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VolkerM

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Insgesamt 159 Bewertungen
Bewertung vom 26.06.2025

Farben Japans


ausgezeichnet

Ende des 17. Jahrhunderts entwickelte sich in Japan eine aus China übernommene Druckkunst zur eigenständigen Kunstform: der Farbholzschnitt. Zunächst auf wenige Farben beschränkt, erweiterte sich im 18. Jahrhundert die Palette und erreichte durch raffinierte Einfärbetechniken eine unerreichte Detailfülle und räumliche Tiefe. Zu den berühmtesten Vertretern dieser Kunst gehören Utagawa Hiroshige, Utagawa Kunisada und natürlich der extrem produktive Katsushika Hokusai, dessen berühmte „Große Welle von Kanagawa“ ikonisch geworden ist.

Die Japan-Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek gehört zu den umfangreichsten und vor allem systematischsten in Europa. Der fast 100 000 Druckwerke umfassende Bestand wird immer noch strategisch erweitert. Das meiste davon sind Holzschnitt-Bücher, aber es gibt auch 1000 historische Einblattdrucke, darunter bedeutende Stücke, wie eben die Welle von Kanagawa. Die Jahresausstellung 2025 widmet sich jetzt erstmals ausführlich diesem Teil der Sammlung und zeigt rund 200 Einblattdrucke des 17. bis 20. Jahrhunderts von allen bedeutenden Holschnittkünstlern ihrer Zeit. Mit der Shin-Hanga-Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts, in dem europäische Traditionen auf den japanischen Holzschnitt übertragen werden, endet der betrachtete Zeitraum, auch wenn die künstlerische Entwicklung bis heute anhält.

Der Katalog zeigt nicht nur großformatige Abbildungen aller Exponate, sondern liefert auch qualifizierte Hintergrundinformationen zu den Entwicklungen, sowohl der Motive als auch der Techniken. Besonders hervorgehoben wird die Bedeutung der Farbholzschnitte im interkulturellen Transfer. Die Grundidee stammt aus China, die technische Weiterentwicklung und die Entstehung neuartiger Bildideen geschieht in Japan, moderne Synthesefarben werden aus Europa importiert, die neuartigen Bildfindungen inspirieren wiederum Jugendstil und Impressionismus im Westen (Stichwort „Japonismus“) und als geografisch gegenläufiger Einfluss prägt der Westen die Shin-Hanga-Bewegung um Kawase Hasui. Kaum ein Medium vereint derartig viele Kulturtransfers in alle Richtungen.

Die Sammlung ist aufgrund ihrer klaren systematischen Ausrichtung und qualifizierten Sammlungsstrategie eine „Lehrsammlung“ par excellence. Kaum irgendwo lassen sich die stilistischen und technologischen Entwicklungen so transparent und eindrucksvoll visualisieren. Die Qualität der Exponate misst sich dabei nicht nur im ökonomischen Wert der heute hoch gehandelten Stücke, sondern auch in ihrem enzyklopädischen Umfang. Buchstäblich alles, was Rang und Namen hat, ist hier vertreten. Ausführliche bibliografische Angaben zu Auflagen, Künstler- und Verlegersiegeln, Ikonografie und geschichtlichem Hintergrund stellen die Blätter in ihren jeweiligen Zusammenhang und sensibilisieren den Leser für zeittypische Farbgebungen oder Motivwahl. Die Vielfalt, insbesondere im 19. Jahrhundert, ist atemberaubend. Und immer reflektiert dieses „Massenmedium“ sehr zeitnah gesellschaftliche Entwicklungen in Japan.

Die Abbildungen sind originalgroß oder bei den Oban-Formaten etwa auf die Hälfte verkleinert und geben einen sehr detaillierten Eindruck vom Original. Der Katalog ist sowohl vom Umfang als auch der thematischen Eindringtiefe sehr zu empfehlen. Die Ausstellung selbstverständlich auch, aber das wird leider nur ein vorübergehendes Vergnügen sein.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.06.2025
Hochreiter, Sepp

Was kann künstliche Intelligenz?


ausgezeichnet

Sepp Hochreiters Buch „Was kann künstliche Intelligenz?“ beleuchtet die Potentiale und Grenzen der KI-Technologie aus der Sicht eines führenden Experten. Er erklärt, wie KI bereits heute beeindruckende Texte, Bilder und Videos generiert und industrielle Prozesse revolutioniert, aber auch, wo ihre Fähigkeiten überschätzt werden. Wenn ein Modell eine beeindruckende Antwort liefert, interpretieren wir oft Intelligenz oder Absicht hinein, wo lediglich gelernte Texte abgespult und mit statistischen Mustern und Wahrscheinlichkeiten kombiniert werden. Dies kann dazu führen, dass wir KI-Systemen Fähigkeiten zuschreiben, die sie nicht besitzen.

Der Universitätsprofessor Hochreiter, der mit der Entwicklung der LSTM-Technologie einen Grundstein für moderne Sprachverarbeitung legte, skizziert eine Zukunft, in der KI komplexe physikalische und biologische Prozesse simulieren kann. Dabei stellt er die Frage, ob KI tatsächlich globale Probleme wie den Klimawandel, tödliche Krankheiten und Pandemien lösen, komplexe wirtschaftliche und geopolitische Zusammenhänge besser als der Mensch verstehen kann oder ob sie lediglich eine gehypte Technologie bleibt.

Das Buch zeichnet die wechselvolle Geschichte der KI nach – von Durchbrüchen bis zu Durststrecken – und zeigt auf, wo Kontrolle notwendig ist. Hochreiter plädiert für eine realistische Einschätzung der KI und eine sinnvolle Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine. Sein Fazit: KI ist ein mächtiges Werkzeug, aber am Ende braucht es immer noch den Menschen, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Der Autor widmet sich auch der spannenden Frage nach Europas Rolle im globalen KI-Wettlauf – und seine Einschätzung fällt ernüchternd aus: Der Kontinent liegt zurück. Zwar skizziert er konkrete Verbesserungsvorschläge, doch vor allem im Übergang von exzellenter Grundlagenforschung zur wirtschaftlichen Verwertung erkennt er eine gravierende Schwäche. Während Unternehmen wie Google oder OpenAI ihre Entwicklungen zügig in marktfähige Anwendungen überführen, mangelt es Europa an einer schlagkräftigen Infrastruktur, an großen Technologiekonzernen sowie an einer engen Verzahnung zwischen Forschung und Industrie. Ein zentrales Hindernis erkennt er auch in der praxisfernen Umsetzung des EU-„AI Acts“: Die bestehende Rechtsunsicherheit schrecke Entwickler davon ab, Projekte anzugehen oder Unternehmen zu gründen – aus Sorge, dass ihre Anwendungen womöglich nicht den regulatorischen Vorgaben entsprechen.

Mit seinem Buch gelingt es Sepp Hochreiter, die komplexe Welt der Künstlichen Intelligenz fundiert und zugleich leicht verständlich zu erklären – besonders im Kontext der großen Herausforderungen unserer Zeit. Beeindruckend ist dabei seine Fähigkeit, wissenschaftliche Substanz mit gesellschaftlicher Relevanz zu verknüpfen, ohne sich in theoretischen Abstraktionen zu verlieren: Sein klarer, sachlicher Stil schafft eine Sprache, die sowohl Einsteigern als auch versierten Lesern den Zugang zu einem der spannendsten Zukunftsthemen eröffnet.

Einen Kritikpunkt möchte ich jedoch anmerken, der mir im Buch zu kurz kommt: Mitunter erscheint mir die Darstellung der Risiken Künstlicher Intelligenz als zu nachsichtig. In einer Welt, in der Technologien immer häufiger gegen Menschen eingesetzt werden, bedarf es einer kritischeren Auseinandersetzung. Zwar zielt der EU-„AI Act“ darauf ab, diesen Gefahren durch Regulierung zu begegnen, doch es wird stets Entscheidungsträger geben, die sich wenig um die Einhaltung solcher Vorgaben scheren. Moralisch sind wir zwar Spitze, aber wir kommen faktisch nicht mehr vom Fleck, während sich die Welt rasant verändert.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.06.2025
Qudan, Rie

Tokyo Sympathy Tower


gut

Tokyo in naher Zukunft. Die gefeierte Stararchitektin Sara Makina darf sich an dem Wettbewerb zum Bau des „Tokyo Sympathy Tower“ beteiligen, aber was ihr fehlt, ist Inspiration. Der Turm wird in Nachbarschaft zum umstrittenen Nationalstadion von Zaha Hadid und Tokyos größtem Park entstehen und die Stadt überragen. Aber Sara Makina findet keinen mentalen Zugang zu dem Projekt, denn die Bezeichnung „Sympathy Tower“ verleugnet den wahren Zweck des Gebäudes: Es wird ein luxuriöses Gefängnis werden, aber nicht nur der unbeholfen englische Name des Turms, sondern auch die politischen Vorgaben und Ideologien machen es der Architektin schwer. Obwohl ihr Arbeitsmittel der Zeichenstift ist, sind es letztlich die fehlenden Worte, die sie blockieren, bis ihr jugendlicher Liebhaber den Schlüssel findet. Aber eine Erlösung wird es nicht.

Mir war bisher nicht bewusst, dass auch in Japan ein existenzieller Kampf der Ideologien ausgetragen wird, ähnlich wie bei uns, aber bei näherer Betrachtung erscheint das egalitäre Gesellschaftssystem Japans dafür wie gemacht. Auch in Japan wird auf Sprache und Sprachgebrauch massiv Einfluss genommen. Bei Sara Makina führt der Verlust der Worte zum Verlust ihrer Kreativität. Was man nicht sagen kann, kann man auch nicht denken, so wie George Orwell in „1984“ mit „Neusprech“ die Hirne der Bevölkerung programmierte.

Heute definiert die woke Ideologie die Bedeutung der Worte um, verbietet sie oder schreibt sie vor, und übt als dogmatische Wächterin über das „Gute“ letztlich eine Gewaltherrschaft über die Sprache aus. So verkehrt sich in der Architektur des Tokyo Sympathy Towers der Sinn eines Gefängnisses in sein Gegenteil: Dem Verbrecher gilt unser Mitleid, nicht dem Opfer. Das ist nicht weniger wirr als die woke Wortschöpfung der „propalästinensischen Demonstrationen“. Das Opfer wird zum Täter und umgekehrt; wer anderes behauptet, wird isoliert und geächtet.

Rie Qudan nimmt in ihrem Buch mehrere Erzählperspektiven ein, jeweils aus der Ich-Sicht Sara Makinas und ihres Liebhabers Takuto. Sara steht für die Vergangenheit und Vergänglichkeit, Takuto für die Schönheit, Jugend und Zukunft. Saras Reichtum ermöglicht es ihr, sich vielen japanischen Regeln zu widersetzen: Sie hält sich einen deutlich jüngeren Liebhaber, sie ist laut und rücksichtslos und doch ist ihr Leben in gewisser Weise leer. Ihr elitärer Turm ist Vermächtnis und Schicksal zugleich.

Ich habe bis zum Schluss nicht herausgefunden, ob der Roman nun eine Kritik an der erzwungenen Egalisierung oder deren Lob ist. Einerseits bedient Rie Qudan in Japan weit verbreitete rassistische Vorurteile, indem sie den einzigen in der Geschichte vorkommenden Ausländer als übergewichtig, stinkend, haarig, laut, ordinär und rücksichtslos beschreibt, ohne jedes Verständnis für die japanische Kultur („das versteht man eben nur, wenn man Japaner ist“). Dabei ist sie selber, wie ihr Name verrät, ebenfalls nicht-japanischer Herkunft und musste ganz sicher unter Vorurteilen leiden. Andererseits durchzieht den Text aber der Wunsch nach Gleichheit, Toleranz und Glück für alle, ganz besonders für die von der Gesellschaft Ausgestoßenen. Aber vielleicht ist dieses Sowohl-als-auch in keinem Land so sehr Realität wie in Japan. Nur aus dem Gefängnis der Worte kann niemand entfliehen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.06.2025
Lloyd, Christopher

Der wohltemperierte Garten


gut

Es ist eine echte Schande! Christopher Llyods „Wohltemperierter Garten“ gilt als eines der unterhaltsamsten, lehrreichsten und stilistisch brillantesten Gartenbücher, die jemals geschrieben wurden. Es sprüht vor Witz, klugen Gedanken und es ist ein unendlicher Schatz des Wissens, vor allem (aber nicht nur), wenn man in England wohnt, denn Lloyds Gartenwissen fokussiert auf diese Klimazone. Viele haben sich später in Ähnlichem versucht, erreicht haben es nur ganz wenige.

Die hier vorliegende deutsche Ausgabe hat es nun nötig gehabt, diesen eleganten Text durch „geschlechtergerechte Sprache“ zu verhunzen. Da kommt der Gärtner nie ohne die Gärtnerin daher gestolpert und der generische Student wird zum Studierenden gezwungen, so als hätte Christopher Lloyd das Buch nicht 1970, sondern 2020 geschrieben. Man darf mit einigem Recht annehmen, dass ihm wokes Gedankengut fremd war, den Übersetzerinnen war dies offenbar aber ein Anliegen. Um es einmal ganz klar zu sagen: Es ist nicht die Aufgabe von Übersetzern (oder Verlagen) ihr identitäres Süppchen aus historischen Texten zu kochen.
Ich habe nach 10 Seiten aufgehört zu lesen, weil mir das stilistisch äußerst unelegante Rumgestolpere auf die Nerven ging. Nicht auf die Nerven ging mir der Inhalt, weshalb ich mir jetzt antiquarisch das englische Original anschaffen werde und das werde ich mit Genuss weiter lesen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.06.2025
Graham, David A.

Der Masterplan der Trump-Regierung


ausgezeichnet

David A. Graham analysiert in „Der Masterplan der Trump-Regierung: Project 2025” die radikalen Pläne der konservativen Heritage Foundation. Diese zielen darauf ab, die Macht des Präsidenten zu zentralisieren und die Gewaltenteilung zu schwächen. Die Umstrukturierung der Regierung soll durch einen massiven Austausch von Verwaltungsmitarbeitern erfolgen, bei dem loyale Anhänger anstelle erfahrener Beamter eingesetzt werden.

Das Konzept von Project 2025 wurde bereits vor dem letzten Präsidentschaftswahlkampf vom erzkonservativen Thinktank abgeschlossen, erstreckt sich über mehr als 1.000 Seiten und wurde von mehreren Autoren zu verschiedenen Themenbereichen zusammengefasst. Graham porträtiert wesentliche Mitverfasser in seinem Buch kurz. Positiv ist mir aufgefallen, dass er auch auf widersprüchliche und unklare Aussagen hinweist und die unterschiedliche Detailtiefe bemängelt.

Aus meiner Sicht ist die ideologische Agenda des Plans, die christlich-nationalistische Werte in den Mittelpunkt rückt, besonders brisant. Sie ist detailliert ausgearbeitet. Dazu gehören ein traditionelles Familienbild, ein striktes Abtreibungsverbot, Diskriminierung nicht heteronormativer Sexualität sowie die bevorzugte Förderung religiöser Schulen gegenüber öffentlichen Einrichtungen. In der Wirtschaftspolitik setzt das Konzept auf Protektionismus und eine fundamentale Neuausrichtung der Außenpolitik, welche die bisherigen diplomatischen Strategien der USA infrage stellt.

In seinem Buch verdeutlicht Graham immer wieder, dass Project 2025 als langfristiges Vorhaben gedacht ist, das auch über eine zweite Amtszeit Donald Trumps hinausgehen könnte. Obwohl sich Trump offiziell von diesem Konzept distanziert hat, weist der Autor darauf hin, dass viele seiner politischen Entscheidungen genau diesem Plan folgen, auch wenn vieles erratisch wirkt. In der Tendenz gibt es allerdings den „großen Plan“. Die Autoren von Project 2025 kennen den launischen Donald Trump genau und haben sein Verhalten bereits eingeplant. Sie haben verstanden, dass das vom Präsidenten für hochrangige Positionen ausgewählte Personal vielleicht nicht das qualifizierteste ist. Die nachgeordneten Ebenen werden jedoch strategisch mit gut vorbereiteten und engagierten Stellvertretern besetzt.

Der Journalist Graham hat alle bis zur Drucklegung des Buches bekannten Entscheidungen von Donald Trump in seine Ausführungen integriert. Ob diese Präsidentenerlasse vor dem Obersten Gerichtshof Bestand haben, bleibt jedoch ungewiss, wenngleich sie angesichts der Mehrheitsverhältnisse unter den Richtern durchaus wahrscheinlich erscheinen. Auch die Justiz macht sich mitschuldig.

Grahams Ausdrucksweise ist sachlich und gut verständlich. Die Übersetzung ins Deutsche ist ebenfalls gelungen. Das Buch besticht durch eine klare Gliederung und ein umfassendes Quellenverzeichnis. Ein Stichwortverzeichnis hätte jedoch dabei helfen können, gesuchte Informationen schneller und gezielter wiederzufinden.

„Der Masterplan der Trump-Regierung“ ist ein beunruhigendes Buch, das eine Entwicklung aufzeigt, die die USA grundlegend verändern könnte.

4 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.06.2025
Stålenhag, Simon

Swedish Machines


ausgezeichnet

Linus und Valter sind die engsten Freunde seit Kindertagen. Sie wohnen am Rand eines Sperrgebiets, in dem sich in den Achtzigerjahren ein Zwischenfall ereignet hat, in der der schwedische Rüstungskonzern Swedish Machines verstrickt war. Was damals genau passierte, blieb geheim, aber Valter lässt das Geheimnis um das Sperrgebiet nicht los. Während Linus nach Stockholm zieht, bleibt Valter in Torsvik und heuert bei der Firma an, die das Sperrgebiet bewacht. Was er dort entdeckt, sprengt im wahrsten Sinn Raum und Zeit.

Was als klassischer Sci-Fi-Roman beginnt, entwickelt schon bald eine zweite Ebene, denn die dominante Geschichte ist die Beziehung zwischen Linus und Valter. Aus der Ich-Perspektive beschreibt Linus, wie er sich zu Valter hingezogen fühlt, ein Gefühl, das zwar eindeutig auf Gegenseitigkeit beruht, aber zu dem er nicht offen stehen will. „Freundschaft plus“ im Geheimen, bis etwas passiert, was die Beziehung für immer ändert.

Simon Stålenhag hat früher bereits eine nonbinäre Person in seine Plots eingebaut, ich glaube, es war in „Electric State“, aber dass die sexuelle Identität absolut zentral für die Story wird, ist neu. Mit großem Einfühlungsvermögen, bei dem ich permanent das Gefühl hatte, Stålenhag verarbeitet da sehr persönliche Dinge, beschreibt er Linus‘ innere Zerrissenheit und wie es ihm nicht gelingt, die richtigen Worte zu finden, obwohl Valters Signale so eindeutig sind. Es ist der normative Druck von Freunden und Familie und einige dunkle Geheimnisse in Valters Vergangenheit, die letztlich zum Scheitern führen. Es gibt einige anrührende Szenen, die Stålenhag mit so großer Sensibilität schildert, dass ich „Swedisch Machines“ als den bei weitem ausgereiftesten Roman aus der Serie bezeichnen würde. Er hat mehrere Metaebenen, eine ausgeklügelte Charakterzeichnung und Dramaturgie und die Illustrationen faszinieren durch ihre stimmungsvolle Pseudorealität, für die Stålenhag bekannt ist. Mich erinnern sie immer an die Production-Design-Zeichnungen von Ralph McQuarrie, der das Star-Wars-Universum entworfen hat. Die Faszination ist durch die heutigen Fähigkeiten von KI-Bildgeneratoren zwar nicht mehr ganz so groß wie 2014, als sein Erstling „Tales from the Loop“ erschien, aber zum ersten Mal gibt Stålenhag seinen Protagonisten ein eigenes Gesicht. Bisher sah man Menschen immer nur von hinten und konnte sie nach den eigenen Vorstellungen formen, Linus und Valter dominieren aber die Geschichte deutlich stärker als in allen Vorgängerbänden, so dass der Autor diesmal von seinem Prinzip abgewichen ist.

Simon Stålenhag variiert mit großer Einfühlsamkeit und konzentriert auf das Wesentliche das alte Thema „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Ob Linus und Valter den Weg in ihr richtiges Leben finden, will ich hier nicht verraten, aber die beiden auf dem langen Weg zu begleiten, ist sehr berührend.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.06.2025
Bullinger, Winfried

Pastoralist Homes


ausgezeichnet

Wer die Fotografien von Bernd und Hilla Becher kennt, der hat vielleicht ein kleines Déjà-vu in „Pastoralist Homes“. Während die Bechers sich den ästhetischen Qualitäten moderner (aber damals schon verschwindender) Industriearchitektur widmeten und in zahlreichen Serien festhielten, fotografiert Winfried Bullinger die temporären Behausungen nomadischer und seminomadischer Hirtenvölker in West- und Zentralafrika. Diese Architektur ist noch mehr vom Verschwinden bedroht als die Wassertürme und Stahlwerke zu Bechers Zeiten, denn sie ist ohne Ausnahme aus vergänglichen Materialien erbaut. Zwar stimmt nicht, was Thomas Schirmböck im Nachwort behauptet: „nomadic People leave no ruins“. Ein etwas zu kurz geratener Gedanke, denn gerade nomadische Architektur hinterlässt aufgrund der oft isolierten Wüstenlage ganz besonders langlebige „Ruinen“, aber sie sind meist im Boden verborgen. Dennoch ist die nomadische Lebensform im Rückzug und wie das industrielle Kulturerbe in den Sechzigern vom Verschwinden bedroht. Winfried Bullingers Monografie ist daher nicht nur ein serielles Kunstprojekt im Becherschen Sinn, sondern auch eine ethnologische Dokumentation, nicht zuletzt, da er die Orte und Kulturen genau zuordnet, aus denen seine Objekte stammen. Es ist keine touristisch angehauchte Fotografie. Es gibt keine Folklore, nur auf wenigen Abbildungen sieht man Menschen, die Bauten stehen als ästhetische Qualität für sich. Die Vielfalt, aber auch die kennzeichnenden Gemeinsamkeiten werden sichtbar: Organische Formen, zweckmäßig kombiniert mit einfachen Geometrien; das sind über Jahrtausende überlieferte Bautraditionen, die Archäologen schon in der Steinzeit nachweisen können. Dass ausgerechnet diese uralten, bewährten Behausungen vom Untergang bedroht sind, scheint der unvermeidliche Gang der Geschichte.

Winfried Bullinger zeigt die Schönheit der Hütten, die denen von Palästen in nichts nachsteht, ihre Wildheit und Eleganz, ihre Zweckmäßigkeit und wenn man so will, auch ihre Nachhaltigkeit. So wie die Bechers 1972 die Öffentlichkeit für die untergehende Industriearchitektur sensibilisierten, so könnte Winfried Bullinger dasselbe für die nomadische Architektur Afrikas leisten. Wer weiß, vielleicht liegt in dieser Vergangenheit ja ein wenig unserer Zukunft.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.06.2025
Disney

Comic Gigant


ausgezeichnet

Der 800 Seiten Wälzer liefert jede Menge Comic-Stoff zum Schmökern, natürlich in Farbe und mit allen Facetten, die das bunte Entenhausen zu bieten hat. Der Schwerpunkt liegt (zum Glück) bei der Familie Duck, besonders bei Donald, aber auch Goofy, Daniel Düsentrieb und der Oberstreber Micky Maus haben ihren Auftritt. Die Themen sind weit gefächert, abwechslungsreich, spannend, teilweise sehr originell übersetzt, auf Erika Fuchs-Niveau. Die Stories sind fast alle aus dem Jahr 2007, aus verschiedenen Ausgaben vom MM und den LTB „geborgt“, aber das ist jetzt fast 20 Jahre her, da darf man die auch gerne nochmal hervorholen. Richtig dankbar bin ich, dass die totalitäre Wokeness unserer Tage damals noch keine Rolle spielte und die Geschichten in erster Linie unterhalten wollen und nicht politisch korrekt belehren. Macht also auch heute noch Spaß zu lesen und man bekommt eine Menge Seiten fürs Geld.
Dann mal schöne Ferien!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.05.2025
Eliot, Aimie

Japan - Die schönsten Zugreisen


ausgezeichnet

In letzter Zeit sind einige Bücher zum Thema Bahnfahren in Japan erschienen. Aimie Eliot hat von den Neuerscheinungen den wohl breitesten Ansatz, sie spricht sowohl Neulinge wie erfahrene Japanfans an. Zum einen erklärt sie auch grundsätzliche Dinge, wie die Benimmregeln in japanischen Zügen und an Bahnsteigen, oder wie man Tickets kauft. Auch folgen einige Touren den üblichen Reiserouten für Anfänger, auf denen auch die absoluten Top-Highlights liegen. Andererseits gibt es wieder andere Touren, die weit ins Hinterland vorstoßen, was man eher als erfahrener Japan-„Profi“ macht. Einfach deshalb, weil es aufwendiger ist, langsamer und damit auch teurer. Aber man bekommt dafür ein Japan zu sehen, das an den heute leider touristisch völlig überfüllten Top-Zielen so nicht mehr existiert. Ich reise seit fast 20 Jahren immer wieder nach Japan und bin über die Entwicklung gelinde gesagt entsetzt. Mir gingen wirklich die Ausweichziele aus, weil ich die Massen in Kyoto und Osaka einfach nicht mehr ertrage, aber in diesem Buch ist die Bandbreite so groß, abwechslungsreich und regional ausgewogen, dass ich jede Menge neue Anregungen gefunden habe. Die Angaben zu Reisedauer, zu nutzenden Bahnlinien und Kosten (unter Berücksichtigung des Japan Rail Passes) sind umfassend und erlauben auch Zwischenstopps. Bei den abgelegeneren Orten empfiehlt die Autorin auch gute Unterkünfte. Die Ziele haben sehr unterschiedliche Themenausrichtungen, von kulturell oder Aktivurlaub bis zur Kulinarik. Besonderen Wert legt die Autorin auf schöne Strecken, bei denen manchmal auch nur der Weg das Ziel ist, aber wer die Annehmlichkeiten japanischer Züge kennt, der weiß, dass das kein Nachteil ist. Oft gibt es da auch spezielle Themenzüge, die oft kurios ausgestattet sind. Die Tickets sind dann manchmal nur auf speziellen Webseiten zu bekommen, auch die Info findet man bei der Tour.

Eines der besten Bücher zum Thema Bahnfahren in Japan, das ich kenne. Umfassend, vielfältig und mit viel Reiseerfahrung zusammengestellt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.05.2025
Arenz, Ewald

Gebrauchsanweisung für Franken


ausgezeichnet

Die Franken sind schon ein eigenes Volk. „Aweng“ maulfaul, Fremden gegenüber nicht gerade aufgeschlossen, kulinarisch bodenständig, protestantisch lustfeindlich, aber pragmatisch und fleißig. Jou, klingt jetzt nicht direkt nach Urlaubsparadies, aber Ewald Arenz nimmt in seinem liebevoll geschriebenen Kulturführer den zweifelnden Leser an die Hand und führt ihn durch blühende Landschaften, auf kuriose Volksfeste, durch viel Geschichte (auch Weltgeschichte...) und in Städtchen, die heute noch fast so idyllisch sind wie vor 500 Jahren. Denn das ist ein Vorteil der relativen Abgeschiedenheit: Traditionen haben sich hier besser gehalten als in vielen anderen Regionen Deutschlands. Das klingt schon wieder mehr nach Urlaubsparadies.
Besonders gut gefallen hat mir, dass der Autor mit viel Lust am Formulieren und einer Prise Selbstironie schreibt und man spürt, dass er die fränkischen Landschaften und ihre Bewohner liebt. Ausflüge in die Niederungen des fränkischen Dialekts, in dem man (wie in jedem Dialekt) so wunderbar präzise schimpfen kann, ohne zu beleidigen, inbegriffen. Arenz führt den Leser wie ein Reiseleiter durch die unterschiedlichen Regionen, in denen er touristische Ziele empfiehlt, oder kulinarische Experimente, er erzählt Anekdoten, die man eher nicht in Reiseführern findet und fügt so Puzzleteil an Puzzleteil, bis ein immer vollständigeres Bild dieser herb-schönen Region entsteht, die so voller Geschichte und Geschichten steckt.

Viele Bücher aus der „Gebrauchsanweisung“-Reihe haben unterschwellig einen gewissen „Auswanderer“-Charakter. Sie sind oft von Auswanderern geschrieben, die von ihren Problemen und kulturellen Missverständnissen berichten. Das ist bei Arenz ganz anders. Er schreibt als einheimischer Rückkehrer, der den Blick aus der Fremde zwar mitbringt, aber beide Seiten kennt. Das lässt ihn einerseits ein bisschen Distanz halten, andererseits spüren gerade Rückkehrer besonders, was ihre Heimat ausmacht. Bestimmte Dinge erkennt man nämlich nur von außen. Das macht das Buch so erfrischend anders und wirklich lesenswert.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.