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Benutzername: 
galaxaura
Wohnort: 
Köln

Bewertungen

Insgesamt 92 Bewertungen
Bewertung vom 28.04.2025
Heir Bd.1 (Deluxe-Ausgabe mit Farbschnitt)
Tahir, Sabaa

Heir Bd.1 (Deluxe-Ausgabe mit Farbschnitt)


ausgezeichnet

Das Böse Erben oder das Gute tun?

Mit „Heir“, dem ersten Band einer Fantasy-Dilogie, führt Sabaa Tahir die Lesenden zurück in die schon aus „An Ember in the Ashes“ bekannte Welt und steht dabei dieser Reihe, die für Begeisterung sorgte, in nichts nach. Das Buch ist optisch wunderschön aufgemacht und das stark atmosphärische Titelmotiv findet sich auch im Inneren des Buches immer wieder. Für alle, die sich Sorgen machen: Die Kenntnis der Reihe „An Ember in the Ashes“ ist nicht notwendig, Tahir gelingt es mühelos, ihr komplexes Worldbuilding auch für Neueinsteiger:innen absolut verständlich zu machen.

Womit wir direkt beim ersten großen Plus des Buches wären: Was für ein beeindruckendes und komplett durchdachtes Worldbuilding! Selten habe ich ein solches in dieser Komplexität bei gleichzeitiger Verständlichkeit gelesen. Diese Welt zieht die Lesenden vom ersten Satz an komplett in den Bann und erst 600 Seiten später kann man langsam wieder ausatmen.

Aiz, eine Waise, die in einem Klosterkontext aufwuchs, will Rache an dem Tyrannen nehmen, der ihr Leid verursacht hat. Dabei stößt sie auf Quil, Sufiyan und Aurelia, Kinder des Imperiums, sowie Sirsha, die auf ganz eigenen Pfaden wandelt. Die Schicksale der jungen Menschen verweben sich immer enger, denn es gibt eine düstere Gewalt, die sich anschickt, alles zu zerstören. Was steckt hinter dieser Macht und wird es eine Möglichkeit geben, sie aufzuhalten, bevor alles in Trümmern liegt?

Tahirs Roman ist ein hochspannender Pageturner, der sich neben einer Story voller unerwarteter Plottwists auf der Metaebene auch noch mit ganz anderen Fragen beschäftigt: Was ist Kultur? Kann es Macht ohne Gier geben? Wird es immer eine erste und eine dritte Welt geben, wird es immer Tyrannen und Ausgebeutete in den Krieg treiben? Wie stark ist die Macht des Wortes? Wie sehr müssen wir auf Worte achten, wie leicht entfesseln sie etwas, das wir gar nicht wollten? Diese tiefere Ebene zieht sich durch die Seiten und man kann leicht über sie hinweglesen in der treibenden Handlung, dennoch ist sie da und macht diesen Roman dadurch besonders, hebt ihn ab von anderer Fantasy.

Tahir schreibt brillant, ein Shout-Out auch an die gleich drei Übersetzenden, die hier ganze Arbeit geleistet haben. Stark sinnlich und bildhaft, mit vielen, jedoch nie zu vielen Details, einer guten Dosis Romance und Spice, die immer genau rechtzeitig aus dem Geschehen geht, extrem dicht und komplex geschrieben mit hohem Puls. Hier werden wirklich alle Register gezogen.

Der Band ist in sich abgeschlossen, wartet aber am Ende dennoch mit einem fetten Cliffhanger auf. Band zwei ist noch nicht geschrieben, aber zum Glück kann ich noch auf die Vorgängerreihe ausweichen, um die Wartezeit zu überbrücken. Absolute Leseempfehlung.

Bewertung vom 22.04.2025
Das Erbe der Karolinger
Crönert, Claudius

Das Erbe der Karolinger


ausgezeichnet

It’s running in the family

„Das Erbe der Karolinger“, ein historischer Roman von Claudius Crönert, erschienen 2025 bei Bastei Lübbe, macht mit 813 Seiten eine Ansage – aber hier lohnt sich jede Seite, vor allem, wenn man sich für die Karolingerzeit interessiert, und tatsächlich kann man diesen Roman auch vollkommen ahnungslos genießen. Crönert gelingt der Tanz auf dem Seil zwischen einem gut recherchierten Roman, der nah an der Historie bleibt und sich trotzdem erzählerische Freiheiten nimmt, was der Geschichte und dem Unterhaltungswert sehr guttut.

Claudius Crönert umreißt in seinem, nun, man muss es schon „Werk“ nennen, das Leben des Karolingerkaisers Ludwig, Sohn von Karl dem Großen, von 817-840 n. Chr. Das Buch ist zunächst einmal optisch eine Augenweide, ich mag das schlichte, aber elegante und eindrückliche Cover sehr gern, innen eine Karte, die mir einen tollen Überblick über das Reich gibt, das farblich passende Lesebändchen, die Wiederholung des Umschlagmotivs am Anfang der Teile – das macht was her. Ein Personenverzeichnis wird uns auch spendiert, immer hilfreich bei historisch komplexen Werken. Die Kapitellänge ist ideal getroffen für mich, die Gliederung nach fünf zeitlichen Abschnitten des Regiments von Ludwig sinnvoll. Auf der Formebene also schon einmal alles richtig gemacht! So weit, so trocken? Zum Glück nicht, denn Crönert gelingt das Kunststück, die Karolingerzeit mit vielen Details lebendig und erfahrbar zu machen, ohne dabei jemals die Handlung zu überfrachten oder den Faden zu verlieren zwischen den vielen Geschwistern, Familienanteilen und Bundgenossen. Ludwig ist ein sympathischer Herrscher mit so einigen Schwächen, die ihn sehr menschlich machen. Der Konflikt zu seinen Söhnen und Beratern ist von Anfang an klar im Raum und wird sich im Verlauf der Handlung immer weiter ausweiten. Ludwig ist ein Mann, der neue Wege geht, mit der Ordinatio Imperii schafft er die Basis für ein Großreich, indem er seinen Sohn Lothar als zweiten Kaiser installiert. Nur ist Lothar der richtige Mann dafür? Ziemlich sicher nicht, denn schon nach wenigen Tagen, die er regiert, wird klar, dass er ein machthungriger Willkürherrscher sein wird. Doch auch die anderen Söhne, Pippin, der kleine Ludwig, Karl – sie alle schielen auf ihre Portion von Reich und Erbe und tragen wenig zum Zusammenhalt bei. Letztlich nicht weit entfernt von Erbschaftsstreitereien, die auch heute noch in vielen Familien nach Ableben der Eltern auftreten. Doch hier geht es um mehr als nur bloßen Besitz.

Crönert begleitet Ludwig durch die vielen Ups and Downs seiner Herrscherzeit und hat dabei immer einen großen Blick auf die klugen Frauen hinter der Macht. Sehr deutlich arbeitet er heraus, wie sehr sich die Herrscherfamilie selbst schwächt, weil niemand, auch Ludwig nicht, es schafft, die eigenen Meinungen und Interessen hintenan zu stellen oder gar wirkliches Verständnis für den anderen aufzubringen, die Perspektive zu wechseln. Letztlich haben sich alle in unbewegliche Positionen verrannt – so kann es nicht gut gehen. Wahrscheinlich das Schicksal aller großen Herrschergeschlechter. Immer mehr bricht die Familie auseinander und vergeht sich zunehmend aneinander. Ein hoher Preis für etwas Macht.

Wo Männer regieren, wird es immer schwierig... Auch das finde ich ist im Roman wirklich gut herausgearbeitet, es ist deutlich spürbar, dass die Frauen im Hintergrund die klügeren Entscheidungen treffen würden. Und egal, ob das verbrieft ist oder nicht – das ist bis heute eindeutig die Situation. Einfach traurig, wie es hier alle nicht hinbekommen, wirklich an ein Reich, ein Land zu denken und die Menschen, die darin wohnen, sondern immer den eigenen Stolz voranstellen.

Ich habe einen sehr gut recherchierten Roman lesen dürfen, der nah an der Historie bleibt und sich trotzdem erzählerische Freiheiten nimmt, was der Geschichte einen hohen Unterhaltungswert gibt. Ich war auch dankbar, dass einmal nicht übertriebene Romance und Spice eingebaut wird, sondern es eher darum ging zu zeigen, dass auch Zweckarrangements zu Nähe und Verbundenheit führen können. Das Einzige, was mich am Ende dann doch gestört hat, waren die energetischen und hellseherischen Fähigkeiten einer Figur – das war mir dann doch eins drüber und das hätte ich wirklich nicht gebraucht, für mich wirkte das auch sehr unmotiviert in der Handlung, zumal es als Motiv auch nicht wirklich durchgeführt wird. Darauf hätte ich also gut verzichten können, irgendwie passt es für mich nicht zu diesem ansonsten hervorragenden Roman, der mir viel Wissen über die Karolingerzeit nahegebracht und mich dabei sehr gut unterhalten hat. Ein Leseprojekt, an das man sich unbedingt herantrauen sollte und das auf jeden Fall belohnt wird.

Bewertung vom 20.04.2025
Frau im Mond
Jarawan, Pierre

Frau im Mond


ausgezeichnet

Die andere Seite des Mondes

„Frau im Mond“ von Pierre Jarawan, erschienen 2025 im Berlin Verlag, ist ein beeindruckender und vor allem bewegender Roman, der ein ganzes Jahrhundert umspannt und dabei aus einer ungewöhnlichen Perspektive auf diese Zeit schaut.

Die Zwillingsschwestern Lilit (die erzählende Person) und Lina el Shami, Nachkommen libanesischer Auswanderer in der dritten Generation und in Montréal in Kanada lebend, stoßen eines Tages auf eine alte Postkarte von ihrer Großmutter, die sie nie kennengelernt haben. Dadurch animiert, macht sich Lilit auf in den Libanon, um dort die Geschichte ihrer Großmutter und ihrer Herkunft zu ergründen. Dabei stößt sie auf die Lebanese Rocket Society (oder genauer Haigazian College Rocket Society) und die große Liebe ihres Großvaters Maroun zur Weltraum- und Raketenwissenschaft, von der sie bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts ahnte. Und über allem, was sie entdeckt, wacht die Frau im Mond.

Der Roman ist gegliedert in drei Stufen, wie die Weltraumrakete, die ebenfalls in drei Stufen ins All aufsteigt und dabei immer mehr Ballast abwirft. Dabei folgen die Kapitel einen Countdown von 50 auf Null – und wir reisen durch die Geschichte bis ins Beirut der Gegenwart. Das Cover des Romans ist ein Kunstwerk, das ich stundenlang betrachten könnte, und Jarawan schreibt ebenso kunstvoll, stark atmosphärisch, jede Figur so packend und lebendig, dass man sie umarmen möchte (gut, bis auf ein paar Antagonisten, die das wahrlich nicht verdient haben), er hat obendrein viel sehr feinen Humor und immer wieder glücken äußerst poetische Passagen und Bilder. Vor allem aber gelingt ihm das Kunststück, 100 Jahre Weltgeschichte und insbesondere die Geschichte des Libanons, von der ich zuvor viel zu wenig wusste, in eine Familiengeschichte einzubetten – jederzeit nahbar und plausibel. Er scheut sich dabei nicht, auch die Perspektive des Romanschreibenden einzubringen und den Prozess des Schreibens immer wieder offenzulegen – und das ist gar nicht prätentiös, sondern einfach nur clever gemacht, da die Erzählerin Lilit als Dokumentarfilmerin auch den Weg der Geschichtenschreibenden geht. Lilits Reise ist auch eine Emanzipation von ihrer Zwillingsschwester Lina, die schon längst ihr eigenes Leben gefunden hat, während Lilit noch ziellos hinter der Angst, ihre Begabung zu nutzen, verschwindet. Im Libanon wird ihr auch klar, wie viel Reichtum in ihrem Leben ist – und wie wenig dieser selbstverständlich ist. Es ist das Vermächtnis der Generationen, das nach ihr greift, auf die gute Art und Jarawan macht diese positive Last jederzeit spürbar.

Was wissen wir wirklich über den Libanon, über den Genozid an den Armeniern, über die große Armut, die über dieses Land gekommen ist, über die Situation der Menschen und insbesondere der Frauen dort, über gut und böse Raketen, über Flucht und über Bleiben? Nicht viel, habe ich gemerkt und Pierre Jarawan ist genau der richtige Mensch, um das zu ändern. Wie lassen sich ein Jahrhundert, drei Generationen, zwei Städte auf zwei Kontinenten, ein Raketenprojekt und eine Revolution in einer Geschichte unterbringen? Indem man aus dem Herzen und über die Menschen schreibt, die darin leben und das meisterhaft, durchweg begeisternd, voller Liebe und Wärme, voller trickreicher Wendungen und Verbindungen, mit ungeheuer genauer Recherche, vielen Details und dennoch einer ganz klaren thematischen Führung, einem starken, bildhaften Mondmotiv, das nie überstrapaziert wird und einem Fluss im Schreiben, der uns durchs All schweben lässt.

„Wenn wir uns nicht erinnern, machen wir uns zu Komplizen der Täter.“, lässt Jarawan Maral im Roman sagen. Seine Erinnerung ist mehr als geglückt. Er hat ein Epos zwischen zwei Kontinenten geschrieben, das sich in jedem Moment schwerelos und zugleich unendlich tief anfühlt. Die andere Seite des Mondes, die wir nie sehen können, macht er sichtbar. Was für ein Meisterstück. Lesen.

Bewertung vom 02.04.2025
Geht so
Serrano, Beatriz

Geht so


gut

Krank oder gesund?
„Geht so“ von Beatriz Serrano, erschienen 2025 bei Bastei Lübbe, fängt extrem stark an und verliert sich nach hinten raus leider im Nirgendwo – und macht somit seine Entwicklung genau gegenläufig zur Protagonistin durch.
Aber von vorn, ich liebe das Cover. Ein so symbolisches Bild mit Strahlkraft, eigentlich muss gar nichts mehr gesagt werden, die Emotionen, um die sich das Buch dreht sind damit einfach perfekt gegriffen.
Die Protagonistin Marisa, Inhaberin eines Bullshit-Jobs in einer Madrider Werbeagentur ist irgendwann sehr schleichend falsch abgebogen in ihrem Leben. Nicht untypisch, eine Sache studieren, die einen immerhin noch so halbwegs interessiert, hinterher erstaunt feststellen, dass ein Studium noch kein Beruf ist (auch ein immer häufigeres Phänomen) und dann in der Generation Dauerpraktikum ankommen. Immerhin hat sie es aus den Praktika heraus geschafft, doch nun quält sie sich jeden Tag damit, dass ihre Arbeit komplett ums Leere kreist, die Sinnfrage steht fett im Raum. Von außen betrachtet wäre die Lösung ihres Problems ganz einfach: Weniger Austern, weniger Ansprüche an die monetäre Ausstattung ihres Lebens und stattdessen einen Job, der ihrem Dasein Sinn gibt. Doch Marisa hängt fest. Während die Männer um sie herum zwar stehengebliebene weiße Patriarchen (aber mit sich zufrieden) oder driftende Lebemänner ohne Fokus (aber mit sich zufrieden) sind.
Hier schreibt und beschreibt Serrano (ist das ein Künstlername? Wie kann die Handlung in Madrid spielen und die Autorin heißt wie der berühmte Schinken, haha, ich liebe es) einfach richtig gut. Dieses langsame Sterben von innen, jeder Tag eine Qual noch bevor er beginnt, nicht weil die Arbeit so schrecklich ist, sondern weil Arbeit überhaupt so schrecklich ist. Ich kann es sogar als Mensch mit sinnstiftender Arbeit sehr fühlen. Irgendwann fühlt sich die Mühle endlos an und die Fragen an dieses System nehmen. Wenn Arbeit immer abstrakter ist, so abstrakt, wie die absurde Jobbezeichnung, dann bleibt am Ende des Tages nie ein sichtbarer Erfolg. Wenn mensch dann noch herausfindet, dass diese Arbeit eigentlich auch in einer Stunde statt in acht getan werden kann, dann ist es kein Wunder, wenn der Verfall beginnt. Serrano beschreibt treffend den immer weiter gehenden Absturz, den zunehmenden Griff zu Psychopharmaka und Alkohol, Ersatzhandlungen, immer weiteres Tricksen, durch das Tricksen immer mehr Imposter-Syndrom, noch weniger Selbstwert und Fokus, es gibt kaum noch ein Entkommen. Ich mag, wie die Autorin viele feministische Themen einstreut, wie sie aber auch zeigt, dass selbst ein weibliches Arbeitsumfeld nicht zu Solidarität führt. Auch das Thema Mutterschaft in der Leistungsgesellschaft wird angerissen, das ich persönlich auch wirklich wichtig finde. Der Mensch, der immer mehr zur Ware wird. Und dann ist da noch die Sache mit Rita...
Bis ungefähr zur Mitte des Buches schreibt Serrano so fluffig und herzlich ironisch, dass ich schon sehr oft vor mich hin grinsen musste – und ich mag es, wenn ernste Themen einem etwas lockerer verkauft werden, und hier wurde ich bestens unterhalten. Zeitgleich denke ich aber, dass die Problematik auch sehr elitär ist, da sie vor allem auf Akademiker:innen, die keine wirklichen Produkte mehr herstellen, und deren Arbeit vollkommen abstrakt ist, zutreffen dürfte. Einmal mehr also eigentlich ein Wohlstandsproblem, das unsere kapitalistisch-patriarchale Leistungsgesellschaft künstlich erzeugt und das ja eigentlich leicht zu lösen wäre – wer braucht schon die Weihnachtskampagne für Lippenstift und Wimpernzange 3005. Kein Wunder also, dass Marisa an Bore-Out leidet.
Der zweite Buchteil zeigt sich leider deutlich schwächer als der erste, irgendwie fehlte mir zunehmend der Fokus und ich hatte mir von der Entwicklung und der Auflösung auch mehr erwartet. Die Autorin bedient sich an Klischees und verliert die Feinsinnigkeit, mit der sie im ersten Teil so wunderbar beobachtet und analysiert. Vieles wird nicht zuende gedacht und das Finale des Romans lässt mich relativ ratlos zurück, der Clou enthält für mich keine Lebensrealität – und gerade das war die Stärke der ersten Hälfte. Das Buch hat mich leider eher verloren. Ich habe das Gefühl, hier wusste die Autorin selbst nicht ganz, wo sie hin möchte.
Also sehr gemischte Gefühle, ich würde empfehlen, einfach selbst hineinzuschnuppern, denn das Grundthema ist wirklich wichtig: Wenn man an einem kranken System leidet, ist man dann krank oder gesund?

Bewertung vom 26.03.2025
bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann
Lovrenski, Oliver

bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann


ausgezeichnet

sonne scheint erde dreht sich

„bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann“, der autobiographische Debutroman von Oliver Lovrenski, erschienen 2025 bei Hanser Berlin, ist das eindrückliche Dokument einer Einwandererjugend auf der Straße und begeistert vor allem formal und sprachlich.

Ein großes Shout-Out zunächst an die Übersetzerin Karoline Hippe, der es einfach genial gelingt, den von Lovrenski perfekt eingefangenen und zugespitzen Slang der Jugendgangs ins Deutsche zu übertragen – was für Meisterleistung.

Lovrenski erzählt von Ivor und Marco, den Brüdern durch Gelegenheit, die in den Straßen Oslos zwischen Drogen, Kriminalität, Gefahr und permanenter Brutalität, aber auch voller Freundschaft, Solidarität und Hoffnung auf ein besseres Leben aufwachsen, immer wieder am Rand der Existenz und doch immer wieder kurz auch fast dabei, das Milieu verlassen zu können. In schnellen, kurzen Clips, ein Buch wie der Swipe auf TikTok, in gedrängter, gehetzter Sprache, die nicht umsonst auf groß und klein verzichtet, oft hart und fast wie eine Fremdsprache, dann immer wieder sehr poetisch und zart, führt uns Lovrenski durch die Jugend einer wild zusammengewürfelten Truppe Heranwachsender, die mit jedem Tag tiefer abrutschen – bis der erste ganz abrutscht und die Unschuld endgültig verloren ist.

Der Beat peitscht durch dieses Buch wie die Wut durch Ivor, Marco, Jonas und all die anderen Mitglieder der Wahlfamilie, die einfach unter den falschen Voraussetzungen geboren wurden und kaum eine Chance haben, sich aus diesen zu befreien. Wir reden viel von Durchlässigkeit – doch der Roman zeigt eindrücklich, dass diese nichts hilft, wenn ein Umfeld nicht mitspielt. „die welt ist ungerecht, stell dir mal vor ein kleines unglück kann so viel scheiße anrichten“ – und vielleicht ist dieses unglück manchmal einfach die geburt. Lovrenski schafft dabei das Kunststück, durchweg so viel Liebe für seine Charaktere durch das Buch scheinen zu lassen, dass es den Lesenden kaum gelingen wird, nicht mit ihnen mitzuleiden, auch wenn diese eigentlich alles tun, um uns das Gegenteil empfinden zu lassen.

Es ist ein schonungslos ehrlicher Roman, der alle Wunden unserer Gesellschaft offenlegt. „sonne scheint erde dreht sich“ – das Leben geht weiter, ob wir es leben wollen oder nicht. Kein Entkommen, keine Gnade. Und zwischen Täter und Opfer manchmal nicht mehr viel Unterschied.

Lovrenski hat dabei in seinem Buch an alles gedacht und schenkt deshalb denen unter uns, die mit lowkey disbattle nicht so vertraut sind, ein Glossar am Ende des Buches. G der Mann. Empfehlung geht raus und nächstes Buch wird dringlich erwartet, sehr spannend, was passieren wird, wenn diese Stimme sich vielleicht einem nicht-autobiographischen Thema widmet. +10.000 Aura Starpotenzial.

Bewertung vom 21.03.2025
Stromlinien (eBook, ePUB)
Frank, Rebekka

Stromlinien (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Go on and cry, Ophelia

„Stromlinien“, der neue Roman von Rebekka Frank, erschienen 2025 im S. Fischer Verlag, hat mich vom ersten Moment an gefesselt und bis zum Ende nicht losgelassen.

Rebekka Frank erzählt uns die Geschichte der Zwillingsschwestern Jale und Enna, die darauf warten, dass nach 38 langen Jahren in Haft ihre Mutter Alea entlassen wird – doch als die Stunde Null endlich eintritt, taucht nicht nur Alea nicht auf, nein, auch Jale ist verschwunden. Enna bleibt allein zurück, geht auf Spurensuche – und gerät dabei in einen Strudel, der den Strömungen der Fahrrinne in der Elbe nichts nachsteht und bis weit in die Vergangenheit führt.

Die Handlung spielt auf drei Zeitebenen 2023, 1983/84 sowie 1923. Diese sind gut sortiert und Überschriften sowie Personal lassen die Lesenden den Zeitsprüngen leicht folgen. Die Haupthandlung liegt schwerpunktmäßig im Jetzt des Jahres 2023. Immer wieder eingeschoben sind zunächst rätselhafte Passagen ohne Jahresangabe in Kursivdruck. Frank schreibt großartige, nahegehende Figuren und Begegnungen, extrem atmosphärisch bringt sie uns die Elbmarschen vor Augen mit immer wieder wundervollen Landschaftsbeschreibungen, die Handlung ist durchweg packend und oft zerstörerisch, immer mehr ist man mit gefangen mit den Menschen, die durch die Stromlinien mäandern.

Apropos Stromlinien: Auch Optik und Haptik des Buches begeistern einfach, das Cover passt perfekt und die sichtbaren Stromlinien lassen sich auch erfühlen – wunderschön. Sehr elegant auch, wie Frank mit dem Ophelia-Motiv spielt, das auf bedrückende Weise Sinn ergibt.

Es ist ein Roman, der sehr tief in Beziehungen und Familien blickt und dabei durchweg Komplexität aufzeigt. Einfach superdicht geschrieben und konstruiert, es hat mich sehr berührt, irgendwo ganz tief.
Das Nachwort der Autorin hat mich dann noch einmal umgehauen, wie viel echte Historie in diesem Buch steckt, das macht es noch einmal besonders hart. Das war insgesamt ein sehr rundes und großartiges Leseerlebnis, genau wie ich es mir erhofft hatte, auch wenn es kleinere Ungereimtheiten gibt – die verzeiht man jedoch gern und wünscht sich zum Ende des Buches, es hätte noch mehr Seiten, damit man es nicht beenden muss. Irgendwie gerät man beim Lesen quasi in die Fahrrinne der Elbe und dann zieht es einen rein und man kommt nicht mehr raus. Unbedingte Empfehlung, sich der Strömung hinzugeben.

Bewertung vom 07.03.2025
Im Auftrag der Fugger - Der Burgunderschatz
Dempf, Peter

Im Auftrag der Fugger - Der Burgunderschatz


sehr gut

Ein actionreicher Female Roadtrip zur Fuggerzeit

„Im Auftrag der Fugger – Der Burgunderschatz“ von Peter Dempf, erschienen 2025 bei Bastei Lübbe, ist ein mitreißender historischer Roman, bei dem der Autor einmal mehr all seine Stärken souverän ausspielt.

Wir befinden uns in Augsburg, im Jahr 1503, als die junge, verwaiste Bettlerin Afra eine besondere Zeichnung in die Hände bekommt und so davon erfährt, dass eine Delegation aus Basel versucht, den wichtigsten Kaufleuten aus Basel extrem wertvolle Kleinode zu verkaufen – einen Teil des Burgunderschatzes, bestehend aus dem Federlin, dem Gürtelin, der Rose und den Drei Brüdern. Dieser Zufall ist der Ausgangspunkt für eine wilde Reise und Verfolgungsjagd auf Leben und Tod, bei der Afra im Auftrag Jakob Fuggers, des wohl berühmtesten Kaufmanns aus Augsburg, nach dem eine Ära benannt wurde, gemeinsam mit dessen Boten Herwart, dem Afra ebenfalls schon zuvor zufällig begegnet ist, nach Basel und zurückreist, um auf dem Hinweg viel Geld und auf dem Rückweg den Schatz zu transportieren. Natürlich sind die beiden nicht die einzigen, die von diesen Preziosen Kenntnis haben, so dass sich der Botendienst immer mehr zu einer Hatz ausweitet.

Dempf schreibt sehr kenntnisreich und atmosphärisch, er hat ein Händchen für die Charaktere – sowohl für die sympathischen als auch für die fiesen. Lebendig lässt er die Zeit um 1500 auferstehen mit vielen Details, so dass die Reise in die Schweiz und zurück gleichzeitig auch eine Lehrstunde in Geschichte ist – aber immer unterhaltsam und handlungsgebunden. Dabei arbeitet er besonders gut die Situation von Frauen im angehenden 16. Jahrhundert heraus und beschönigt hier nichts – außer bei seiner Heldin Afra, die manchmal schon fast zu Wonder Woman mutiert.

Es gibt so einige Plottwists und zwischenzeitlich wähnt man sich fast eher in einem Actionmovie oder Krimithriller als in einem historischen Roman und ja, auch für etwas Romance ist gesorgt, dankenswerterweise ohne zu viel Spice. Pikante Details finden sich eher bei sehr kreativen Versteckmethoden, doch hier soll nicht zu viel verraten werden.
Insgesamt waren es mir aber doch ein paar Verfolgungsjagden zu viel und gerade gegen Ende der Geschichte häufen sich die unwahrscheinlichen Zufälle und Rettungen doch etwas sehr, so dass sich die Handlung gegen Ende etwas zog. Daher kann ich leider nicht ganz die 5 Sterne geben, die ich für die erste Hälfte auf jeden Fall gesehen hätte. Aber in jedem Fall liegt hier ein rasanter historischer Roman mit starken Frauenfiguren vor, der wirklich gut zu lesen ist! Und wittere ich am Ende sogar einen zweiten Band? (Keine Sorge, der Roman ist in sich geschlossen.) Den würde ich ganz bestimmt lesen. Auch unbedingt noch zu erwähnen ist ein knackiges Nachwort, in dem Dempf noch einmal historische Fakten einordnet und ergänzt, bei historischen Romanen immer sehr gern von mir gesehen. Dieses hat auch eine perfekt gewählte Länge, was auch nicht selbstverständlich ist. Eine runde Leistung also, der nicht viel zum fünften Stern fehlt.

Bewertung vom 03.03.2025
Die Brücke von London
Arth, Julius

Die Brücke von London


sehr gut

Spannendes Zeitportrait der London Bridge

„Die Brücke von London“ von Julius Arth, erschienen 2025 bei dtv, ist ein spannungsgeladener und durchweg unterhaltsamer historischer Roman, der neben der Geschichte der London Bridge auch viele Einblicke in das London des mittleren 18. Jahrhunderts sowie die Entstehungszeit der Brücke um 1202 gibt.

Die Handlung des Romans teilt sich in zwei Stränge, die erst ganz am Ende wirklich verknüpft werden, so dass aus dem Rätseln über eben diese Verknüpfung noch eine weitere Spannungsebene gewonnen wird. Der erste Erzählstrang spielt im Jahr 1202, dem Erbauungsjahr der London Bridge und rankt sich um die Schwestern Sibilla und Estrid, die mit seherischen und heilerischen Fähigkeiten versehen sind, weshalb sie die Geschichte der London Bridge vorausahnen. Estrid, verheiratet mit einem der Erbauer der Brücke, muss sich gegen die patriarchale und dogmatische Welt ihrer Zeit behaupten – und zahlt dafür einen hohen Preis.
Der zweite und Haupterzählstrang beginnt im Jahr 1749 in London, wo die frisch verwitwete Tuchhändlerin Juliana, die den Tuchladen ihres Mannes auf der London Bridge weiterführen möchte, schnell ebenfalls an die Grenzen einer patriarchalen Gesellschaft stößt. Doch sie ist findig und pfiffig, eine Frau, die anpackt und auch vor ungewöhnlichen Methoden nicht zurückschreckt. Als sie eines Nachts den Straßenjungen Alder, der nach einem Diebstahl auf der Flucht vor dem Büttel ist, aus der Themse fischt, erfährt ihr Leben eine bedeutende Wendung.

Julius Arth schreibt flüssig und hält den Spannungsbogen durchweg hoch, ihm gelingt es, sehr lebendige und liebenswerte Charaktere zu erschaffen und das Zeitkolorit bemerkenswert gut einzufangen. Geschickt bettet er viele Informationen in den Text ein, ohne dass dieses jemals aufträgt oder den Handlungsfluss behindert. Die Story nimmt viele Wendungen, und es gibt so einige Überraschungen, die das Leseerlebnis dynamisch halten. Julius Arth, der selbst auf seinem Autorenfoto so aussieht, dass man ihn frisch vom Mittelaltermarkt kommend imaginiert, verwebt die Handlungen um seine Hauptfiguren elegant, die Kapitel, die immer eine der Personen im Fokus haben, ranken sich umeinander wie ein geflochtener Zopf.

Gegen Ende verliert der Autor die London Bridge unter der Handlung zunehmend etwas aus dem Auge, auch häufen sich die Unwahrscheinlichkeiten doch etwas sehr an und von der Handlung in 1202 hätte ich mir etwas mehr Signifikanz für den Roman und den Strang in 1749 erwartet, so ausführlich, wie sie ausgearbeitet ist. Im Gegenzug schließt der Autor die meisten Kreise im Buch und lässt nur wenige Leerstellen. . Ich hätte mich sehr über ein Nachwort zur Recherche des Autors gefreut, inwieweit basiert das alles auf realen, dokumentierten Ereignissen und Funden? Das wäre spannend gewesen.

Insgesamt hat der Roman mir aber ein sehr angenehmes Leseerlebnis beschert und mich wirklich gut unterhalten, wer auf der Suche nach einem leichten Historienroman mit viel Spannung und guter Schreibe ist, der wird hier bestens bedient.

Bewertung vom 02.03.2025
Ginsterburg
Frank, Arno

Ginsterburg


ausgezeichnet

Dieses Buch ist Feuer

„Ginsterburg“, der neue Roman von Arno Frank, erschienen 2025 bei Klett-Cotta, ist ein Jahrhundertbuch, ein Buch, wie mensch es ganz selten liest, ein Buch, das Arno Frank nicht zufällig jetzt, genau jetzt geschrieben hat und das alle, ALLE! lesen müssen. Unbedingt. Ohne Ausnahme.

„Jetzt hat es sie erwischt.“ Mit diesem Satz startet das Buch und am Ende des Lesens erst wird sich die absolute Mehrdeutigkeit dieses Satzes offenbaren. Am Anfang noch scheinbar eindeutig zu nehmen, denn der Roman startet mit einem Klimax, bei einem Flugzeugabsturz, der sich in Etappen durch die Geschichte ziehen wird, mit ihm die bange Frage, ob der Pilot den Abschuss überleben wird.
Wir befinden uns in Ginsterburg, einer fiktiven Kleinstadt im Deutschland von 1935 bis 1945. Wer jetzt denkt, och nö, schonwieder Literatur über den 2. Weltkrieg, halte bitte ein. Denn so wurde diese Zeit, unsere Geschichte noch nicht geschrieben. Frank schafft es auf wirklich geniale Weise aufzuzeigen, wie alles begann – eine Frage, die sich gesellschaftlich gerade so dringlich stellt und nach Lektüre des Buches kann nur festgehalten werden: Es beginnt nicht. Es hat schon längst begonnen. Wir sind schon mittendrin.

Klug und immer menschlich zeigt Arno Frank die Entwicklung des kleinen Ortes Ginsterburg und der Menschen darin. Mit schnellen Strichen skizziert er eine Kleinstadt mit ihrem Personal, er gibt dabei wunderbar unklare klare Beschreibungen, die ein typisches Bild im Kopf entstehen lassen, ohne allzu präzise zu werden. Da sind die Kommunistin Merle und ihr Sohn Lothar, der später zu einem berühmten Fliegerhelden werden wird, die regimetreue Ursel und ihr Mann Eugen, der Journalist, der so gern Karriere machen würde, mit ihrer Tochter Gesine, die die neuen Zeiten und Theorien nur so aufsaugt. Da ist der kleine Fritz, dessen Behinderung noch Folgen haben wird, der Kreisleiter Otto, dessen Frau Henriette ihn gen Berlin verlassen hat, da ein Goldfasan ihr ein besseres Leben versprach, so dass er nun allein mit seinen Söhnen Bruno und Knut ist, die sich im Ort gehörig aufspielen. Da ist der Doktor Hansemann, der nicht umsonst Ähnlichkeiten zu einem Mengele aufweist. Um nur einige der Menschen zu nennen, die sich in einer neuen Weltordnung zurechtfinden müssen – und von denen schleichend, aber immer mehr, alle, wirklich alle ihren Widerstand aufgeben, wenn sie ihn denn jemals empfunden haben. Das Grauen des 3. Reiches ist mehr als präsent, ohne dass alles explizit ausgesprochen werden muss, die kleine Stadt ist total lebendig spürbar, die Menschen haben alle einen gut lesbaren Charakter. Ginsterburg ist Klein-Deutschland, beinhaltet alles, was wir kennen.

Geschickt und absolut zerstörerisch zeigt Frank, wie der Nationalsozialismus immer mehr um sich greift, wie ein Fliegenfänger immer mehr Menschen an sich klebt, wie geschickt manipuliert wird und die Menschen bei ihren Interessen und Sehnsüchten abgeholt werden, bis fast jeder ins Netz geht – einige Überzeugte wie Ursel und Otto ganz voran. Eugen, der seiner Familie etwas bieten und erfolgreich sein will, Lothar, der so gern fliegen möchte, Gesine, die ihrem Bild einer glücklichen Familie hinterherrennt, Menschen, die teils doch ganz auf der anderen Seite standen, doch nun schleichend doch gepackt und eingemeindet werden. Ich habe glaube ich noch nie einen Roman gelesen, der so gut zeigt, wie unauffällig und doch allumfassend es passiert, dass der Faschismus salonfähig wird. Super beängstigend angesichts dessen, was gerade in der Welt geschieht. Frank beschreibt perfekt diesen Mikrokosmos der kleinen Stadt, in der irgendwie jeder mit jedem verbandelt ist und jeder von jedem abhängig. Er zeigt die Brutalität genauso wie das Weggucken oder einfach nur Nichtstun, die Infiltration der Jugend, die Manipulation, die um sich greifende Angst, die Abhängigkeitsverhältnisse. Er zeigt ganz durchschnittliche Menschen, die wenigsten sind hier „böse“, und doch am Ende: sind sie alle gefangen. Und verrückterweise gibt es bei all dieser Härte doch auch noch Humor, der bei allem Schrecklichen immer wieder durch das Buch weht.

Was für ein Buch, was für ein Epos. Ich bin völlig geplättet, ein ganz großer Wurf. Ich habe viel erwartet, aber das ist noch mehr. Wenn dieses Werk nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises landet, was dann? Ein Must-Read für alle. Im Roman hat es, wir denken noch einmal an den ersten Satz, alle erwischt, ausnahmslos, niemand ist der Ideologie entkommen, trotz völlig unterschiedlicher Ausgangspositionen. Dieses Buch ist Feuer. Noch ist Zeit. Lasst uns nicht erneut verbrennen.

Bewertung vom 01.03.2025
Das Lieben danach
Bracht, Helene

Das Lieben danach


gut

Bleibt im eigenen Erleben stecken

„Das Lieben danach“ von Helene Bracht, erschienen 2025 im Carl Hanser Verlag, beschäftig sich mit einer wichtigen, vielleicht zu seltenen Frage, nämlich der, wie Personen, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, in ihrem späteren Leben zu einem erfüllten Liebesleben und einer gesunden Sexualität finden können. Das schlanke Buch kommt in einem Schutzumschlag mit einem sehr passenden, wunderschönen Cover von schon überblühten Blumen, die eine ganz morbide Stimmung setzen.

Bracht, in ihrer Kindheit starker sexualisierter Gewalt durch einen engen Bekannten der Familie ausgesetzt, gehört erst einmal Respekt dafür, dass sie aus dem Dunkelzifferbereich heraus so stark in die Öffentlichkeit tritt und sich damit auch erneut verwundbar macht. Dieses Teilen ihrer Geschichte ist ein wertvoller Schritt für Betroffene – und vielleicht ja auch für Täter:innen, die sich hier noch einmal ein klares Bild der lebenslangen Konsequenzen ihres Handelns machen können. Bracht stellt kluge Fragen in ihrem Buch und macht sich auf die Suche nach Antworten: Haben früh von sexualisierter Gewalt betroffene Personen ein spezielles Bindungsverhalten? Was bedeutet eine kindliche Erfahrung von sexualisierter Gewalt für die spätere Entwicklung von Geschlechtsidentität und Rollenfindung? Welchen Unterschied macht das Geschlecht der Täter:innenperson für den Lebensweg der Betroffenen und die Wahl der Menschen, zu denen diese sich später hingezogen fühlen?

Für das Buch spricht die meist sehr sachliche Analyse und theoretische Fundierung der Auseinandersetzung sowie überhaupt der Ansatz, nicht bei der Beschäftigung mit dem Trauma stehenzubleiben, wie viele andere Bücher, sondern nach dem Leben danach zu fragen und hier nach Möglichkeiten und Wegen zu schauen.
Leider aber bleibt für mich vieles doch im Mikrokosmos von Bracht stecken. Da ist zum einen die sehr akademische Sprache mit vielen Bildungsreferenzen und Fremdwörtern – warum nicht vom Elfenbeinturm herunterkommen und ein solches Buch niederschwellig schreiben? Auch wenn diese Art sicher der Distanzierung dienen mag, so hält sie doch auch sehr viele Menschen von diesem Buch fern. Aber wir reden hier über ein generelles gesellschaftliches Problem, dessen Analyse möglichst vielen Menschen zugänglich sein sollte. Bracht formuliert selbst, dass das Wort „Missbrauch“ eben sehr misslich ist, beinhaltet es doch, dass es auch regelkonformen „Gebrauch“ von Menschen geben könne – und auch generell ist das Wort viel zu schwach und euphemistisch für die Tat. „Sexualisierte Gewalt“ schlägt die Autorin deshalb völlig richtig vor – und nutzt doch selbst immer wieder das Wort Missbrauch. Damit bleibt sie in der Täter:innenperspektive verhaftet. Bracht kritisiert heftig die me-too-Bewegung als Generalisierung einer Opfer-Perspektive, die im Opfersein stehenbleibe. Dabei hat me-too genau das Gegenteil zur Zielsetzung und auch erreicht: Der Zusammenschluss, das Zusammentragen vieler Opferperspektiven macht das Systemische sichtbar und zeigt deutlich: Es gibt Millionen von individuellen Fällen aber: keinen Einzelfall. Es gibt kein Frausein ohne das Erleben von sexualisierter Gewalt. Was durchstrahlt durch das Buch ist auf eine gewisse Weise doch ein Stehenbleiben von Bracht in ihrem individuellen Fall und ein Kampf mit dem individuellen Trauma, der noch nicht ausgefochten ist, weshalb ihr dieser eigene Fall nach wie vor in seiner Individualität sehr wichtig ist. Darauf hat sie als Mensch jedes Recht der Welt. Aber diese Herangehensweise verhindert größere strukturelle Erkenntnisse, die ich mir persönlich von diesem Buch mehr erhofft hätte.

Sehr interessant sind Brachts Gedankengänge zu Grenzen, zum Setzen von Ja und Nein – und gerade hier wäre die me-too-Bewegung ein großartiges Beispiel um aufzuzeigen, warum das Setzen von Grenzen so schwer ist: Weil wir von klein auf sozialisiert werden, die Grenzen auch schon im Kleinen nicht zu setzen. Alle Übergänge zwischen gewohnter kleinerer sexualisierter Gewalt hin zur großen sind fließend und daher ist es im Prozess fast unmöglich, den Punkt für das Nein zu finden. Bracht ist der Meinung, Erotik sei immer mit Macht verbunden, diese Setzung macht sie einfach. Hier kann ich überhaupt nicht zustimmen, Erotik kann genau auch das Gegenteil ausmachen, nämlich die vollkommene Abwesenheit von Macht.

Lange Rede, kurzer Sinn: Brachts starke individuelle Prägung ist in ihrer Analyse immer spürbar und so bleibt das Buch doch eher ein Erfahrungsbericht. Mein voller Respekt für diesen angesichts der starken Verletzung, die Bracht erleiden musste. Für mich weist aber wenig über diesen Fall hinaus. Insofern ist das Buch sehr interessant zu lesen als ein Teil eines Puzzles. Für das Große Ganze müssen vielleicht eher andere Bücher herhalten.