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Emmmbeee
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Österreich

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Insgesamt 35 Bewertungen
Bewertung vom 30.11.2025
Céspedes, Alba de

Was vor uns liegt


sehr gut

Zukunft in Reichweite

Alba de Céspedes soll gesagt haben: „Wir Frauen leben auf dem Grund eines Brunnens, und nur wer auf dem Grund eines Brunnens sitzt, kennt das Mitleid.“
Wie ist das gemeint? Frauen und Mädchen sind in verschiedenen Kulturen meist für das mühsame Wasserholen aus den Brunnen zuständig, manchmal über weite Strecken hinweg. Sie verrichten also Schwerarbeit und verstehen die Not der anderen Menschen besser als andere. Auch das Coverbild deutet auf den Brunnen hin.
Noch ein anderer Aspekt trifft auf „Was vor uns liegt“ zu: Es geht um zentrale Punkte, wo Frauen sich treffen, in diesem Fall ein katholisches Internat. UND dass Frauen aufgrund ihrer Rolle und Stellung in der Gesellschaft mit den Tiefpunkten meist sehr vertraut sind. Diese Erfahrung habe ich jedenfalls gemacht. Soviel nur nebenbei.
Auf den nach dem anfänglichen Verbot und dem ersten Hype wieder aufgelegten Roman bezieht sich am meisten wohl der gemeinsame Austausch über eine sehr unsichere, aber weitgehend nicht selbstbestimmte Zukunft und die (noch) fehlende Selbstbestimmung.
Von Konventionen, Konservativismus und Religion eingeengte junge Studentinnen, noch dazu im faschistischen Italien, werden in einem katholischen Internat zusammengewürfelt. Jede hat ihr eigenes und ganz besonderes Vorleben, das sie prägt, und ihre Wünsche an die Zukunft. Doch die ist unsicherer als je zuvor.
Mir gefällt, wie reichhaltig die Autorin jede Figur zeichnet und ihr eine Fülle von Leben einhaucht. Auch wenn die Mädchen sich gegen die Nonnen nur selten wehren können, hat mich das jeweils Aufmüpfige doch sehr gefreut. Da brodelt und bebt es unter der Oberfläche, jeden Augenblick könnte eine der Frauen über die Stränge schlagen. Die einzelnen Schicksale haben mich berührt. Und noch etwas: de Céspedes schaut genau hin, zeigt auch auf die Kleinigkeiten am Wegrand der Handlung.
Der Sprachstil gefällt mir sehr, und auch, wie genau die einzelnen Szenen dargestellt sind. Ebenso die Erläuterung der verschiedenartigen Probleme, Hoffnungen und persönlichen Zweifel. Wie sehen die diversen Lebensentwürfe aus? Was ist den einzelnen Mädchen wichtig?
Die Spannung baut sich schon bald auf, von Beginn an erzählt Alba de Céspedes erfüllt mit Leben und Farbe. Der Roman umfasst viele Themen, welche gerade junge Frauen, aber eigentlich alle, auf die Beine bringen und bewegen. Sie sind allesamt noch heute aktuell.
Das Cover kommt klassisch rüber, brave und eifrige Mädchen zu Füßen eines Brunnens (Ausspruch Autorin).
Das Buch umfasst so vieles, was zeitlos bleiben wird. Ich möchte es eigentlich allen Literaturfreunden in die Hand drücken.

Bewertung vom 28.11.2025
Keweritsch, Katja

Das Flüstern der Marsch


sehr gut

Dramatik hinter dem Frieden der Marsch

Dass selbst gemeinsame Erinnerungen von mehreren Personen völlig anders aufgerufen und wiedergegeben werden, ist bekannt. Sie können sogar regelrecht manipuliert werden. Und dass das Verschweigen in Familien mehr als nur häufig vorkommt, wissen wir alle.
Auch Doppelmoral wird überall gern praktiziert, denn die Meinung der Welt und erst recht die der Menschen um uns herum ist uns ungeheuer wichtig für unser Selbstwertgefühl. Auch wenn wir es besser wissen. Dass aber eine Großmutter so mir nichts, dir nichts verschwindet und ihr Mann, der Opa, sich anscheinend darüber keinerlei Gedanken macht, ist eher ungewöhnlich.
Um all diese Themen geht es im Roman „Das Flüstern der Marsch“. Das Narrativ wird von verschiedenen Personen getragen, so werden die Handlung und die einzelnen Beweggründe von verschiedenen Seiten beleuchtet und sind verständlicher.
Mir waren nicht alle Figuren von Anfang an klar, und das allmähliche Hintasten zu ihnen ist Teil der Spannung. Der persönliche Ich-Erzählstil in den Mona-Teilen wiederum macht deutlich, um wen sich die ganze Geschichte hauptsächlich dreht, wer die Hauptprotagonistin ist. Sie war mir von allen die am sympathischsten gezeichnete Figur. Ich musste aufpassen, um beim Lesen nicht von einem Strudel der Gefühle mitgerissen zu werden, so nahegehend ist alles geschildert, zu sehr konnte ich mich in diverse Situationen einfühlen.
Sehr gut gefällt mir auch die Beschreibung der Marschlandschaft, die ich persönlich nicht kenne. Beim Lesen hatte ich jedoch den Wunsch, sie einmal kennenzulernen. Das Coverbild strahlt zudem einen tiefen Frieden aus, hinter dem man gar nicht vermutet, wie schwer das Gewicht der Geheimnisse unter der Oberfläche lastet.
Ich habe das Buch mit Spannung gelesen, habe mit den Personen gelitten und empfehle es gern weiter.

Bewertung vom 21.11.2025
Beyer, Martin

Elf ist eine gerade Zahl


gut

Menschliche Ausnahmesituationen

Als bei der Teenie-Tochter der Krebs gestreut hat und wiedergekommen ist, bricht die Welt von Mutter Katja und Paula zusammen. Katy versucht Zuversicht und Mut auszustrahlen. Da kommt auch der Großvater noch mit einem alternativen Heilungsvorschlag. Sie gerät ans Ende ihrer Kräfte. Dennoch bemüht sie sich, ihre Tochter aufzuheitern, zum Essen zu bewegen und abzulenken. Dazu erzählt sie ihr eine erfundene Geschichte rund um einen Fuchs und ein Mädchen. Die Kraft der Gedanken soll aktiviert werden, um als Nebenwirkung der Kranken mehr Hoffnung und Optimismus zu schenken.
So entsteht eine Geschichte innerhalb der Rahmenhandlung, ähnlich wie im orientalischen Märchen Tausendundeine Nacht. Eigentlich eine gute Idee, nur habe ich die nötige Zugkraft vermisst. Neue Namen kommen hinzu, und man weiß nicht recht, soll man Bezüge zum realen Alltag des Mädchens suchen, denn sein Plüschfuchs ist auf jeden Fall der Anstoß zur Geschichte.
Um die eine Story besser von der anderen unterscheiden zu können, wurde die Erzählzeit geändert. In der Rahmenhandlung ist es die Gegenwart, in der Fuchserzählung die Vergangenheit. Auch das kann, ebenso wie die vorkommenden Personen, zu Interpretationen verleiten. Mir schien es etwas mühsam, und ich muss es gestehen: Es hat mich gelangweilt. Die Spannung konnte mich nicht halten, ich wollte nur noch vorwärtsmachen.
Der Sprachstil hat mir zugesagt, die Zeichnung der Charaktere ist der Autorin zweifellos sehr gut gelungen. Dennoch tut es mir leid, auch in der Mitte des Romans war ich noch nicht vom Werk gepackt. Drum habe ich es nicht mehr zu Ende gelesen.
Literatur und Lesefreude hängen sehr vom persönlichen Geschmack ab, und ein Nicht-Gefallen ist keineswegs eine Wertung. Bitte nicht missverstehen!
Das Cover ist in einer eher trübseligen Farbe gehalten, einzig der Pelz des Fuchses vermittelt ein wenig Wärme und Leben. Im Schaufenster aber kein Hingucker.

Bewertung vom 12.11.2025
Korn, Carmen

In den Scherben das Licht


sehr gut

Trauer und Hoffnung dicht an dicht

Zwei junge Menschen, Gisela und Gert, lernen sich in Hamburg kennen. Beide haben den zweiten Weltkrieg hinter sich und ihn mehr oder minder unbeschadet überstanden. Ganz ohne Spuren verläuft ein so gewaltiger und umfassender Krieg ja nie.
Dazu kommt eine frühere Bühnenkünstlerin, Friede. Auch sie ist schwer gezeichnet und hat dennoch nie aufgehört, hoffnungsvoll und positiv in die Zukunft zu blicken. Gemeinsam bewältigen sie den Alltag und die größten Gegenwartsprobleme. Doch liegt über jedem von ihnen eine große Trauer, denn die alles überspannende Frage bleibt: Wo sind ihre Lieben, ihre engsten Angehörigen? Wie kann man weiterleben, wenn die nächsten und liebsten Menschen vermutlich tot sind? Auf ihrer Suche, ihrem Weg kommen weitere Menschen dazu, helfend, teils auch störend. Aber die Geschichte macht deutlich: Gerade in solchen extremen Notzeiten brauchen wir einander, ohne andere Menschen geht es nicht.
In den vergangenen Jahrzehnten gab es viel über die Nachkriegszeit, über die Suche nach verschollenen Angehörigen, über Traumata und neue Anfänge zu lesen, über Verzweiflung und neue Hoffnung, über Angst und neues Wachsen. Ich möchte es eine Aufbau-, eine Entwicklungsgeschichte bezeichnen. Selbst wenn die 1940er- und 1950erjahre längst vorbei sind, kann der Text Empfindungen wie Hoffnung und Zuversicht in jedem Leser beleben, und das brauchen wir ja nicht nur in Nachkriegszeiten.
Carmen Korn versteht es wie keine Zweite, so eine Geschichte aus der Vergangenheit plastisch zu gestalten, dass man sich mittendrin wähnt. In bildhafter Sprache und deutlicher Zeichnung der Charaktere lässt sie uns teilhaben an der damaligen Zeit und den Schicksalen ihrer Personen. Ich mag ihren Schreibstil sehr!
Das Cover zeigt ein tanzendes Paar, es vermittelt Fröhlichkeit, Leichtigkeit, Zuneigung und Neubeginn. Und genau das ist es, was die Nachkriegszeit brauchte und was Carmen Korn so meisterhaft, berührend und spannend zu erzählen weiß. Ich habe schon vorher ihre Romane sehr geschätzt, und auch dieses Buch empfehle ich gern weiter.

Bewertung vom 31.10.2025
Louis, Édouard

Der Absturz


sehr gut

Hoch geflogen, abgrundtief gefallen

Gleich im ersten Satz auf den Tod eines Familienmitglieds zu kommen, scheint eine französische Sache zu sein. Oder Édouard Louis hat sich ein Beispiel an großen Landsmännern (Victor Hugo, Albert Camus) genommen. Er erzählt von seinem älteren Bruder seit dessen Jugend, den hochfliegenden Träumen, überaus positiven Ansätzen, dann vom immer wiederkehrenden Scheitern, von der Vergeblichkeit, den Tiefschlägen.
Louis erzählt im letzten Teil seiner Familiengeschichte zugleich distanziert und mitfühlend, einerseits weil er die Lebensvoraussetzungen in seinem engsten Umfeld genau kennt und ebenfalls durchlitten hat. Er selbst jedoch durfte mehr Möglichkeiten und Bildung erfahren und hat sich emporgekämpft. Andrerseits sind es seine Nächsten, seine engste Familie, besonders geht es immer auch um seine geliebte Mutter. Mir drängt sich mit jedem Lesen eines seiner Bücher der Vergleich mit Annie Ernaux auf, die ja auch nicht auf Rosen gebettet war und ähnlich schonungslos und klar auf sich selbst und ihre Familiengeschichte blickt und von ihr berichtet. Frankreich, und besonders sein Norden, ist keineswegs eitel Sonne, amour und Badeurlaub, sondern gibt seinen Menschen größtenteils harte Unterlagen für einen Start ins Leben. Wer da nicht gefestigt ist, gerät leicht unter die Räder.
Édouard Louis zeigt deutlich, dass er oft eine berechtigt große Abneigung gegen seinen toten Bruder hatte. Gleichzeitig leuchtet aber auch viel Liebe und Verstehen aus den Seiten. Große Träume, die immer wieder an der harten Realität zerschellen müssen, schneiden auch ins Herz der Familie. Fakt Nr. 1 (bis 16) nennt es der Autor, wenn er auf konkrete Vorkommnisse zu sprechen kommt, immer wieder schiebt er Bemerkungen ein und versucht so, allen Aspekten gerecht zu werden. Er schreibt, ebenso wie Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, völlig schnörkellos, nüchtern, in einfachen Sätzen und in transparenten Bildern. Vielleicht gehen die Bücher der beiden deshalb so nah.
Mir hat die Ehrlichkeit gut gefallen, das Illusionslose, Deutliche, Ungeschminkte. Ja, so hart und kalt ist das Leben eben auch, und das in nächster Nachbarschaft. Gewiss keine leichte Strandlektüre, aber man weiß nie, durch welche Umstände man in eine ähnliche Lage geraten kann. Ein Lese-Muss für aufmerksame Menschen unserer Zeit!

Bewertung vom 27.10.2025
Ahern, Cecelia

Ein Herz aus Papier und Sternen


sehr gut

Wenn das Selbstvertrauen fehlt

Pip ist als Sechzehnjährige mit der Geburt ihrer Tochter von ihrer Familie mit Schuld und Gefühlen der Wertlosigkeit überhäuft und in ihrer Entscheidungsfreiheit auf ein Minimum heruntergestuft worden. Jeder Mut, jedes Selbstvertrauen fehlt ihr, selbst noch mit 32 Jahren. Man lässt sie nicht einmal eine richtige Mutter sein. Der Kontakt zu Kindsvater Jamie wird streng überwacht, wenn nicht gänzlich unterbunden. Um wenigstens weitgehend unbehelligt zu bleiben, versucht sie, sich daheim unsichtbar zu machen, damit sie unter dem Radar der Überwachung bleiben kann.
Dabei sieht sie sich selbst als ein verletzliches Blatt Papier, das sich durch Falten stärken und zugleich den Schmerz in sich verbergen kann. Sie verfasst empfindsame Gedichte im Hinblick auf die japanische Papierfaltkunst Origami. Gleichzeitig versteckt sie diese, damit ihre Mutter sie nicht findet und sie sowohl im übertragenen Sinn als auch wörtlich in der Luft zerreißt. Während ein unbekannter Mann an Pips Arbeitsstelle auftaucht, bei dem sie sich akzeptiert fühlt, will ein anderer das Gefühl von Wertlosigkeit, das die schüchterne junge Frau beherrscht, gnadenlos für sich auszunutzen. Dabei will Pip es doch allen einfach nur recht machen.
Seite für Seite habe ich gehofft, dass sich endlich eine Lösung zeigt und sie bald mit ihrer Tochter aus dem Käfig des Elternhauses treten kann. Oft hätte ich sie am liebsten kräftig gestupst. Dann kommt auch ein Dritter ins Spiel. Die Spannung wird zum Pageturner und sorgt dafür, dass der Leser mitfiebert. Rasant entwickelt sich die Handlung und bringt immer neue Wendungen. Plastisch entsteht die Welt der Menschen auf diesem Stückchen Irlands.
Sehr deutlich sind die einzelnen Personen skizziert, und das Geschehen vollzieht sich plastisch vor dem inneren Auge. Es schmerzt, wie sehr die junge Frau, Pip, von ihren Eltern reduziert und unterdrückt wird.
Darüber hinaus werden viele Themen angesprochen, in erster Linie natürlich zwischenmenschliche, doch es geht auch um Habgier und Machtmissbrauch, Raubbau an der Natur und Umweltfragen. Das ist die große Erzählkunst von Cecelia Ahern, dass sie den Leser nicht nur bei Emotion und Empathie zu packen weiß, sondern auch bei seinem persönlichen Engagement.
Mit einigen Herz-Darstellungen macht das Cover auf sich aufmerksam. Mir allerdings fehlt ein kleiner Hinweis auch auf das Wort „Papier“ im Titel. Ein kunstvoll gefaltetes Origami-Herz zum Beispiel.

Bewertung vom 14.10.2025
Ganeshananthan, V. V.

Der brennende Garten


sehr gut

Junge Frau zwischen Studium und Bürgerkrieg

Sashikala ist eine strebsame junge Frau und möchte nichts anderes, als die Zulassung zum Medizinstudium zu erreichen. Doch bestimmen bald die Rebellionen der Tamil Tigers (LTTE) das tägliche Leben. Sie wollen die Bildung eines unabhängigen tamilischen Staates namens Tamil Eelam im Nordosten der Insel erreichen, weil sie von der Sri Lankischen, singhalesisch dominierten Regierung unterdrückt, verfolgt und diskriminiert werden. Ihre eigene Familie kann sich aus den Kämpfen und Pogromen nicht heraushalten, auch sie ist schwerst betroffen. Das ganze Leben der Tamilen wird niedergehalten, Familienleben, Kultur, Studium, was Sashis Pläne zunichtemacht. Sie kann ihr wachsendes medizinisches Wissen zwar einsetzen und den Menschen auf ihre Weise helfen, doch muss sie ihr Land verlassen. Auch muss sie plötzlich Entscheidungen für sich, ihre Familie und Nachbarn treffen, was sie stark belastet.
Ein früherer Arbeitskollege von mir war geflüchteter Tamile, der ab und zu davon erzählte, wie seine eigene Familie unter den Terroraktionen in Sri Lanka litt, welch unmenschliche Racheaktionen seiner Familie angetan wurden. Auch in diesem Roman wird authentisch davon erzählt. Jeder Krieg ist schwer zu ertragen, doch was auf dieser Insel zwischen Singhalesen und Tamilen an unerbittlichen Grausamkeiten vor sich ging, ist wohl ein Thema für sich.
Mit Tempo und Wärme schildert die Autorin das Leben von Sashis Familie.
Mir gefiel die bilderreiche, sinnliche Sprache, welche die Lesenden anschaulich in die Geschichte der gebeutelten Insel und in Sashis Werdegang führt. Ich habe tiefen Einblick in den Alltag der Menschen gewonnen, wenngleich ich ein erklärendes Glossar stark vermisst habe. Denn die fremdartigen, mir unbekannten Speisen zum Beispiel wurden kaum erläutert. Dabei hätten sie den Roman mit mehr Farbe, um nicht zu schreiben Geschmack und Olfaktorik bestimmt bereichert. Auch werden die Anreden nicht erläutert, und man weiß nicht, ob es ein Name ist oder „Schwester“, „Freund“ oder „Liebling“. Und da die Autorin uns LeserInnen wiederholt direkt anspricht, wäre es auch eine wichtige Ergänzung, um die ethnischen Bedeutungen besser zu erfassen. „Ich möchte, dass du verstehst“, schreibt sie immer wieder, um Verständnis geht es ihr ja.
Das Cover deutet mit einer Umarmungspose bereits an, dass es um Abschiede von liebgewordenen Menschen und Dingen geht. In seiner Schlichtheit ist es ergreifend und sehr stimmig.

Bewertung vom 10.10.2025
Lewis, Caryl

Wilder Honig


sehr gut

Stimmungsvoll

Kurz nach dem Tod ihres Mannes John ist Hannah längere Zeit wieder mit ihrer jüngeren Schwester Sadie zusammen. Dabei kommen viele Erinnerungen auf, welche teils schmerzhaft sind. Auch das schweigsame Nebeneinanderher im Haus, ihrer beider Elternhaus, belastet die beiden Frauen. Zusätzlich zur Trauer um den Verstorbenen ist das verständlicherweise eine schwierige Situation. Hinzu kommt Megan, die bisher unbekannte Tochter des Verstorbenen. John spielte im Leben von allen drei Frauen eine wichtige Rolle.
Es geht um drei sehr unterschiedliche Frauen, jede auf eine andere Art in ihrer Beziehung zum Partner und im Leben gescheitert. Plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen und aufeinander angewiesen müssen sie lernen, sich zu öffnen, und genau dadurch finden sie zusammen.
Der Tote hat elf Briefe hinterlassen, im Grunde genommen Liebesbriefe, welche nach und nach gesichtet werden. (Zum besseren Verständnis sind sie jeweils kursiv gedruckt.) Seine Tochter Megan versucht über sie und seine hinterlassene Büchersammlung, ihren bislang unbekannten Vater zu entdecken und damit auch sich selbst.
Wie aus einem gewissen Nebel heraus taucht auch immer wieder der Garten mit seinen Obstbäumen auf, auch diese mit Bedeutung beladen. Und selbstverständlich die Bienenstöcke mit ihren Bewohnern, welche mit ihrem fleißig erarbeiteten Produkt, dem Honig, diesem Werk den Titel geben.
Bei diesem Roman fand ich den Zugang nur schwer, doch dann erschloss sich mir die Schönheit nicht nur der Landschaft, in der er gelebt wird, sondern auch die Weisheit, die aus dem Umgang mit der geschilderten unmittelbaren Natur strömt. Sinnhaftigkeit, Zusammenhalt, Zugehörigkeit sind einige der Themen dieses Buches. Auch um das Kraft schöpfen aus dem Umgang mit dem Apfelgarten und den Bienen, der walisischen Natur, dem sich anderen Menschen öffnen können, dem Sprengen des eigenen Kokons.
Hier liegt ein leiser, unspektakulärer Text vor, der den Lesenden viele Aspekte öffnet, der zum Innehalten und Nachdenken anregt und aus dem ein verständiger Mensch viele Werte für sich selbst schöpfen kann.

Bewertung vom 05.10.2025
Kaiser, Vea

Fabula Rasa oder Die Königin des Grand Hotels


ausgezeichnet

Erzählerisches Feuerwerk

Nachdem ich Vea Kaisers Erstlingswerk „Blasmusikpop“ bereits gelesen hatte, erlebte ich sie 2013 an den Solothurner Literaturtagen. Als sie beim Vorlesen zu der Stelle gelangte, wo die Nordic Walkerinnen den jungen Johannes im Gemüsegarten seiner Eltern den Rausch ausschlafen sahen, brach sie auf der Bühne in einen Lachkrampf aus, der sich gewaschen hatte. Erst verblüfft, dann total angesteckt wieherte das zahlreich erschienene Publikum mit, bis die Autorin sich nach Minuten wieder fassen konnte.
Nun also dieses neue Werk, in dem eine junge Frau aus dem Gemeindebau namens „Veza Canetti-Hof“ (die Ehefrau von Elias Canetti hieß so) mit wenig Geld zu überleben versucht. Neben ihrer Arbeit im Grand Hotel Frohner schaut sie zu ihrer dementen Mutter und hat bald auch ein Baby (mit einem Vater, der zu nichts zu gebrauchen ist) noch obendrauf. Dennoch schafft sie es einige Treppen empor, wenn auch nur dank einiger sinistrer Manipulationen.
Der ganze Roman „Fabula Rasa“ ist erneut ein ausuferndes, würziges Erzähl- und Sprachfestival. Kaiser stürmt durch die Geschichte, dass es ein Vergnügen ist. Man spürt, dass sie ihre Figuren innig liebt und diese bereitwillig mitspielen. Mit längst anerkanntem Fabuliertalent hopst die Handlung leichtfüßig von Satz zu Satz, dennoch ist die Story aber durchaus lebensnahe und ernsthaft, soll sie doch auf Tatsachen beruhen. So gesehen passt sie haargenau zu Wiens städtischem Hintergrund.
Groteske Situationen, dreiste Betrügereien, sehr wirklichkeitsnahe Szenen mit kleinen Kindern und nichtsnutzigen Menschen (sowohl als auch) wechseln sich ab mit nahegehenden Bemühungen einer jungen Frau ums Überleben als alleinerziehende Mutter.
Mit viel Verve und einzigartigem erzählerischem Furor, mit unwiderstehlicher Schlagfertigkeit, Tempo und Witz galoppiert die Autorin durch die Geschichte, übersprudelnd und furios schildernd. Tragikomik wechselt sich ab mit Einfühlungsvermögen, der Auftritt von Herzensbrechern mit dem Einbrechen erfolgreich verlaufender skurriler Katastrophen. Es ist ein heftig geschüttelter Mix aus dem, was ein Leben von ganz unten herauf mit sich spülen kann, ein sprachlicher Farbtopf, verarbeitet zu pittoresken Bildern. Trotz allen Irrsinns geschrieben mit liebevollem Blick und Klugheit, jedoch ohne erhobenen Zeigefinger.
Zwar nicht im Dialekt verfasst, aber dicht übersät mit Wiener Ausdrücken, die ein Glossar am Ende des Romans nur teilweise erklärt. Zur Ergänzung: ein Tschecherl ist ein schäbiges Gasthaus; Gfüüte (Gefüllte) sind wohlhabendere Leute.
Mal so ausgedrückt und zusammengefasst: Der Titel Fabula Rasa verheißt in freier Interpretation auch das, was zwischen den Buchdeckeln zu lesen ist: ein rasantes Drauflosfabulieren um eine Familiengeschichte, was ja Vea Kaisers Spezialität und Markenzeichen ist. Lesevergnügen von A bis Z, ich empfehle diese Lektüre sehr!

Bewertung vom 02.10.2025
Yueran, Zhang

Schwanentage


sehr gut

Treu ergeben

Obwohl das Kindermädchen einer reichen chinesischen Familie im Begriff ist, ihre Entführungspläne mit ihrem Zögling umzusetzen, muss sie anders reagieren, als ihr Chef verhaftet wird und seine Frau verschwindet. Jetzt trägt Yu Ling plötzlich die ganze Verantwortung für den Jungen und das Haus. Wie sie mit der Situation umgeht, will ich nicht verraten, das muss jeder Interessierte selbst lesen.
Hier geht es um eine sehr loyale junge Frau, sowohl was ihre Familie als auch ihre Arbeitgeber betrifft, damals wohl eine Rarität unter den Angestellten. Und das, obwohl sie ringsum eine große Wankelmütigkeit wahrnimmt, auch bei ihren Chefs. Einzelne Außenstehende und ungünstige Tatsachen kommen hinzu und fordern sie in ihren Entschlüssen. Was im Zug der Handlung recht unwahrscheinlich wird, ist, dass sie bescheiden und still bleibt, wie das auch in der fernöstlichen Literatur zum überwiegenden Teil deutlich erkennbar ist. Doch geht es in der Handlung keineswegs um Traditionen, sondern um das moderne Leben, um Umstürze und neue Rechte.
Der Sprachstil ist frisch, zeitgemäß, fließend, hat Drive und Farbe, Spannung besteht von Beginn an. Die Figuren, vor allem die weiblichen, sind scharf umrissen, wobei Yu Ling eindeutig die Sympathien und ein großes Maß an Mitleid für sich verbuchen kann.
Das Coverbild deutet keineswegs auf die Schwäne im Titel hin, eher auf ein gewisses Maß an Macht, Unterdrückung und Eitelkeit. Es gefällt mir trotzdem gut in seiner Dynamik.
Mir ist aufgefallen, dass dieses Buch nicht nur eine ganz eigene Haptik spüren lässt, sondern auch einen eigenen, leicht säuerlichen Geruch hat.