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Buchkomet

Bewertungen

Insgesamt 40 Bewertungen
Bewertung vom 22.08.2025
Eisfeldt, Carla

Lügen sind Rudeltiere


ausgezeichnet

Ich habe es neulich schon angedeutet: Krimis und ich, das war zuletzt eher eine schwierige Beziehung. Mord hier, Ermittler da, ein Twist, den man schon drei Kapitel vorher gerochen hat, irgendwann ist die Luft einfach raus. Umso überraschender, dass mich Lügen sind Rudeltiere von Carla Eisfeldt dann doch wieder gepackt hat.

Romy Sterneck ist keine Ermittlerin, keine Journalistin, keine Schnüfflerin, sondern PR-Beraterin. Heimlich besucht sie fremde Beerdigungen auf dem Frankfurter Hauptfriedhof, um einen eigenen Verlust zu verarbeiten. Das klingt makaber, ist aber originell, glaubwürdig und macht Romy sofort greifbar.

Natürlich stolpert sie trotzdem mitten in einen Mordfall. Aber weil sie eben keine Profiermittlerin ist, geht sie mit Bauchgefühl und Hartnäckigkeit ans Werk. Das macht die Handlung abwechslungsreich, manchmal unvorhersehbar und deutlich frischer als der übliche Krimi-Einheitsbrei. Besonders mochte ich Margit, Romys neugierige Nachbarin, die mit Kuchen und Witz Romys Liebesleben ankurbeln will. Solche Nebenfiguren lockern alles auf und bringen Menschlichkeit in ein Genre, das oft zu ernst daherkommt.

Eisfeldt hält die Spannung hoch, ohne überzogene Action oder Cliffhanger. Stattdessen überzeugt das Buch mit stimmiger Atmosphäre, gutem Flow und Figuren, die man gern begleitet. Einziger Kritikpunkt: Romys Verlust hätte für mich noch mehr Tiefe vertragen können. Aber vielleicht hebt sich die Autorin das auch für die nächsten Bände auf, Potenzial ist dafür ja reichlich vorhanden.

Carla Eisfeldt beweist mit ihrem Debüt, dass sie das Zeug hat, sich im Krimigenre einen Platz zu erobern. Nicht durch Einheitsbrei, sondern durch gute Ideen, glaubwürdige Figuren und eine Erzählweise, die sich nicht unbedingt an Genre-Konventionen klammert. Ich bin gespannt, ob es mit Romy weitergeht, verdient hätte sie es allemal. Und ich bin definitiv auch beim (möglichen) nächsten Band wieder mit dabei. Hoffen wir, dass meine Krimimüdigkeit bis dahin ad acta gelegt ist, denn Lügen sind Rudeltiere hat mir gezeigt: Es gibt sie noch, die Krimis, die anders sind.

9/10

Bewertung vom 20.08.2025
Hilsmann, Lars

Farben sind (nicht) für alle da. Life is a Story - story.one


ausgezeichnet

Lars Hilsmann ist farbenblind. Und doch ist er irgendwie der perfekte Tourguide durch eine Welt, die für viele bunt ist, für ihn aber ganz anders aussieht. In „Farben sind (nicht) für alle da“ nimmt er uns auf knapp 80 Seiten mit auf eine sehr persönliche Reise durch die Regenbogenwelt. Und obwohl er die Farben selbst kaum sehen kann, versteht er sie auf eine Art, die wirklich beeindruckt.

Jedes Kapitel ist einer Farbe gewidmet, samt Bedeutung für die queere Community und Lars’ ganz eigenen Gedanken dazu. Das klingt jetzt theoretisch, ist es aber überhaupt nicht. Statt Fachsimpelei gibt’s Anekdoten aus seinem echten Leben: z. B.: Warum er es damals bei Frauen nicht leicht hatte oder wieso Pink nicht nur was für Mädchen ist.

Das Ganze ist mit viel Charme und Herz erzählt, dass man gar nicht mehr aufhören will zu lesen. Lars schreibt ehrlich, nahbar, klug. Er stellt Fragen, die hängen bleiben, zum Beispiel: Warum braucht es eigentlich immer noch eine queere Bewegung? Und seine Antworten sind genauso stark wie passend.

Was ich besonders mochte: Trotz des ernsten Themas wirkt das Buch nie schwer. Im Gegenteil, es macht Hoffnung. Es zeigt, dass man auch mit Einschränkungen seinen Weg gehen kann. Und, dass es okay ist, anders zu sein. Oder wie Lars selbst sagt:

„Nur weil jemand ein Handicap hat, nur weil jemand eine andere Sexualität hat … darf er nicht benachteiligt werden.“

Besser kann man’s nicht sagen.

10/10

Bewertung vom 19.08.2025
Wala, Pia

Schöner Schein


sehr gut

„Schöner Schein“ von Pia Wala hat mich direkt nach Eggenburg katapultiert, ein kleines, charmantes Örtchen mit mittelalterlicher Kulisse und genau der richtigen Portion „Hier ist doch was faul“. Und ja, da ist auch was faul. Beim gemütlichen Mondscheinkino stirbt ein Arzt mitten im Film, und ehe man sich versieht, steckt Anna, Ex-Polizistin und jetzige Bäckerin mit Spürsinn, wieder mitten in einem Mordfall.

Ich bin hier ohne Vorkenntnisse in den zweiten Band eingestiegen, aber das hat super funktioniert. Die Autorin baut das Vorwissen dezent ein. Der Mix aus leichten Cozy-Crime-Vibes und düsterer Spannung funktioniert wunderbar. Anna backt morgens ihre Kipferl, aber nachmittags hängt sie schon in Ermittlungen drin, entdeckt Spuren, die kein Zufall sein können, und legt sich mit alten Kollegen an, die von ihrer „Ermittlung“ natürlich wenig begeistert sind.

Das Setting ist dabei besonders gelungen: Die Kleinstadt mit ihren netten Fassaden, aber tief sitzenden Geheimnissen, das ist treffend eingefangen. Wer selbst aus einem kleinen Ort kommt, weiß: Man grüßt freundlich, aber jeder weiß (fast) alles über jeden. Genau das bringt Pia Wala wunderbar rüber. Die Stimmung ist ruhig, der Kriminalfall solide gestrickt, logisch aufgebaut und spannend erzählt, auch wenn das Ende für mich jetzt keine komplette Überraschung war.

Nun kommt aber mein persönlicher Knackpunkt: Ich bin gerade etwas krimimüde. Vielleicht hat mir deshalb hier und da der gewisse Kick gefehlt, das Unerwartete, das, was einen nochmal richtig überrascht. Dafür folgt mir der Krimi einfach zu sehr den bekannten Pfaden. Das ist meckern auf hohem Niveau, klar, aber so richtig umgehauen hat es mich nicht.

Trotzdem: Wer Lust auf einen ruhigen, atmosphärischen Krimi mit kleinstädtischem Tiefgang hat, sollte sich „Schöner Schein“ definitiv mal näher anschauen.

8/10

Bewertung vom 17.08.2025
Kendall (Hrsg.), Irvin L.;Jung, P.R.;Tenshi

Sturmfälle


ausgezeichnet

Kriminalstatistik 2023: Über 1.400 offiziell registrierte Straftaten gegen queere Menschen in Deutschland. Beleidigungen, Angriffe, Bedrohungen. Die Dunkelziffer? Vermutlich noch viel höher. Und während sich viele lieber einreden, wir lebten in einer „toleranten Gesellschaft“, zeigt die Anthologie Sturmfälle, wie es tatsächlich aussieht, und zwar ungeschönt, schmerzhaft und realitätsnah. Zwar handeln die Geschichten in den 90er- und frühen 2000er Jahren, könnten aber genauso gut auch jetzt handeln.

Herausgegeben von Irvin L. Kendall, vereint Sturmfälle 12 Geschichten über queerfeindliche Gewalt, Ausgrenzung, Diskriminierung, erzählt von verschiedenen Autor:innen, verbunden durch eine Figur: Gale, ein schwuler LGBTIQ*-Anwalt, der sich unermüdlich für queere Menschen einsetzt, denen sonst niemand zuhört. Er kämpft in Gerichtssälen, recherchiert, begleitet Opfer, stößt auf Schweigen, Ablehnung, Widerstand. Und verliert selbst fast den Boden unter den Füßen.

Diese Anthologie ist mitnichten kein Wohlfühlbuch. Wer hier quietschbunte Queer-Romance erwartet, ist falsch abgebogen. Die Themen sind schwer: Vergewaltigung, Mobbing, Suizid, Ausgrenzung, Polizeigewalt. Aber sie sind verdammt wichtig, weil sie real sind. Und weil sie vielen queeren Menschen jeden Tag passieren. Auch heute noch. Auch hier.

Was mich besonders beeindruckt hat, ist die Struktur. Jede Geschichte startet mit einem konkreten Vorfall, mündet in juristische Ermittlungen, bringt uns vor Gericht und alles ist so klug, so spannend und so emotional geschrieben, dass ich oft durchatmen musste.

Gale ist dabei mehr als eine verbindende Figur, wir lernen ihn nicht nur als Anwalt kennen, sondern auch als Mensch, der selbst Teil der Community ist und die Demütigungen, die seine Mandant:innen erleben, am eigenen Leib kennt.

Am Ende bleibt mir nur zu sagen: Sturmfälle ist keine einfache Lektüre, aber eine, die ich jedem und jeder ans Herz lege. Es ist unbequem, ja. Aber genau deshalb so notwendig. Und: Alle Erlöse gehen an Rosa Strippe e.V. – Beratung von und für queere Menschen.

Bewertung vom 14.08.2025
Rubin, Gareth

Holmes & Moriarty


gut

Ich habe „Holmes & Moriarty“ von Gareth Rubin gelesen und meine Erwartungen waren nicht gerade niedrig. Die Ausgangslage klingt einfach zu gut, um nicht spannend zu sein: London, 1889. Sherlock Holmes, Dr. Watson und ausgerechnet Erzfeind Professor Moriarty, sind gezwungen zusammenzuarbeiten. Dazu ein junger Schauspieler, dessen Publikum jeden Abend in anderen Verkleidungen auftaucht, und ein Mord, der Moriarty und seinen Gefolgsmann Moran in die Flucht treibt. Klingt nach einer genialen Mischung aus klassischem Holmes-Rätsel, düsterer Atmosphäre und bissigen Dialogen.

Der Start hat mich dann auch richtig abgeholt. Gareth Rubin schreibt bildhaft, hallo Kopfkino, das viktorianische London lebt in den Seiten, Nebel und Gaslaternen inklusive. Besonders Moriarty bekommt mehr Tiefe, als man es aus vielen Adaptionen kennt. Er ist nicht nur der geniale Bösewicht, sondern ein Charakter mit Zweifeln und sogar verletzlichen Momenten. Das hat mir gefallen, weil es ihn menschlicher macht und frischen Wind ins bekannte Setting bringt.

Und genau hier liegt aber auch mein größtes Problem: Während Moriarty so präsent ist, bleibt Holmes erstaunlich blass. In den Originalen von Conan Doyle ist er das Zentrum jeder Szene, doch hier wirkt er eher wie eine Nebenfigur. Das berühmte Funkeln, die geniale Arroganz, die kühle Beobachtungsschärfe? Irgendwie Fehlanzeige. Dadurch fehlt dem erzwungenen Zusammenspiel zwischen Holmes und Moriarty die erwartete Spannung. Das wführt dazu, dass wir eher eine Zweckgemeinschaft bekommen, die zwar solide, aber eben nicht legendär ist.

Das alles liegt auch daran, dass Gareth Rubin, bei allem Respekt, am Ende nicht das literarische Gespür eines Conan Doyle hat. Ist wirklich nicht böse gemeint und keine Schande, schließlich sprechen wir hier von einem der meist adaptierten Krimiautoren aller Zeiten. Aber wenn man sich an Holmes wagt, dann konkurriert man automatisch mit einer extrem hohen Messlatte.

Mein Fazit: Nicht schlecht und lesenswert für alle, die Moriarty mal von einer anderen Seite sehen wollen. Wer aber die Magie eines Doyle-Falls sucht, sollte vielleicht lieber wieder zu den alten Bänden greifen.

6/10

Bewertung vom 12.08.2025
Zijian, Chi

Das letzte Viertel des Mondes


ausgezeichnet

Stell dir vor, du sitzt an einem Lagerfeuer, tief in den Wäldern an der russisch-chinesischen Grenze, und eine 90-jährige Frau beginnt, dir die Geschichte ihres Volkes zu erzählen und du merkst, du wusstest nicht einmal, dass es dieses Volk gibt. Das letzte Viertel des Mondes von Chi Zijian erzählt von den Ewenken, einem Nomadenvolk, das seit Generationen in enger Verbindung mit der Natur lebt, den Jahreszeiten folgt, mit den Rentieren zieht und jeden Fluss, jeden Berg kennt.

Die Erzählerin der Geschichte ist 90 Jahre alt, die Witwe des letzten großen Häuptlings der Ewenken und sie blickt zurück auf ein Jahrhundert voller Veränderungen, Verluste und Kämpfe. Sie erzählt von einer Zeit, in der die Welt der Ewenken noch unberührt war, und davon, wie Kriege, politische Umbrüche und Umweltzerstörung diese Welt Stück für Stück zerstören. Wälder werden gerodet, Flüsse verschmutzt, Tiere finden kein Futter mehr. Das alles passiert nicht mit einem großen Knall, sondern Stück für Stück, in kleinen Beobachtungen und Veränderungen. Gerade diese leisen Szenen haben mich wirklich tief getroffen.

Chi Zijian zeigt nicht nur das harte Leben der Ewenken, sondern auch ihre Kultur, die Mythen, die Rituale, das Wissen um die Natur. Man spürt den Stolz dieses Volkes, aber auch die Zerbrechlichkeit seiner Welt. Sesshaftmachung, Eingriffe in ihre Traditionen, das Verschwinden der Wälder, all das sind nicht nur Veränderungen, sondern Angriffe auf ihre Identität.

Und doch blitzen immer wieder Momente von Zärtlichkeit und tiefer Verbundenheit auf. Alles wirkt authentisch, und es ist klar, wie viel Recherche und Herzblut in diesem Roman steckt. Ein großes Kompliment geht auch an die Übersetzerin Karin Betz, die es geschafft hat, nicht nur die Worte, sondern auch die Stimmungen und Nuancen ins Deutsche zu übertragen.

Für mich ist dieses Buch nicht nur das Porträt einer Frau, sondern auch das Porträt eines ganzen Volkes, das in wenigen Jahrzehnten an den Rand des Verschwindens gedrängt wurde. Gleichzeitig packt die Autorin Gesellschaftskritik rein -Umweltzerstörung, Raubbau und politische Entscheidungen, die ohne Rücksicht auf kulturelle Folgen getroffen werden.

Das letzte Viertel des Mondes ist für mich ein literarisches Denkmal für die Ewenken, ein kleines Meisterwerk, das betroffen macht und den eigenen Horizont erweitert. Ein Buch, das zeigt, wie wichtig es ist, Geschichten zu bewahren, bevor sie für immer verloren gehen.

10/10

Bewertung vom 05.08.2025
Qudan, Rie

Tokyo Sympathy Tower


gut

Tokyo in der nahen Zukunft: Statt Gefängnismauern gibt’s einen Luxusturm für Straftäter. Architektin Sara Machina soll ihn entwerfen, doch sie zweifelt. „Sympathy Tower“ nennt sich das Ganze, und der Name ist schon Programm: Empathie statt Strafe, Täter und Opfer gleichwertig. Klingt radikal, oder absurd? Das lässt Rie Qudan offen und genau das ist mein Problem mit dem Buch.

Rie Qudan packt auf gerade mal 160 Seiten Themen rein, die locker für drei Bücher gereicht hätten: sexuelle Gewalt, Gleichberechtigung, Zensur, gesellschaftliche Oberflächlichkeit, Umgang mit Tätern, künstliche Intelligenz, emotionale Kontrolle. Das ist mutig, aber es kratzt eben vieles nur an. Und vor allem: Ich konnte die moralische Haltung der Autorin nicht greifen. Mal wirkt es wie ein Lob auf eine egalitäre Gesellschaft, mal wie eine Warnung vor ihrer Absurdität. Dazu mischen sich Vorurteile und subtile rassistische Stereotype, gleichzeitig aber auch Gleichheit und Empathie rein.

Spannend ist, dass Japan real gesehen fast das komplette Gegenteil lebt: ein hartes Strafsystem, hohe Verurteilungsquote, soziale Ausgrenzung. In diesem Kontext wirkt die Idee vom „Sympathy Tower“ fast schon wie ein Tabubruch. Aber will Qudan provozieren oder ernsthaft ein neues Gesellschaftsmodell entwerfen? Keine Ahnung und genau das macht’s für mich so frustrierend.

Trotzdem mochte ich Sara als Figur. Sie ist kalt und emotional zugleich, voller innerer Konflikte und damit ein gutes Spiegelbild des ganzen Romans. Tokyo Sympathy Tower ist widersprüchlich, manchmal überladen, aber irgendwie hat es mich trotzdem gepackt, es hätte nur mehr Raum gebraucht, um sein volles Potenzial zu entfalten.

6/10

Bewertung vom 01.08.2025
Seifert, Hans-Haiko

Joanna


ausgezeichnet

Polen 1980, Veränderungen liegen in der Luft und mittendrin Georg. Er ist von Ostdeutschland nicht etwa wie alle anderen Richtung Westen geflohen, sondern macht sich auf nach Osten, nach Warschau. Raus aus der DDR-Tristesse, raus aus dem belehrenden Einheitsbrei. Was ihn dort erwartet, konnte er nicht wissen, Sprachbarrieren, ein heißer Sommer, politische Aufbruchsstimmung, Nudeln mit Erdbeersoße, Eric Clapton aus dem Kassettenrekorder und Joanna.

Hans-Haiko Seifert erzählt in 67 kurzen Episoden, jede wie eine kleine Momentaufnahme. Jede könnte unabhängig gelesen werden. Gemeinsam ergeben sie das große Ganze. Manchmal fühlt sich das an wie Tagebuch, manchmal wie ein Film. Anfangs war ich etwas überfordert, viele Namen, neue Szenen, fremde Begriffe. Aber je weiter ich gelesen habe, desto mehr hat es mich fasziniert.

Georg stolpert eher durchs Leben, versteht anfangs vieles nicht und genau das macht ihn so sympathisch. Seine Unsicherheit, seine anfängliche Naivität wirken echt. Und als er der Cellistin Joanna begegnet, beginnt für ihn eine Suche nach ihr, nach sich selbst, nach Bedeutung.

Die Liebe zwischen Georg und Joanna ist zart, fast flüchtig. Kein übertriebener Kitsch. Nur ein Kuss auf die Wange und dann ist sie weg und Georg auf der Suche nach ihr.

Was mich überzeugt hat, war das Zusammenspiel aus historischer Kulisse und persönlichen Momenten. Warschau 1980 war sicherlich kein einfacher Ort, aber Seifert zeigt die Stadt liebevoll, nah an den Menschen, mitten im politischen Aufruhr. Die kleinen Details machen das Buch stark: die Musik, die Sprache, das Alltagsleben.

Stilistisch schreibt Seifert ruhig, manchmal fast lakonisch, mit einem feinen Gespür für Zwischentöne. Er beschreibt nicht überbordend, sondern setzt gezielt Akzente. Diese zurückhaltende, beinahe unaufgeregte Erzählweise passt perfekt zum Ton des Romans, sie lässt Raum für Interpretation, für eigene Gedanken.

Joanna ist ein feinfühliger, kluger Roman über eine Zeit des Wandels. Eine Geschichte über Aufbruch, Missverständnisse, leise Nähe und über das Suchen nach einem Platz in der Welt. Leseempfehlung.

9/10

Bewertung vom 29.07.2025
Fortein, Jennifer

Morbus Inertia


ausgezeichnet

Ich bin ja Fan von Dystopien, lese diese auch regelmäßig, aber selten hatte ich beim Lesen so oft das Gefühl: „Uff… das ist ja gar nicht mal so weit weg von unserer Realität.“ Und genau das macht dieses Buch so verdammt gut.

In Forteins Zukunftsgesellschaft zählt nur noch Effizienz. Wer nicht funktioniert, wer langsamer wird, emotional, erschöpft oder einfach nur menschlich ist, bekommt eine Diagnose: Morbus Inertia. Klingt wie ein bisschen Antriebslosigkeit, ist in Wahrheit aber ein gesellschaftlich akzeptiertes Todesurteil. Denn „Kranke“ kommen in sogenannte Optimierungskliniken, wo sie „behandelt“ werden. Heißt konkret: angepasst, kontrolliert, gebrochen, aussortiert.

Wir begleiten Caitlyn, die eigentlich alles richtig macht. Sie lebt effizient, arbeitet diszipliniert, ist angepasst. Und trotzdem landet sie in der Klinik. Von einem Moment auf den anderen wird sie zur Patientin, ohne zu wissen warum. Und ab da beginnt eine Geschichte, die mich komplett in ihren Bann gezogen hat.

Denn was als „Therapie“ verkauft wird, ist in Wahrheit ein Kampf ums Überleben. Caitlyn merkt schnell, dass hier keine Hilfe auf sie wartet, sondern ein System, das Menschen aussortiert, die nicht mehr ins Leistungsprofil, vor allem der Großkonzerne, passen. Was das mit ihr macht, wie sie sich verändert, wie sie beginnt zu hinterfragen und zu kämpfen, das ist so spannend und glaubwürdig erzählt, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte.

Jennifer Fortein schreibt dabei ohne großes Drama, aber mit klarem Stil und genau das macht die Geschichte so stark. Kein Bombast, sondern eine erschreckend plausible Zukunft, in der Menschlichkeit der Effizienz geopfert wird.

Für mich war das ein echtes Highlight. Smart, beklemmend, top geschrieben und nach meinem Geschmack, leider viel zu nah an unserer eigenen Gegenwart. Leseempfehlung!

9/10

Bewertung vom 27.07.2025
Grandl, Peter

Reset


ausgezeichnet

Stell dir vor, du telefonierst mit deiner Oma. Sie klingt besorgt, sagt dir, ihr gehts nicht gut. Du spürst ihre Stimme, ihre Emotion. Und dann fragst du dich plötzlich: War das überhaupt sie? Genau hier setzt Reset von Peter Grandl an, ein Thriller, der mich echt gepackt hat.

Die Geschichte spielt 2024, gefühlt könnten die Ereignisse aber auch in naher Zukunft passieren. Weltweite Fake News, Deepfakes, digitale Täuschungen auf einem Level, bei dem keiner mehr weiß, was echt ist. Regierungen werden in (vermeintliche) Kriege gezogen, basierend auf manipulierten Informationen. Vertrauen? Gibt’s nicht mehr. Und mittendrin ein Ermittler, der eigentlich nur seine Schwester sucht und dabei durch ein Europa reist, das kurz vor dem totalen digitalen Zusammenbruch steht.

Ich war beim Lesen gleichzeitig fasziniert und beunruhigt. Grandl zeigt nämlich ziemlich eindrücklich, wie gefährlich unsere Abhängigkeit von Medien, Technik und Informationen geworden ist. Wie leicht wir manipulierbar sind, wenn alles täuschend echt aussieht und trotzdem falsch ist. Deepfakes sind in dieser Story keine Spielerei mehr, sondern ein Instrument der Zerstörung. Und ehrlich: So weit weg ist das alles nicht mehr. Künstliche Intelligenz, manipulierte Videos, synthetische Stimmen, das gibt es auch jetzt schon. Reset denkt das nur zu Ende.

Das Buch liest sich schnell, ist spannend, manchmal komplex, weil viele Figuren auftauchen, aber wenn man dranbleibt, wird man mit einer wirklich starken Geschichte belohnt. Es ist keine typische Dystopie, sondern ein realitätsnahes „Was wäre wenn?“. Und genau das macht’s so intensiv.

Für mich war’s das erste Buch von Peter Grandl, aber definitiv nicht das letzte. Ich liebe Bücher, die einen nach dem letzten Kapitel noch beschäftigen und Reset ist genau so eins. Keine Wohlfühllektüre, aber absolut lesenswert. Gerade jetzt.

9/10