als Chance für einen Fluchtversuch sieht. Vincent erhofft sich von ihm Hinweise auf Arianes Verbleib zu erhalten.
Parallel dazu lernen wir die junge Jüdin Saskia kennen, deren Schicksal bersonders erschüttert. Als einzige Überlebende ihrer Familie kehrt sie zurück und muss fassungslos feststellen, dass ihr einstiges Elternhaus inzwischen von einer anderen Familie bewohnt wird. Buchstäblich vor dem Nichts stehend begegnet das traumatisierte Mädchen Vincent, der ihr Unterschlupf gewährt.
Deya entwirft ein vielschichtiges Porträt der französischen Gesellschaft sowohl während der Besatzungszeit als auch im Übergang zur Nachkriegsordnung. Mit atmosphärisch dichten und detailreichen Schilderungen gelingt es ihr, die beklemmende und angespannte Stimmung jener Zeit einzufangen. Eindringlich beleuchtet sie die komplexe Realität dieser Epoche, die von tiefem Misstrauen, gesellschaftlichen Umbrüchen und vielfältigen moralischen Verstrickungen geprägt war, aber auch von Menschlichkeit, Versöhnung und Hoffnung auf Normalität.
Für besondere Authentizität und Spannung sorgen die präzise recherchierten und anschaulich geschilderten Minenräumarbeiten. Wir erleben die nervenaufreibenden, lebensgefährlichen Einsätze hautnah mit, bei denen ehemalige Feinde Seite an Seite arbeiten müssen – eine Aufgabe, die höchste Konzentration, gegenseitiges Vertrauen und eingespieltes Teamwork verlangt.
Sehr einfühlsam und differenziert sind die faszinierenden Charaktere gezeichnet. Ihre komplexen Persönlichkeiten und inneren Widersprüchlichkeiten sind sorgfältig und überzeugend ausgearbeitet. Eindrücklich stellt Deya die Verletzlichkeiten, Schwächen, Ängste und moralischen Dilemmata ihrer Figuren in all den verschiedenen Grautöne des menschlichen Verhaltens dar. Besonders anschaulich sind sind nicht nur die psychologischen Spannungen zwischen den Figuren ausgearbeitet, sondern auch das fragile Band von Vertrauen und Freundschaft, dass sich allmählich zwischen den Minenräumern entwickelt.
Die Figuren und ihre inneren Konflikte hätten allerdings deutlich glaubwürdiger und authentischer gewirkt, wenn die Autorin sie stärker durch ihr Handeln, ihre Entscheidungen und Reaktionen hätte sprechen lassen, statt ihre Gefühle und Motive explizit zu benennen. Zudem wirkt die Darstellung der deutsch-französischen Zusammenarbeit etwas idealisiert; tief verwurzelte Ressentiments, gegenseitige Vorbehalte und Misstrauen hätten noch tiefgründiger thematisiert werden können.
Besonders lesenswert ist das interessante Nachwort der Autorin, in dem sie autobiografische Bezüge offen legt. Die Figur des Vincent basiert auf Deyas Großvater, dessen Briefe aus der deutschen Kriegsgefangenschaft als Vorlage für den Roman dienten. Auch Saskia ist keine erfundene Figur, sondern geht auf eine reale Begegnung der Autorin mit einer KZ-Überlebenden zurück, die ihr ihre Geschichte anvertraute. Diese Authentizität und emotionale Tiefe sind auf jeder Seite des Romans spürbar und machen ihn zu einem ein bewegenden Leseerlebnis, das lange nachhallt.
FAZIT
Ein vielschichtiger, atmosphärisch dichter Roman, der eine wenig bekannte Facette der französischen Nachkriegszeit beleuchtet und trotz kleiner Schwächen durch seine emotionale Tiefe und Authentizität zu überzeugen weiß.
Ein bewegender Roman, der die Erinnerung an eine schwierige Zeit lebendig hält und zum Nachdenken anregt.

Bewertung vom 16.08.2025
Wagner, Jan Costin

Eden (eBook, ePUB)


sehr gut

*Ein aufrüttelnder Roman*
Mit „Eden“ legt Jan Costin Wagner einen vielschichtigen, nachdenklich stimmenden Roman vor, der sich ebenso eindringlich wie sensibel mit den Folgen einer erschütternden Familientragödie auseinandersetzt. Die zutiefst berührende Geschichte beginnt mit einem dramatischen Einstiegsszenario: Bei einem Popkonzert kommt es zu einem Anschlag eines jungen Selbstmordattentäters, bei dem die zwölfjährige Sofie ihr Leben verliert.
Wagner gelingt es, existenzielle Fragen von Trauer, Schuld, Vergebung und dem Umgang mit persönlichem Verlust sowie der Verantwortung des Einzelnen in der Gesellschaft facettenreich zu beleuchten.
Durch die multiperspektivische Erzählweise lässt er uns unterschiedlichste Sichtweisen auf die Ereignisse und ihre Nachwirkungen erleben. Mit großem Feingefühl zeichnet Wagner das Innenleben vieler seiner Charaktere nach.
Besonders gelungen sind die differenzierten und eindringlichen Schilderungen, wie Sofies Eltern in einen Strudel aus Schmerz, Sprachlosigkeit und Entfremdung stürzen. Besonders überwältigend ist es mitzuerleben, wie beide ganz eigene Wege finden (oder suchen), um mit dem Verlust, ihrer Ohnmacht und Trauer umzugehen und nach Halt zu ringen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang insbesondere Markus’ Entwicklung, der – trotz aller Verbitterung – den Dialog mit der Familie des Attentäters sucht und damit einen ungewöhnlichen Versuch zur Verständigung wagt.
Darüber hinaus richtet Wagner den Blick auf weitere Betroffene, etwa die Familie des jugendlichen Täters. So wird deutlich, dass die Folgen der unfassbaren Katastrophe nicht auf eine einzelne Familie beschränkt bleiben, sondern sich auf das soziale Umfeld und die gesamte Gesellschaft ausdehnen. Geschickt thematisiert Wagner schließlich auch, wie Medien und Politik das Geschehen für eigene Zwecke instrumentalisieren und so zur gesellschaftlichen Spaltung beitragen.
Der Schreibstil des Romans verlangt den Lesenden jedoch einiges ab. Wagners Reduktion auf das Wesentliche, seine distanzierte Erzählweise und die oft knapp gehaltenen, fast fragmentarisch wirkenden Dialoge lassen vieles unausgesprochen und offen. Vieles bleibt im Vagen, wodurch häufig erst die eigene Vorstellungskraft die Leerstellen hinsichtlich Innenleben und Motivationen der Figuren füllen muss.
Der konsequent eingehaltene Blickwinkel der dritten Person erschwert es jedoch, eine echte Nähe zu den Charakteren herzustellen und mit ihnen zu fühlen.
Gerade Sofies Mutter und ihren Freund Tobias blieben für mich überraschend blass und wenig greifbar; auch die Innensicht des Attentäters und die Erklärung für die Hintergründe seiner Tat werden nicht umfassend ausgearbeitet, was zu einer gewissen Distanz führt.
Gleichzeitig sorgen die häufigen Perspektivwechsel und die episodisch strukturierten, kurzen Kapitel für eine spürbare Unruhe, was sehr stimmig das Gefühl von Ohnmacht, Aufgewühltheit und Fassungslosigkeit unterstreicht und hervorragend zur Thematik und den Figuren passt.
Kritisch anzumerken ist allerdings, dass Wagner in seinem Roman eine Vielzahl gesellschaftlich relevanter Themen wie Rassismus, rechtsextremistische Radikalisierung und den Umgang mit Demenzerkrankungen zwar aufgreift, diese aber meist nur andeutet und selten in ihrer vollen Komplexität beleuchtet. Dadurch bleiben manche Aspekte eher an der Oberfläche und werden teilweise nur schlaglichtartig und ohne eingehende Vertiefung gestreift. Die wichtigen Zwischentöne und Ambivalenzen, die gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatte nötig wären, fehlen stellenweise, wodurch der Roman leider etwas von seinem Potenzial einbüßt.
Positiv hervorzuheben ist jedoch, dass Wagners sachliche Sprache und die klar strukturierte, oft kurze und prägnante Erzählweise den Roman gerade für die jüngere Leserschaft sehr zugänglich machen. Dies prädestiniert „Eden“ als Schullektüre und schafft vielfältige Anknüpfungspunkte für Diskussionen über Schuld, Verantwortung, gesellschaftliches Miteinander und die Rolle der Medien.

FAZIT
Ein bewegender Roman, der viele gesellschaftlich brisante und drängende Themen der Gegenwart aufgreift und zum Nachdenken über Verlust, Schuld und gesellschaftlichen Zusammenhalt anregt. Auch wenn manche Themen nur angerissen und einige Figuren etwas schemenhaft bleiben, beeindruckt der Roman durch seine emotionale Wucht und ist eine bereichernde Lektüre!

Bewertung vom 11.08.2025
Vuong, Ocean

Der Kaiser der Freude


ausgezeichnet

*Ein bewegendes, sehr poetisches Porträt der Unsichtbaren*
Mit „Der Kaiser der Freude“ legt Ocean Vuong nach seinem gefeierten Debüt einen weiteren außergewöhnlichen Roman vor, der die Schattenseiten des amerikanischen Traums eindrucksvoll beleuchtet und all jenen eine Stimme gibt, die am Rand der gnadenlosen Konsumgesellschaft ums Überleben ringen.
Mit viel Feingefühl thematisiert Vuong zudem Themen wie Migration, Rassismus, Identität, Außenseitertum, soziale Marginalisierung sowie die Last von Trauma und Erinnerungen.

Angesiedelt ist die in vier Abschnitte gegliederte Handlung in der trostlosen fiktiven Kleinstadt East Gladness in Connecticut, die stellvertretend für das postindustrielle, abgehängte Amerika steht.
Im Mittelpunkt steht Hai, der neunzehnjährige Sohn einer vietnamesischen Einwanderin, der an der eigenen Ausweglosigkeit und Einsamkeit zu zerbrechen droht und kurz vor einem Suizid steht. Während er auf einer Brücke steht, hält ihn Grazina, einer älteren, an Demenz erkrankten Frau mit litauischen Wurzeln, von seinem Vorhaben ab. Aus dieser zufälligen Begegnung entwickelt sich eine fragile, aber tief berührende Beziehung, die für beide zu einem Wendepunkt wird. Hai findet als Grazinas Pfleger nicht nur Unterkunft und eine Aufgabe bei ihr, sondern auch eine neue Form von Zuneigung, Halt und Zugehörigkeit.

Vuong gelingt es, mit großer poetischer Kraft und Genauigkeit die trostlose Atmosphäre von East Gladness einzufangen - eine kontrastvolle Welt, in der Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Drogenkrise und Armut allgegenwärtig sind. Äußerst beeindruckend ist Vuongs bildgewaltiger Schreibstil; voller Metaphern und sinnlich-intensiver Beschreibungen taucht er das Alltägliche in eine schmerzlich-melancholische Schönheit. Zudem versteht es hervorragend, uns die widersprüchliche Gefühlswelt seiner Figuren sehr plastisch nahe zu bringen.
Seine fragmentarische, von Rückblicken und inneren Monologen durchzogene Erzählweise ist von faszinierender Leichtigkeit, verlangt aber eine erhöhte Aufmerksamkeit.
Ein besonderes Highlight sind die vielschichtigen, liebevoll gezeichneten Charaktere, die in all ihrer Fragalität und ihren Eigenheiten sehr lebensnah eingefangen sind. Sie stellen keine klassischen Helden dar, sondern verletzliche, gebrochene und vereinsamte Figuren, die von der Gesellschaft ausgegrenzt werden, aber trotz aller Widrigkeiten auch in ihrer kleinen Zweckgemeinschaft Nähe, Freundschaft und Solidarität finden können.
Mit Hai hat der Autor einen beeindruckenden Protagonisten geschaffen, der mit seiner Identität, Herkunft und Erwartungen im Lebensalltag zu kämpfen hat. Mit großer Empathie und psychologischer Tiefe zeichnet er seine Unsicherheit, Sehnsucht nach Zugehörigkeit und seinen Kampf gegen seine Drogensucht und inneren Dämonen.
Auch Grazina ist eine sehr beeindruckende Hauptfigur. Eindrucksvoll führt Vuong uns vor Augen, dass ihre Demenz nicht nur individuelles Vergessen, sondern auch eine kollektive Komponente des Erinnerns an andere Zeiten und Traumata umfasst und manchmal einen befreienden Schutz bietet. Gekonnt verdeutlicht er, dass das kollektive Verdrängen von Geschichte, Leid und Verantwortung sinnbildlich für ein grundlegendes gesellschaftliches Klima steht. Einfühlsam und glaubwürdig schildert Vuong die zarte, freundschaftliche Beziehung zwischen Hai und Grazina, die neben den alltäglichen Problemen und Missverständnissen auch berührende Momente von menschlicher Nähe und gegenseitigem Verständnis aufweist.
Auch die Nebenfiguren wie Hais Cousin Sony und seine Arbeitskollegen im Diner sind vielschichtig und glaubwürdig ausgearbeitet. Sie stehen exemplarisch für die „Unsichtbaren und gesellschaftlich Abgehängten“ der amerikanischen Gesellschaft - Menschen, die von Armut, Sucht, Krankheit und Ausgrenzung gezeichnet sind, aber dennoch in der Gemeinschaft auch die faszinierende Kraft von menschlicher Verbundenheit erleben und die beflügelnde Hoffnung auf eine zweite Chance im Leben finden können.
Mit schonungsloser Klarheit kritisiert Vuong in seinem anspruchsvollen und sehr facettenreichen Roman die zerstörerischen Folgen des Spätkapitalismus, der Prekarisierung von Arbeit und der gnadenlosen Ausgrenzung der Schwächsten. Gleichzeitig gelingt es ihm, inmitten der Hoffnungslosigkeit Momente von Zärtlichkeit, Freundschaft und Solidarität zu zeigen, die dem gelungenen Roman eine besondere emotionale Kraft verleihen

FAZIT
Ein herausfordernder und berührender Roman über die Kraft von Gemeinschaft und über die Möglichkeit von Schönheit und Würde in einer oft grausamen Welt.
Ein ebenso schmerzliches wie hoffnungsvolles Porträt der Ausgegrenzten und Unsichtbaren in der amerikanischen Gesellschaft, das noch lange nachhallt!

Bewertung vom 03.08.2025
Koch, Manfred

Rilke


ausgezeichnet

*Rilke jenseits des Mythos - Eine beeindruckende Biografie*
Anlässlich des 150. Geburtstag des berühmten Lyrikers Rainer Maria Rilke legt der Literaturwissenschaftler Manfred Koch mit seiner umfangreichen Biografie „Rilke: Dichter der Angst“ eine spannende, tiefenpsychologisch fundierte Gesamtschau vor, die den Dichter und sein Werk neu und eindrucksvoll beleuchtet.
Mit seinen eingehenden Analysen präsentiert er uns überraschende Erkenntnisse über den Menschen hinter dem Mythos und einen frischen Kontrapunkt zu den gängigen Rilke-Vorstellungen. Koch gelingt es überzeugend, bekannte Klischees aufzubrechen und Rilke nicht als idealisierten „Dichterpriester“, sondern als sensiblen Künstler darzustellen, der zeitlebens von Selbstzweifeln und existenziellen Ängsten geprägt war.
Beeindruckend verbindet der Literaturwissenschaftler akribische biografische Rekonstruktionen mit präziser Werkdeutung. Sehr anschaulich zeigt er, wie Rilkes literarisches Schaffen als eine Art Überlebensstrategie diente – als Reaktion auf traumatische Kindheitserlebnisse, psychische Krisen und permanente Unsicherheit, die ihn ein Leben lang begleitete.
Besonders eingehend widmet sich Koch der Kindheit Rilkes und analysiert anhand bislang weitgehend unbeachteter Briefe, Tagebuchfragmente und medizinischer Unterlagen die problematische Mutter-Kind-Beziehung. Er macht deutlich, wie diese Beziehung seine Schwierigkeiten im Aufbau von Bindungen sowie seinen hohen Perfektionismus im Schreiben nachhaltig beeinflusste.
Darüber hinaus beleuchtet Koch die Ambivalenzen in Rilkes Beziehungen zu Frauen und Mäzenen, die häufig von Abhängigkeiten geprägt waren und auf seinen tiefen existentiellen Ängsten beruhten.
Besonders faszinierend sind zudem Kochs Deutungen in Bezug auf Rilkes nuancierter Haltung zu Geschlechterrollen und Identitätsfragen. So zeigt er auf, dass Rilke in seinen Gedichten bewusst mit den Grenzen von Geschlecht spielte – als ein Versuch, Schutzräumen gegenüber der Komplexität realer zwischenmenschlicher Beziehungen zu schaffen.
Koch scheut sich nicht davor, auch die weniger schmeichelhaften Seiten und Widersprüche des Genies zu thematisieren: Hierzu gehörten beispielsweise dessen finanzielle Abhängigkeiten, sein egoistisches Verhalten gegenüber Freunden und Geliebten sowie die Tendenz, alltägliche Probleme philosophisch zu überhöhen. Dabei bewahrt die Biografie stets einen fairen und empathischen Ton, der Rilkes Schwächen und seine tiefe Verwundbarkeit menschlich nachvollziehbar macht, ohne sie moralisch zu verurteilen.
Die Verbindung von Biografie und Werk wird durch zahlreiche neue Quellen gestützt, darunter viele bislang unveröffentlichte Briefe und Notizen, die im äußerst umfangreichen wissenschaftlichen Anhang dokumentiert sind. Diese fundierte Quellenbasis belegt gekonnt die Thesen des Autors und verleiht dem Werk großes Gewicht.
Zu kritisieren bleibt jedoch, dass sich Koch teilweise zu stark auf seine „Angst-These“ fokussiert, die nicht immer durchgängig überzeugt und womöglich auch andere Deutungs- oder Lebensaspekte Rilkes etwas zu kurz kommen lässt.
Dennoch ist die Biografie ein bedeutender Fortschritt in der Rilke-Forschung, der den Dichter aus einer neuen, zeitgemäßen Perspektive zeigt.
Kochs einfühlsame Biografie eröffnet einen spannenden Zugang zu Rilkes Werk, indem sie psychologische Tiefe und literarisches Verständnis gekonnt vereint und so den Dichter-Mythos differenziert relativiert.
Gekonnt zeichnet Koch ein sensibles und schonungslos ehrliches Porträt eines zutiefst verletzlichen Menschen, der sein Leben lang mit inneren Dämonen rang und einen hohen Preis für seine Kunst zahlte.
Für alle, die hinter das Bild des Genies schauen wollen, die eine Verbindung von Psychologie und Literatur schätzen und keine klassische, rein werkorientierte Biografie erwarten, bietet Kochs Werk neue, faszinierende Einsichten und frische Zugänge zu Rilke – ein Meilenstein voller Empathie und kritischer Reflexion.

FAZIT
Ein beeindruckendes, psychologisch nuanciertes Porträt eines zutiefst komplexen Künstlers, das den bekannten Rilke-Mythos herausfordert und die Ängste, Widersprüche und Verletzlichkeiten des Dichters eindrucksvoll in den Mittelpunkt stellt.
Eine äußerst anspruchsvolle, aber bereichernde Lektüre für alle, die hinter das Genie blicken wollen!

Bewertung vom 01.08.2025
Brooks, Sarah

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland (eBook, ePUB)


sehr gut

*Faszinierende Fantasy-Reise ins Unbekannte *
Mit ihrem Roman „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ ist Sarah Brooks ein faszinierendes und, atmosphärisch dichtes Debüt gelungen.
Der Roman besticht durch eine ungewöhnliche Genrevielfalt auf, die sich am ehesten dem „Magischem Realismus“ zuordnen lässt. Geschickt verwebt die Autorin Elemente aus historischem Roman, Krimi und Fantasy mit surrealen Einschüben und erschafft so eine originelle, facettenreiche und ungemein fesselnde Geschichte, die uns immer wieder aufs Neue überrascht.
Die Ende des 19. Jahrhunderts angesiedelte Handlung nimmt uns mit auf eine ungewöhnliche Reise mit dem Transsibirien-Express - mitten durch die bedrohlich wirkende, feindselige Landschaft des legendären Ödlands. Obwohl die Transsibirien-Kompanie ihren Reisenden vollkommene Sicherheit in dem hermetisch abgeriegelten Zug verspricht, offenbaren sich hinter der vertrauenerweckenden Fassade schon bald unberechenbare Gefahren.
Die wendungsreiche Geschichte wird aus den wechselnden Perspektiven verschiedener Passagiere und Angestellter des Transsibirien-Express erzählt, von denen jeder seine eigenen Beweggründe für die Reise hat. Ob nun das Findelkind Weiwei, das als „Zugkind“ sein ganzes bisheriges Leben im Zug verbracht hat, die rätselhafte Frau Maria Petrowna, die unter falschen Namen reist und den Selbstmord ihres Vaters aufklären möchte oder der in Ungnade gefallene Naturforscher Henry Grey, der um seine wissenschaftliche Reputation kämpft – sie alle bringen ihre individuellen Schicksale, Hoffnungen und Geheimnisse mit, die erst im Verlauf der Handlung allmählich enthüllt werden. 
Einfühlsam und facettenreich sind die verschiedenen Figuren mit ihren Eigenheiten, Geheimnissen und Verletzlichkeiten beschrieben, so dass man ihnen gerne durch die Geschichte folgt. Dennoch erschienen mir die Charaktere oftmals etwas blass und zu wenig greifbar, was es erschwerte, eine wirkliche emotionale Bindung zu ihnen aufzubauen.
Eingestreut in die Handlung finden sich immer wieder Passagen aus dem „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“, verfasst von einem gewissen Rostow, der die mystische und gefährliche Natur des  Ödlands und seine Durchquerung akribisch erforscht und niedergeschrieben hat.
Mit ihrem lebendigen, äußerst anschaulichen Erzählstil gelingt es der Autorin hervorragend, sowohl das einzigartige Ambiente des Transsibirien-Expresses als auch die geheimnisvolle Weite des Ödlands samt seiner bizarren Kreaturen eindrucksvoll und facettenreich zu beschreiben. Rasch verliert man sich in dieser faszinierenden, von unheilvoller Atmosphäre und ungewöhnlichen Ereignissen geprägten Welt, die vor originellen Details nur so sprüht.
Das Geschehen entfaltet sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln und nimmt erst allmählich Fahrt auf, wodurch sich das Gesamtbild erst schrittweise zusammensetzt. Es braucht eine gewisse Zeit, bis sich anfangs verwirrende Details zuordnen und gewisse Zusammenhänge erkennen lassen. Teilweise gerät die Handlung jedoch ins Stocken und wirkt phasenweise etwas langatmig. Gleichzeitig lockert Brooks die Erzählung zunehmend mit magischen und surrealen Elementen auf, die für eine zusätzliche Vielschichtigkeit sorgen.
Mit zahlreichen unerwarteten Wendungen gewinnt die Geschichte aber schließlich deutlich an Dynamik und Spannung und steuert auf ein höchst packendes Finale zu, das mit einigen überraschenden Verwicklungen aufwartet.
Brooks thematisiert in ihrem Roman grundlegende Fragestellungen zum respektvollen Umgang mit der Natur sowie den Risiken von Industrialisierung und Kommerzialisierung. Das Ödland wird zum kraftvollen Symbol für das Unbekannte und Unkontrollierbare, das sich einer Vereinnahmung durch die Menschen widersetzt. Durchzogen von subtilen gesellschaftskritischen Anklängen liest sich der Roman zugleich als eindringliche Mahnung, einen harmonischen Einklang mit der Natur zu suchen und zu bewahren – eine wunderbare Botschaft dieses faszinierenden und tiefgründigen Romans!

FAZIT
Ein beeindruckendes, atmosphärisch dichtes Debüt voller origineller Ideen - mit einem faszinierenden Genre-Mix, einer fesselnden,  tiefgründigen Handlung und einer wichtigen, zeitlosen Botschaft!
Trotz gelegentlicher Längen und etwas distanzierter Figurenzeichnung empfehlenswert für alle, die Lust auf eine ungewöhnliche Mischung aus Abenteuer, Fantasy und literarischer Reise haben!