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Bücherfreundin

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Insgesamt 317 Bewertungen
Bewertung vom 30.04.2025
Wut und Liebe
Suter, Martin

Wut und Liebe


ausgezeichnet

Großartige und mitreißende Unterhaltung
Als ich "Wut und Liebe", den neuen Roman des Schweizer Schriftstellers Martin Suter, entdeckte, habe ich mich sehr gefreut. Mein Lieblingsbuch des Autors ist zwar nach wie vor "Small World", aber auch weitere Bücher von ihm haben mich begeistert, zuletzt "Melody". Meine Erwartungshaltung war also sehr hoch - und ich wurde nicht enttäuscht!

Im Mittelpunkt stehen die 31-jährige Camilla da Silva und der 33-jährige Noah Bach. Die beiden haben sich beim Tanzen kennengelernt und sind seit drei Jahren zusammen. Camilla sorgt als Buchhalterin für den Lebensunterhalt des Paares, während Noah als freischaffender Künstler, der auf den großen Durchbruch hofft, nur geringe Einkünfte hat. Die junge Frau liebt ihren Freund, doch sie ist unzufrieden und wünscht sich ein Leben ohne finanzielle Sorgen. Sie beschließt, sich von Noah zu trennen und nach einem reichen Mann Ausschau zu halten. Der Verlassene lernt in einer Bar die herzkranke 65-jährige Betty Hasler kennen. Sie hat vor drei Jahren ihren Ehemann verloren und hasst seinen Geschäftspartner Peter Zaugg, den sie für den Tod ihres Mannes verantwortlich macht. Geld spielt für die wohlhabende Betty keine Rolle, und so stellt sie demjenigen, der Zaugg tötet, eine Million in Aussicht. Der mittellose Noah könnte mit einem Schlag seine Geldsorgen loswerden und vielleicht sogar seine Freundin zurückgewinnen ...

Die mitreißende Geschichte, eine Mischung aus Liebesroman und Krimi, ist in gewohnt schöner und eleganter Sprache mit immer wieder aufblitzendem Humor erzählt und liest sich sehr flüssig. Die interessanten Figuren beschreibt Martin Suter lebensnah und präzise, er lässt uns tief eintauchen in ihre Lebenswelten. Ich fand es spannend, Camilla, Noah und Betty kennenzulernen, konnte ihre Handlungsweisen allerdings nicht immer nachvollziehen. Die Beschreibungen über die Kunst und ihre Vermarktung sowie sehr spezielle Finanzgeschäfte haben mich fasziniert. Gut gefallen hat mir, dass der Autor wie in vielen seiner Werke auch in "Wut und Liebe" nicht mit Gesellschaftskritik spart. Nicht gefallen hat mir dagegen der häufige und reichliche Alkoholgenuss der Protagonisten.

Das Buch ist fesselnd und spannend bis zur letzten Seite, es gibt raffinierte Wendungen, Geheimnisse werden enthüllt, und das Ende hat mich vollkommen überrascht. Ich habe den kurzweiligen Roman, in dem es neben Liebe und Wut auch um Verzweiflung, Verrat und Trauer geht, sehr gern gelesen und mich dabei bestens unterhalten gefühlt.

Absolute Leseempfehlung! 

Bewertung vom 19.04.2025
Vorsehung
Moriarty, Liane

Vorsehung


ausgezeichnet

Interessantes Thema, fesselnd und tiefgründig umgesetzt
In ihrem neuen Roman "Vorsehung" erzählt die australische Autorin Liane Moriarty eine außergewöhnliche Geschichte über einen Flug nach Sidney und dessen Folgen.

Die Passagiere befinden sich auf dem Flug von Tasmanien nach Sidney. Die Maschine hat Verspätung, alle sind froh, als sie endlich abhebt. Nach 45 Minuten steht eine bis dahin unauffällige alte Dame von ihrem Platz auf. Sie zählt bis drei, ehe sie durch die Reihen geht und jedem Mitreisenden sagt, woran er sterben wird und wie alt er zum Zeitpunkt seines Todes sein wird. Sie sagt Sätze wie "Ich erwarte einen Schlaganfall mit 72 Jahren", "Ich erwarte eine Herzerkrankung mit 84 Jahren" oder "Ich erwarte Bauchspeicheldrüsenkrebs mit 66 Jahren". Die überraschten Passagiere gehen unterschiedlich mit den Aussagen der Dame um. Manche nehmen ihre Aussagen nicht ernst, halten sie für verwirrt, manche reagieren aufgrund einer zu erwartenden hohen Lebenserwartung gelassen oder sogar erfreut, andere sind sehr beunruhigt, weil sie nicht mehr lange leben werden. Schon bald nach der Rückkehr der Fluggäste in ihren Alltag scheinen sich die ersten Prophezeiungen zu erfüllen ...  

Das Buch beschäftigt sich anhand mehrerer Einzelschicksale mit der Kernfrage, ob es möglich ist, dem Schicksal zu entrinnen und es zu beeinflussen. Wir lernen neben der Flugbegleiterin Allegra insbesondere das Ärzteehepaar Sue und Max kennen, das seit 40 Jahren zusammen ist, den Bauingenieur Leo, die Juristin Paula, das frisch verheiratete Ehepaar Eve und Dom sowie Ethan, der auf der Beerdigung seines besten Freundes war. 

Die Geschichte ist in schöner Sprache erzählt und liest sich sehr flüssig. Die Autorin beschreibt in den einzelnen Kapiteln abwechselnd das Leben mehrerer Passagiere nach dem Flug und die Auswirkungen der Prophezeiungen auf die Betroffenen und ihre Familien. In jedem zweiten Kapitel kommt Cherry zu Wort, die in den Sozialen Medien bald als "Todesdame" bekannt wird. Als Ich-Erzählerin blättert sie nach und nach ihre interessante und packende Lebensgeschichte auf. Wir erhalten Einblick in Cherrys Vergangenheit, lernen ihre große Liebe und ihre Ehemänner kennen und erfahren, dass ihre Mutter ihren Lebensunterhalt als Hellseherin verdiente.

"Vorsehung" hat mir sehr gut gefallen, die kurzweilige Geschichte zog mich bereits auf den ersten Seiten in ihren Bahn. Ich mochte die interessanten Figuren, die bildhaft und authentisch dargestellt sind. Auch das Ende hat mir gut gefallen, ich habe es als sehr stimmig empfunden. Zwischendurch habe ich mich immer wieder gefragt, wie ich mit einer Prophezeiung wie im Buch umgehen würde, und ob und wie sie mein weiteres Leben beeinflussen würde.

Absolute Leseempfehlung für diesen außergewöhnlichen Roman mit Tiefgang, der dazu anregt, über die eigene Sterblichkeit nachzudenken!

Bewertung vom 07.04.2025
Das Lieben danach
Bracht, Helene

Das Lieben danach


sehr gut

Mutiges Buch über ein wichtiges Thema
Der Hanser Verlag hat "Das Lieben danach", das Debüt von Helene Bracht, veröffentlicht, in dem diese sich mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzt.

Während eines Urlaubs auf den Kanaren schreibt die 70-jährige Autorin sich von der Seele, was sie über Jahrzehnte verdrängt hatte. Strecker, Untermieter im Haus ihrer Eltern, gibt der kleinen Lene regelmäßig einmal pro Woche Nachhilfe und missbraucht sie über einen längeren Zeitraum. Erst als sie acht Jahre alt ist, erkennt ihre Mutter, was ihrem Kind angetan wird und erteilt Strecker Hausverbot.

Helene Bracht, die als Psychologin tätig ist, verarbeitet in ihrem Sachbuch nicht nur das an ihr verübte Verbrechen, sondern analysiert auch dessen Auswirkungen auf ihre späteren Liebesbeziehungen. Sie fragt sich, weshalb sie damals alles ertragen hat, was für sie schmerzhaft und qualvoll war und warum sie sich nicht gewehrt hat, sondern sogar Freude empfand, wenn ihr Peiniger zu ihr kam. Für ihn war sie "etwas ganz Besonderes", sie fühlte sich von ihm geliebt und hielt die Schmerzen klaglos aus, fühlte sich dadurch sogar innig verbunden mit ihrem kriegsversehrten Vater, der unter ständigen Schmerzen litt.
Die Missbrauchserfahrungen prägen ihr Liebesleben. Der Gymnasiallehrer, bei dem sie ein Praktikum absolviert und für den sie auch "etwas ganz Besonderes" ist, umwirbt sie und macht ihr Geschenke. Sie vermag sich ihm nicht zu widersetzen, und es bleibt nicht bei diesem einen Zweckbündnis.

Das Buch, das sich auch mit Themen we Me-too, Scham und Vertrauen auseinandersetzt, ist in klarer und sachlicher Sprache geschrieben und liest sich flüssig. Es hat mich zutiefst erschüttert, dass Helene Bracht als kleines Mädchen über Jahre missbraucht wurde, und ich konnte nicht verstehen, dass ihre Eltern dem Täter nur Hausverbot erteilten anstatt mit ihrem Kind zur Polizei zu gehen. Mit großer Offenheit beschreibt die Autorin nicht nur ihre Schwierigkeiten, sich auf Beziehungen einzulassen, sondern auch ihre eigene Umkehr vom Opfer zur Täterin, die andere Menschen physisch und psychisch verletzte.

Helene Brachts mit großer Offenheit geschilderte Erfahrungen sind aufwühlend und machen betroffen. Ich bewundere den Mut, den sie mit ihrer Veröffentlichung bewiesen hat - Leseempfehlung für dieses wichtige Buch, das unter die Haut geht!

Bewertung vom 30.03.2025
Unsere Suche nach Zärtlichkeit
Ehrenhauser, Martin

Unsere Suche nach Zärtlichkeit


ausgezeichnet

Wunderbare und mit viel Empathie erzählte Geschichte
Im Mittelpunkt von "Unsere Suche nach Zärtlichkeit", dem aktuellen Roman von Martin Ehrenhauser, steht der in Brüssel lebende Sebastien Dumont. Der 49-Jährige ist geschieden und führt ein Uhrengeschäft. Nachts ist er ehrenamtlich als Telefonseelsorger tätig, der den Anrufern geduldig zuhört und versucht, ihnen seelischen Beistand zu geben. Eines Nachts ruft eine weinende Frau an. Obwohl es Dumont nicht gelingt, ein längeres Gespräch mit ihr zu führen, erfährt er, dass sie mit dem Zug nach Antibes in Südfrankreich fahren wird. Dumont, den immer noch der Selbstmord einer Anruferin bedrückt, beschließt spontan, sich eine Auszeit zu nehmen, um der Fremden nachzureisen. Während seines Aufenthaltes in Antibes lernt er in einer Fotoausstellung Florence kennen, die in einem kleinen Pförtnerhäuschen lebt. Die beiden kommen sich näher, doch schon bald gerät Dumont in einen schweren Gewissenskonflikt ...

Der Leser begleitet den sympathischen Dumont während eines Zeitraums von wenigen Monaten und lernt ihn dabei intensiv kennen, erlebt seinen Alltag in Brüssel und die aufregenden Wochen in Antibes. Martin Ehrenhauser erzählt die Geschichte mit ganz wunderbaren Worten und skizziert seinen Protagonisten sehr liebevoll und mit viel Empathie, so dass ich mich gut in ihn hineinversetzen konnte. Dumonts Aufenthalt in Antibes und seine Zeit mit Florence bilden den Kern des Romans, und wir erleben den sensiblen und nachdenklichen Mann, der von seinen Gefühlen überrollt wird und sich von der neuen Situation bald vollkommen überfordert fühlt. 

Mit seinem sensiblen Erzählstil ermöglicht es der Autor dem Leser, intensiv in Dumonts Gedanken- und Gefühlswelt zu blicken. Seine Handlungsweisen konnte ich sehr gut nachvollziehen, und ich mochte den feinfühligen Dumont, der sich viele Gedanken macht und nicht mehr weiß, was richtig und falsch ist. Ich mochte auch Florence, die einen kräftezehrenden Alltag hat und nun bereit ist, neue Wege zu gehen. 

Es freut mich immer wieder, wenn ich ganz besondere Bücher entdecke. Dieses lebenskluge Buch ist für mich etwas ganz Besonderes, es ist ein Herzensbuch und erzählt eine wunderbare und dabei vollkommen kitschfreie Geschichte, in der es nicht nur um Liebe und Zärtlichkeit, sondern auch um Krankheit, Zweifel und Verantwortungsgefühl geht.

Der Roman hat mir sehr gut gefallen, er hat mich begeistert und zutiefst berührt -  absolute Leseempfehlung für diese wunderschöne und ruhig erzählte Geschichte!

Bewertung vom 27.03.2025
Wie Risse in der Erde
Hall, Clare Leslie

Wie Risse in der Erde


gut

Dreiecksgeschichte und Krimi
Im Mittelpunkt von "Wie Risse in der Erde", dem neuen Roman der britischen Autorin Clare Leslie Hall, steht die junge Beth Johnson, die mit ihrem Ehemann Frank und Schwager Jimmy eine Farm im kleinen Ort Hemston in Dorset bewirtschaftet. Das Buch erscheint weltweit in 31 Ländern und erntet von Kollegen der Autorin, wie Miranda Cowley Heller, Delia Owens und Chris Whitaker, großes Lob. Ich freute mich daher riesig auf die Lektüre - doch so richtig glücklich bin ich mit der Geschichte leider nicht geworden.

Der Roman spielt auf mehreren Zeitebenen und umfasst die Zeit von 1955 bis 1975. Er ist in fünf Hauptteile und zahlreiche kurze Kapitel gegliedert, die in erster Linie Ereignisse der Jahre 1955 und 1968 beinhalten. Die Handlung springt zwischen 1968, "früher" und "der Prozess" hin und her, was durch die Kapitelüberschriften sehr gut zu erkennen ist.

Die 17-jährige Schülerin Beth Kennedy, Tochter eines Lehrerehepaares, verliebt sich in den ein Jahr älteren Gabriel Wolfe aus begütertem Elternhaus. Die beiden verleben einen glücklichen Sommer, ehe die Verbindung zerbricht. 13 Jahre später, Beth ist inzwischen mit dem Farmer Frank Johnson verheiratet, zieht Gabriel, mittlerweile erfolgreicher Schriftsteller, mit seinem Sohn Leo wieder in sein Elternhaus ein. Es dauert nicht lange, bis Beth und Gabriel sich auf der Farm wiedersehen. Die junge Frau zögert nicht, als Gabriel sie bittet, auf Leo aufzupassen, damit er sein Buch fertigstellen kann. Das Kind erinnert sie an ihren Sohn Bobby, der zwei Jahre zuvor durch einen tragischen Unfall beim Fällen eines Baumes ums Leben gekommen ist. Obwohl Beth ihrem Mann gegenüber ein schlechtes Gewissen hat, ist sie gern mit dem Jungen -  und auch Gabriel - zusammen. Als es zu einer Tragödie kommt, bricht erneut ihre Welt zusammen ... 

Die Geschichte, die eine Mischung aus Dreiecksgeschichte und Krimi ist, ist in einfacher Sprache aus Beth' Perspektive in der Ich-Form erzählt und liest sich leicht. Bereits mit dem ersten Kapitel über den Prozess baut sich Spannung auf und steigt bis zum Ende stetig an. Was auf der Farm passiert ist und zum Tod eines Menschen führte, wird erst im letzten Viertel des Buches aufgedeckt. 

Die Kapitel über den Kriminalfall habe ich sehr gern gelesen. Ich fand den Prozess spannend und glaubhaft dargestellt. Besonders gut gefallen hat mir, dass die Identität des Opfers und des Verdächtigen über den größten Teil des Buches im Dunkeln bleibt.

Leider konnte mich die Rahmenhandlung mit Beth, Frank und Gabriel nicht so begeistern wie das Gerichtsverfahren. Sie las sich gut, fesselte und berührte mich, die Trauer der Familie um Bobby ist glaubwürdig beschrieben und mir nahe gegangen. Ich fand es sehr berührend, dass Beth sich um Leo kümmerte, und auch Beth' innere Zerrissenheit ist hervorragend dargestellt. Die Handlung war mir allerdings zu überladen mit all dem Herzschmerz, den Lügen und Tragödien. Es gab viel Drama, Verrat, Verlust und Schuld, Trauer und Reue. Es war mir von allem etwas zu viel, zu theatralisch und stellenweise unglaubwürdig. Ich habe Beth als recht egoistisch empfunden und konnte ihre Handlungsweisen nicht immer nachvollziehen, während mir Frank zu mitfühlend, zu lieb und zu verständnisvoll dargestellt war und mich mit seiner Güte und Selbstlosigkeit zusehends nervte. Die Darstellung von Gabriel, Leo und Bobby fand ich hingegen gelungen und authentisch. Dass die Familienmitglieder, die stets so liebevoll miteinander umgehen, nicht intensiv genug auf Jimmy einwirken, damit er seine Alkoholsucht bekämpft, habe ich nicht verstanden.

Der Aufbau des Buches mit den unterschiedlichen Zeitsträngen hat mir sehr gut gefallen, selbst wenn die teilweise sehr kurzen Kapitel meinen Lesefluss etwas hemmten. Auch die Beschreibung des Landlebens war interessant. Es gibt einige teils vorhersehbare Wendungen, ein großes Geheimnis wird enthüllt, und das Ende ist hoffnungsvoll, aber leider auch ziemlich kitschig.

Obwohl mich der Kriminalfall fesselte, konnte mich die Geschichte insgesamt leider nicht überzeugen.

Bewertung vom 19.03.2025
Halbinsel
Bilkau, Kristine

Halbinsel


ausgezeichnet

Großartiger Roman mit Tiefgang
Im Mittelpunkt von Kristine Bilkaus neuem Roman "Halbinsel" steht die Ich-Erzählerin Annett. Die 49-jährige Bibliothekarin lebt in Nordfriesland am Wattenmeer und hat ihre Tochter Linn nach dem plötzlichen Tod ihres Ehemannes vor 20 Jahren allein großgezogen. Linn ist mittlerweile 25 Jahre alt, sie hat ihre Heimat zum Studieren verlassen und arbeitet seit einigen Monaten in Berlin für eine Umweltberatung. Bei einem Vortrag vor größerem Publikum erleidet sie einen Kreislaufkollaps. Besorgt eilt Annett zu ihrer Tochter und holt sie nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zur Erholung zu sich nach Hause. Wieder zurück in Berlin, entschließt sich Linn, ihren Job noch vor Ablauf der Probezeit zu kündigen, ihre Wohnung aufzulösen und in ihr Elternhaus zurückzukehren ...

Die Autorin schildert mit ganz wunderbaren Worten und viel Empathie das Zusammenleben von Mutter und Tochter, das nicht frei ist von Konflikten, Erwartungen und Enttäuschungen. Linn nimmt sich Zeit, ihre berufliche Zukunft neu zu gestalten, während der ungeduldigen Annett die Untätigkeit und Verschlossenheit ihrer Tochter Frust und Sorgen bereiten.

Die Charaktere sind mit viel Zuneigung beschrieben, Kristine Bilkau lässt uns besonders tief in Annetts Gedanken- und Gefühlswelt blicken. Ich konnte mich sehr gut in Annett hineinversetzen, ihre Unsicherheit, Sorgen und Ungeduld nachvollziehen. Sie macht sich viele Gedanken über ihre Tochter und leidet darunter, dass diese sich zurückzieht und ihren Fragen ausweicht. Auch Linn konnte ich gut verstehen, sie möchte sich ohne mütterlichen Rat und Einfluss vollkommen neu orientieren und gibt nur wenig preis von dem, was sie beschäftigt.

Das Buch, dessen Handlung einen Zeitraum von etwa 5 Monaten umfasst, hat mir sehr gut gefallen, der ruhige und schöne Erzählstil hat mich begeistert. Ich mochte auch die Passagen, in denen Annett sich an die Zeit erinnert, als sie und Johan ein Paar wurden, heirateten und später mit der kleinen Linn in das Haus von Annetts Großtante einzogen. Sie vermisst ihren Mann immer noch schmerzlich, ihre Zwiesprache mit dem Verstorbenen fand ich sehr berührend.

Ich habe die Geschichte, die neben der Mutter-Tochter-Beziehung, Loslassen, Trauer und Verlust auch das wichtige Thema Klimaschutz beinhaltet, sehr gern gelesen, sie hat mich gefesselt und berührt. Ich mochte die beiden Frauen, denen es nicht leichtfällt, Verständnis füreinander aufzubringen und die sich nur sehr behutsam wieder einander annähern. 

Absolute Leseempfehlung für diesen großartigen und lebensklugen Roman!

Bewertung vom 15.03.2025
Der ewige Tanz
Schroeder, Steffen

Der ewige Tanz


sehr gut

Mitreißende Geschichte über eine vergessene Ikone
In seinem neuen Roman "Der ewige Tanz" widmet sich Steffen Schroeder dem aufregenden und exzessiven Leben der in den 1920er-Jahren berühmten Tänzerin und Schauspielerin Anita Berber.

Im Sommer 1928 befindet sich die 29-jährige Anita im Berliner Bethanien-Krankenhaus. Sie leidet unter einer fortgeschrittenen Tuberkulose und wird von starken Schmerzen geplagt. Die junge Frau, die sich darüber bewusst ist, dass sie die Krankheit nicht überleben wird, blickt zurück auf ihr bewegtes, viel zu kurzes Leben.

Die kleine Anita wächst bei ihrer Großmutter Lu in Dresden auf, die ihr schon früh einschärft, sich niemals von einem Mann abhängig zu machen. Die Mutter des Mädchens singt und tanzt in einem Berliner Kabarett, der Vater, ein erfolgreicher Geigenvirtuose, hat die Familie wegen der Eifersucht seiner Frau verlassen und sucht keinen Kontakt zur Tochter. Anita beschließt früh, auch Tänzerin zu werden. Nachdem ihre Großmutter mit ihr nach Berlin gezogen ist, wo die beiden gemeinsam mit Anitas Mutter eine Wohnung beziehen, nimmt Anita Tanzstunden bei der ehemaligen Tänzerin Rita Sacchetto. Sie tanzt mit Hingabe und Leidenschaft, und schon bald hat sie ihren ersten Auftritt im Apollo-Theater. Es folgen Solotanzabende, mit 18 Jahren wird sie als Tänzerin für den Stummfilm entdeckt und bekommt eine Hauptrolle. Sie wird als neues Wunder der Tanzkunst gefeiert, mit ihren aufreizenden und akrobatischen Tänzen begeistert sie ihr Publikum. Doch ihr Erfolg währt nur wenige Jahre ...

Wir begleiten Anita Berber bis zu ihrem frühen Tod, erleben ihre Kindheit, Jugend, die Jahre ihres Ruhms und die Zeit danach. Das Verhältnis zur Mutter ist schwierig, da diese ihr den Erfolg neidet und ihr ihre Zuneigung entzieht. Die Großmutter bleibt lange ihre wichtigste Bezugsperson. Anita hat viele Verehrer, sie genießt den Erfolg, trinkt zu viel Alkohol und nimmt Kokain und Morphium. Sie heiratet dreimal, fühlt sich aber auch zu Frauen hingezogen. In der Modewelt setzt sie neue Akzente, als sie sich einen Smoking schneidern und ein Monokel anpassen lässt. 

Die Geschichte ist in schöner Sprache erzählt und liest sich sehr flüssig, die Charaktere sind bildhaft skizziert. Der Zeitgeist ist ganz wunderbar eingefangen, und es war spannend, in die zwanziger Jahre einzutauchen. Wir erleben Anitas phänomenalen Aufstieg und ihren traurigen Abstieg, und wir lernen ihre Ehemänner kennen. Sie hatte Mut und Ehrgeiz, brach Tabus, sorgte für Skandale und führte ein selbstbestimmtes, aber auch selbstzerstörerisches Leben. Sehr interessant fand ich die Beschreibung der Umstände, die zu dem bekannten Gemälde führten, das Otto Dix von der Künstlerin anfertigte. 

Ich habe das mitreißende Buch sehr gern gelesen - klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 14.03.2025
Der Fall Leon
Apler, Florian;Schütz, Volker

Der Fall Leon


ausgezeichnet

Erschütternd und bewegend
Der junge Familienvater Florian Apler ahnt nicht, dass die Ereignisse am frühen Morgen des 28.8.2022 sein Leben für immer verändern werden. Er ist mit seinem 6-jährigen Sohn Leon unterwegs in St. Johann, als er von einem Unbekannten brutal niedergeschlagen wird. Als er aus der Bewusstlosigkeit erwacht, ist Leon verschwunden. Wenig später wird der Junge tot geborgen, er ist in der Kitzbüheler Ache ertrunken. Ein halbes Jahr später wird Florian Apler des Mordes an seinem Sohn beschuldigt und festgenommen. 522 Tage wird er unschuldig im Untersuchungsgefängnis verbringen, ehe er in einem drei Tage dauernden Gerichtsprozess am 1. August 2024 von den acht Geschworenen einstimmig freigesprochen wird.

Gemeinsam mit Volker Schütz, einem Rechtsanwalt, der mit der Familie Apler befreundet ist, hat Florian Apler seine Geschichte, die zu einem großen Teil auf den Tagebuchaufzeichnungen aus der langen Zeit seiner Inhaftierung basiert, aufgeschrieben. Er erzählt mit sehr viel Liebe von seinem kleinen Sohn Leon, der mit einem seltenen Gen-Defekt, dem Syngab Syndrom, zur Welt gekommen ist. Florian Apler erklärt, was die Krankheit für die Familie bedeutet hat und berichtet über den Alltag mit Leon, der nicht sprechen konnte und ständige Betreuung benötigte.

Der Autor beschreibt in seinem Buch die Erfahrungen, die er mit der Polizei und der Justiz machen musste. Zahlreiche Ermittlungs- und Verfahrensfehler reihten sich aneinander, entlastende Beweise, Videoaufnahmen und Gutachten von Seiten der Verteidigung wurden vom Gericht nicht zugelassen. Auch über die Zeit seiner Inhaftierung berichtet er und über die Willkür, der er ausgesetzt war. Florian Apler lässt den Leser tief in seine Seele blicken, wir erleben neben seiner tiefen Trauer um Leon auch seine Ängste, tiefste Verzweiflung und seinen Zorn. Familie und Freunde gaben ihm durch ihre Briefe viel Kraft, sie alle haben den Glauben an ihn und seine Unschuld nie verloren.

Das aufrüttelnde Buch ist in schöner Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Neben Fotos und Zeichnungen enthält es Auszüge aus Briefen, die Florian Apler von seiner Familie und seinen Freunden während seines Gefängnisaufenthaltes erhalten hat. Auch die emotionale Aussage des Autors vor Gericht ist wortgetreu wiedergegeben.

Am Ende siegte die Gerechtigkeit, aber bei mir bleiben Zorn, Unverständnis und Betroffenheit zurück. Polizei und Justiz haben in diesem Fall jämmerlich versagt, doch niemand wurde zur Rechenschaft gezogen, eine Entschuldigung erfolgte nie, die Entschädigung für 522 Gefängnistage ist kaum der Rede wert.

Absolute Leseempfehlung für dieses mutige Buch, das unter die Haut geht und mich zutiefst berührt und erschüttert hat!

Bewertung vom 06.03.2025
Zwei Frauen, zwei Räder, ein Zelt
Willers, Tanja;Hochedlinger, Johanna

Zwei Frauen, zwei Räder, ein Zelt


ausgezeichnet

Spannende Fahrradreise durch 21 Länder
Der österreichische Verlag Tyrolia hat "2 Frauen, 2 Räder, 1 Zelt - Durch 21 Länder von Kapstadt nach Wien" der Autorinnen Tanja Willers und Johanna Hochedlinger veröffentlicht. Das Taschenbuch ist äußerst liebevoll und sehr hochwertig gestaltet und enthält zahlreiche Fotos, die die Fahrradreise der beiden Frauen anschaulich dokumentieren.

Die Idee zu der Reise ist geboren, als Tanja mit einem gebrochenen Bein auf dem Sofa ihrer Schwester in Kapstadt liegt. Es sollte allerdings noch 1 1/2 Jahre dauern, bis Tanja und Johanna ihre Idee umsetzen und nach Kapstadt fliegen. Von dort aus geht es los, mit ihren beiden Fahrrädern, einem Zelt und zahlreichen Taschen, die alles enthalten, was sie für ihre Reise benötigen.

Nun beginnt eine abenteuerliche und nicht immer ungefährliche Reise, die die beiden durch 21 Länder in Afrika, Asien und Europa führen wird. Sie legen an 445 Tagen insgesamt rund 24.000 Kilometer zurück, bei teils extremen Temperaturen, bei Regen und Wind. Dabei stoßen sie oftmals an ihre Grenzen, sie streiten und versöhnen sich. Auf ihrer Reise begegnen sie neben Einheimischen immer wieder interessanten Menschen, die wie sie das Abenteuer und neue Herausforderungen suchen.

Ich habe das in schöner Sprache geschriebene Buch sehr gern gelesen, es hat mich gefesselt und zutiefst beeindruckt. Die Erlebnisse der beiden Frauen sind so spannend und lebendig geschildert, dass ich oft das Gefühl hatte, dabei zu sein. Ich habe ihre Kraft und Ausdauer bewundert, mit denen sie die einzelnen Etappen und auftretende Probleme bewältigt haben. Sehr hilfreich fand ich das umfangreiche Kartenmaterial, das es mir ermöglichte, die Route genau zu verfolgen. Zwischen den Aufzeichnungen der Autorinnen finden sich immer wieder einseitige Einschübe über wichtige Themen, wie z.B. die richtige Ausrüstung, Kommunikation. Fahrrad, Essen, Trinkwasser, Kriminalität, Finanzen, Reiseapotheke und vieles mehr. Auch diese Seiten fand ich sehr interessant, da sie mir viele Fragen beantworteten, die sich mir im Laufe der Lektüre stellten.

Sehr gut gefallen haben mir die vielen unterschiedlichen und faszinierenden Eindrücke, die das Buch vermittelt. Jedes Land hat seine Besonderheiten, und immer wieder begegneten den Autorinnen gastfreundliche und hilfsbereite Menschen. Sie erlebten zahlreiche beglückende Momente, kosteten von Speisen, von denen sie noch nie zuvor gehört hatten, wurden aber auch hartnäckig angebettelt und manchmal sogar verfolgt.

Es hat mir sehr viel Freude bereitet, Tanja und Johanna auf ihrer Reise zu begleiten, und ich kann mir vorstellen, dass ihr unterhaltsamer und interessanter Bericht viele Reiselustige dazu motiviert, ferne Länder mit dem Fahrrad zu entdecken.

Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 05.03.2025
Mickey und Arlo
Dick, Morgan

Mickey und Arlo


gut

Das Vermächtnis
In ihrem Debütroman "Mickey und Arlo" erzählt die kanadische Autorin Morgan Dick die Geschichte zweier Frauen, die sich begegnen und nicht ahnen, dass sie Halbschwestern sind.

Aus der Zeitung erfährt Mickey Morris, dass ihr Vater, Adam Kowalski, nach langer und schwerer Krankheit im Alter von 61 Jahren verstorben ist und seine Ehefrau Leonora und die Tochter Charlotte hinterlässt. Die Nachricht trifft sie nicht besonders, da ihr Vater sie und ihre Mutter verlassen hat, als sie 7 Jahre alt war und ihnen hohe Schulden hinterließ. Das ist lange her, mittlerweile ist Mickey 33 Jahre alt, arbeitet seit 12 Jahren mit viel Freude und Hingabe als Lehrerin einer Vorschulklasse und hat ein ernstes Alkoholproblem. Sie fällt aus allen Wolken, als sie einen Anruf vom Anwalt ihres Vaters erhält, der ihr mitteilt, dass sie 5,5 Millionen Dollar erbt unter der Voraussetzung, dass sie innerhalb von drei Monaten sieben Psychotherapiesitzungen absolviert.

Auf einer zweiten Erzählebene begegnen wir Arlo, einer 25-jährigen geschiedenen Psychotherapeutin. Sie hat ihren alkoholkranken Vater bis zu dessen Tod gepflegt und kann nicht begreifen, dass sie in seinem Testament keine Erwähnung findet. Als Mickey zu ihrer ersten Therapiesitzung bei Arlo erscheint, ahnen die Frauen nicht, dass sie ihrer Halbschwester gegenübersitzen, von deren Existenz sie zwar wissen, sie aber nie kennengelernt haben ...

Die Geschichte mit den Schwerpunktthemen Alkoholabhängigkeit, Verlust und Trauer ist in einfacher Sprache abwechselnd aus der Sicht von Mickey und Arlo erzählt. Sie ist stellenweise humorvoll und liest sich sehr flüssig. Nach und nach lernen wir die Protagonistinnen kennen, die geprägt sind von sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit ihrem Vater. Mickey ist die verlassene und bindungsunfähige Tochter, die in materiell eher ärmlichen Verhältnissen bei ihrer Mutter aufgewachsen ist. Die vom Vater an sie weitergegebene Alkoholsucht will sie nicht wahrhaben. Arlo hingegen lebte in materieller Sicherheit, wurde vom wohlhabenden Vater verwöhnt und tat alles, um ihm zu gefallen, bis hin zur Aufopferung während seiner letzten Lebensmonate. 

Die Autorin beschreibt die Gefühls- und Gedankenwelt der Frauen sehr intensiv, wir erleben außer den Therapiestunden nicht nur, wie sie sich behutsam einander annähern, sondern auch ihre unterschiedlichen Erinnerungen an den Verstorbenen, ihre Trauer und Wut. Mickeys Alkoholabhängigkeit bleibt sowohl privat als auch im beruflichen Bereich nicht folgenlos, während Arlo der Selbstmord einer Patientin immer noch beschäftigt und belastet. 

Ich habe den ungewöhnlichen Roman, in den die Autorin eigene Erfahrungen hat einfließen lassen, bis zum hoffnungsvollen Ende gern gelesen. Er hat mich gefesselt und berührt, jedoch war mir das ernste Thema Alkoholismus etwas zu leicht und oberflächlich abgehandelt. Die Nebenfiguren empfand ich - bis auf den kleinen Ian und Mickeys Nachbarin Daria - als wenig authentisch, einige Passagen des Buches, wie z.B. die Schilderung der Beerdigung, fand ich ziemlich überzogen und unrealistisch. 

Trotz einiger Schwächen Leseempfehlung und 3 Sterne!