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caro_phie

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Insgesamt 24 Bewertungen
Bewertung vom 14.07.2025
Sauer, Anne

Im Leben nebenan


ausgezeichnet

Aufwühlend wahr

Was ist, wenn man plötzlich mit Baby in einem fremden Leben aufwacht?

Als ich meiner Mutter Anne Sauers Romanidee skizzierte, musste sie lachen. "Ein bisschen ist das ja auch so, wenn man Kinder bekommt." Plötzlich ist das Leben nicht mehr nur das eigene. Lange bestehende Lebensrealitäten haben keine Gültigkeit mehr.

Doch Anne Sauer geht einen Schritt weiter. Nachdem sie am Abend zuvor noch in den Armen ihres Freundes in einer Altbauwohnung in irgendeiner deutschen Großstadt eingeschlafen ist, wacht Antonia tatsächlich in einem ganz anderen Leben auf. Dem Leben, das sie hätte, wenn sie sich an einer Stelle ihres Lebens anders entschieden hätte, wenn sie bei ihrer Jugendliebe und in ihrem Heimatort geblieben wäre, statt für das Studium in eine weit entfernte Stadt zu ziehen. Hat Toni sich eben noch vergeblich ein Kind gewünscht, hält Antonia es nun in ihren Armen und kann diesem neuen Leben nicht mehr entfliehen.

Auf zutiefst persönliche Weise skizziert Anne Sauer auf knapp 300 Seiten, was es heißt eine Frau zu sein, wie zentral die Frage, ob man Kinder haben will, ab einem bestimmten Alter wird und wie tiefgreifend eine Entscheidung für oder gegen ein Kind, das Leben einer Frau verändert.

Klar und gleichsam poetisch zeichnet sie das Bild einer Gesellschaft, in der Frauen ohne Kinder immer noch aus einem vermeintlichen Rahmen fallen und gleichzeitig junge Mütter oft allein gelassen werden mit einer übermäßig großen gesellschaftlichen Erwartungshaltung an sie. Sie findet Worte für Themen, die noch zu oft totgeschwiegen werden, für wiederholte Fehlgeburten, die rohe Körperlichkeit, die verbunden ist mit einem unerfüllten Kinderwunsch und wie sehr dieser den Alltag vereinnahmt. Gedanken werden angerissen, wenige ausformuliert. Aber ich bin mir sicher, dass jede Frau in den 20ern und 30ern (und ältere Frauen sowieso) die Lücken gedanklich schließen kann, sich auf vielen Seiten wiederfindet.

Für mich war "Im Leben nebenan" ein Buch, das mich sehr berührt hat, nachdenklich gestimmt hat und tief aufgewühlt zurückgelassen hat. Ich würde es jeder Person ans Herz legen!

Bewertung vom 14.07.2025
Hughes, Siân

Perlen


ausgezeichnet

Eine Perle

Mariannes Mutter geht als diese acht Jahre alt ist. Sie tritt aus der Haustür ohne Schuhe, ohne etwas mitzunehmen und kommt nicht wieder. Die Polizei vermutet bald Selbstmord, doch die Spuren am Fluss sind vom Regen verwischt und für die Tochter beginnt ein langer Prozess des Verarbeitens eines Verlusts, der sich kaum verarbeiten lässt. Denn könnte ihre Mutter nicht noch irgendwo dort draußen sein? Und warum hat sie ihre Tochter zurückgelassen, die sie doch so liebte?

"Perlen" ist ein Schatz. Es ist ein Buch, das zum Nachdenken anregt - über die gesellschaftliche Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen - und gleichzeitig die unglaublich intensive, persönliche Geschichte einer Mutter-Tochter Beziehung erzählt. Ganz leise und poetisch kommt es am Anfang daher und trägt doch von Seite eins an eine tiefe Verzweiflung in sich - eine Zerrissenheit zwischen den kindlichen Erinnerungen von Marianne an ihre fröhliche, liebevolle Erinnerungen und dem gleichzeitigen Wissen um die psychische Erkrankung ihrer Mutter. Die anfängliche Trauer und Fassungslosigkeit schlägt mit Beginn der Pubertät in eine dumpfe Wut um und das Buch entfaltet plötzlich eine ganz neue Dynamik.

Siân Hughes schreibt in ihrer Danksagung, dass sie ihr halbes Leben an diesem Buch geschrieben hat und das spürt man auf jeder Seite. Jeder Satz schein mit äußerster Sorgfalt formuliert, jede Emotion der Protagonistin spiegelt sich in der Erzählweise wider. Ich habe selten ein Buch gelesen, das mich so sehr getragen hat, das so mühelos zwischen unterschiedlichen Erzähltempi gewechselt hat und mich am Ende absolut sprachlos zurückgelassen hat.

"Perlen" ist eines der besten Bücher, die ich dieses Jahr - wenn nicht überhaupt - gelesen habe. Eine sehr große Leseempfehlung für dieses wundervolle Buch!

Bewertung vom 29.04.2025
Brandi, Charlotte

Fischtage


sehr gut

Wut in einer Welt, die keine Wut duldet

Ella ist 16 und sie ist wütend. Es ist eine Wut, die rot und heiß ist, die in ihrem Bauch beginnt, langsam in ihr aufsteigt, kaum zu bändigen ist und fast zwangsläufig dazu führt, dass Ella die Person vor ihr niederbrüllt.

Es ist eine Wut, die dazu führt, dass Ella sich von fremden Menschen fernhält, keine Freunde sucht, am liebsten alleine auf ihrem Fensterbrett sitzt und zeichnet. Umso schwerer wiegt es, als ihr Bruder Luis plötzlich verschwindet. Denn auch wenn sie sich zunehmend entfremdet haben, ist er doch ihr kleiner Bruder und sie doch seine Lieblingsschwester, vor der er früher keine Geheimnisse hatte.

Und so macht sich Ella auf die Such nach Luis - zusammen mit einem sprechenden Plastikfisch. Dieser Plastikfisch, dessen Präsenz sich mir bis zum Ende nicht ganz erschlossen hat, und die extrem dicht erzählte Handlung, in der viele Charaktere blass bleiben, haben mich mehr als einmal das Buch beinahe weglegen lassen - entnervt von dem Jugendabenteuerromanhaftigen und der vermeintlich fehlenden Tiefe.

Erst im Nachhinein fügt sich die Geschichte zu einem Ganzen, zu einer Suche für Ella, nicht nur nach ihrem Bruder, sondern auch nach einem Weg mit ihrer Wut umzugehen - in einer Welt, die unter Umständen Wut nicht verzeiht - und gleichzeitig die Entdeckung dieser Welt hinter den geschützten Wänden des Elternhauses, die faszinierend und bedrohlich zugleich ist.

Und so klappe ich das Buch zu, seltsam versöhnt durch die letzten Seiten und mit einem großen Platz im Herzen für diese unangepasste, trotzige Protagonistin, für die ich so hoffe, dass sie sich einen Teil ihrer Wut bewahrt.

Bewertung vom 29.04.2025
Valla, Kristin

Ein Raum zum Schreiben


sehr gut

Subtil und zutiefst persönlich

Es ist bei einem Abendessen mit Jo Nesbø und einem noch unbekannten jungen Autor, als Kristin Valla sich die Frage stellt, warum sie sich nicht mehr als Autorin bezeichnet, wann sie diese Rolle abgelegt hat und wie sie zum Schreiben zurückfinden kann. Sie sucht ihre Antwort in einem kleinen Haus an der französischen Mittelmeerküste, das sie sich kauft in der Hoffnung einen Raum zum Schreiben zu finden. Und sie sucht sie bei den Generationen an Autorinnen vor ihr, die, entgegen aller Widrigkeiten und gesellschaftlicher Konventionen, sich neben ihrer Rolle als Hausfrau oder Mutter eben diesen Raum erkämpft haben.

„Ein Raum zum Schreiben“ ist ein differenziertes Buch über Frauen in der Literatur. Ein Buch, in dem sich Kristin Valla einreiht in die lange Geschichte von Frauen in der Literatur und das zugleich die Unterschiede zu früheren Generationen an Autorinnen aufzeigt.

Immer wieder spannt Kristin Valla den Bogen von ihrem kleinen Haus zu den Anstrengungen ihrer „Vorgängerinnen“. Eine Idee, die mich zunächst fasziniert hat, über die 260 Seiten jedoch etwas repetitiv wurde. Teilweise suchte ich vergeblich den größeren gesellschaftlichen Diskurs, der sich eingehend mit den Privilegien vieler eben jener Autorinnen auseinandersetzt, die ihnen das Schreiben überhaupt erst ermöglichten bzw. auch heute noch ermöglichen.

Letztendlich ist es ein persönliches Buch, das nicht mit der Erwartung an ein feministisches Manifest gelesen werden sollte. Vielmehr sind es kurze Passagen, feine Beobachtungen von Kristin Valla, die zum Nachdenken anregen, die mich immer wieder innehalten ließen und auch jetzt noch nachhallen.

Bewertung vom 29.04.2025
Liepold, Annegret

Unter Grund


ausgezeichnet

Der Fuchs geht um!

Es ist der NSU Prozess, der Franka zurück in ihre Heimat drängt. Sie verlässt das Gerichtsgebäude in München überstürzt, sammelt in der WG das Nötigste ein und steigt ohne ein Wort an ihre Mitbewohnerin in den nächsten Zug nach Franken. Hier kommt sie her. Für diese Gegend spürte sie lange eine tiefe Heimatverbundenheit, insbesondere für die Wälder, in denen sie früher mit ihrem Vater Fische von Weiher zu Weiher gehoben hat. Doch nun war sie seit Jahren nicht mehr hier, hat es gemieden zurückzublicken und auch ihre Familie schweigt beharrlich über das was damals geschehen ist - über Frankas Jugend, in der sie immer weiter in die rechte Szene hineingerutscht ist, und über die Familiengeschichte, die Geschichte von Frankas wortkarger Großmutter - der Fuchsin.

Annegret Liepold verwebt Vergangenheit und Gegenwart, mit Schilderungen des NSU Prozesses zu einem großartig komponierten Roman über Schuld. Wo fängt sie an und bei wem? Ab wann tragen junge Menschen Verantwortung für das was sie tun? Und wie hätte man sie davor schützen können?

Es sind große Fragen, die der Roman verhandelt. Und trotzdem kommt er ganz leise daher, findet mit wenigen Worten einen Zugang zu diesem leider so aktuellen Thema ohne mit einfachen Antworten aufzuwarten. Er wirft es hinein in eine so bildhaft beschriebene, archaische Landschaft, von der eine unbestimmte Bedrohung auszugehen scheint. Denn wer schon mal da gewesen ist, weiß: Der Fuchs geht um!

Eine uneingeschränkte Empfehlung von mir für dieses grandiose Debüt!

Bewertung vom 15.12.2024
Brüggemann, Anna

Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen


sehr gut

Mutter-Tochter Spannungsfeld

Triggerwarnung: Essstörung

Wanda und Antonia sind Schwestern und doch könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Wanda ist schön, schlank, sportlich, selbstbewusst und in der Schule eine Überfliegerin. Antonia zu kurvig, schüchtern und in nichts wirklich begabt. Zumindest ist das die Perspektive von Regina auf ihre beiden Töchter. Kritisch misst sie die beiden an ihren persönlichen unerfüllten Wünschen, ihren eigenen und den gesellschaftlichen Maßstäben - und das durchgängig durch das Buch, das sich mit Zeitsprüngen über eine Zeitspanne von etwa 20 Jahren erstreckt.

Gekonnt verwebt Anne Brüggemann durch die drei Perspektiven von Regina, Wanda und Antonia Innen- und Außenschau und die Brüche dazwischen. Es ist ein gelungenes Psychogramm einer Mutter-Tochter Beziehung, das erschreckend deutlich aufzeigt, wie nachhaltig die Erwartungshaltung unserer Eltern uns in unserer Selbstwahrnehmung prägen.

Zuweilen waren mir Anne Brüggemanns Worte fast zu deutlich, zu wenig subtil die Auseinandersetzung der Charaktere mit ihren Gefühlen. Gerade in jungen Jahren, in denen die Erwartungshaltung der Mutter die eine in die Magersucht stürzt und die andere ihre Schultern immer mehr hochziehen, sich zunehmend verstecken lässt, wirkten Wanda und Antonia für mich auf unglaubwürdige Weise reflektiert.

Dennoch ein Buch, das in seiner, wenn auch wenig unterschwellig formulierten, Message nachhallt.

Bewertung vom 15.12.2024
Lunz, Kristina

Empathie und Widerstand


ausgezeichnet

So unglaublich wichtig in diesen Zeiten

Es ist ein Gefühl, dass mich seit einigen Jahren begleitet und sich über die Zeit verstärkt hat. Das Gefühl, dass sich Fronten verhärten, es schwieriger wird die Meinung anderer zu akzeptieren bzw. sie zumindest unkommentiert stehen zu lassen. Es ist ein Gefühl, dass sich bei mir einstellt, wenn ich in den sozialen Medien die Kommentare unter Beiträgen lese, aber auch, wenn ich mich selber beobachte, wenn ich merke welche innere Wut sich in mir aufbaut angesichts von Meinungen, die ich so aus meiner Echoblase nicht kenne.

“Empathie und Widerstand” ist ein Buch, dass deshalb sowohl für mich persönlich unheimlich wichtig ist, meines Erachtens aber auch einen generellen Zeitgeist trifft. Könnten wir nicht versuchen Menschen und ihren unterschiedlichen Meinungen mit Empathie zu begegnen, und zwar grundsätzlich erst mal allen Menschen? Könnten wir nicht die eigene Meinung bewusst von ihrem Podest der scheinbar einzig richtigen Meinung heben, und verstehen zu suchen woher die Meinung anderer Menschen kommt, was ihre Lebensrealität ist? Und wo muss die Empathie aufhören, wo sollten wir in den Widerstand gehen und zielgerichtet für unsere Werte einstehen?

Für mich ist “Empathie und Widerstand” ein augenöffnendes Buch. Ein Buch, dass sich schon jetzt in meinem Alltag niederschlägt, in der Art und Weise wie ich in Diskussionen gehe, wann ich entscheide meine Meinung zu äußern und wann ich versuche erst mal zuzuhören. Ein Buch, dass ich jeder Person ans Herz lege, besonders vor den alljährlichen Gesprächen zu Weihnachten mit dem falsch(??), oder vielleicht besser gesagt, anders denkenden Onkel ;).

Bewertung vom 29.11.2024
Oskamp, Katja

Die vorletzte Frau


ausgezeichnet

So ehrlich

Sie sind 19 Jahre zusammen - die Erzählerin, Schriftstellerin und Fußpflegerin und der gefeierte Schweizer Schriftsteller Tosch. Vielleicht wären es auch mehr Jahre geworden, wäre die Erzählerin nicht alt und Tosch nicht krank geworden - so mutmaßt sie bereits auf den ersten Seiten.

“Ich hatte bis fast zum Schluss das Gefühl, wir hätten uns gerade erst kennengelernt, würden aber bald, in naher Zukunft, zum Kern vordringen.” (S. 5)

Diese Neugier den Anderen in seiner Ganzheit zu erfassen schwingt auf jeder Seite mit. Von Anfang an muten Tosch und die Erzählerin sich einander zu. Die anfängliche Phase des Kennenlernens, in der man oft noch versucht dem/der Anderen gegenüber ein Trugbild gegenüber aufrechtzuerhalten, scheint bei ihnen wegzufallen.

“Wann immer es möglich war, verabredeten wir uns im Joseph Pub und hörten nicht mehr auf, Geständnisse abzulegen, uns nichts zu ersparen, uns keine Lügen aufzutischen, uns einander auf Gedeih und Verderb zuzumuten. Ich mute mich dir zu. Du mutest dich mir zu. Ich weiß noch, wie das Wort zu uns kam. Nachher, in der Junggesellenbude, fielen wir übereinander her.” (S. 18)

So schonungslos wie die Beziehung der beiden, kommt auch das Buch selbst daher. Ungeschönt zeichnet die Autorin Katja Oskamp ein Porträt von Tosch und das Porträt einer Beziehung. Aber es geschieht beinahe zärtlich, mit großer Akzeptanz für die Toschs Macken und ohne die “Schattenseiten”, die mit Beginn von Toschs Krankheit zunehmend in ihre Beziehung treten, auszublenden.

Ich bewundere sehr mit welcher Natürlichkeit und wie viel Humor Katja Oskamp in ihrem Roman das Thema Endlichkeit verhandelt - Endlichkeit einer Beziehung und Endlichkeit eines Menschen. Noch dazu weil das Romangeschehen sehr große Ähnlichkeit zu ihrem eigenen Leben aufweist.

Hinter Tosch kann man den Schweizer Autor und ihren langjährigen Lebensgefährten Thomas Hürlimann erkennen. Während ihrer Beziehung hauptsächlich abseits des Rampenlichts und des öffentlichen Interesses stehend, findet hier Katja Oskamp ihre eigenen Worte für die gemeinsamen Lebensjahre. Und auch wenn es vornehmlich das Porträt ihres Partners und ihrer Beziehung ist, verschwindet sie nicht hinter dem Text. Auf subtile Weise dringt ihre eigene Identitätssuche und was es in unserer Gesellschaft als Frau, Mutter und Schriftstellerin bestehen zu wollen, immer wieder durch.

“Die vorletzte Frau” ist ein Buch, das ich sehr gerne gelesen habe, das mich an vielen Stellen berührt hat und in dem ich immer wieder gerne blättern werde.

Bewertung vom 21.10.2024
Bidian, Maria

Das Pfauengemälde


ausgezeichnet

Nicht der richtige Moment?

Maria reist nach Rumänien, um ein enteignetes Gemälde zurückzuerhalten. Es ist eine schmerzliche Reise - die erste, nachdem ihr Vater vor zwei Jahren in Rumänien tot in einer Waldhütte gefunden wurde. Es war eine von vielen realen und gedanklichen Reisen ihres Vater in das Land, das ihn verstoße hat, das ihn aufgrund seiner oppositioneller Aktivitäten gezwungen hat seine Familie hinter sich zu lassen und sich ins Exil nach Deutschland zu begeben, und das ihn trotzdem nicht loslässt, seine ganze Identität auf dem Schicksal dieses Landes aufbauend.

Hätte Maria ihm mehr zuhören sollen? Hätte sie ihn nicht damals auf seine letzte Reise nach Rumänien begleiten sollen und dadurch seinen Tod verhindern können?

Marias Reise in das Heimatland ihres Vaters wirkt wie der Versuch die vielen Ungerechtigkeiten, die ihrem Vater widerfahren sind, wiedergutzumachen, und ist doch für Maria mit so vielen schmerzlichen Erinnerungen an ihn verknüpft, plötzlich auftauchende bildhafte Erinnerungen an die Zeit in ihrer Kindheit, die sie in Rumänien bei der Familie ihres Vaters verbracht hat. Vergangenheit und Gegenwart greifen hier ineinander, scheinen teilweise miteinander zu verschmelzen, was es bisweilen schwierig gemacht hat für mich die verschiedenen Zeitebenen voneinander zu unterscheiden.

Zudem wirkten manche Konversationen für mich seltsam hölzern manche Charaktere auf bestimmte Charaktereigenschaften hin überzeichnet, sodass ich mich teilweise nur schwer auf die Handlung einlassen konnte, wenig in die Charaktere hinein fühlen konnte.

Dann wieder Szenen, die mich mit ihrer besonderen Stimmung, mit Maria Bidians ganz eigener Sprache komplett einnahmen, lange in mir resonierten.

Und so halte ich das Buch unschlüssig in der Hand. “Vielleicht war es nicht der richtige Zeitpunkt”, möchte ich sagen. “Vielleicht haben äußere Faktoren zu viel meiner Aufmerksamkeit eingefordert und ich konnte mich deshalb nicht richtig auf die Geschichte einlassen.” Und so stelle ich das Buch zurück ins Bücherregal und hoffe, dass irgendwann der Tag kommt, an dem ich mich nochmal und dann voll und ganz auf Maria Bidians Debütroman einlassen kann.

Bewertung vom 26.09.2024
Karim Khani, Behzad

Als wir Schwäne waren


ausgezeichnet

Warum er dort und ich hier?

“Aber dann sagtest du irgendwann es sei fair, dass es Inseln gibt, denn schließlich gibt es ja auch Seen. Und ich, tausend Ängste älter, sagte: Ja, das ist fair.

Und ich, tausend Lügen klüger, sagte nicht, dass fair ein so einfaches Wort ist, und Gerechtigkeit ein so schwieriges.

Und ich, tausend Wunden hoffnungsvoller, sagte dir nicht, dass wir alle an dem längeren Wort gescheitert sind.” (S. 7)

Es sind die ersten eineinhalb Seiten von “Als wir Schwäne waren”. Ein vorangestellter Brief von Behzad Karim Khani an seinen Sohn. Ein paar Sätze, die gleichzeitig leise und poetisch daherkommen und doch mit so wenigen Worten eine solche Kraft entfalten. So wie auch Khanis Buch selbst.

Auf knapp 200 Seiten tauchen wir ein in das Leben von Reza. Seine Kindheit in einer Plattenbausiedlung im Ruhrgebiet der 90er Jahre, wo er nach der Flucht aus dem Iran mit seinen Eltern ankommt. Die Mutter versucht in dem neuen Land Fuß zu fassen, der Vater scheitert schon bald daran und dazwischen Reza, dessen Kindheit - noch von kleinen, zum schmunzeln anregenden Glücksmomenten geprägt - schon bald einer Jugend Platz macht, die ihn in die harte Realität der Plattenbausiedlung wirft.

Eine Realität, die einem nichts schenkt, sondern in der man lernen muss zu schwimmen, den Kopf über Wasser zu halten, um nicht unterzugehen.

“Wir alle strampeln uns ab in dieser Kloake, halten den Kopf aber über Wasser. Nur Serdar schwamm nach unten und vielleicht gehört das zu den Dingen, die passieren, wenn Armut keinen Geruch hat. Sich keine Goldketten umhängt, keine großen Autos fahren will. Nicht die Trikots der Champions-League-Vereine trägt. Vielleicht ist das eines der Dinge, die passieren, wenn Armut Status und Sieg nicht wenigstens vortäuscht. Wenn Armut nicht lügt. Nicht wenigstens so tut, als hätte sie alles im Griff.” (S.103)

Und Reza lernt zu schwimmen. Er erkämpft sich den Respekt der Jungs von seinem Block, lässt sich auf Drogenkriminalität, Gewalt und Diebstahl ein. Er kämpft mit der gleichen Vehemenz, mit der er später kämpft um all das hinter sich zu lassen, ein anderes Leben jenseits der Plattenbausiedlung zu suchen.

Mit unglaublicher Intensität, sprachlich wie inhaltlich, zeichnet Behzad Karim Khani ein ungeschöntes Bild der Lebenslage vieler Migranten in Deutschland, was es heißt am Rande einer Großstadt in einer Plattenbausiedlung aufzuwachsen und wie viel Kraft es kostet diese hinter sich lassen zu können.

Und am Ende bleibt da nur die Frage: Warum? Warum er dort und ich hier? Warum sein Weg so viel steiniger als meiner?

Danke, für dieses wundervolle, aufrüttelnde Buch.