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VolkerM

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Insgesamt 212 Bewertungen
Bewertung vom 23.12.2025
Wagner, Malene

Modern Japanese Printmakers


ausgezeichnet

Japanische Holzschnitte hatten seit dem Expressionismus einen bedeutenden Einfluss auf die westliche Kunst. Auch der Jugendstil zog wesentliche Elemente aus den eleganten Bildfindungen japanischer Druckgrafik, die am Ende des 19. Jahrhunderts in gewaltigen Mengen nach Europa exportiert wurde. Aber es gab auch den umgekehrten Weg: Europäische Einflüsse wanderten zurück nach Japan und inspirierten die dortigen Künstler. Marlene Wagner hat für ihr Buch Beispiele für den modernen japanischen Holzschnitt gesucht und etwa drei Dutzend Künstler und Künstlerinnen mit ihren Werken ausgewählt. In Kurzbiografien wird ihr beruflicher Werdegang, aber vor allem auch die Wechselbeziehung der Künstler untereinander dargestellt, die sich zum einem auf die Heroen der japanischen Holzschnittkunst beziehen, wie Hokusai oder Takahashi Shōkō, auf der anderen Seite aber auch Kirchner, van Gogh oder Warhol zu ihren Vorbildern zählen. Unter dem Begriff shin hanga („Neue Druckkunst“) emanzipierten sich einige Künstler um 1900 auch von den etablierten Verlegerstrukturen und gewannen damit künstlerische Freiheiten, die sie vorher nicht hatten.

Die Motive bedienen eine große Bandbreite, von gegenständlicher bis hin zu abstrakter Grafik und sie decken einen Zeitraum von 1900 bis in die Gegenwart ab. Einerseits zeugt die Liste der vorgestellten Künstler von Fachkenntnis, insbesondere da die Auswahl sehr gut das Netzwerk illustriert, in dem sich die „Modernen“ organisierten, andererseits bleibt mir unklar, warum der Begründer der Shin hanga-Bewegung Kawase Hasui nicht berücksichtigt wurde. Die „2. Garde“ mit Yoshida Hiroshi und seinen Nachfolgern ist dagegen vertreten. Das ist ungefähr so, als würde man versuchen, die Renaissancemalerei ohne Rafael zu erklären.

Seitenlayout und Druck sind sehr elegant gelungen, das leicht getönte Papier ist dicht und gibt auch kleinste Details exzellent wieder, wodurch die durchweg leicht verkleinerten Grafiken ihre Wirkung behalten.

Die japanische Drucktechnik im Holzschnitt ist bis heute unerreicht und immer noch atemberaubend virtuos, das zeigen die modernen Beispiele in Monika Wagners Buch eindrucksvoll. Die Hintergrundrecherche ist gründlich und obwohl sie sich auf das biografisch Wesentliche fokussiert, liefert sie das komplexes Bild einer Künstlergemeinschaft, die sich über Generationen hin vernetzt – auch das ein ganz typisches Element der japanischen Kultur. Alle stehen letztlich auf den Schultern von Riesen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.12.2025
Klauka, Martin

Mit der Katze weiter um die Welt


ausgezeichnet

Ich muss vorausschicken, dass ich voreingenommen bin: Mogli, die Katze mit der Martin Klauka um die Welt gereist ist, ähnelt unserem Kater Felix, der mich durch 20 Jahre meines Lebens begleitete, fast aufs Haar - nur dass Felix noch einen Schwanz hatte. Aber auch ohne diesen Hintergrund kann man sich in Mogli verlieben. Schon der erste Band erzählte eine unglaubliche und unglaublich süße Geschichte, der zweite ist nicht weniger spannend. Eine Katze, die kein Revier, sondern „einen Menschen hat“, dem sie so vollkommen vertraut, dass sie mit auf Reisen geht, sich alle paar Tage oder Wochen an eine neue Umgebung gewöhnt und dieses aufregende Leben offenbar genießt, denn weggelaufen ist Mogli nie. Heute lebt sie (ja, sie fühlt sich nicht als Kater. Und ist auch keiner.) dauerhaft in Bayern und das geht auch gut so.

Stilistisch hat Martin Klauka seit dem ersten Band einiges dazugelernt. Der Text ist wesentlich besser aufgebaut, liest sich flüssiger und ist sprachlich eleganter. Der Leser kann Spannungsbögen, mit denen die Schwierigkeiten angebahnt und anschließend gelöst werden, nachvollziehbar folgen und es ist inhaltlich weniger gehetzt als im ersten Band.

Das Pärchen reist übrigens nicht „um die Welt“, sondern nur auf einer anderen Route zurück nach Deutschland. Wir erinnern uns: Mogli saß zuletzt in den Bergen von Nepal und von da geht es nun hinunter nach Indien, wieder durch den Iran (das erklärte Lieblingsland von Martin Klauka) und dann durch den Kaukasus (Armenien, Georgien) zurück nach Europa. Das Buch endet im deutschen Fernsehstudio.

Auch wenn sich einige Erlebnisse mit dem ersten Band stark ähneln, die Strecke ist ja quasi die alte Tour rückwärts, gibt es doch genügend Neues und Überraschendes. Neue (aber auch schon bekannte) Menschen, neue (aber auch schon bekannte) Schwierigkeiten, Mogli muss sich wieder alle paar Tage behaupten und die Fotos sind wieder niiiiedlich. Ein bisschen schade, dass die beiden nicht die echte Tour du Monde gemacht haben, aber das lag einfach daran, dass man mit Katze bei weitem nicht über jede Grenze kommt. Findet sich denn wirklich niemand, der sich wegen dieser Diskriminierung irgendwo auf eine Straße kleben will?

Bewertung vom 21.12.2025
AnYan, Hu

Ich fahr Pakete aus in Peking


gut

Hu Anyan gehört zum chinesischen Prekariat. Ohne Hochschulausbildung steht ihm nur der Hilfsarbeitersektor offen und so beschließt er, zunächst Paketbote in der Hauptstadt zu werden. Aber China ist ein Haifischbecken: Die Großen fressen die Kleinen und Hu ist ein ganz kleiner Fisch, dessen Gutmütigkeit zuerst einmal gründlich ausgenutzt wird: Übergriffige Kunden, die ihn als persönlichen Sklaven betrachten, inkompetente Vorgesetzte, hinterhältige Kollegen. Irgendwann stellt Hu zu seinem eigenen Entsetzen fest, dass er selber auch beginnt, seine Menschlichkeit zu verlieren. Das System erschafft die eigenen Monster.
Hu wird in 10 Jahren 20 verschiedene Jobs in vielen Teilen des Landes annehmen: Lagerarbeiter, Fahrradverkäufer, Immobilienverwalter, Bäcker, Schnellimbissbetreiber, und immer wieder Kurierfahrer bei den unterschiedlichsten Firmen. Er wird erfolglos einen Online-Laden für Autodüfte betreiben und sich als Online-Redakteur betätigen. Erst das Schreiben wird ihm letztlich die Freiheit bringen, nach der er sich gesehnt hat und liefert die Erkenntnis, dass „nicht-arbeiten-müssen“ der größte Luxus ist, den man im Leben haben kann. Eine Tasse Tee in der Garküche in einer Seitenstraße trinken, einfach nur dasitzen und die Leute beobachten. Das Hamsterrad verlassen eben.

Der Insiderbericht war in China während der Corona-Pandemie ein großer Bucherfolg (obwohl ich sicher bin, dass Hu Anyan am wenigsten davon profitiert hat) und sensibilisierte die Öffentlichkeit besonders für die Nöte des Prekariats, den Menschen, die die Binnenwirtschaft am Laufen halten und dabei kaum mehr als das Nötigste verdienen.
Hu Anyan schreibt in kurzen, einfachen Sätzen, wobei er allerdings oft administrative Begriffe benutzt, für die es im Deutschen offenbar keine adäquate Übersetzung gibt, zumindest klingt es im Deutschen oft bürokratisch-holprig. Nicht selten konnte ich Hus Gedankengängen auch logisch nicht folgen, wenn er eine bestimmte Absicht bekundet und sofort anschließend genau das Gegenteil davon tut. Er will sich z. B. nicht mehr ausnutzen lassen und lässt sich unmittelbar darauf von genau dieser Person in völlig vorhersehbarer Weise ausnutzen. Dergleichen passiert dauernd und ich glaube kaum, dass das eine kulturell bedingte chinesische Eigenart ist. Ein weiteres Problem sind die chinesischen Online-Plattformen, die für das Verständnis der Geschichte oft wichtig sind, die man hier in Deutschland aber nicht kennt. Was sind „Taobao“, „Tmall“, „Pinduoduo“, „Paidai123“? Keine Ahnung? Genau, ich auch nicht. Und Hus dramaturgisch unmotivierten Zeit- und Gedankensprüngen sind oft schwer (manchmal auch gar nicht) zu folgen.

Die Übersetzung ist mäßig gelungen. Dass sie teilweise auch am Sinn vorbei geht, habe ich geahnt, als idiomatische Redewendungen wie „Hast du schon Reis gegessen?“ wörtlich übersetzt wurden. Im Chinesischen heißt das eigentlich nur: „Wie geht’s?“. Etwas mehr Mühe darf man sich als Übersetzerin schon geben.

Das Buch erlaubt den Blick in eine Gesellschaft, in der viele nach oben wollen, es aber kaum jemand schafft. Zumindest Hu Anyan hat seinen Weg gefunden, der ihn zwar nicht reich, aber bis zu einen gewissen Grad frei gemacht hat.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.12.2025
Traxler, Hans

Die Bildergedichte


ausgezeichnet

Er wird bald 97 und hat den Zeichenstift noch nicht aus der Hand gelegt. Warum auch, wenn die Ideen immer noch sprudeln. Dichten und Denken hält jung. Hans Traxler hat mit seinem subversiven Witz, seinen an Wilhelm Busch geschulten Versen und den aufs Wesentliche reduzierten Zeichnungen einen Stil geschaffen, den man sofort wiedererkennt. Und noch etwas ist ganz typisch für ihn: Traxler ist ein Menschenfreund. Selbst bei der Religion versteht er Spaß, da können sich die Religiösen gerne eine Scheibe abschneiden. Oder zwei. Aber keine Sorge, bei der besonders empfindlichen Religion hält Traxler den Stift immer brav im Zaum, denn auch das verlängert das Leben, wenn der Gegner die Toleranz nur im Munde führt. Traxler ist durch und durch Humanist: ein Aufklärer, ein Spötter und gebildet ist er auch. Seine Leser sollten aus ähnlichem Holz geschnitzt sein.

„Die“ Bildergedichte klingt ein bisschen nach Enzyklopädie, es ist aber „nur“ eine Auswahl der 100 besten. Wie viele Tausend Zeichnungen er gemacht hat, weiß der Mehrfachbegabte selber nicht, in jedem Fall hatte der Herausgeber die Qual der Wahl. Ein bisschen so, als müsste man entscheiden, welche Bücher zur Bibel gehören; da hat man ja auch nicht gesagt „das ist alles gut!“. Das, was Nikolaus Heidelbach ausgesucht hat, vereint Klassiker („Die Dünen der Dänen“, köstlich!) und Neues, Böses und Versöhnliches und ich habe jetzt sogar eine romantische Ader bei Traxler entdeckt. Wer hätt’s gedacht?

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.12.2025
Fartmann, Thomas;Poniatowski, Dominik

Verbreitungsatlas der Heuschrecken und Fangschrecken Deutschlands


ausgezeichnet

Viele Heuschreckenarten reagieren besonders empfindlich auf Änderungen in ihrem Biotop, für die meisten aber gilt: Sie mögen es warm. Offenes, sonnendurchflutetes Gelände besitzt die höchste Artendichte und der Klimawandel hat bereits zu einigen bemerkenswerten (und unerwartet schnellen) Wanderungsbewegungen geführt. Die einzige Fangschrecke Deutschlands, die europäische Gottesanbeterin, hat ihr ursprüngliches Areal am Kaiserstuhl längst verlassen und wurde bereits in Niedersachsen nachgewiesen. Und die Gottesanbeterin ist nicht alleine, wie der aktuelle Verbreitungsatlas zeigt. Viele wärmeliebende und mobile Arten breiten sich aus, sesshafte, eher feuchte Biotope bevorzugende Arten werden dagegen seltener.

Der Verbreitungsatlas zeigt mit seinem durchdachten Markierungssystem nicht nur die geografische Verteilung, sondern stellt auch zeitliche Veränderungen dar. Die Zeitintervalle umfassen jeweils 20-40 Jahre, wobei die größten Veränderungen seit 2010 zu beobachten sind.
Jeder Artensteckbrief beschreibt ausführlich den Verbreitungsraum und vor allem die Lebensweise, die bereits erste Hinweise auf mögliche Gefährdung gibt. Diese wird anschließend analysiert und fachlich kritisch bewertet, insbesondere wenn die erhobenen Verbreitungsdaten Verzerrungen aufweisen oder keine eindeutigen Rückschlüsse erlauben. Die Quellen der Einzeldaten sind historische Kartierungen, aber auch „Citizen Science“ Projekte, sowie regionale und nationale Arbeitskreise. Insgesamt wurden fast 400.000 Datenpunkte in Messtischblatt-Auflösung erfasst. Die Einzelkarten sind auch per QR-Code zugänglich. Angaben über Populationsdichten oder deren Veränderung liefert der Atlas dagegen nicht. Ein Quadrant gilt als besetzt, wenn es einen einzigen sicheren Nachweis im Beobachtungszeitraum gab. Ergänzt werden die Steckbriefe durch Fotos adulter Tiere und typischer Habitate.

Der neue Verbreitungsatlas trifft qualifizierte Aussagen über Gefährdungsgrad und regionale Schwerpunkte aller in Deutschland etablierten Heuschreckenarten. Dort, wo z. B. aufgrund verborgener Lebensweise (Maulwurfsgrillen u. ä.) die Datenerhebung lückenhaft ist, werden belastbare Schlüsse anhand der Lebensweise und Mobilität gezogen. Der Atlas ist eine ausgezeichnete Ergänzung zu den in den letzten Jahren aktualisierten Feldbestimmungsführern, sowohl für Amateur-Entomologen als auch im institutionalisierten Naturschutz.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.12.2025

Handbuch der Reptilien und Amphibien Europas, Band 5/IIIB


ausgezeichnet

Die Raniden sind die mit Abstand am besten wissenschaftlich untersuchten Amphibien Europas. Der Wasserfrosch ist bereits seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ein Modellorganismus der taxonomischen Artendifferenzierung, mittlerweile durch molekulargenetische Methoden ergänzt und auf andere Gattungen erweitert. Diese grundlegende Fragestellung durchzieht den Band III B des Handbuchs der Reptilien und Amphibien Europas wie ein roter Faden und macht ihn damit zur mit Abstand aktuellsten und taxonomisch differenziertesten Monografie zu den europäischen Raniden.

Schon im Einleitungskapitel wird der „Wasserfroschkomplex“ als ein taxonomisch fließendes und evolutionär sehr junges Feld beschrieben, an dem sich anhand biogeographischer Muster Fragen der Artenbildung und Hybridisierung gut darstellen lassen.

Der Hauptteil folgt der für die Reihe typischen, streng systematischen Gliederung. Die Abschnitte zur Morphologie der jeweiligen Arten berücksichtigen neben dem allgemeinen Phänotyp Geschlechtsdimorphismen, die Larvalmorphologie sowie Strukturen mit diagnostischem Wert, meist in Zeichnungen anschaulich dargestellt. Regionale Vorkommen, Arealgrenzen und Populationstrends werden detailliert diskutiert, inklusive Überlappungen mit Arealen verwandter Arten und entsprechender Hybridisierung. In diesem Zusammenhang werden auch die ökologische Plastizität von Ursprungsarten und Hybriden beleuchtet. Aspekte der Verhaltensbiologie umfassen Habitatpräferenzen, saisonale Aktivitätsmuster (Überwinterungsstrategien, Wanderverhalten), aber auch Rufverhalten und die Ernährungsökologie. Aus Beobachtungsdaten zur Populationsdynamik, Klimaprognosen, der Einschätzung anthropogener Einflüsse (Habitatfragmentierung, Gewässerverlust, Pestizide, Krankheiten wie Chytridiomykose) und den ökologischen Randbedingungen leiten sich Schlussfolgerungen zur Gefährdung und sinnvollen Schutzmaßnahmen ab und verbinden damit außergewöhnlich differenziert Aspekte der Grundlagenforschung mit praktischen Anforderungen des Artenschutzes. Die Darstellung der Arealbildung integriert paläogeographische Prozesse, pleistozäne Refugialräume und postglaziale Expansionen – ein Aspekt, der das Verständnis der heutigen Verbreitung maßgeblich prägt.

Die Autoren berücksichtigen selbst jüngste Literatur, zum Teil aus „exotischen“ Sprachräumen, was den dezidiert enzyklopädischen Anspruch unterstreicht. Die Eindringtiefe geht in jeglichem Aspekt weit über einen Feldführer hinaus, als der dieser Band weder konzipiert noch geeignet ist. Die Monografie eines kryptischen Artenkomplexes stellt besondere Anforderungen an die systematische Aufarbeitung, was den Autoren hervorragend gelingt: Klare Argumentationslinien, das Herausstellen von Unsicherheiten und vorsichtige Interpretation waren hier erkennbar die Richtschnur.

Die Reihe setzt auch mit dem vorliegenden Band wieder Maßstäbe in der Erforschung europäischer Froschlurche. Die Kombination aus taxonomischer Strenge, breit gefächerter ökologischer Analyse und hoher Detailtiefe macht den Band zu „dem“ Referenzwerk für Herpetologen und Naturschutzbehörden.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.12.2025

Die Kelten in Baden-Württemberg


ausgezeichnet

Die letzte umfangreiche und wissenschaftlich aktuelle Monografie über die Kelten in Baden-Württemberg, die sich an eine breite Öffentlichkeit richtete, stammt von 1981. Seitdem hat sich in der Keltenforschung enorm viel getan. Viele vermeintlich gesicherte Erkenntnisse stellten sich als Mythen heraus und einige angezweifelte antike Berichte haben sich durch moderne Methoden als wahr erwiesen. Auch der Fokus der Forschung hat sich verlagert: Während im 19. und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die im Gelände gut sichtbaren Grabhügel und „Fürstensitze“ archäologisch erschlossen wurden, stehen heute die unbefestigten Siedlungen und das Alltagsleben im Zentrum des Interesses. Verfeinerte Materialanalysen, bessere Dokumentation und die Paläogenetik eröffnen mittlerweile ganz neue Möglichkeiten.

Die Kapitel wurden von ausgewiesenen Experten der Keltenforschung verfasst, sowohl vom Landesamt für Denkmalpflege in BW als auch aus der universitären Forschung und behandeln verschiedene Phasen der keltischen Geschichte, von der älteren Hallstatt- bis zur Spätlathènezeit. Der Ausblick in die Römerzeit, in der die Kelten weitgehend assimiliert sind, schließt den Abschnitt ab. Es werden zahlreiche Irrwege der frühen Archäologen erkennbar und wie vorsichtig im Gegensatz dazu die Wissenschaftler heutzutage mit Schlussfolgerungen sind. Das große Problem der Kelten: Sie hatten keine eigene Schriftkultur und alle schriftlichen Zeugnisse aus der Antike über sie stammen von Dritten. Zumindest ist der einzige bekannte keltische Stadtname Pyrene mit hinreichender Sicherheit identifiziert, auch das erst eine Erkenntnis der letzten Jahre. Gesellschaftsstrukturen, Handelsbeziehungen oder religiöse Vorstellungen lassen sich ebenfalls nur indirekt erschließen, aber auch hier zeigen sich immer klarere Strukturen und vor allem oft nahtlose Übergänge, wo man früher (in Ermangelung von Daten) „Kulturbrüche“ erkennen wollte. Kapitel über die keltische Kunst und den Alltag fügen weitere Facetten hinzu..
Der zweite Teil des Bandes enthält ein ausführliches Fundstättenverzeichnis mit allen wichtigen Orten in Baden-Württemberg, das sich als das keltische Kernland herauskristallisiert. Die Steckbriefe eignen sich hervorragend auch als „Reiseführer“ für eine archäologisch ausgerichtete Themenreise, denn sie verbinden das im allgemeinen Teil Gesagte mit konkreten Fundsituationen. Die zahlreichen Aufnahmen, sowohl von Einzelfunden als auch Ausgrabungen in situ, machen das Gesagte anschaulich, unterstützt durch Kartenmaterial, Luftbilder und Zeichnungen.

„Die Kelten“ zeigt eine Wissenschaft im Fluss, die unter erschwerten Bedingungen Erstaunliches zu Tage bringt. Von Experten ihres Fachs für interessierte Laien verständlich erklärt, ohne dabei die komplexen Zusammenhänge zu sehr zu vereinfachen oder Unsicherheiten mit blumiger Sprache zu verschleiern.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.12.2025
Morris, Alex W.

Warren Buffett und Charlie Munger - Auf den Punkt gebracht


ausgezeichnet

Aktionärsversammlungen sind oft langweilig, schöngefärbt und wenig lehrreich – nicht so bei Berkshire Hathaway, zumindest bisher. Nach dem Tod von Charlie Munger im November 2023 und dem Rücktritt von Warren Buffett Ende 2025 im Alter von 95 Jahren werden sich die Versammlungen jedoch verändern. Geblieben sind die frei zugänglichen Videos aus über drei Jahrzehnten, deren Sichtung allerdings viel Zeit und Mühe erfordert. Alex W. Morris hat diese Arbeit übernommen und die wichtigsten Gedanken der beiden Investoren in seinem Buch „Warren Buffett & Charlie Munger – Auf den Punkt gebracht“ zusammengefasst. Damit eröffnet er Lesern einen kompakten Zugang zu ihrem Denken.

Dem Autor gelingt es, die Essenz der legendären Gespräche zwischen Buffett und Munger klar und verständlich zu bündeln. In 13 Kapiteln präsentiert er zentrale Themen wie die Psychologie erfolgreicher Investoren, den langfristigen Unternehmenswert, die Bedeutung von Geduld und Disziplin sowie die kritische Haltung gegenüber kurzfristigen Trends – jeweils verdichtet in prägnanten Zitaten. Besonders positiv fällt auf, dass die oft komplexen und ausschweifenden Diskussionen der beiden Investoren in klare Lektionen übersetzt werden. Leser erhalten so einen direkten Einblick in die Denkweise zweier der einflussreichsten Kapitalmarktakteure, ohne sich durch Tausende Seiten Protokolle oder stundenlange Videos arbeiten zu müssen.

Das Buch ist eine ideale Ergänzung zu „Die Essays von Warren Buffett“ von Lawrence A. Cunningham. Während Cunningham die Aktionärsbriefe thematisch sortiert und mit einem ausführlichen Einleitungskapitel kommentiert, konzentriert sich Morris auf die Versammlungen und verzichtet weitgehend auf eigene Analysen. Im Vordergrund stehen die unverfälschten Zitate der beiden Investoren – ein anderer Ansatz, in dem sich die beiden Werke gut ergänzen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.11.2025
Boccaccio, Giovanni

Decameron


ausgezeichnet

Das Decameron gehört zu den ganz großen Entdeckungen in meinem Leseleben. Vor etwa 20 Jahren habe ich es zum ersten Mal in Angriff genommen und konnte kaum glauben, dass dieser Text aus der Mitte des 14. Jahrhunderts stammte. Es gab darin so viele erzählerische Motive und Ideen, die man in abgewandelter Form auch heute noch in der Literatur verwendet, dass er erstaunlich modern wirkte. Selbst der Humor funktionierte nach 700 Jahren immer noch. Bei weitem nicht jedes Buch altert so günstig. Mit der Covid-Pandemie bekam das Buch auch noch eine unerwartete Aktualität, denn im Decameron isolieren sich 10 junge Adelige auf der Flucht vor der Pest in ihrem Landhaus bei Florenz und erzählen sich zur Zerstreuung insgesamt 100 Geschichten, die oft einen frivolen Hintergrund haben. Vor allem lüsterne Mönche und gehörnte Ehemänner sind Ziel des freizügigen Spotts.

Als ich mich jetzt mit der Übersetzungsgeschichte befasste, gab es die nächste Überraschung: Schon 1450 erschien die erste deutsche Übersetzung und seitdem reißt es nicht ab. Die Version, die ich vor 20 Jahren las, war eine 1957 überarbeitete Übersetzung von Gustav Diezel, die mir damals nicht mehr ganz taufrisch erschien. Seine Fassung stammt von 1840 und da weht trotz der Überarbeitung deutlich die Prüderie des 19. Jahrhunderts über die Seiten. Die jetzt vorliegende Übersetzung von Luis Ruby ist ihr in jeder Hinsicht überlegen. Es fängt schon mit dem „Klang“ an: Ruby hat ein hervorragendes Gefühl für Sprachmelodie und Rhythmus. Boccaccio neigt zu sehr langen Schachtelsätzen, die man gut strukturieren muss, damit sie im Deutschen eingängig bleiben und die Klangschönheit der italienischen Sprache muss auch spürbar sein. Ein bisschen wie bei Thomas Mann. Ruby gelingt dieses Kunststück und verleiht dem Text damit eine Schwerelosigkeit, die der Diezelschen Fassung fehlt. Er setzt die Pointen mühelos elegant, wo Diezel zu umständlich ist. Es ist ein echtes Vergnügen, das zu lesen.

Ein weiteres Vergnügen ist das Layout. Ich erinnere mich an eine Ausgabe des „Kopfkissenbuchs“ von Sei Shonagon aus dem Manesse Verlag, die für mich eines der schönsten und cleversten Seitenlayouts hat, die ich je in einem modernen Buch gesehen habe. Vor allem die innovative Aufteilung der Fußnoten und Verweise hatte mich bei dem Buch begeistert und genauso clever haben die Layouter auch diesmal Referenzen an historisches Buchdesign aufgenommen. Mittelalterliche Bücher hatten keine Referenzlisten oder Fußnoten, sondern sogenannte „Marginalien“, das sind erklärende Randnotizen, die direkt an der Stelle eingefügt wurden, auf die sie sich beziehen. Entsprechend breit sind die Seitenränder und der Satzspiegel ist asymmetrisch. In Anlehnung an historische Marginalien befinden sich die qualifizierten und sehr hilfreichen Kommentare in dieser Ausgabe des Decameron direkt auf den breiten Seitenrändern, womit das lästige Blättern zu Anhängen entfällt und der Satzspiegel nicht durch überdimensionierte Fußnoten zerquetscht wird. Außerdem ergibt das eine höchst lebendige Seitenstruktur. Das wirkt frisch und modern, noch unterstrichen von der durchdachten Auswahl der Illustrationen, die von mittelalterlicher Buchmalerei bis zu Egon Schiele reichen. Alle haben eine tatsächliche oder übertragene Beziehung zu einer der 100 Geschichten. Ergänzt wird das schöne Layout durch schweres, leicht getöntes Papier, eine farbige Fadenheftung und Lesebändchen.

Wer das Decameron kennt, für den ist diese elegante und wunderbar gestaltete Neuübersetzung ein echter Gewinn. Für alle anderen sowieso.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.11.2025
Stadler, Eva;Ingala, Jutta M.;Lammert, Andrea

KUNTH Konnichiwa Japan


sehr gut

Japan-Reiseführer sprießen derzeit aus dem Boden wie die Pilze nach einem Sommerregen. Japan ist zum Hotspot des Tourismus geworden und leidet mittlerweile massiv unter dem Übertourismus. Ich bin vor fast 20 Jahren das erste Mal da gewesen, aber in letzter Zeit stößt mich diese wirklich unerträglich gewordene Überfüllung deutlich ab. Alternativen zu den Standardzielen zu finden, ist gar nicht so einfach, denn die Entfernungen sind (abgesehen von der überfüllten Kanto/Kansai-Region) ziemlich groß, mit entsprechend langen und teuren Rüstzeiten. Deswegen ist mir jeder gute Vorschlag lieb und „Konnichiwa Japan“ hat da ein erstaunlich breites und abwechslungsreiches Angebot zu bieten. Gegliedert nach den Regionen der Hauptinseln werde 56 Ziele vorgestellt, jeweils sehr kurz beschrieben und mit wunderschönen Fotos illustriert. Man bekommt sofort Lust, hinzufahren. Auf der einen Seite die Top-Ziele wie Kyoto oder Tokyo, auf der anderen Seite auch einige „fast Geheimtipps“ für Japan-Enthusiasten.

Bei einer Beschränkung auf 56 Ziele ist die Auswahl natürlich immer von persönlichen Vorlieben geprägt, aber die Autorinnen decken ein breites Feld ab: moderne Zukunftsstädte, uralte Tempel, Wanderungen in Nationalparks, Teetrinken im Katzencafé, trutzige Burgen oder Shopping im Porzellanparadies. Da findet jeder was Passendes.

Die Informationstiefe ist eher gering, ein Link muss meistens genügen. Auch sind die Beschreibungen äußerst knapp gehalten. Es gibt keine Kapitel zur Reisepraxis in Japan, auch keine Empfehlungen zu Unterkünften und nur selten zur Kulinarik, die in Japans Kultur so wichtig ist. Da ich einen Großteil der Ziele aber aus eigener Anschauung kenne, kann ich bestätigen, dass die Auswahl sehr qualifiziert ist und es sich lohnt, bei Interesse hier weiter zu recherchieren. Bei den meisten Orten gibt es noch einiges zusätzlich zu entdecken, sodass sich eine Reise wirklich lohnt.

Als Einstieg für die Reiseplanung und als Anregung ein guter erster Anlaufpunkt, sowohl für Japan-Anfänger als auch für Fortgeschrittene. Für die Ausarbeitung braucht man dann aber deutlich differenziertere Informationsquellen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.