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galaxaura
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Köln

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Insgesamt 111 Bewertungen
Bewertung vom 08.11.2025
Pflüger, Andreas

Kälter


ausgezeichnet

Im Fahrstuhl der Rache ist es kälter als kalt

„Kälter“ der neue Roman aus den Händen von Andreas Pflüger, 2025 erschienen bei Suhrkamp, ist ein unglaublich komplexes, spannungsgeladenes Meisterwerk mit mehr Thrill und Atemlosigkeit als alles, was ich dieses Jahr unter dem Label „Thriller“ gelesen habe, ein Pageturner mit extrem hoher schriftstellerischer Qualität, definitiv eines der besten Werke, die das Jahr 2025 hervorgebracht hat. Was startet wie ein betulicher Nordsee-Inselkrimi, bekommt schnell eine vollkommen ungeahnte Wendung und endet in einer weltpolitischen Verstrickung am Ende des kalten Krieges, die ihresgleichen vergeblich suchen dürfte.

Doch von vorn: Es ist Herbst 1989, und Lucy Morgenroth arbeitet als Inselpolizistin auf Amrum. Das Leben ist gemütlich und voller Wärme, man kennt sich, man schätzt sich, und die großen Fälle geschehen auf dem Festland, nicht auf Amrum. Doch als in einer Sturmnacht ein Inselbewohner von der Fähre verschwindet, deutet alles auf ein Verbrechen hin – und Lucy wird auf einmal mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und kann sich nicht weiter vor ihr verstecken.

Was dann folgt ist ein unglaublich klug durchdachter Masterplot, der zu keinem Moment eine minimale Chance von Vorhersehbarkeit bietet und die Lesenden in ein wahnwitziges Netz aller Geheimdienste der Welt spinnt, in jeder Sekunde unglaublich packend und nervenzerreißend, auch brutal und hart, dieser Roman schenkt einem nichts. Außer einen enorm aufregenden Leseritt, bei dem man das Buch einfach nicht mehr aus der Hand legen und sich nur voller Bewunderung vor der Rechercheleistung des Autors verneigen kann. Geschickt verwebt Pflüger dabei Fakten mit Fiktion, untrennbar verbunden und nicht identifizierbar bis zum Nachwort – das auch nicht fehlt und wieder aufklärt, was hier wahr und was erfunden ist.

Lucy Morgenroth ist dabei eine Figur, die mir sehr nah ging und mich bewegt hat, keine kalte Ermittlerin, auch keine eiskalte Rächerin, in ihr steckt sehr viel Seele, auch wenn sie die Seele immer wieder mit einem Panzer überdecken muss. Das gelingt Pflüger sowieso herausragend, wie er den Figuren trotz all der Kälte des Romans Innenleben gibt, wie er sie durch ihre Handlungen ganz klar charakterisiert. Und überhaupt, was kann der Mann schreiben! Alles ist lebendig in diesem Roman, die ganze Objektwelt wird durchweg personifiziert, auch atmosphärisch eine Meisterleistung. Was ich nebenher über Geheimdienste gelernt habe, würde ich lieber wieder vergessen. Ob der kalte Krieg je wirklich vorbei war, fragen wir uns heute sicher alle täglich. Insofern ist dieser Roman leider auch brandaktuell. Möchten wir in diese Zeiten zurück? Ganz sicher nicht, denn in ihnen ist es kälter als kalt.

Eine unbedingte Empfehlung in diesen Kosmos einzutauchen und sich diese Glanzleistung von Andreas Pflüger nicht entgehen zu lassen. Hier würde ich gerne 10 Sterne vergeben. Das wird nicht der letzte Roman des Autors sein, der es in mein Regal schafft.

Bewertung vom 08.11.2025
Boyle, T. C.

No Way Home (deutschsprachige Ausgabe)


weniger gut

Toxische Wüste
„No Way Home“, der neue Roman von T. C. Boyle, erschienen 2025 bei Carl Hanser, hat mich leider trotz vieler Gedanken, die ich mir gemacht habe, nicht wirklich abholen können und erzeugt für mich keine Tiefe. Auch wenn, das bleibt unbenommen, Boyle natürlich seiner grundsätzlichen schriftstellerischen Qualität, die sich insbesondere in den dialogischen Passagen zeigt, treu bleibt.

Der Plot ist schnell umrissen: Terry, work-a-holic-Arzt aus Los Angeles, muss nach dem plötzlichen Tod seiner Mutter, zu der er kaum Kontakt hatte, ihr Haus und das Erbe in Boulder City inmitten der Wüste Nevadas abwickeln. Ein Ort, an dem nichts los ist – aber in dem Terry auf Bethany trifft, die sich gerade frisch von Jesse getrennt hat, einem Typen, dem man nicht unbedingt im Dunkeln begegnen möchte. Bethany ist eine wandelnde Red Flag – Terry verfällt ihr dennoch und auch sie ist hooked – auch wenn Terry nicht wirklich der Typ Mann ist, den sie sucht. Ehe Terry sich versieht, okkupiert Bethany das Haus seiner Mutter und nistet sich immer tiefer in seinem Leben ein – mit fatalen Folgen...

Die Story war für mich leider durchweg absolut vorhersehbar, ich wurde nicht ein einziges Mal überrascht, die Figuren wirken stereotyp, weil Boyle uns nicht hineinschauen lässt in das „warum“, warum sind sie so geworden, wie sie eben sind? Die Ballung der psychotischen Züge war mir dann doch etwas sehr viel auf einem Platz, auch wenn Unglück oft Unglück anzieht. Schreiben kann Boyle wie gesagt, das las sich alles flüssig, wenn auch teilweise schon etwas geschwätzig. Die Dialoge sind, wie immer bei Boyle, ein Genuss, er schaut den Menschen sehr genau auf den Mund und kann hier absolut realistisch und unterhaltsam schreiben. Doch der Plot? Wir lesen das Musterbeispiel einer mehrfach toxischen Beziehung mit viel Narzismus und Verdrängungsanteilen, durchaus gut herausgearbeitet. Interessant ist dabei, wie alle Charaktere innerhalb ihrer Begrenzungen um ein gutes Leben kämpfen, die gewählten Strategien sind dabei nur per se nie erfolgsversprechend. Gerade Bethany ist da wirklich eine tragische Figur in ihrer Beharrlichkeit, mit der sie darauf hofft, dass das Leben noch ein besseres Stück vom Kuchen für sie parat hält als das, was sie in ihren Händen hält.

Warum heißt das Buch „No Way Home“ statt „Toxic as Hell“? Ich habe das Gefühl, genau das ist der Kern, das Strugglen um ein Zuhause, bei etwas Ankommen, was Sicherheit und ein gutes Gefühl verspricht – und was die Personen alle nie erreichen können, trotz der immer krasseren Mittel, die gewählt werden, weil sie nie an den Kern rangehen, den, den Boyle uns auch verweigert: Wie bin ich zu dem geworden, der ich bin? Was muss ich innerlich bewältigen und auflösen, damit ich zu dem werden kann, der ich gerne wäre? Dabei ist interessant, dass die Menschen qua Milieu eigentlich alle grundsätzlich Zugang hätten zu Veränderungen, selbst Bethany ist mit ihrer Arbeit im Krankenhaus im Hierarchieranking der Gesellschaft zwar am weitesten unten, aber eben nicht komplett ungebildet oder schon abgestürzt. Sehr eindrücklich und bedrückend der hohe Konsum weicher bis harter Drogen, der sich durch den Roman zieht – ich sehe da ja auch ein großes gesellschaftliches Problem, auch hier in Deutschland. Aber die Figuren des Romans setzen sich einfach aus, schwimmen im Matsch der Perspektivlosigkeit, sind nicht bereit, sich oder etwas zu verändern: sie kämpfen, aber am falschen Ende, sie verweigern Erkenntnis und scheitern so immer wieder. Es ist eine noch nicht einmal kleinbürgerliche Welt ohne Therapie – nun könnte man mutmaßen, dass Boyle, eigentlich ein politischer Autor uns damit America in a Nutshell demonstrieren möchte, jedoch das Buch fühlt sich für mich gar nicht so an und das wäre auch sehr oberflächlich. Vielleicht wollte Boyle auch einfach nur genau diese Geschichte schreiben – und da spräche nichts dagegen, wenn sie neu wäre und einzigartig. Aber mich hat die Stagnation im Festhalten der Charaktere leider nicht berührt, und mir fehlt Tiefendimension.

Formal arbeitet Boyle mit eigentlich spannenden Perspektivwechseln – aber sogar die bieten kaum neuen Erkenntnisgewinn. Was bleibt ist ein Psychogramm narzisstischer Menschen in toxischen Beziehungen – mit all der Widerlichkeit und Larmoyanz, die damit einhergeht. Das funktioniert – und ist vorhersehbar, zumindest für mich. T. C. Boyle war schon deutlich stärker unterwegs.

Bewertung vom 27.10.2025
Ganeshananthan, V. V.

Der brennende Garten


ausgezeichnet

Gehen auf Glasscherben

„Der brennende Garten“ von V. V. Ganeshananthan, 2025 erschienen bei Tropen, ist gegen Ende des Jahres noch einmal eine wundervolle Highlight-Überraschung, die viele Lesende in einen komplett neuen Kosmos mitnehmen dürfte.

Wir tauchen ein in die Welt der Tamilen und in die Zeit des Bürgerkrieges, der von 1983-2009 dauerte und an den meisten Menschen in Europa wahrscheinlich zumindest in den Details vorbeigezogen ist. Die junge Sashi hat wie ihre Brüder das große Ziel, Medizin zu studieren und Ärztin zu werden. Nicht einfach für eine junge Tamilin in dieser Zeit. Schon früh lernt sie K kennen, der das gleiche Ziel verfolgt – mit ungleich besseren Voraussetzungen. Sashi hat drei Brüder, sie ist umgeben von einer Männerwelt, in der sie nur spät immerhin endlich eine Freundin findet, die ähnlich wie sie selbst auch ausgegrenzt wird, in ihrem Fall hat die Ausgrenzung mit ihrem Glauben zu tun. Doch Sashi gibt nicht auf, sie verfolgt ihre Träume – und hat immer ein Auge auf K, zu dem sie sich von Tag eins an hingezogen fühlt.
Als quasi über Nacht in Sri Lanka der Bürgerkrieg ausbricht, bricht auch Sashis Leben auseinander und die sowieso immer fragile Sicherheit liegt in Scherben. Zwei ihrer drei Brüder und vor allem auch K werden Teil der Tamil Tigers, die um die Unabhängigkeit der Tamilen vom Staat Sri Lanka kämpfen – und bereit sind, dafür zu sterben. Sashi taucht ein in eine Welt, die sich immer weniger vom Terrorismus abgrenzen lässt und irgendwann muss auch sie Entscheidungen treffen, Entscheidungen, die kosten.

Ganeshananthan schreibt einfach gigantisch gut, das Buch strotzt nur so von Informationen und Gehalt, doch all das ist so gut eingebettet in Sashis Erleben und ihre Geschichte, dass nichts davon aufträgt. Im Gegenteil, wir sind jederzeit drin in Sashis Emotionen und ihrer Zerrissenheit, im Kampf zwischen Loyalität und Lebenshunger, im Opfern von Träumen für die Sache oder von Menschen für die Träume. Atmosphärisch dicht und durchweg packend, zerstörerisch und aufwühlend habe ich hier einen Teil Geschichte kennenlernen dürfen, der bei mir ganz klar einen blinden Fleck darstellt. Ich konnte so viel mitnehmen und habe dabei aber vor allem: Einen richtig guten Roman gelesen. Ganeshananthan macht mehr als deutlich, wie absurd Diskriminierung ist und wie unerträglich. Vor allem aber zeigt sie, wie sehr auch im Terror als Mittel letztlich Menschen stecken und wie weich die Grenze ist zwischen Einsatz für das Richtige und Überschreiten eben dieser Grenze. Sich damit auseinanderzusetzen, ist durchaus verstörend und kann das Weltbild verändern. Für Sashi gleicht ihr ganzes Leben einem Tanz auf dieser Grenze und die Ruhe ist auf Sri Lanka letztlich nicht zu finden. Sich einzugestehen, dass sie dort keine Heimat finden kann, ist ein Prozess, den die Autorin unglaublich sensibel begreifbar macht.

Eine ganz große Leseempfehlung also für dieses Buch, dessen Cover leider etwas irreführend wie der Hinweis auf eine Bollywood-Lovestory daherkommt. Dieser wundervolle Roman ist alles andere als das. Er ist eine literarische und horizonterweiternde Entdeckung. Lesen! Verschenken! Weitersagen!

Bewertung vom 26.10.2025
Togonidze, Ekaterine

In deinem Schlaf


ausgezeichnet

Warum wir helfen müssen

„In deinem Schlaf“ von Ekaterine Togonidze, erschienen 2025 im Septime Verlag, hat eine große Sogwirkung auf mich ausgeübt, ein Buch, das mich emotional wirklich berührt hat. Das Buch beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Georgien-Abchasien-Konfliktes – vor allem aber zeigt es auf, wie sehr Sicherheit ein Grundbedürfnis aller Menschen ist und macht somit den Zynismus deutlich, den die Welt der Privilegierten ausstrahlt, wenn wir jeden Tag entscheiden, wer ein Recht auf diese Sicherheit hat – und wer nicht.

Gabi, die Tochter von Nia und Demna, liegt in einem tiefen Schlaf, aus dem sie einfach nicht erwachen will, seit sie nur knapp einem Erdbeben entkam – weil ihr Vater, mit dem sie Zuhause war, zunächst einfach davonlief, während ihre Mutter arbeiten war. Demna ist als Kind aus Abchasien geflohen, wo die georgische Minderheit verfolgt wurde, und traumatisiert, Nia ist Schauspielerin in Georgien und hat sich mit diesem Konflikt und Krieg nie wirklich beschäftigt. Gabi leidet nun am Resignationssyndrom, einem Phänomen, das viele Kinder insbesondere von Menschen mit Fluchterfahrung betrifft, die ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in einem fremden Land leben müssen. Die Kinder schlafen einfach ein und wachen nicht mehr auf, ein Aufwachen geschieht meistens erst, wenn Sicherheit gegeben ist, der Status geklärt ist, ein Heim entstehen kann. Die Psyche ist ein erstaunliches Ding – denn dieses Syndrom ist, wie die historischen Hintergründe des Romans, keine Fiktion.
Mit dem Erdbeben kam auch ein Riss in Nias Haus ,und es wurde unbewohnbar. Der Riss setzt sich fort in ihrer Beziehung, denn Nia kann Demna nicht verzeihen, gibt ihm die Schuld an Gabis Zustand und setzt ihn vor die Tür, lässt ihn nicht mehr zu seiner Tochter und kümmert sich nun komplett allein um Gabi – eine Vollzeitaufgabe, an der sie nur scheitern kann. An Arbeit in ihrem Beruf als Schauspielerin, an Karriere ist nicht mehr zu denken. Bis sie unverhofft die Hauptrolle in einem Film abräumt, der sich genau mit dem Georgien-Abchasien-Konflikt und der Flucht beschäftigt und ihr Leben sich komplett wendet, mit weitreichenden Folgen auch für Gabi und Demna.

Togonidze findet formal eine geniale Ebene, indem sie den Bewusstseinsstrom von Nias Gedankenwelt zunehmend immer mehr mit den Dreharbeiten und der Ebene des Filmes verknüpft und so die Flucht Demnas gewissermaßen re-enacted und uns das erzeugte Trauma miterleben lässt. Zeitgleich hat der Film auf Nia eine kathartische Wirkung. Gekoppelt mit einer zusätzlichen rein erzählerischen Handlungsebene, in der wir immer wieder auch in die Vergangenheit springen, entsteht hier ein sehr komplexes, durchaus herausforderndes, aber in jedem Augenblick sinnstiftendes und oft sehr poetisches Konstrukt, das ich in dieser Form noch nicht gelesen habe. Als Westeuropäerin ist der Georgien-Abchasien-Konflikt definitiv ein blinder Fleck bei mir, auch das Resignationssyndrom war mir vollkommen unbekannt. Ich bin der Autorin mehr als dankbar, dass ich dieses Wissen in einer so erstaunlichen literarischen Form auffüllen durfte. Über die Filmebene kommt Nia in die Reflektion und wir Lesenden mit ihr – und die Reflektion erzeugt Öffnung und Veränderung. In Schichten erklärt sich immer mehr, was eigentlich geschehen ist und wir blicken auf ein transgenerationales Trauma, auch so ein spannendes Thema, das nur sehr vorsichtig angefasst und aufgelöst werden kann.

Für mich sind zentrale Themen des Romans zum einen, wie viele Parallelwelten doch existieren neben der Welt, die wir jeden Tag zu Gesicht bekommen, Dinge, die wir nicht sehen, weil wir sie nicht kennen, nicht miterleben, die aber für andere Menschen so lebensbedeutend sind. Das Thema Trauma und Schuld, das niederdrückend durch den Roman weht, das Thema Sprachlosigkeit, wie viele Dinge haben sich Demna und Nia auch schon nicht erzählt, während sie „glücklich“ waren? Das Thema des Nebeneinanders von Trauer und Leben, wie wichtig ist es, auch in der Trauer das Leben aktiv zu halten, wie wenig Hilfe gibt es, wenn wir das vernachlässigen. Ganz groß auch das Thema Hoffnung und Beharrlichkeit, sich durchbeißen, dranbleiben. Mutterschaft und Selbstaufgabe, das hat mich auch sehr beschäftigt. Ein sehr reiches Buch, das immer wieder auch deutlich macht, dass es nicht Rechtens sein kann, wenn Menschen, die in Sicherheit leben, anderen eben diese Sicherheit verwehren.

Einziger Makel für mich: das Ende, das mir zu sehr versucht, Heilung zu bringen, während der Prozess doch eigentlich gerade erst beginnt. Das ist vielleicht Geschmackssache, war mir persönlich aber deutlich zu viel Kitsch, was gar nicht zu diesem fragilen Buch passt. Das werden aber viele Menschen ganz anders sehen und in jedem Fall: Unbedingt lesen, blinde Flecken tilgen, sich berühren lassen und vor allem: Diesen literarischen Genius hemmungslos bewundern. Und übrigens noch viel mehr Bücher aus dem Septime Verlag lesen, der ganz grundsätzlich eine herausragende Arbeit macht!

Bewertung vom 22.10.2025
Kolb, Elli

Das Leuchten des Himmels an dunklen Tagen


ausgezeichnet

Nicht für immer so unglücklich sein

Der neue Roman von Elli Kolb mit dem wunderschönen Titel „Das Leuchten des Himmels an dunklen Tagen“ schließt emotional an den Vorgänger „9 Grad“ an und beweist erneut, dass Kolb die Generation der 20-30jährigen von innen kennt und beschreibt wie keine zweite Autorin.

Vorn beginnend: Endlich mal eine ideale Triggerwarnung, sprich, vorn darauf hinweisen, dass hinten eine (naturgemäß spoilernde) Triggerwarnung zu finden ist, so dass Lesende, die sich sicher sind, mich triggert nichts, sie nicht wahrnehmen müssen, aber alle anderen sie wahrnehmen können, danke an die Autorin dafür – so geht’s!
Dann ein vorangestelltes Zitat – ich bin ja grundsätzlich nicht so Fan davon, aber hier hat es mich auch endlich mal befriedet, denn erstens: Nur eins! Nicht fünf, wie es neuerdings Trend ist. Und zweitens direkt themenbezogen und verbunden mit dem Buch, noch bevor ich starte, wie ein kleiner innerer Auftakt. Inhaltlich auch einfach wirklich schön, so viel dran, ich habe das Buch direkt noch einmal kurz weggelegt, um das Zitat einfach nur so mitzunehmen.

Dann geht es hinein in die Welt von Romy – und die ist keine einfache, klar, sonst würde sich ja auch ein Roman nicht lohnen. Romy ist aufgewachsen bei ihrem Opa Egon, nicht bei ihrer Mutter, obwohl diese lebt und auch Kontakt zu Romy hat. Als Egon stirbt, stürzt das Romy in einen emotionalen Strudel. Alles um sie herum scheint dunkel zu sein und auch ihre Freundinnen finden keinen wirklichen Kanal zu ihr - bis Jakob auftaucht, den sie bei einer Party kennengelernt hat. Jakob hat bringt die gute Fähigkeit mit, Romy genau im Moment zu nehmen, sie sein zu lassen, wer sie ist. Jakob bleibt, wo andere gehen. Dumm nur, dass Jakobs Tage an Romys Seite von Anfang an begrenzt sind. Über all dem fliegen und torkeln die Stadttauben, zum einen Zausel, die Lieblingstaube von Opa Egon, die jeden Tag an sein Fenster kam, zum anderen eine Fundtaube, die bei Romy einzieht und deren Gesundungsprozess ein Spiegel von Romys Seele ist.

Romy geht mir als Charakter direkt ins Herz. So viel Liebe in ihr, die wartet, gegeben zu werden, die enge Bindung zu Egon, der Kampf um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter, die große Unsicherheit in ihr, die Suche nach einem Platz im Leben, die Angst vor Bindung und Emotion und zeitgleich dieser brennende Hunger genau danach, die Eifersucht in den Freundschaftsbeziehungen, immer wieder zwischendurch verblüffende Klarsicht, dann wieder heftiger Emotionsstau und fehlende Impulskontrolle, das Thema Dissoziation, das in dieser Generation leider auch ein sehr großes ist, warum eigentlich? Ist das Außen wirklich so sehr zu viel geworden? Die zögerliche, leicht angstgeprägte Beziehung zu den Tauben, ererbt von Egon, so eingängig, weil Romy selbst eine absolute Taube ist, Fluchttier, aber neugierig, freiheitsbezogen, aber Nähe suchend, schreckhaft, aber immer wieder auch dreist und mutig, nichts wird gekaut, alles wird direkt geschluckt – und dann arbeitet es innen weiter.

Viele Themen, die gut integriert sind, wie die weichen Drogen als Ausweichen, die Präsenz in sozialen Medien, das kaschierte Leben und der Druck, der daraus entsteht, das dauernde temporäre Jobben, die Notwendigkeit, global zu sein, flexibel, bereit für Ortswechsel, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Und, wie auch schon in 9 Grad, wenn auch etwas anders: Der Fluss als Thema, da steckt ja auch so viel drin, Strömung, Leben gebend, die Lethe auch Leben nehmend, das Vergessen, das Treibenlassen, die Entscheidung, doch anzurudern, Leichtigkeit und Schwere zugleich, einfach so passend. Und über allem schwebt die Trauer und man weiß gar nicht: Ist es die Trauer über Egon? Oder über das eigene Leben, die verpasste Kindheitsbeziehung zu Eltern? Was bricht sich da Bahn?
Und dann die Tauben! Wie die kranke Taube immer auf die Seite kippt, rückwärts fliegt, das Leben komplett neu lernen muss – so ein schöner Spiegel für Romy, die noch gar nichts davon bemerkt. Wundervoll auch, wie viele Infos über Tauben eingebunden werden, z. B. das Fakt, dass Tauben vom Menschen gezielt als krasse Vermehrer gezüchtet wurden - um jetzt genau dafür gehasst zu werden. Manchmal geht die Autorin mit den Themen auch durch, ob nun wirklich Klimawandel, Krieg etc. auch noch in den Roman mussten, kann man hinterfragen. Ja, natürlich ist das Teil des Denkens und Empfindens der Millenials und der Gen Z – aber hier hätte mir wirklich gar nichts gefehlt, wenn es nicht beschrieben worden wäre. Es wird nicht weiterverfolgt, macht aber so einen großen Raum auf, dem ich dann gern auch mehr Bedeutung gegeben hätte.

Was aber unbenommen bleibt ist die besondere Fähigkeit von Elli Kolb, der Generation Millenials und Gen Z und deren Innenleben eine Stimme zu geben. Besonders Menschen im Alter von 20-35 dürften sich in diesem Buch ungemein gesehen fühlen. Aber auch auf alle anderen wartet hier eine dichte Lesereise, ein Buch, das ich verschlungen habe und das mich sehr berührt hat an vielen Punkten.

Bewertung vom 15.10.2025
Chalandon, Sorj

Herz in der Faust


sehr gut

Ein Leben im Stakkato der brutalen Aussichtslosigkeit

„Herz in der Faust“ von Sorj Chalandon, erschienen 2025 bei dtv, ist ein wuchtig-wütender Roman, der seinen Leser:innen einiges abverlangt und brachial ehrlich das Leben in Besserungs- und Erziehungsanstalten in den 30er Jahren zeigt. Der in Frankreich sehr erfolgreiche Roman trifft den Nerv einer Zeit, in der Ausgrenzung und unerbittliche Verfolgung wieder zunimmt, die Armen immer ärmer werden und der Faschismus, der im Roman als Randthema auftaucht, um sich greift. Wie lange kann Konformismus Regelzustand sein, wann muss er abgelöst werden durch Rebellion?

Jules Bonneau, mit Kampfnamen „Die Kröte“ genannt, wird früh in seinem Leben von seinen Eltern sich selbst überlassen und gerät auf die schiefe Bahn – nicht zuletzt, weil Zeit seines Lebens in ihm eine überdimensional große Wut tobt, die er nicht in den Griff bekommt. Eingesperrt in die Korrektionsanstalt Haute-Boulogne auf der Insel Belle-Île, erlebt Jules Machtwillkür und gezielte Demütigung tagein tagaus. Es ist ein fragiles System, in dem es kaum zu Freundschaften kommen kann unter den jungen Menschen und in dem der verliert, der Gefühle zulässt. Dennoch kommt es, eher ungeplant, zum Aufstand, bei dem insgesamt 56 Zöglinge fliehen – auch Jules, der in seine Flucht eher hineingerät. Eine Flucht, die von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen ist, denn die Insel liegt zu weit vom Festland entfernt und die Einwohner:innen: sind den jungen Insassen gegenüber nicht freundlich gesinnt. Eine Kopfprämie von 20 Franc für jeden der Ausbrecher macht die erfolgreiche Flucht endgültig zu einem Hiobskommando. Jules trifft auf seiner Flucht auf den Fischer Ronan Kardarn – ein Mann, der sich mit Vergangenheit und Geheimnissen auskennt. Die Beziehung, die sich zwischen beiden entspinnt, ist geprägt von Vorsichtigkeit und Hoffnung, zögerlicher Nähe und notwendiger Distanz.

Chalandon schreibt brachial und bringt das karge Leben auf der Insel in gedrängte, kurze Sätze, die auf die Phantasie einhacken. Hier wird nicht geschont; explizit und ohne Filter wirft er uns in die unglaubliche Brutalität und Kälte von Haute-Boulogne. Hier gibt es keine Helden, hier gibt es nur Verlierer, und der Autor scheut nicht davor zurück uns zuzumuten, dass auch Sympathiefiguren in dieser Geschichte nicht sicher sind. Die irrige Idee der 30er, Menschen durch Brechen zu besseren Menschen zu machen, wird eindrücklich erlebbar. Ein dauerhaftes Fiebern wabert durch die Sätze, die im Stakkatotakt auf die Lesenden einhämmern und durchweg wehtun. Dazwischen immer wieder wilde Traumsequenzen, die schwer von der Wirklichkeit zu trennen sind.

Die Insel und die Erziehungsanstalt werden plastisch beschrieben ohne zu große Ausführlichkeit, Die Charaktere sind klar gegriffen, es ist durchweg kalt in diesem Buch bis zur Flucht. Mit dieser und mit der Begegnung mit Kardarn und seiner Frau wechselt ganz langsam der Ton, der Dialoganteil steigt, im Bilde gesprochen wird das Meer etwas ruhiger – auch wenn der bellende Grundton bleibt. Die Beziehung und Annäherung zwischen Jules, Ronan Kardarn und der Fischermannschaft wird grandios beschrieben, es ist ein Tasten und Wagen, das sich immer mehr ausbreitet, bedroht durch Intrige und Verrat.

Besonders gut gelungen finde ich, dass durch die Tätigkeit von Kardarns Frau Sophie auch die Welt der Frauen in dieser Zeit gezeigt wird inmitten dieses „Männerromans“, in dem männliche Charaktere durchweg der Zeit und dem Ort geschuldet die Handlung dominieren. Hier gibt es niemanden, der ein leichtes Leben hat. Und auch die Polarität von Faschismus versus Kommunismus, die im Untergrund durch das Buch wabert, ist sehr gut herausgearbeitet.

Mich hat das Buch beeindruckt und mitgenommen, vor allem auch, weil Jules nie eine Chance hatte, ein anderer zu sein. Die Prägung durch Kindheit und Biographie ist offensichtlich – und im Umkehrschluss wird auch klar, wie dankbar wir für das Wunder der Psychotherapie sein dürfen. Man würde das all den Kindern wünschen, die in diesen Zeiten so brutal von sadistischen Machtmenschen gebrochen wurden.

Insgesamt zog sich für mich die Lektüre aber leider etwas. Das mag an der Häufung von Brutalität liegen, die sich mit der Zeit einfach abnutzte, oder an dem durchgehenden Stakkato, dass bei mir auf Dauer etwas Anstrengung und Unlust erzeugte. Vielleicht hätte ich mir auch nur etwas mehr Kompaktheit gewünscht, die knapp 400 Seiten hätte ich so nicht gebraucht für die Geschichte. Insofern reicht es nicht ganz für 5 Sterne, aber das Buch ist auf jeden Fall sehr lesenswert und beachtlich.

Bewertung vom 24.09.2025
Sten, Viveca

Lügennebel / Hanna Ahlander Bd.4


ausgezeichnet

Der Tod kommt leise

„Lügennebel“ von Viveca Sten, der vierte Band der Hanna Ahlander Åre-Morde-Serie, 2025 erschienen bei dtv, hält über gut 500 Seiten souverän den Spannungsbogen und ist so eiskalt wie die Schneewelt drumherum. Als vierter Band in der Reihe schafft er zeitlich einen nahezu nahtlosen Anschluss an den Vorgängerband, funktioniert aber sehr gut auch als Stand-Alone-Read, da Sten wichtige Infos aus den vorangegangenen Teilen sehr gut in die aktuelle Handlung integriert.

Eine Gruppe von Adoleszenten nimmt sich in Åre eine Auszeit vom Unistress und verbringt im Ferienhaus von Wille, einem Richkid ohne Sorgen, die Zeit mit Feiern, Skifahren, Alkohol, mehr Alkohol, noch mehr Alkohol und anderen Substanzen. Dabei brodelt unter der ausgelassenen Partyhaltung von Anfang an jede Menge Unterdrücktes – bis eines Morgens eine Person der Gruppe nackt und erfroren vorm Haus im Schnee liegt. War es ein Unfall? Oder doch eiskalter Mord? Hanna Ahlander und ihr Team müssen tief im Packeis der Gefühle graben und lösen dabei so manche Lawine aus, bis der Fall endlich mit einer überraschenden Wendung aufgeklärt werden kann.

Viveca Sten schreibt gewohnt brillant, die bitterkalte Atmosphäre im Außen und Innen klirrt greifbar durch die Zeilen des durchweg mit Spannung und trickreichen Wendungen gepackten Kriminalromans. Dabei kommen auch die privaten Geschichten der Ermittler:innen wie immer nicht zu kurz: Und da ist einiges los! Während Hannah und ihr Kollege Daniel weiter wie Satelliten umeinanderkreisen und doch nicht den Mut finden, sich zu offenbaren, kommt zumindest ihr Mitarbeiter Anton in seinem Leben etwas weiter. Dominant ist aber der Fall, der dem Team diesmal alles abfordert. Sten lässt nichts aus, von gruseligem Psychothrill bis zu wilden Verfolgungsjagden – hier wird alles geboten, was man sich wünschen kann.

Ein paar Szenen hatten eigentlich keine Handlungsrelevanz und trugen auch zur Atmosphäre insgesamt nicht wirklich Neues bei, so dass ich persönlich bei gut 500 Seiten auch auf sie hätte verzichten können. Da Sten aber so gut schreibt, sind natürlich auch diese grundsätzlich isoliert betrachtet eine Freude, so dass ich die kleinen dadurch entstehenden Längen insgesamt verzeihen kann. Der Roman passt hervorragend in den nun kommenden Herbst und Winter – aber auch im Sommer dürfte die eiskalte Hochspannung eine gute Abkühlung sein. Hier kann nur zum Lesen geraten werden – und hoffentlich kommt bald der nächste Band, damit sich der kleine Cliffhanger um Hannah und Daniel schnell auflöst. Eine absolut runde Sache!

Bewertung vom 16.09.2025
Gablé, Rebecca

Rabenthron / Helmsby Bd.3


ausgezeichnet

Ein wackelnder Thron – aber nicht für Rebecca Gablé

„Rabenthron“, erschienen 2025 bei Bastei Lübbe, der neue Roman von Erfolgsautorin Rebecca Gablé, ist wie immer ein Meisterwerk des historischen Romans, auch wenn diesmal tatsächlich kleine Schwächen auftreten. Doch da Gablé in einem ganz eigenen Universum schreibt, ist der Roman dennoch ein weiterer Stern an ihrem Schreibhimmel.

Wir kehren zurück nach Helmsby, oder genauer gesagt, wir gehen ganz an den Anfang von Helmsby, reisen also weiter in der Zeit zurück. Bevor wir uns mit der Handlung befassen, ist ein kurzes Shoutout an das Buchdesign unbedingt nötig: Was für ein Traum, dieser Farbschnitt und die Karte im Inneren, und natürlich wie immer die großartigen Zeichnungen für jeden Teil und die kleinen Ornamente am Kapitelanfang, einfach so ein Genuss! Ich lieb’s. Allein dafür schon fünf Sterne.

Gablé wirft uns direkt ins Geschehen: Wir befinden uns im Jahr 1013 und Aelfric hat die Aufgabe, den gefangenen Dänen Hakon nach London zu bringen und seinen Sohn Penda zu retten. Soweit die simple Ausgangssituation des Romans, von der aus sich die Geschichte bis hin zu Wilhelm dem Eroberer erstreckt, mit wie immer unendliche vielen hervorragend recherchierten Details und historischen Personen, die ergänzt werden um ebenso viele fiktive Personen und deren Geschichte, ein umfassendes Panorama dieser Zeit. London geht zugrunde, der herrschende König schwächelt und hat seine Herrschaft nicht im Griff. Der Thron, die Königsposition wird uns den ganzen Roman durch begleiten in vielen Konstellationen und Varianten. Wie schwer das Herrschen doch ist und dass nicht jeder, der qua Geburt König werden soll, auch zum König geboren ist, das arbeitet die Autorin brillant heraus.

Gablé zeigt gekonnt all die Fallstricke der Zeit, die wenigen Rechte und Bewegungsmöglichkeiten der Frauen (und doch hat sie uns gleich mehrere starke Frauen hingelegt für diesen Band), die Grausamkeit, aber auch das Männerklischee, dem die Männer genügen mussten und das ihnen auch gar nicht mal so viel Beinfreiheit ließ. Die verschiedenen Schichten und die Unkenntnis der jeweils anderen Lebensrealität. Wie katastrophal es war, wenn ein Herrscher nicht wirklich zum Herrschen bestimmt war. Die vielen Intrigen und Ränkespiele, die ständige Not, Allianzen zu schmieden – und das in einer Zeit, in der Nachrichten nicht gerade schnell unterwegs waren. Mit der Königin Emma schafft sie einen großartigen Charakter, eine Frau, die den Lauf der Geschichte immer wieder stark beeinflusst und das wilde Pendeln Englands in der Zeit mit den vielen Herrschern, der Konflikt mit Dänemark, der ewige Kampf um die Hoheit, all das wird lebendig.

Gablé hält den Spannungsbogen durchweg oben, in jedem einzelnen Abschnitt passiert so viel, dass man einen eigenen Roman schreiben müsste, um den Roman zu erläutern. Szenerie, Dialoge und Figuren sind immer so lebendig und es werden so viele Informationen über die Zeit wie nebenbei eingewoben, ich finde es einfach jedes Mal aufs Neue beeindruckend und lese ihre Bücher supergern, dieses auch wieder. Dabei spart sie auch nicht mit Spice – für mich in einem Maß, auf das ich auch hätte verzichten können, weil es sich in dem Roman wie ein Fremdkörper macht in der Explizität, aber zum Glück fand die Handlung immer schnell zum Bogen zurück. Im Verhältnis zu anderen Romanen wurden dieses Mal die fiktiven Figuren leider deutlich weniger ausführlich erzählt, was ich persönlich sehr schade fand, da genau diese Mischung für mich immer das Besondere an Gablés Werk ausmacht. Letztlich fasst der Roman aber auch so knapp 900 Seiten, so dass vielleicht einfach nicht genug Raum war, hier auch noch ausführlich zu werden. Dadurch bleibt aber eine so wichtige Figur wie Hakon auf der Strecke. Durchweg präsent und wirklich wundervoll ist dagegen die Figur von Penda und die Vater-Sohn-Beziehung zwischen Ælfric und Penda, die wirklich ans Herz geht und einen durch den ganzen Roman trägt.

Es sind schwierige Zeiten, die die Autorin genial darstellt, ich konnte wirklich gut durch die Handlung der ständig wechselnden Machtverhältnisse folgen. Wie chaotisch das damals gewesen sein muss, wo Nachrichten viel langsamer gereist sind. Dabei packt Gablé auch schwierige Themen wie Antisemitismus und Sklaverei an, ohne jemals den Fokus zu verlieren. Und natürlich fehlt auch wie immer das Nachwort nicht, in dem sie punktgenau Fakten und Fiktion trennt. Einfach ein Genuss.

Was soll man sagen, hier stimmt einfach fast alles, und das wenige, was nicht stimmt ist Meckern auf einem so hohen Niveau, dass ich das Meckern gern direkt auch sein lasse. Rabenthron ist ein Muss für alle Gablé-Fans – und für die, die es noch nicht sind, ein super Einstieg, um dann direkt auch der Sucht zu verfallen und die weiteren Helmsby-Romane zu lesen. Rebecca Gablé sitzt für mich unangefochten weiter auf dem Thron der historischen Romane – und bestimmt mag sie auch ein paar Raben, die drumherum fliegen.

Bewertung vom 16.09.2025
Kraus, Chris

Die Sonne und die Mond


ausgezeichnet

Manchmal kommt man vom Mond nicht zurück
„Die Sonne und die Mond“ der neue Roman von Chris Kraus, erschienen 2025 bei Diogenes, ist für mich ein überraschendes Juwel am Literaturhimmel, eine durchweg berührende, poetische und humorvolle Geschichte über das Leben und das Sterben und das große menschliche Dazwischen. Überrascht hat es mich, da ich das Buch tatsächlich nur lesen wollte, weil ich zum einen selbst im Kultur- und Medienbereich arbeite wie eine der Protagonistinnen und ich zum anderem dem morbiden Charme von Bestattungsunternehmen immer etwas abgewinnen kann. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sonne und Mond und vor allem auch der kleine Satellit Nicky jede Menge Saiten ganz tief in mir zum Klingen bringen und ein zart drängendes, sehnsüchtiges Gefühl hervorrufen – wie ein früher Morgen, an dem der Mond noch am Himmel im Dunst zu sehen ist, während die Sonne schon aufgeht.

Erst einmal aber die Fakten: Das Buch ist gegliedert in 6 sinnvolle Teile mit den Titeln „Der erste Tag“, „Die erste Woche“, „Der erste Monat“, „Der letzte Gruß“, „Das Ende“ und „Ein Jahr später“. Der Plot klingt bekannt: Sonja Meling, genannt Sonne, und Jana von Mond, genannt Mond, verbindet eine Teeniefreundschaft, die durch dick und dünn ging und für die Ewigkeit gemacht schien. Bis ein Ereignis alle Brücken zwischen den beiden jungen Frauen abriss und aus Liebe Hass und Verachtung wurde. Inzwischen im Erwachsenenleben fest verankert, ist Mond ein erfolgreicher Fernsehstar und Sonne führt ein besonderes Bestattungsunternehmen. Und weil der Tod nie schläft, führt er die beiden Frauen wieder zusammen.

Was so banal klingt, ist alles andere als das, denn Kraus schreibt auf allen Ebenen einfach großartig. Die Figuren sind schräg, sehr eigen, sehr verwundet und beide Protagonistinnen wirken wie Wüsten, so karg und fest und einödig, verdorrt und doch eiskalt – aber das Leben, es wartet nur unter der Oberfläche darauf, dass endlich der Regen kommt und alles Lebendige wieder erweckt. Der Autor bringt mich ständig zum Lachen, weil er so klug und ehrlich beobachtet, dabei steckt so viel Traurigkeit in dem, was passiert ist, was noch passiert. Es gibt unendlich viele unfassbar skurrile Szenen, und es wird SO VIEL SCHWERES so wahnsinnig LEICHT verhandelt, es ist ein Kunstwerk, das mich zum Lachen, zum Weinen, zum Schreien, zum Wüten und zum Freuen, ganz einfach zum wie wild Fühlen gebracht hat auf jeder Seite. Die wahrhaft magische Erfindung in diesem Roman ist aber Nicky, ein Kind, geschlagen mit Hämophilie, ein Kind, das wirklich Grund zum Leiden hätte, aber bombenfest im Leben verankert ist, und die Dinge unfassbar weise und pragmatisch angeht. Eine uralte Seele in einem Kinderkörper, die eine enorme Heilkraft hat, weil Nicky zu sein bedeutet, sich dem Leben stellen zu müssen. Kraus Sprache ist wundervoll, jeder Satz eine solche Lesefreude, jedes Bild strotzt vor Lebendigkeit, jedes Detail sprüht Liebe.

Kraus wirft die Lesenden sofort ins Geschehen, ins Fühlen und ins Erleben. Spannende Paradoxien, die Hassliebe von Sonne zum Tod, der ihr alles genommen hat und jetzt doch alles gibt, jeden Tag. Samuel, auch so ein toller Charakter, der Sonne verfallen ist, aber das nicht zeigen darf, der dennoch mit ihr Tacheles redet und sie in die richtige Richtung schubst – wahrscheinlich der Einzige, der das neben Nicky kann. Mond, die so ziemlich alle Klischees einer Fernsehdiva erfüllt, zugedröhnt, mit Migräne und Kotzanfällen, sich um sich selbst drehend und selbstmitleidig, aber dennoch eine, die weiß, wann es Zeit ist, aus einer Niederlage einen Sieg zu machen, indem sie sich daran erinnert, dass sie mal wusste, was menschliche Größe ist – und am Ende irgendwie auch wieder zu ihr findet. Immer wieder starke Bilder, man könnte sich das super auch als Film vorstellen, die ausgepolsterte Wohnung von Sonne, das Blau und die Bilder, der Blick auf die LED Werbewand, der Puls von Berlin. „Kein Licht der Erkenntnis, sondern eine Art Parkplatzbeleuchtung für im Dunkeln abgestellte Kleinsthirne“ – Sätze wie Kristalle. Und auch noch geschickte Einbindung von Zeit und Historie, brandaktuell heute, später rekonstruierbar, dieser Roman ist jetzt.
Spannend auch die vielen literarischen Formen, die Kraus im Buch verwendet, immer wieder gibt es Überraschungen, sehr besonders die Ebene des Märchens, die das Buch durchzieht. Hier wurde sehr genau konstruiert und dramaturgisch clever gearbeitet.
Für mich ein absolutes Highlight des Buchjahres 2025. Ich hab dich lieb bis zum Mond und zurück, das kennen wir alle aus einem Kinderbuch. Manchmal findet man vom Mond nicht mehr zurück. Und sowieso leuchtet der Mond nur durch die Sonne. Wir Menschen stehen immer zwischen beiden und spüren ihre Kraft. Vielleicht liegt die Kunst wirklich darin, beide einfach sein zu lassen und die Energie hinzunehmen. Hineinzunehmen. In sich selbst. Ich habe dieses Buch geliebt.

Bewertung vom 19.08.2025
Shusterman, Neal

All Better Now


gut

Was bedeutet Glück?

Der neue Roman von Neal Shusterman, „All Better Now“, erster Teil einer Dilogie und erschienen 2025 bei Fischer Sauerländer, kann leider nicht in vollem Umfang überzeugen. Ausgestattet mit einer genialen Ausgangsidee schafft es Shusterman nicht, das dadurch gegebene Potenzial voll einzulösen.

Kurz müssen wir über das Cover der deutschen Ausgabe sprechen, meiner Meinung nach leider ein Fail, zielend auf das angepeilte jugendliche Publikum (Zielgruppe ist 14+) strahlt den Lesewilligen vom Cover ein fetter Smiley entgegen, allerdings fasst diese Optik nicht die Dimension des Romans und lässt das Buch eher wie einen Ratgeber aus der Grabbelkiste wirken. Das Cover der englischsprachigen Ausgabe wird dem Buch da so viel mehr gerecht! Wäre ich nicht im Vorfeld medial auf das Buch aufmerksam geworden, ich hätte kaum danach gegriffen.

Shusterman konstruiert in der nahen Zukunft eine neue Pandemie namens Crown Royal, kurz CR – Ähnlichkeiten zu dem Coronavirus sind absolut gewollt. An diesem Virus kann man ähnlich wie bei Covid sterben – überlebt man die Infektion jedoch, ist man ab sofort glücklich und zufrieden. Das klingt doch super, oder? Das findet auch Mariel, die wahrlich kein leichtes Leben hat und für die das Virus eine Lösung darstellen könnte. Und auch Rón, der trotz aller Privilegien, die sein Leben ihm schenkt, schon immer mit Depressionen kämpft, setzt Hoffnung auf CR. Dagegen stehen die Mächtigen und Reichen der Welt, die Nutzziehenden des Kapitalismus, für die eine glückliche und zufriedene Menschheit der Supergau wäre. Der Konflikt der Interessen ist explosiv – und auch die Pharmaindustrie wittert natürlich Möglichkeiten, zumal das Glück sich immer mehr als Gewinn mit Nebenwirkungen entpuppt...

„Crown Royal“, die neue Pandemie, ist eine für mich gelungene Gegenkonstruktion zu Corona, bis zu so schönen Details wie dem, dass Erkrankte einen besonderen Geruch wahrnehmen, während Corona ja Geruchs- und Geschmackssinn zerstört in vielen Fällen. Es ist eine tolle philosophische Frage, die zugrunde liegt: Würde man in Kauf nehmen, vielleicht zu sterben, wenn der Lohn wäre, endlich zu wissen, was wahres Glück ist und dieses damit zu erleben? Generell strickt Shusterman viele philosophische und ethische Dilemmata in seinen Roman – in der Häufung ungewöhnlich für einen Jugendroman, was das Buch auf jeden Fall sehr geeignet für eine Schullektüre macht. Und auch als erwachsene Person kommt man immer wieder an den Punkt, wo es schwer ist, sich zu entscheiden und klar eine Position zu beziehen. Das erreicht Shusterman unter anderem dadurch, dass er letztlich keine der Hauptfiguren wirklich sympathisch gestaltet. Gut für die inhaltliche Debatte – leider aber schlecht für das Leseerlebnis, denn ich konnte einfach nie ganz in die Handlung einsteigen – und das trotz wirklich viel Action und Wendungen.
Ein zweiter Kritikpunkt ist die fehlende Tiefendimension, leider kommt Shusterman von seiner Grundidee aus nicht wirklich viel weiter und vor allem hat er die Folgen des CR-Virus nicht konsistent und glaubwürdig durchgestaltet. So gibt es viele Ungereimtheiten. Am Ende präsentiert Shusterman noch einmal eine ganz neue Figur in einer ganz neuen Form – und da hat mich der Roman leider endgültig verloren, weil hier erneut ein so großes Potenzial verschenkt wird. Denn Shusterman entscheidet sich für Esoterik und Schwurbelei, statt für klaren Kopf und Kalkül. Letzteres wäre eine Bedrohung und eine neue, ernstzunehmende Fragestellung gewesen, ersteres ist leicht wegzuwischen.
Das Finale formt einen erwartbaren Cliffhanger zu Band 2 – dieser wird allerdings auch mit viel Überkonstruktion herbeigeschrieben und verlässt endgültig jeden Pfad der Logik. Darum reizt es mich momentan nicht, Band 2 zu lesen, auch wenn die für diesen Band erarbeitete Grundkonstruktion erneut interessant ist. Ich habe das Gefühl, es wäre gut gewesen, hier auf eine Dilogie zu verzichten und den Stoff komprimiert in einen Band zu bringen, das hätte viele von mir empfundenen Längen aufgehoben.
Unter dem Aspekt des Jugendbuches glaube ich, dass es durchaus funktionieren kann, hier im Rahmen einer actiongeladenen Grundstory gesellschaftliche Fragen zu vermitteln. Dennoch dürften auch Jugendliche über die mangelnde Tiefe der Charaktere und die vielen Inkongruenzen stolpern. Dringend empfehlen würde ich das Buch für eine Verfilmung, dafür finde ich den Plot wirklich sehr geeignet. Alles in allem also kein Hype – aber solide lesbar.