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nessabo

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Insgesamt 193 Bewertungen
Bewertung vom 17.09.2025
Kuhn, Yuko

Onigiri


ausgezeichnet

Das fragmentarische, sensible Porträt eines Lebens zwischen den Welten

Während ich mit japanischer Literatur bislang eher nicht komplett gematcht habe, gab es aus dem deutsch-japanischen Autor*innenfeld schon das ein oder andere Highlight. „Onigiri“ reiht sich für mich im positiven Sinne ein.

Yuko Kuhn hat einen leisen Roman geschrieben, der sich doch gleichermaßen eindringlich mit einem Leben zwischen zwei Welten befasst. In ihm reist Protagonistin Aki mit ihrer dementen Mutter Keiko ein letztes Mal nach Japan und reflektiert parallel dazu nicht nur über den Werdegang ebenjener, sondern auch über ihre eigenen Kindheitserinnerungen und Schlüsselmomente.

Besonders geschickt finde ich die Struktur der Erzählung. Denn obwohl sie auch zu einer gewissen Kompliziertheit beiträgt, spiegelt sie in sich die innere Zerrissenheit Akis wider. Jedes Kapitel teilt sich in den Gegenwartsstrang, also den Besuch in Japan, und einen Erinnerungsteil. Letzterer ist dabei immer stark familienbezogen, dahingehend aber sehr divers gehalten. Mal geht es um die Großeltern, mal den Vater und dann wieder um Akis Bruder. Die beiden Teile sind strukturell nur sehr dezent voneinander getrennt und ich verstehe, dass dies das Leseverständnis hemmen kann. Ich konnte mich nach einer kurzen Gewöhnungsphase glücklicherweise sehr gut drauf einlassen und denke auch, dass es bei diesem Werk genau darauf ankommt.

Die vermittelten Gefühle sind unheimlich vielschichtig, manchmal richtiggehend widersprüchlich. Besonders die Mutter-Tochter-Beziehung steht logischerweise im Zentrum der Geschichte und wird begleitet von nahen wie distanzierten Momenten. Kuhn schafft es eindrücklich, einen dichten Text zu schreiben, ohne ins Abwertende oder Pathetische abzuschweifen. Vielleicht trägt ihre eigene Biografie dazu bei, in jedem Fall finde ich die Selbstreflexion von Protagonistin und Autorin bemerkenswert.

Ganz nebenbei thematisiert Kuhn alltäglichen Rassismus, der trotz ihrer nüchternen Schreibweise unter die Haut geht. Auch kulturelle Unterschiede werden am Beispiel ihrer deutschen bzw. japanischen Familie messerscharf verhandelt. So sammelt dieser Roman eine schiere Fülle an Erfahrungen und fügt sie zu einem Mosaik zusammen.

Demenz ist in der Literatur nun wirklich nicht selten Thema, aber die sensible, leise und gleichzeitig aufwühlende Schilderung der Autorin ist eine ganz besondere. Teilweise genügte ein Satz, eine Frage der Mutter, um in mir alles zum Stocken zu bringen. Aki gilt für ihren Umgang mit dieser furchtbaren Erkrankung meine absolute Bewunderung, gleichzeitig war aber auch ihre Trauer für mich deutlich spürbar.

Die Autorin baut auf sehr viele japanische Begriffe und Wendungen, was ich ja immer ambivalent bewerte. Sehr authentisch und passend auf der einen Seite, störend für meinen Lesefluss auf der anderen. Das Glossar ist ganz toll, lässt sich im eBook aber nur unpraktisch nutzen. Abgesehen davon kann ich aber wirklich maximal nur an der ein oder anderen langatmigeren Stelle mäkeln.

Ein Buch für alle, die sich für kulturelle Unterschiede sowie Identitätssuche interessieren und die sich von leisen, fragmentarisch erzählten Romanen mit einigen Zeitsprüngen nicht abschrecken lassen.

4,5 ⭐️

Bewertung vom 17.09.2025
Fonthes, Christina

Wohin du auch gehst


ausgezeichnet

Ein fein erzähltes und emotional unglaublich starkes Debüt

Das war ein sehr unerwartetes Highlight! Geschichten, die über mehrere Zeitebenen hinweg und aus verschiedenen Perspektiven heraus erzählt werden, gefallen mir generell sehr gut. Und doch bin ich ohne besondere Erwartungen in die Lektüre gegangen.

Was gleich zu Beginn und auch im Verlauf immer wieder deutlich wird: Christina Fonthes hat eine ganz besondere Stimme, die mich gleichermaßen gepackt wie berührt hat. Sie schreibt sprachlich zugänglich und authentisch, behält sich aber stets eine angenehme Sensibilität bei. Außerdem hat sie ein echtes Händchen für kleine Hints, die nicht zu viel von der Handlung vorwegnehmen und später makellos wieder eingefangen werden.

Auch thematisch ist dieser Roman meisterinnenhaft! Ganz zentral geht es um familiären Druck, Religion, Kultur, Identität und Queerness. Fonthes erzählt ehrlich und echt, schafft es aber auch, Schmerzhaftes nur so weit auszuerzählen, dass es sich beim Lesen nicht traumatisch anfühlt. Emotional hat mich die Geschichte trotzdem an so vielen Stellen tief berührt und manchmal regelrecht zerrissen!

An den Figuren gibt es ebenso nichts auszusetzen! Sowohl Bijoux als auch ihre Tante Mira sind vielschichtige Figuren mit einer komplexen Geschichte und einer ebenso komplexen Beziehung zueinander. Besonders der Umgang von Eltern mit ihren Kindern ist in diesem Roman oft unglaublich schmerzhaft! Gleichzeitig verpasst es die Autorin nicht, ihren Lesenden auch heilsame Elemente zu schenken - ganz besonders in Form weiblicher Solidarität und Stärke.

Ich konnte wirklich einige Geschehnisse der Erzählung erahnen und doch war ich zutiefst bewegt, wenn sie dann entsprechend aufgeklärt wurden. Das spricht in meinen Augen für Fonthes’ großes Talent! Die Autorin schreibt so gut, dass sie auf überflüssige Spannungselemente getrost verzichten kann. Durch das geschickte Vermitteln kongolesischer Geschichte habe ich auch wirklich viel über die Demokratische Republik Kongo, früher Zaire, gelernt.

Der einzige Punkt, den ich zumindest ambivalent sehe, ist die Verwendung verschiedener Lingala-Begriffe und -Sätze. Einerseits trägt sie extrem zur Authentizität der Geschichte bei und die Kursivschreibung sowie das angeschlossene Glossar sind hilfreiche Tools. Andererseits konnte ich mir die Übersetzungen trotzdem so schlecht merken, dass ich ständig noch einmal nachsehen musste, was meinen Lesefluss behindert hat.

Ich bin aber viel zu begeistert von diesem bemerkenswerten Debüt, als dass ich irgendetwas von der Wertung abziehen würde. Es ist in vielerlei Hinsicht eine Geschichte über Befreiung und ihr Schluss einfach nur ein Paukenschlag. Lest unbedingt diesen spannenden, feinfühligen und auch schmerzhaften Roman!

Bewertung vom 17.09.2025
Wahl, Caroline

Die Assistentin


sehr gut

Neuer Stil mit viel Meta-Ebene

Zum Hörbuch: Die Autorin erfährt ja unglaublich viel Kritik für ihre Lesung. Stimmen werden von Menschen unterschiedlich empfunden, daher ist hier eine legitime Meinungsäußerung auch völlig okay. Was teilweise an ableistischer, sexistischer Abwertung passiert, ist selbstredend absolut daneben. Ich empfand ihre Stimme bei Standardgeschwindigkeit auch nicht als angenehm, aber ich höre sowieso nie auf dieser Stufe, weil mir das immer absurd verlangsamt vorkommt. Auf 1.5x oder 1.75x fand ich die Autorin ehrlicherweise sehr passend, zumal es einen netten Touch hat durch all die Meta-Einordnungen ihrerseits. Dass sie keine professionelle Sprecherin ist, merkt mensch allerdings schon an einigen Stellen (kleine Stocker, unterschiedliches Tempo, unnatürliche Pausen). Ich bin daher hin- und hergerissen, was die Lesung angeht. Ich fand sie nicht optimal, aber auch keineswegs so schlimm wie andere.

Zum Buch selbst: Die Erzählerin (Autorin?) begleitet die Protagonistin und gibt durchweg auf Meta-Ebene Kommentare zur Gestaltung der Handlung ab. Ich persönlich mochte diese stilistische Form gern, auch das sehr häufige und wiederholte Foreshadowing hat mir gut gefallen. Das ist aber generell ein Element, das ich schätze. Die Autorin lässt meiner Meinung nach noch genug Raum für Überraschung und außerdem denke ich, dass es vielmehr um die Botschaften zwischen den Zeilen geht als um die Handlung selbst.

Gleichzeitig ist Wahl in ihren Botschaften auch nicht extrem deutlich. Sie hat ihre Protagonistin nicht unbedingt super sympathisch geschrieben und nur mit Spuren von Selbstreflexion, die dann aber auch quasi nie in ein entsprechend angepasstes Verhalten resultieren. Die Autorin seziert ein sich verschlimmerndes Machtverhältnis, die völlige Ausbeutung in der Verlagsbranche und konkurrenzgeprägte Arbeitsumfelder im Allgemeinen. Durch das oben erwähnte Foreshadowing hat sie bei mir angenehmerweise dafür gesorgt, dass ich weniger beklemmt war. Ich verstehe aber auch, dass das von anderen als zu repetitiv und vorwegnehmend empfunden wird.

Als Hörbuch fand ich den Roman durchaus unterhaltsam, kann aber entsprechend nicht sagen, ob er mir in geschriebener Form nicht zu langweilig gewesen wäre. Insgesamt gesehen passiert schon recht wenig auf den 280 Seiten, da hätte mir ein geringerer Umfang auch gereicht.

Nichtsdestotrotz habe ich Charlotte gern begleitet, auch wenn ich sie nicht lieb gewonnen habe. Doch darum sollte es bei der grundlegenden Kritik auch nicht gehen, die besteht unabhängig von Sympathien. Und gleichzeitig hatte ich nicht den Eindruck, dass Wahl ihre Protagonistin kritiklos betrachtet. Denn diese opfert für ihren eigenen Erfolg auch durchaus Kolleginnen und sehnt sich gleichzeitig nach (weiblicher) Solidarität. Diese Ambivalenz fand ich auf Figurenebene pointiert dargestellt.

Caroline Wahl hat sich hier an etwas für sie literarisch Neues gewagt und ich empfinde den Versuch als gut gelungen. Da es eine durchaus gewagte Erzählform ist, wird der Roman sicherlich weiter polarisieren. Sie wird nicht zu meiner Lieblingsautorin werden (schon aus anderen Gründen nicht) und es gibt auch deutlich bessere Romane über Machtmissbrauch, aber mich hat die etwas skurrile Meta-Ebene abgeholt.

Bewertung vom 17.09.2025
Keßler, Verena

Gym


gut

Bis zur Hälfte ein positiver Rausch, dann wurde es mir zu skurril

Ach, Mensch, wie schade! Ich liebe Verena Keßlers Schreiben seit ihrem letzten Roman „Eva“, deshalb war ich SO gespannt auf ihr neues Buch. Erst recht, als das dann auch noch gut besprochen wurde. Trotz meiner sehr hohen Erwartungen war ich bis zur Hälfte fest davon überzeugt, dass ich ein weiteres grandioses Werk der Autorin in den Händen halte. Naja, und dann kam halt die zweite Hälfte…

Erst einmal zum Positiven: Keßler hat mich mit ihrer Erzählweise gleich zu Beginn eingesaugt und ich hatte einen tollen Lesesog. Die Prämisse der Handlung ist mega spannend und die Protagonistin moralisch grau, aber das mag ich ganz gern. Immer wieder bekommen wir kleine Schnipsel offenbart, die eine dunkle Vergangenheit andeuten - dieses Foreshadowing hat mir gut gefallen. Zudem habe ich darauf hingefiebert, ob und wie die Lüge ihrer angeblichen Mutterschaft auffällt. Auch die Strukturierung des Buches finde ich clever gewählt. Angelehnt an dramatische Akte gibt es thematisch passend drei Sätze. Form und Inhalt greifen so zunehmend ineinander.

Meine Begeisterung bekam ab der Hälfte leider langsam Risse bis ich am Ende doch ziemlich enttäuscht war. Ja, es können gewisse gesellschaftskritische Elemente aus dem Text gelesen werden. So werden Themen wie Mutterschaft, Leistungsgesellschaft und Körperbilder verhandelt. Doch im Vergleich zu „Eva“ verliert sich Keßler meinem Empfinden nach in der skurrilen Überspitzung ihrer Protagonistin. Diese entwickelt eine Körperobsession, die mir einfach too much war, und adaptiert ein Verhalten, das ich teilweise richtig abstoßend fand. Das ist natürlich Geschmacksache und so obsessive Verhaltensweisen sind üblicherweise nicht mein Fall.

Im kurzen dritten Satz wird dann einfach nur noch extrem viel angedeutet, kaum etwas auserzählt und ich bekam abschließend das Gefühl, es mit einer unzuverlässigen Erzählerin zu tun zu haben - auch so GAR nicht meins! Mir fehlte es dann zunehmend an kritischem Biss und ich hatte vielmehr den Eindruck, ein experimentelles Horror-Werk zu lesen. Der Schluss verlor so leider auch an Aussagekraft.

Wer obsessive Geschichten mit Ekelelementen und zunehmend düster werdendem Grundton mag, hat hier ein Buch, das sich auf jeden Fall sehr gut lesen lässt und unterhaltsam ist. Ich bleibe Keßler treu, weil ich den Vorgänger so geliebt habe, aber „Gym“ war für mich leider nur zu etwa 60 % passend.

3,5 ⭐️

Bewertung vom 11.09.2025
Wang, Weike

Die Ferien


ausgezeichnet

Vielschichtige Gesellschaftssatire einer literarisch talentierten Autorin

Weike Wang hat hier ein ehrliches Porträt über langjährige romantische Beziehungen geschrieben und verknüpft sie wie eine Art Kammerspiel intelligent mit gesellschaftlichen Ambivalenzen sowie Differenzen. Keru, amerikanische Chinesin aus einem wohlhabenderen Akademikerhaushalt, und Nate, weißer Erstakademiker, machen Urlaub mit ihren beiden Eltern. Zeitlich getrennt - aus Gründen, wie sich im Laufe der Handlung herausstellt.

Der Culture Clash ist dabei ebenso fein konstruiert wie die Figuren selbst. Wang schafft es auf beeindruckende Art, Stereotype irgendwie gleichzeitig zu bedienen und nicht zu bedienen. Die Charaktere sind vielschichtig und reflektieren über bestimmte eigene Stereotype. So verhandelt die Autorin Fragen zu Verantwortung ebenso wie zu Selbstakzeptanz und Identitätsfindung.

Das ewige People Pleasing Kerus lässt sich damit erklären, dass ihre Eltern sie genau so sozialisiert haben - die in einer rassistischen Gesellschaft wiederum ihre Gründe dafür hatten. Nate kommt aus einer weißen Familie, die sparsam leben musste - entsprechend verständlich ist sein Unwohlsein angesichts luxuriöser Urlaube. Das bedeutet umgekehrt aber auch nicht, dass Kerus Familie in jeglicher Hinsicht über mehr Kapital verfügt. Ich fand die ganzen Ambivalenzen beim Lesen durchaus fordernd, aber ganz toll herausgearbeitet.

Die Ursprungsfamilien beider Hauptfiguren sind wirklich sehr furchtbar und nur dank Wangs bissigem Humor aushaltbar. Überpenibel, gewaltvoll und kühl auf der einen Seite, rassistisch und egozentrisch auf der anderen. Dass die jeweiligen Schwiegerkinder damit ihre Schwierigkeiten haben und nicht so recht wissen, was sie tun sollen, ist nicht nur äußerst authentisch portraitiert, sondern eskaliert auch auf überspitzte Art und Weise.

Der Erzählstil ist durchaus anspruchsvoll, weil die Perspektiven so fließend wechseln. Ich bin da eher Fan von klarerer Abgrenzung, konnte mich aber im Verlauf gut dran gewöhnen. Wang hat ein Talent für eine klare und direkte, zugleich aber auch einfühlsame Sprache, die einen tollen Lesesog entwickelt.

Dabei ist das Werk kein locker-flockiger Sommerroman, sondern regt durch seine sarkastischen und ehrlichen Stellen zum Nachdenken über Privilegien und familiäre Sozialisierung an. Der zweite Teil bricht noch einmal mit der vorherigen Erzählung. Das wirkt im ersten Moment unpassend, ich empfand es aber als eine interessante zusätzliche Sozialstudie - zumal sich die Fronten (Keru: Wohlstand, Nate: Einfachheit) über die Zeit weiter verhärtet haben, die Kinderfrage für sie aber wiederum klar und übereinstimmend geklärt ist.

Dadurch können die Konflikte innenfamiliär noch einmal neu betrachtet und zudem um eine Perspektive der gesellschaftlichen Sicht auf Kinderfreiheit ergänzt werden. Nichtsdestotrotz geht es am Ende unglaublich schnell und bleibt eher undeutlich, das war nicht ganz mein Fall. Insgesamt verbleibe ich aber positiv überrascht von diesem gleichzeitig komplexen und gut lesbaren Werk.

4,5 ⭐️

Bewertung vom 11.09.2025
Schmitt, Caroline

Monstergott


ausgezeichnet

Caroline Schmitt did it again!

Caroline Schmitt hat mich schon mit ihrem Debüt „Liebewesen“ begeistern können und legt mit „Monstergott“ thematisch anders, aber nicht weniger genial nach. Ich bin und war schon immer Atheistin, stand einem Buch über die Dynamiken einer Freikirche daher interessiert und gleichzeitig wachsam gegenüber.

Ich erkenne in ihrem neuen Roman viel aus dem Vorgänger wieder und hoffe sehr darauf, dass sich dieser Stil auch in Zukunft verfestigt. Schmitt schreibt auf eine leise Art über ernste Dinge und setzt einen deutlichen Fokus auf Solidarität und menschliche Unterstützung. Dass sie es ohne extreme Dramaelemente trotzdem schafft, die sexistischen und queerfeindlichen Machtstrukturen religiöser Gemeinden am Beispiel einer Freikirche nicht nur abzubilden, sondern auch einzuordnen, spricht für ihr literarisches Talent.

Das Geschwisterpaar im Fokus, Ben und Esther, erzählt abwechselnd - ein Element, das ich sehr schätze, weil es Geschichten Vielschichtigkeit verleihen kann. Beide sind sehr fest in ihrem Glauben und der Gemeinde verwurzelt, Ben noch einmal mehr als Esther. Letztere begibt sich schon recht früh im Buch in ihren Abnabelungsprozess, weil ihr die patriarchale Auslegung der Bibel aufstößt.

Bens Prozess empfand ich als intensiver und um ein Vielfaches suggestiver. Schmitt deutet hier ganz viel nur an, wird am Ende aber doch klar genug. Auch generell würde ich sagen, dass der Roman seine finale Wirkung erst bei den Lesenden entfaltet und gar nicht einmal so viel klar vorgibt. Ich finde das insofern ausreichend, weil Schmitt es trotzdem schafft, ihre eigene Position zu vermitteln.

Ich habe noch nie Einblicke in religiöse Gemeinschaften gehabt, Kritik insbesondere an christlichen Institutionen aber natürlich zuhauf mitbekommen. Glaube sollte den einzelnen Personen vorbehalten sein, sobald Strukturen jedoch die Macht haben, das „richtiges“ Verhalten zu diktieren, richtet es meiner Meinung nach echten Schaden an. Und das sieht scheinbar auch die Autorin so.

Die Figuren sind vielschichtig und in ihrer teils tiefen Verzweiflung so greifbar, dass ich tatsächlich oft ergriffen war. Nicht zuletzt aufgrund der Liebe und Solidarität, die sich von Religionsvorgaben nicht begrenzen lässt - genau das braucht es, um Menschen von kirchlich geprägten Schuld- und Schamgedanken zu befreien. Außerdem stehen die Betroffenen und ihre Befreiungsgeschichte zu jedem Zeitpunkt im Zentrum - und nicht etwa Rache oder Abrechnung.

Caroline Schmitt schafft es erneut, mich restlos zu begeistern - und das bei einem Thema, dem ich durchaus skeptisch gegenüberstehe (der Glaube an Gott nimmt schon viel Raum ein). Sie schreibt auf eine beobachtende Art, die den Figuren Raum zum Fühlen und den Lesenden Raum für eigene Interpretationen lässt. Ihre Ironie setzt sie an den exakt richtigen Stellen ein, um die Schwere etwas aufzulockern. Ich würde jeden nächsten Roman der Autorin wieder ungesehen lesen!

Bewertung vom 10.09.2025
Lühmann, Hannah

Heimat


gut

Ein fesselnder, bedrohlicher Roman - unter Vorbehalt

[Disclaimer: Die Autorin verpasst es meiner Meinung nach, die von Tradwifes/völkischem Denken ausgehende Gefahr klar abzubilden. Progressive Personen können dies wahrscheinlich für sich selbst weiterdenken, aber Lühmann wird einer wichtigen Verantwortung hier nicht gerecht. Entsprechend sorgsam sollte das Buch besprochen werden.]

Ich fand den Ansatz eines Romans über die Dynamiken von Tradwifes, konkret auch auf Social Media, extrem spannend und mehr als zeitgemäß. Und ich bin überwiegend positiv überwältigt aus dem Roman gegangen, habe dann aber ein wenig zur Autorin recherchiert und weiß nicht mehr so recht, wie ich das Buch einordnen soll.

Erst einmal aber zum Buch: Hannah Lühmann kann zweifelsohne schreiben! Das Buch umfasst gerade einmal 170 Seiten und ist von einer solchen Dichte, dass es seinen Sog am besten entfalten kann, wenn es möglichst am Stück gelesen wird. Lühmanns Schreibstil lässt sich wohl am besten als immersiv bezeichnen, je weiter ich gelesen habe, desto größer wurde mein Gefühl von Beklemmung. Es liegt stetig ein Gefühl von Bedrohung in der Luft, weshalb ich auch nicht wirklich aufhören konnte zu lesen.

Die Autorin setzt eine Protagonistin in den Mittelpunkt der Handlung, die ich als irgendwie unpolitisch bezeichnen würde. Und das meine ich überhaupt nicht positiv (diese Einstellung können wir uns in einer Demokratie schlicht nicht leisten), ich finde das Fallbeispiel aber enorm spannend. Jana ist mit gewissen Dingen in ihrem Leben unzufrieden: die Beziehung zu Noah läuft nicht mehr so richtig, nun ist sie mit ihrem dritten Kind schwanger und fühlt sich irgendwie verloren. Die Nachrichten zu Attentaten und gewaltvollen Ausschreitungen in der Stadt helfen dabei auch überhaupt nicht weiter.

In dieser Situation, kurz nach dem Umzug des Paares auf’s Land, trifft sie Karolin, die ihr Leben als Fünffach-Mutter scheinbar völlig unter Kontrolle hat. Sehr gut abgebildet fand ich die Einflechtungen völkischen Gedankenguts („Urlaub in der Heimat“, „Frau ordnet sich dem Mann unter“, Kleidung …) und die Einblicke in die Dynamik von Algorithmen. Hier auf einen Link im Telegram-Kanal geklickt, dort ein neues fragwürdiges Profil empfohlen bekommen. Diese Hinweise innerhalb des Textes sind extrem subtil und gehen bei längeren Lesepausen ziemlich sicher ebenso verloren wie die Ambivalenz der Figuren. Während die neuen Freundinnen auf dem Dorf zunehmend deutlich mit der #noAfD sympathisieren, haben sie als Teil der wohlhabenden Mittelschicht bspw. kein Problem mit dem georgischen AuPair. Diese Doppelmoral fand ich fein herausgearbeitet.

Das Ende war mir persönlich zu abgedreht und es fügte sich nicht organisch in den vorherigen Stil ein. Ich habe regelrecht mit angehaltenem Atem auf die Auflösung (und Konsequenzen!) gewartet, wurde tendenziell aber eher enttäuscht. Nichtsdestotrotz fand ich die Themen des Romans vielfältig, packend und gut geschrieben. Die Autorin bleibt dabei oberflächlich, ja. Eine klare Einordnung gibt es nicht wirklich, weil die Protagonistin manche Dinge zwar hinterfragt, aber eben auch nicht wirklich in ihrer Tiefe reflektiert. Mir, als dahingehend sehr sensibilisierter Person, genügt es dennoch, weil ich die Gefahr aus genau dieser scheinbaren Harmlosigkeit herauslese.

Doch ich verstehe sehr gut, was daran kritisiert wird. Die Autorin schreibt etliche, teils gewaltvolle Andeutungen in ihren Text hinein, ohne sich dazu zu positionieren oder sie auch nur aufzulösen. Die Interpretation bleibt den Lesenden überlassen. Und so sehr ich das literarisch auch gut und wichtig finde, ist das bei diesem Thema in der aktuellen Zeit einfach nicht mehr genug. Die einzig dagegenhaltende Figur ist Noah und der kommt als irgendwie abwesender Vater nicht sonderlich gut weg. Alles, was sonst so an eventuellem linken Aktivismus stattfindet, wird maximal angedeutet und versandet in der Bedeutungslosigkeit.
Außerdem habe ich eigenartige Aussagen der Autorin selbst gefunden (aka „Tradwifes haben irgendwie auch recht“), zusätzlich schreibt sie für die EMMA, die u. a. bekannt ist für ihre islamfeindliche Position. Da entsprechende Aussagen gegenüber Migrant*innen auch in „Heimat“ vertreten sind, weiß ich nun nicht mehr, wie ich die Autorin einordnen soll. Denn ich bin davon überzeugt, dass Werk und Autor*in sich keinesfalls trennen lassen …

Rein literarisch war es für mich trotz des weirden Endes ein 5-Sterne-Read. Ich muss das Werk aber in Kontext setzen und ziehe dafür deutlich Sterne ab. Denn Tradwifes sind gefährlich - gerade in ihren Elementen, die irgendwie „richtig“ erscheinen. In einer komplexen und krisengeprägten Welt kann sich der Rückzug in eine Scheinkontrolle mit klaren Regeln und Überzeugungen verlockend anfühlen. Doch an diesem Punkt endet der Roman, weshalb die Thematik doch extrem verharmlost (wenn nicht gar romantisiert) wird. Da hätte so viel mehr Potenzial drin gesteckt!

Bewertung vom 10.09.2025
Atwood, Margaret

Hieb und Strich


sehr gut

Eine unterhaltsame Kurzgeschichte auf literarischem Topniveau

Ich habe von Margaret Atwood vorher tatsächlich noch nichts gelesen, aber zu Kurzgeschichten kann ich nur schwer Nein sagen. Und was soll ich sagen: Schreiben kann diese Frau auf jeden Fall!

Atwood erzählt auf einem sehr hohen literarischen Niveau, was diese Kurzgeschichte wirklich sehr dicht macht. Manche Sätze sind so lang und verschachtelt, dass ich sie doppelt lesen musste. Aber insgesamt fand ich das in dem Umfang sehr in Ordnung, einen 300-Seiten-Roman hätte ich so eher ungern gelesen.

Besonders gefallen hat mir auch Atwoods Humor. Eine feine Ironie zieht sich durch die Handlung und die ernsthaften Elemente des Textes dabei keineswegs ins Lächerliche, sondern ergänzt sie um eine unterhaltsame Komponente.

Dass Menschen hier mehr Crime erwartet hätten, kann ich aufgrund des Klappentextes verstehen. Ich bin kein Krimi-Fan, sodass diese Abweichung für mich durchaus positiv war.

Gespickt ist der Text mit ein paar politischen Überlegungen. Manche Elemente habe ich nicht ganz verstanden, etwa die (eventuelle?) Infragestellung von Gender. Hier konnte ich nämlich nicht wirklich rauslesen, ob es sich um die Einstellung der Autorin oder eine ironische Überspitzung handelt. Insgesamt nimmt das alles jedoch weniger Raum ein als die Solidarität unter Freundinnen - aber auch Fragen rund um Schuld und Rache bzw. Wiedergutmachung.

Am Ende lässt die Kurzgeschichte so manches offen und ist doch gleichzeitig handlungstechnisch abgeschlossen. Ein solides und kurzweiliges Werk der Autorin, die mich mit ihrem literarischen Talent und feinen Humor neugierig auf Mehr gemacht hat.

Bewertung vom 05.09.2025
Onhwa, Lee

Kleine Wunder in der Mitternachtskonditorei


sehr gut

Freundlichkeit, Lebensweisheiten und eine gute Portion Spiritualität

Ich habe bereits einige vergleichbare Bücher aus Japan gelesen und erkenne bei diesem koreanischen Roman viele Elemente wieder. Bei dieser Art Literatur geht es weniger um vielschichtige, tiefgründige Protagonist*innen und vielmehr um Weisheiten für das eigene Leben, die selbst interpretiert werden können. Das hat immer etwas Philosophisches, in diesem Fall spielt auch Spiritualität eine größere Rolle. Das muss mensch sich vorher schon bewusst machen, um nicht mit den falschen Erwartungen in die Lektüre zu starten.

Ab und zu finde ich solche Romane wirklich sehr nett. „Kleine Wunder in der Mitternachtskonditorei“ ist meiner Meinung nach eines der besseren Werke dieser speziellen Sparte. Zum einen finde ich es originell, die Geschichten der Verstorbenen ausgehend von einem Gebäck kennenzulernen und damit auch gleich einen Exkurs in die koreanische Küche zu haben. Außerdem mochte ich den Ansatz der Autorin, verschiedenen Formen von Liebe Raum zu geben. Diese lässt sich eben nicht nur in romantischen Beziehungen finden, sondern auch zwischen Geschwistern oder Freund*innen. Nach dem Verlust eines gebliebten Menschen tut es immer gleich weh - ganz egal, um welche Beziehung es sich nun genau gehandelt hat.

Gut zu wissen ist sicherlich auch, dass wir hier vielmehr eine Sammlung in sich abgeschlossener Lebensgeschichten haben, die über das Setting und die Protagonistin Yeonhwa sacht miteinander verbunden sind. Ich fand das sehr in Ordnung, aber es lässt sich darüber natürlich auch keine tiefe Verbundenheit zu den Figuren herstellen. Die Kapitel sind kurzweilig und da wir alle wissen, dass es auf eine noch zu identifizierende Art nicht gut ausgeht, entsteht eine angenehme, nicht angespannte Spannung beim Lesen. Ein wiederkehrendes Problem ist auf jeden Fall mangelnde Kommunikation.

Buddhismus und damit Spiritualität spielen schon eine wirklich große Rolle und ich bin davon ehrlicherweise gar kein großer Fan. Irgendwie war es hier aber sympathisch umgesetzt und ich kann es als einen Teil der Lebensrealität vieler Menschen so hinnehmen. Yeonhwa bleibt beim Lesen wie erwartet eher distanziert - das mag auch einfach an kulturellen Unterschieden liegen. Am Ende bekommen wir aber immerhin einen genaueren Einblick in ihr Schicksal, das hat mir gut gefallen, wenn es auch alles etwas arg schnell ging. Ein paar mehr Seiten und ein wenig mehr Tiefe hätten hier nicht geschadet.

Enttäuscht war ich von der Rolle der Katze - hier habe ich mir einfach mehr erhofft. Und so komplett rund war die Erzählung für mich am Ende auch nicht, obwohl die Autorin überraschend viele Stränge noch zusammengeführt hat.

Alles in allem ein wirklich kurzweiliger und netter Read, aus dem sich sicherlich einige Menschen etwas mitnehmen können. Gerade für Trauernde kann das Buch vielleicht auch eine heilsame Erfahrung sein. Literarisch ist es nun wahrlich kein Meisterinnenwerk, aber das muss ja auch nicht immer der Fall sein. Mit meinen aus Erfahrung stammenden angepassten Erwartungen habe ich das Buch recht gern gelesen.

Bewertung vom 05.09.2025
Buschmann, Alina;L'Audace, Luisa

Angry Cripples - Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus


ausgezeichnet

Eine der besten Anthologien und ein Lese-Muss

Diese Anthologie habe ich fast in einem Zug gelesen! Das liegt an den wirklich herausragend kuratierten Beiträgen, die sich überwiegend sehr leicht lesen lassen und ein vielschichtiges Bild von den Lebensrealitäten behinderter, chronisch kranker und neurodivergenter Menschen zeichnen. Zwei Beiträge sind in Bildform, der Rest in kurz gehaltenen Texten gestaltet.

Wie immer und völlig akzeptabel bei Anthologien: Manche Texte haben mich mehr erreicht als andere. Die Beiträge von Chris Lily Kiermeier, Jasmin Dickerson, Irina Angerer und Tanja Kollodzieyski haben mich besonders begeistert.

Das Buch sollte nicht als ein Einstiegswerk zum Thema Ableismus verstanden werden. Es ist vielmehr eine unglaublich wichtige Ergänzung zum theoretischen Wissen, für das ich bspw. „Behindert und Stolz“ von Luisa L’Audace empfehlen kann. Denn die reine Theorie kann uns als Gesellschaft nicht ausreichend weit bringen, wenn wir unter Ableismus leidenden Menschen in ihrer Vielfalt nicht zuhören. Und genau das schafft dieses Werk auf kurzweilige und eindringliche Art.

Absolute Empfehlung!

P.S.: Vom Umgang der Herausgeberinnen mit den Vorwürfen gegen einen der Autoren können sich richtig viele Menschen im Literaturbereich etwas abgucken! Der Betroffenen wurde geglaubt und der entsprechende Beitrag ab der folgenden Auflage sowie dem Hörbuch (das sowieso zu empfehlen ist) gestrichen. So und nur so sollte es sein!