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nessabo

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Insgesamt 206 Bewertungen
Bewertung vom 31.10.2025
Dörrie, Doris

Wohnen


gut

Ein netter Essay zwischen Anekdotischem und Politischem

Ich kenne Doris Dörrie nur ansatzweise von ihren Filmen und fand den Themenkomplex rund ums Wohnen durchaus reizvoll. Nach der Lektüre würde ich sagen, dass sich auch dieses Buch gut in die Leben-Reihe des Verlags einfügt, ich jedoch selten viel aus den Werken mitnehmen kann.

Grundlegend schreibt Dörrie durchaus kurzweilig und teilweise humorvoll, ohne dabei den Blick für strukturelle Probleme zu verlieren. Sie vermischt in ihrem Essay Erinnerungen aus ihrem Leben mit feministischer und antikapitalistischer Analyse. Selbstredend kann in einem so kurzen Text wie diesem nicht tiefgreifend kritisiert werden, aber ich fand die vielen Elemente rund um Wohnungsnot, Klassen-Privilegien und sexistischer Rollenzuschreibung sehr wichtig. Ohne sie hätte mir definitiv die politische Komponente gefehlt.

Die Nähe und Liebe zu Japan ist der Autorin auf jeden Fall anzumerken - angenehmerweise aber ohne die starke Romantisierung, die ich in westlichen Diskursen zu Japan oft wahrnehme. Stattdessen gibt es einfach deutsche, us-amerikanische und japanische Elemente, die im Leben Dörries eine Rolle spiel(t)en. Nebenbei gibt sie uns auch immer wieder Einblicke in ihren Schreibprozess sowie ihr Schaffen als Regisseurin.

Insgesamt also eine sympathische und authentische Autorin sowie ein nett zu lesender Text, für mich aber mit wenig Potenzial für tiefgreifende Reflexionen. Wer Essays grundsätzlich schätzt, kann getrost zu diesem greifen und wird sicherlich auch etwas daraus mitnehmen können.

3,5 ⭐️

Bewertung vom 31.10.2025
Fallwickl, Mareike;Reisinger, Eva

Das Pen!smuseum - Mit Texten von Jovana Reisinger, Sophia Süßmilch und Illustrationen von Andrea Z. Scharf


ausgezeichnet

Ein „Female Rage & Revenge“-Fest!

Ich war bei Ankündigung der Buchveröffentlichung sehr enttäuscht von den beiden Autorinnen, weil sie ursprünglich eine transfeindliche Person mit einem Textbeitrag integrieren wollten. Noch immer habe ich meine Schwierigkeiten mit der Begründung, die Position dieser Autorin sei nicht bekannt gewesen. Aber nichtsdestotrotz wurde ihr Beitrag ab Auflage 1 herausgestrichen und das finde ich die einzig richtige Konsequenz.

Froh bin ich über die Entscheidung auch aus dem egoistischen Grund, dass dieser Roman einfach so dermaßen eine Tour de Force ist, dass ich gnadenlos gut unterhalten wurde. Das Autorinnenduo ist ein absolutes Geschenk für mich, beide kenne und schätze ich schon von ihren eigenen Werken. Und zwar ganz genau für das, was dieses Buch mir auch wieder geschenkt hat: weibliche Wut, ein bisschen Rache und ganz viel Frauensolidarität (die Figuren sind allesamt Frauen, andere Geschlechter außer cis Männer werden in aktivistische Taten aber natürlich ebenso integriert).

Ich finde es bemerkenswert, wie gut die beiden Autorinnen hier wirklich zusammen geschrieben haben, ohne dass zwischen den sehr kurzen Kapiteln ein Cut im Ton wahrnehmbar wäre. Unterstützt wird das sicherlich durch die kluge Entscheidung, personell zwar innerhalb einer abgegrenzten Personengruppe zu arbeiten, die Handlung aber nicht streng stringent zu schreiben. Die Kapitel sind enorm kurz, entsprechend snackt sich das gesamte Buch wirklich easy weg. Einzig die beiden Gastbeiträge empfand ich sprachlich als wahrnehmbar abweichend und müsste ich etwas kritisieren, dann wäre es das.

Dass der Lesesog so extrem ist, begrenzt aber nicht die Ernsthaftigkeit des Inhalts. Thematisch wird die schiere Masse an Diskriminierung und Gewalt angegangen, die zur Lebensrealität von weiblich gelesenen Personen gehört: restriktive 6ualität und allgemein reglementierte Verhaltensweisen, 6ualisierte sowie häusliche Gewalt oder die kräftezehrende Lebensrealität einer Dreifach-Mutter in Kontrast zum Dreifach-Vater.

Was mich besonders freut und was ich von beiden Autorinnen schon gewohnt bin: Der gesamte Text basiert auf viel, extrem viel, weiblicher Solidarität. Nicht nur bei gemeinsamen Taten, auch weniger extrem etwa beim gemeinsamen, ungehinderten Essen ohne Besteck, beim Raumnehmen mit ihren Körper oder in klarer Kommunikation mit Männern, die „Komplimente“ über die Abwertung anderer Frauen verteilen. Freundinnen, die die frischgebackene Mutter in ihrer 6positivität bestärken. Alte wie junge Frauen, die solidarische Banden bilden und vielleicht das ein oder andere Ding drehen. Banden, um Frauen aus Polen bei Abtreibungen zu helfen … die Liste geht endlos weiter.

So gelingt es auch, dass die Schwere mancher Kapitel wohltuend aufgefangen wird. Alle Kapitel haben einen humorvollen Grundton, der sich aber auch unterscheidet und mal mehr mal weniger deutlich hervortritt. Manche funktionieren über die Umkehrung der aktuellen Verhältnisse, die sicherlich nicht tatsächlich gefordert wird, wohl aber die Ungerechtigkeit und Überheblichkeit dieser männerdominierten Welt offenlegt. Ob Victim Blaming nach Übergriffen oder das ständige Unterbrechen eines Mannes in Gesprächen - ich mag dieses Stilmittel literarisch sehr.

Viele andere Stellen haben mich eifrig zum Nicken gebracht. Zum Beispiel wenn cis Männer ihre hegemoniale Männlichkeit reflektieren und dafür am liebsten mit tosendem Applaus belohnt werden wollen. Oder bei dem Anspruch, 6arbeitende aus ihrer „Lage“ „befreien“ zu müssen. Ich war auch beklemmt, etwa bei einem Text, der immer wieder den Fall Gisèle Pelicots erwähnt.

Großartig - anders kann ich das Buch nicht bewerten und ich lege es allen ans Herz, die manchmal oder oft wütend sind über patriarchale Strukturen. Für mich funktioniert dieses Subgenre dahingehend nämlich hervorragend.

PS: Die Buchgestaltung toppt alles! Tolle Illustrationen innen wie außen und allen Ernstes auch noch ein Daumenkino auf den Seiten?!

Bewertung vom 31.10.2025
Tsumura, Kikuko

Lasst mich einfach hier sitzen und Yakisoba essen


sehr gut

Ein unterhaltsames Stück japanischer Literatur mit ernsten Elementen

Mein Urteil zu japanischer Literatur war bislang recht ausgewogen: Mal fand ich sie toll, mal traf sie nicht meinen Geschmack. Entsprechend gehe ich neugierig und offen an neue Werke heran und konnte mich von „Lasst mich einfach hier sitzen und Yakisoba essen“ positiv überraschen lassen.

Anfänglich hatte ich noch Bedenken, dass mir die distanzierte, emotional eher oberflächliche Erzählweise zu kalt sein könnte. Denn grundsätzlich mag ich Geschichten mit hoher Emotionalität und/oder unperfekten Protas. Und ja, auch hier bleiben wir schon wirklich sehr an der Oberfläche, aber das halte ich für ziemlich authentisch und da der Roman wirklich unterhaltsam ist, konnte ich sehr gut damit leben.

Die namenlose Protagonistin sucht nach ihrem Burnout einen neuen Job und bekommt von ihrer Arbeitsvermittlerin (übrigens ein absoluter Engel der Geschichte - wäre es doch nur in der Realität auch öfter so) insgesamt fünf verschiedene Stellen vorgeschlagen. Alle Jobs sind wirklich sehr skurril und/oder zehrend langweilig, etwa das Verfassen kurzer Snacktütentexte oder die digitale Observierung einer Person. Ich sehe hier gewisse Parallelen zu sogenannten Bullshit-Jobs, da all diese Tätigkeiten ziemlich banal oder sogar überflüssig wirken. Wenn diese Analogie von der Autorin beabsichtigt war, schreibt sie sie auf jeden Fall äußerst kreativ!

Alle Jobs eint aber etwas, das durchaus als Kritik am neoliberalen Kapitalismus verstanden werden kann: Der Job wirkt sich zunehmend auf das Privatleben aus und nimmt die Hauptfigur teilweise sogar komplett ein. So freundlich und hilfsbereit die Vorgesetzten und das Kollegium auch immer sind (auch das sehr japanisch geschrieben), die Lohnarbeit nimmt im Leben spürbar zu viel Raum ein.

Ich fand nicht nur die Auswahl der Arbeitsstellen kreativ und unterhaltsam, sondern auch die Ausübung des jeweiligen Jobs. Denn immer passieren komische Dinge, welche die Hauptfigur zu verstehen und lösen versucht. Diese kleinen Spannungsmomente haben meinen Lesefluss enorm gesteigert und waren gleichzeitig nicht ZU spannend!

Positiv erwähnen möchte ich auch, dass hier wiederholt über psychische Erkrankungen, konkret auch durch die Lohnarbeit bedingte, gesprochen wird. Es bleibt stets bei der Nennung, da wir die Figuren auch einfach nicht so tiefgreifend kennenlernen, aber ich halte das bereits für bahnbrechend im japanischen Literaturbereich. Da der persönliche Karriereweg noch einmal von so viel mehr Erwartungen begleitet ist und psychische Erkrankungen entsprechend deutlich mehr stigmatisiert sind als in Deutschland, finde ich diese wiederholten Anmerkungen ganz stark! Da müssen die eigenen Erwartungen meiner Meinung nach auch an die gesellschaftlichen Umstände des Ursprungslandes angepasst werden und so verlange ich nicht, dass bspw. eine Depression auf Figurenebene noch einmal detailliert ausgebreitet wird.

Mit dem Schluss bin ich vor diesem Hintergrund allerdings nicht ganz zufrieden und an manchen Stellen hatte der Text auch seine Längen. So scharfzüngig, wie der Klappentext vermuten lässt, fand ich den Roman zwar bei Weitem nicht, doch insgesamt war es wirklich eine überraschend unterhaltsame und gut lesbare Lektüre, die ich Menschen mit Interesse an japanischer Literatur mit einem gewissen kritischen Element sehr ans Herz lege.

Bewertung vom 31.10.2025
Popov, Maria

Kein Bock Club


ausgezeichnet

Ein wohltuendes, lehrreiches und rundum empfehlenswertes Buch!

So richtig viel möchte ich zu dem Buch eigentlich gar nicht sagen, außer: Lest es! Maria Popov ist eine unglaublich sympathische Person, die Ambivalenz und Komplexität in einem so umkämpften Feld abzubilden vermag. Das tut sie charmant, nahbar, verständlich und empathisch - ich hatte wirklich eine ganz tolle Zeit mit dem Hörbuch, das unmöglich besser hätte eingesprochen werden können als von der Autorin selbst. Popov macht hier an jeder Front eine außerordentlich gute Figur!

Ich denke, dass hier einfach alle Menschen etwas mitnehmen können, ganz unabhängig von Geschlechtsidentität oder 6ualität. Ich mochte Popovs Appell an unsere Gesellschaft, sich wegzubewegen von der Allonorm, weg von 6 als beziehungsdefinierendes Kriterium, und hin zu einem solidarischen Miteinander, das Raum für die vielen individuellen Lebensstile lässt. Die Fokussierung auf 6 in unserer Gesellschaft ermöglicht nicht nur eine schiere Fülle an Gewalt, Abwertung und Verunsicherung, sondern wertet auch Beziehungen. Freund*innenschaften sind damit automatisch weniger wert als romantische Partner*innenschaften und die wiederum benötigen als Echtheitszertifikat natürlich auch ein erfülltes 6leben.

Ich mag die Idee eines 6kritischen Feminismus, in dem Bock und Kein-Bock nebeneinander existieren können, der aber gleichzeitig 6positivität nicht abwertet. Was für die einen Befreiung ist, ist für die anderen ein immenser Performancedruck und der Kampf um Zugehörigkeit. Popov wertet an keiner Stelle, inkludiert 6arbeit in ihren Feminismus und hat damit meine volle Sympathie gewonnen. Sie verwebt persönliche Erfahrungen mit Witz und unglaublich vielen Referenzen. Ob Pick me Girls, Ethnosexismus oder queerplatonische Beziehungen: Vieles war mir nicht unbedingt neu, aber so manches doch erleuchtend.

Am Ende habe ich mich verstanden gefühlt von diesem Buch, das darauf abzielt, Menschen auch innerhalb feministischer Bubbles nicht in eine Schubladen zu pressen, sondern Räume zu schaffen, in denen wir selbst entscheiden können, wer wir wirklich sind und was genau wir wie oft wollen. Denn warum geht es in Lust-Debatten immer nur darum, die Gründe für Kein-Bock herauszufinden und nicht vielmehr darum, warum wir das nicht einfach als individuell und normal akzeptieren können?

Ein solcher Raum ist dieses Buch.

Bewertung vom 31.10.2025
Kolb, Elli

Das Leuchten des Himmels an dunklen Tagen


sehr gut

Authentische Trauergeschichte trifft auf Taubenliebe

Eins vorweg: Dass Elli Kolb hier einen so starken Fokus auf Tauben und besonders auch Taubenhilfe setzt, bekommt von mir unzählige Pluspunkte! Es ist spürbar, dass diese missverstandenen und oftmals sogar misshandelten Tiere der Autorin am Herzen liegen, denn so empathisch habe ich noch in keinem Roman über Tauben lesen dürfen. Ganz viel Liebe für Elli Kolb an der Stelle!

Und auch sonst finde ich ganz viel Positives an Kolbs zweitem Roman. „9 Grad“ war letztes Jahr ein sanftes Highlight über Freund*innenschaft und die Rückeroberung der eigenen Körperwahrnehmung, das mir noch einmal besser gefallen hat. Doch auch in ihrem neuen Werk schlägt die Autorin wieder diesen ruhigen und beobachtenden, aber nicht minder eingängigen Ton an.

Romy durchläuft nach dem Tod ihres Opas eine Trauerphase, durch die ihr nicht nur Freund*innen, sondern eben auch Tauben helfen. Diese bilden zudem eine Art Bindeglied zu dem Verstorbenen, der sich selbst hingebungsvoll für deren Wohl einsetzte. Als Romy sich nun um eine an PMV erkrankte Taube kümmern muss, bindet sie das auf eine ganz neue Art ans Leben.

Der Roman ist keine Trauergeschichte und doch wird Trauer überaus authentisch dargestellt. Diese Ambivalenz empfinde ich insofern, dass mich die Handlung nicht runtergezogen und stattdessen emotional eher etwas auf Distanz gehalten hat. Für eine trauernde Person finde ich das sehr glaubhaft, denn der Rückzug ins Innere gehört ein Stück weit dazu. Einige Szenen haben mich zu Tränen gerührt, weil ich es sehr gut nachfühlen kann, dass das Kümmern um hinterbliebene Lebewesen erschütternd und stabilisierend gleichermaßen sein kann. Der anfängliche Zusammenbruch der Taube sowie ihre fortschreitende Genesung sind eine tolle Analogie zum Trauern Romys.

Ebenso mochte ich wieder einmal die sanfte Figurenzeichnung! Die Beziehungen untereinander sind loyal und unterstützend, was die Bücher Kolbs zu einem umarmenden Leseerlebnis macht. Ich muss allerdings auch sagen, dass ich die Protas im Debüt stärker fand, ihre Bindung zueinander intensiver und interaktiver. Das kann hier durchaus am Thema liegen, welches uns naturgemäß viel enger und isolierter bei der Hauptfigur hält. Bei einigen Nebenfiguren hätte ich mir dennoch ein bisschen mehr Tiefe gewünscht.

Das hohe Maß an Introspektion ist total authentisch für eine trauernde Person, sorgte beim Lesen aber auch für die ein oder andere Länge. Gerade zum Ende hin fiel es mir schwer, emotional bei Romy zu bleiben. Das kann allerdings auch an meiner eigenen aktuellen Trauer liegen, wegen der ich mich vielleicht selbst etwas distanziere.

Elli Kolb bleibe ich auf jeden Fall treu, weil mich ihre sanfte Art zu schreiben sehr berührt. Sie lässt ihren Figuren spürbar Raum, um sich selbst zu entfalten, schreibt deren Geschichte nur auf. Ihr zweiter Roman hat mich etwas weniger erreicht als ihr Debüt, was überwiegend am Thema und ein bisschen an der Figurentiefe lag. Und doch möchte ich, dass richtig viele Menschen ihn lesen und dabei ihr eigenes Mitgefühl für Tauben finden können (und nebenbei viel über sie lernen).

4,5 ⭐️

Bewertung vom 22.10.2025
Rytisalo, Minna

Zwischen zwei Leben


gut

Ein besonderes Werk voller feministischer Gedanken - erzählerisch für mich zu distanziert

Ganz ehrlich: Ich bin ziemlich überrascht, wie gut es mir im letzten Drittel doch noch gefallen hat! Es lohnt sich definitiv, an der Geschichte dranzubleiben, wenn mensch über den besonderen, eher kühlen Erzählstil hinwegsehen kann (oder ihn alternativ einfach mag).

Denn so spannend ich die Geschichte rund um eine frisch getrennte Frau in ihrer zweiten Lebenshälfte fand, kam ich mit der Erzählperspektive lange Zeit gar nicht klar. Im Endeffekt gibt es sogar drei wechselnde Erzählperspektiven: eine Erzählstimme, die fast schon reportagenhaft in der dritten Person über Jenny schreibt; die Briefe aus der Ich-Perspektive der Protagonistin und schließlich die Ajattaras, die wie eine Art innere Stimme mit und über Jenny sprechen.

Ich brauche wirklich Geschichten, die mich emotional aufnehmen. In denen ich die Protagonistin fühlen und ihr Leben ein kleines Stückchen mitleben kann. Und das schafft die Autorin durch ihre sehr kühle, distanzierte Sprache nicht. Wahrscheinlich war das auch nicht beabsichtigt und der Roman ist in jedem Fall sehr besonders, aber ich hatte damit wirklich große Schwierigkeiten. Besonders am Anfang habe ich ganze Passagen übersprungen, weil ich mich nicht auf den Text konzentrieren konnte.

Dabei stecken so wichtige Gedanken und auch echter feministischer Widerstand in dieser Geschichte! Besonders oft geht es natürlich um gesellschaftliche Ansprüche an explizit auch ältere Frauen, was eine in der Literatur noch immer unterrepräsentierte Gruppe ist. Doch die teils wütenden und provokanten Reflexionen der Protagonistin sind selten leicht greifbar. Oftmals stecken sie fast zwischen den Zeilen und da mir der sprachliche Stil so wenig zugesagt hat und zu distanziert war, habe ich die Gedanken nicht immer erfassen können.

Die Märchenfiguren sind eine so kreative Idee und konnten mich schlussendlich doch eher begeistern. Sie reden über ihre eigenen Leben, die schließlich zu Märchen umgedichtet wurden - mit dem Ziel, Mädchen und Frauen restriktive gesellschaftliche Normen zu vermitteln. Die Kapitel fand ich am Anfang noch wenig verständlich, aber nach einer Gewöhnungsphase habe ich an ihnen durchaus Gefallen gefunden. Die Autorin traut sich meiner Meinung nach wirklich etwas und geht mit viel Talent an die Kehrseite der Märchen heran. In meinem Kopf habe ich immer versucht, diese neuen Erzählungen mit den bekannten Märchen zu verknüpfen, was mir nicht oft gelungen ist. Ich bin aber davon überzeugt, dass es sowieso genau darum nicht gehen soll, sondern dass die Autorin damit aufzeigen möchte, dass Märchen wirklich völlig konstruiert und fern jeglicher Realität sind. Gleichzeitig wird aber auch ihre Macht deutlich: sie vermitteln klare Bilder über weibliche(s) Körper, Lust, Leben und Lieben.

Was mir auch sehr gut gefallen hat und was ich lobenswert erwähnen möchte, ist, dass die Autorin in ihrem Text über ein binäres Geschlechtersystem hinaus denkt. So erklärt sie bspw. ganz nebenbei, dass Geschlechtsteile nichts mit Geschlechtern zu tun haben.

Ein abschließendes Urteil oder gar eine Empfehlung fällt mir entsprechend sehr schwer. Zum Ende hin fand ich die Entwicklung der Hauptfigur richtig gut. Ihr Ausbrechen aus Strukturen, das gleichzeitig sehr ehrlich und nicht heroisch dargestellt wird, ist bemerkenswert und stark. Es wird wiederholt klar, dass es kein leichter Weg ist hin zum Überwinden patriarchaler Narrative, dass sich dieser Weg aber lohnt. Doch trotz meines positiveren Gefühls am Ende war das Werk mir persönlich einfach zu experimentell, zu dynamisch, zu emotional distanziert. Wer sprachliche Besonderheiten und eine ernsthafte Auseinandersetzung älterer Frauen mit ihrem patriarchal geprägten Umfeld sucht, hat hier wahrscheinlich mehr Freude.

2,5 ⭐️

Bewertung vom 17.10.2025
Engler, Leon

Botanik des Wahnsinns (MP3-Download)


sehr gut

Stilistisch und sprachlich nicht ganz meins, inhaltlich aber ergreifend

Der Roman hat in meinem Umfeld wirklich viel Begeisterung erfahren, außerdem ist das Cover ein optischer Traum und so war ich sehr neugierig auf das Debüt Leon Englers. Und ich bleibe so fasziniert wie unschlüssig zurück.

Johannes Nussbaum hat das Hörbuch wirklich fantastisch umgesetzt. Ich kannte den Autor bislang gar nicht und hatte doch beim Hören das Gefühl, er liest die Geschichte selbst vor. Ein Perfect Match von Sprecher und meiner Vorstellung der Autorenstimme! Da doch einige Fachbegriffe und spezifische Autor*innen sowie deren Werke referenziert werden, war das Hörverständnis manchmal erschwert. Gleichzeitig bin ich mir sicher, dass ich beim Lesen aus anderen Gründen mehr Schwierigkeiten gehabt hätte, sodass für mich das Hörbuch die richtige Wahl war.

Denn stilistisch und literarisch hat mir „Botanik des Wahnsinns“ weniger gut gefallen. Ich kann objektiv nachvollziehen, warum es dahingehend begeistert, aber ich habe immer meine Schwierigkeiten mit einer eher distanzierten, abgehackten Erzählweise. Die vielen Referenzen zu Philosoph*innen waren mir zu trocken, die geschichtlichen Hintergründe im Bereich Psychiatrie fand ich wiederum äußerst lehrreich.

Rein literarisch wäre es für mich eher ein 3-Sterne-Buch. Doch Leon Engler schreibt, wenn auch distanziert, so greifbar und menschlich über psychische Erkrankungen, dass es mich wirklich ergriffen hat. Der Autor kritisiert subtil, aber doch deutlich das aktuelle Psychiatrie-System, ohne dabei den darin tätigen Menschen die Schuld daran zu geben. Er wirft Fragen zu einer gesellschaftlich markierten Normalität und zu Heilung auf, die mich regelrecht aus der Fassung gebracht haben.

„Es gibt keine Erlösung, keine Vergebung, nur die Akzeptanz dessen, was ist“

Und während mir die vielen zeitlichen Sprünge und der wechselnde Fokus auf verschiedene Familienmitglieder zu wild waren, blitzt doch immer wieder durch, mit wie viel Respekt Engler diese Personen ansieht. Das zeigt sich auch in seinen Gesprächen mit Patient*innen und ich wünsche mir mehr Therapeut*innen wie ihn. Das Buch erscheint mir, nach Lektüre seiner Biografie, mindestens autofiktional. An sich ist das auch egal, aber es lässt mich wirklich den Hut ziehen vor diesem Autor. Diese Sezierung vererbter Traumata und Erkrankungen ist mutig, anders kann ich es nicht sagen. Und dass Engler dabei so verständnisvoll bleibt, obwohl auch Wut über die eigene Situation angemessen gewesen wäre, beeindruckt mich sehr.

Ein Buch, das mich zwar literarisch nicht so sehr abgeholt, dafür aber emotional trotzdem nachhaltig bewegt hat. Es wirft Fragen auf, die nachhallen und die bestenfalls eine öffentliche Debatte über Psychiatrie und den Umgang mit Erkrankten anstoßen.

Bewertung vom 17.10.2025
Bähr, Julia

Hustle


ausgezeichnet

Genial, unterhaltsam, kritisch

Wow, was habe ich „Hustle“ gern gelesen! Und nicht nur hat mir die Lektüre großen Spaß gemacht, sondern die Autorin ist mir auch noch so sympathisch, dass ich sie nun auf jeden Fall im Blick behalte.

„Hustle“ ist der erste Roman der Autorin, der nicht dem Romance-Genre zuzuordnen ist. Stattdessen geht es hier ganz zentral um solidarische, platonische Beziehungen, die einfach eine echte Seelenwärmerin sind.

Leonie zieht nach München, nachdem sie sich von ihrem ehemaligen Chef mit einer kleinen, aber sehr feinen Racheaktion verabschiedet hat (pssst: Kresse spielt dabei die charmante Hauptrolle). Dort angekommen wird sie mit der Realität des deutschen, innerstädtischen Wohnungsmarktes konfrontiert. Im Falle Münchens natürlich in einem ganz besonders verheerenden Ausmaß. Das völlig unmenschliche Niveau der Lebenshaltungskosten spielt im Roman immer wieder eine Rolle und wird auch klar als Systemproblem benannt.

Um in ihrer immer noch unwürdigen Mini-Wohnung halbwegs über die Runden zu kommen, verwandelt sie ihr kreatives Talent für Racheaktionen in einen Side-Hustle um, der in starkem Kontrast steht zu ihrem Hauptjob bei der Zoologischen Staatssammlung. Dort bestimmt sie eine schier unendliche Zahl an Insekten-Exponaten. Der Job ist trostlos-speziell, sorgt aber dennoch für einige wichtige Begegnungen.

Um Liebesbeziehungen und Lebensentscheidungen, die das Patriarchat gerade von Frauen fordert, geht es maximal am Rand. Im Zentrum der Handlung steht ein Vierergespann sehr diverser Frauen - alle durch ein mehr oder weniger kriminelles Side-Hustle geeint. Von drei Frauen wird relativ schnell klar, um was es genau geht. Um die vierte ranken sich schwerwiegende Gerüchte, die erst zum Schluss auf äußerst gelungene Art aufgelöst werden.

Die Freund*innenschaften im Buch sind absolut wholesome! Kein Konkurrenzdenken, stattdessen solidarische Kritik und Unterstützung - eben genau, wie viele reale Freundinnenschaften eben sind, auch wenn männlich dominierte Literatur uns gerne das Gegenteil einreden will.

Ich habe eine unglaublich gute Zeit gehabt beim Lesen. Die Kapitel sind kurz, die Figuren interessant und die Gesellschaftskritik deutlich, was dem Unterhaltungswert der Geschichte jedoch nicht abträglich ist. Emotionalität spielt bei den Figuren eine eher untergeordnete Rolle, die Geschichte ist schon primär handlungsgetrieben. Aber ich fand es exakt passend und mochte die unterhaltsam ironische Erzählweise total. Und wenn ich euch sage, dass ihr unter Garantie spätestens nach der Lektüre in ein Rabbit Hole zum Thema Schleimpilz fallen werdet, könnt ihr doch unmöglich Nein sagen zu diesem Roman, oder?!

Bewertung vom 17.10.2025
Handorf, Anne

Es könnte so einfach sein


weniger gut

Nette Idee, zu seichte Umsetzung

Grundsätzlich fand ich die Ausgangssituation und das Versprechen, aus weiblicher Sicht Einblicke in den Literaturbetrieb zu bekommen, reizvoll. Doch schon nach einem Drittel des Buches habe ich gemerkt, wie ich mich fast zur Aufmerksamkeit zwingen musste, weil mir der Inhalt zunehmend belanglos vorkam.

Die Erzählung auf zwei Zeitebenen mochte ich grundlegend, hätte mir zur präziseren Einordnung beim Lesen aber einen visuellen Hinweis gewünscht, etwa eine kleine Abtrennung. Die Kapitel beginnen in der Vergangenheit und gehen dann recht nahtlos auf einmal in die Gegenwart über. Die bloße Trennung über Absätze geht mir da nicht weit genug und ich war wiederholt irritiert.

Die Einblicke in das Leben einer Schriftstellerin sowie den sexistischen Literaturbetrieb erscheinen mir zwar authentisch, aber auch etwas oberflächlich abgehandelt. Gern hätte ich Vera emotional tiefer kennengelernt, doch sie blieb mir eigentlich durch die Bank weg wenig greifbar. Das ein oder andere Thema, das mit etwas Willen als feministisch eingeordnet werden könnte, wurde zwar noch angeschnitten. Doch auch hier fehlte mir eine tiefgehende Systemkritik.

Und dann gibt es noch die Absätze, in denen Vera ihr Buch schreibt und wir parallel sozusagen in ihrem Roman lesen. So interessant das vielleicht hätte sein können, fand ich es doch einfach nur irritierend und ehrlicherweise recht uninteressant. Es sind zwar insgesamt gesehen umfängliche Passagen aus der Geschichte in die Haupthandlung eingebettet, aber logischerweise nicht einmal ansatzweise so umfänglich wie in einem echten Buch. Und das lässt diese Nebenerzählung für mich ziemlich irrelevant wirken.

Zum Ende hin fiel mir die Lektüre leider zunehmend schwer. Das liegt nicht so sehr am Erzählstil, denn grundsätzlich wurde hier auf eine zugängliche Sprache gesetzt. Aber es blieb für meinen Geschmack zu oberflächlich, zu sehr seichte Unterhaltung. Da ist das Buch meinem Anspruch nicht gerecht geworden. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass ich nicht ganz die passende Zielgruppe bin, da ich mich alterstechnisch der Protagonistin oft fern gefühlt habe. Immerhin liegen auch 2 Generationen zwischen uns.

2,5 ⭐️

Bewertung vom 16.10.2025
Schoeters, Gaea

Das Geschenk


ausgezeichnet

Unglaublich effizient geschriebene Gesellschaftssatire

An den Anfang meiner Rezension stellen möchte ich meine absolute Genervtheit angesichts des Covers. KI-generierte Cover sind meiner Meinung nach ein Albtraum für die Literaturlandschaft, künstliche Intelligenz hat in diesem Feld mal so gar nichts verloren - auch nicht bei der künstlerischen Gestaltung eines Buches. Das k*tzt mich also sowieso schon an, in Kontrast zum gesellschaftskritischen Ton des Textes ist die Wahl des deutschen Verlags aber noch einmal besonders absurd. Einen halben Stern ziehe ich dafür ab.

Nun aber zum Buch: Es war mein erstes von Gaea Schoeters und sicher nicht das letzte! Die Autorin hat mich enorm begeistert mit ihrer präzisen Sprache, die doch gleichzeitig so viel Raum für Doppeldeutigkeiten lässt.

Ich möchte eigentlich gar nicht so viel zum Inhalt sagen, denn mit seinen 140 Seiten ist das Werk meines Erachtens eines, bei dem mensch nicht wirklich etwas falsch machen kann. Wir befinden uns stets an der Seite von Bundeskanzler Winkler und damit mitten in einem Machtzentrum. Entsprechende Dynamiken sowie Diplomatie finde ich sehr authentisch und zugleich unkompliziert herausgearbeitet. Ich hing einfach an Schoeters Worten, anders kann ich es nicht sagen.

Die Doppeldeutigkeiten nehmen auch kein Ende. Klar, es geht hier um 20.000 Elefanten, mit denen Deutschland nun zu leben lernen muss. Ich sehe hier sehr viel Spielraum für eigene Interpretationen und sicher ist das von der Autorin auch so gewollt. Ich habe z. B. einige Parallelen zum Umgang mit Geflüchteten gesehen. Das Ganze lässt sich aber problemlos auch übertragen auf einen allgemeinen Umgang sogenannter westlicher Staaten mit globalen Krisen: immer schön wegreden und symptomatisch bekämpfen. Welche Tragweite eine kleine Entscheidung heute in der Zukunft haben kann, wird hier mehr als deutlich.

Ich bin begeistert von Schoeters intelligentem Schreiben, ihrem Gespür für Komplexität und der gleichzeitigen Gabe, diese Dinge verständlich zu formulieren. Die Antagonistin unseres Protagonisten ist eine wirklich toll geschriebene Person, die mich beeindruckt und ermutigt hat.

„Das Geschenk“ ist inhaltlich kein Buch, das ich als leicht bezeichnen würde. Es ist ein Paukenschlag, der jedoch mit einem guten Maß an Humor und einer enormen Sogkraft daherkommt. Der Roman lässt sich zwar super leicht weglesen, hallt aber definitiv nach und zwingt uns dazu, uns mit unserer globalen Verantwortung auseinanderzusetzen. Eine Satire, die alles andere als platt ist und deren Lektüre ich allen dringend ans Herz lege.

4,5 ⭐️