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rockchickdeluxe

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Insgesamt 38 Bewertungen
Bewertung vom 23.12.2025
Hazen, Barbara

Der Zauberlehrling


ausgezeichnet

Oh, welch ein wunderbares Reclam-Büchlein! So wie Elke Heidenreich es im Nachwort erwähnt, begleiten auch mich die kleinen gelben Hefte seit meiner Schulzeit, durch das Studium und immer wieder zwischendurch. Ich habe die Klassiker darin gelesen, Goethes Faust, seine Balladen, die Philosophen und jetzt den Zauberlehrling.

Barbara Hazen erzählt die Geschichte vom Zauberlehrling und seinem Hexenmeister nach. Und der große, wunderbare Zauberer, Künstler und Hexer Tomi Ungerer erweckt die Geschichte mit seinen Zeichnungen zum Leben.

Walle, walle
Manche Strecke
Dass, zum Zwecke
Wasser fließe
und mit reichem, vollem Schwalle
Zu dem Bade sich ergieße.

Auch Tomi Ungerer begleitet mich seit meiner frühen Kindheit. Sind diese Bilder nicht wunderbar? Fängt er diese verrückte, übermütige, fröhliche, tragische und irrwitzige Fantasie nicht mit einem grossen Augenzwinkern ein? In den Illustrationen steckt das dunkle und das helle, die Spinnen, die Salamander und die grosse, blauäugige Eule. Sie irrlichtern und spuken, erzählen von Pflichtvernachlässigung, der Quittung fürs schlechte Benehmen und dem aufmüpfigen Geist derjenigen, die immer Kinder bleiben. Wie Tomi Ungerer. Wie Goethe. Wie ich.

Ich liebe alles an diesem Reclam-Heft. Das darin dieses anbetungswürdige Gedicht Goethes, Tomi Ungerer, Barbara Hazen und Elke Heidenreich zusammen gefunden haben. Dass ich es lesen durfte. Dass es jetzt in meinem Regal der Reclam-Hefte steht und ich es immer wieder zur Hand nehmen kann. Dass ich das große Privileg habe, Bücher zu lesen. Und das ist ein perfektes Geschenk ist, für Kinder, für Erwachsene und für alle.

Bewertung vom 13.12.2025
Signol, Christian

Marie des Brebis


ausgezeichnet

Zwei Jahre ist es her, dass ich im Haut-Quercy wandern war.

Die französische Provinz grenzt im Norden an das Limousin, im Westen an das Périgord, im Süden an die Gascogne und ans Languedoc und im Osten an die Rouergue und die Auvergne.

Die zerklüftete Landschaft wirkt fast wie ein Mittelgebirge. Es ist ein kleiner Kosmos, eine eigenwilligen Landschaft, durchflutet von einem einzigartigen Licht. Manchmal ist die Landschaft fast karg und dem Wetter ausgesetzt. Ich habe Nüsse und Esskastanien gesammelt und das Land dort lieben gelernt.

Das ist die Heimat von Marie des Brebis, der Schaf-Marie. Sie spricht französisch und den okzitanischen Dialekt und hat dem renommierten Autor Christian Signol ihre Geschichte erzählt. Sie erlebte das entbehrungsreiche Leben Anfang des 20. Jahrhunderts, zwei Kriege, die einschneidenden Veränderung der Nachkriegsjahre, hat gelitten, geliebt, ihre Lieben beerdigt und schöpfte ihre Kraft aus der Schönheit der Natur und der einfachen Gesten.

Inmitten dieser traumhaften Landschaft wird sie als Baby ausgesetzt und vom Schäfer Johannes gefunden und grossgezogen. Die Tiere, die Bäume, die Weite des Himmels und die Wiesen waren ihre Lehrmeister*innen. Durch alle schweren Zeiten und durch alle Prüfungen hindurch wählte sie die Zuversicht als Leitstern ihres Lebens. Nie strebt sie nach mehr als dem einfachen Glück und bewahrt sich ihr Vertrauen und ihre Dankbarkeit.

Marie des Brebis erzählt eine inspirierende Lebensgeschichte. Was ist wichtig im Leben? Was bedeutet Heimat? Liegt sie in den Menschen oder sind wir mit unserem Land verwurzelt? Wie gelingt es uns, das Unglück zu verarbeiten und mit dem Leid dennoch zuversichtlich zu leben?

Der Roman scheint ein wenig aus der Zeit gefallen. Marie beobachtet und reflektiert, schaut zurück und hält inne. Die Sprache greift die mündliche Überlieferung auf und führt sie weiter in eine Geschichte über Demut, Achtsamkeit und völlige Hingabe. Maries Geschichte ist wie eine kleine Oase. Die einfachen und dabei wunderbar berührenden Worte entschleunigen, beschwören den Zauber der Landschaft und verweben das Leben einer großherzig Frau mit dem Johannisfeuer, dem Blau des Himmels, dem Duft von Wachholder und den fröhlichen Tänzen auf dem Dorfplatz. Sie haben mich sofort zurückversetzt in diese wunderbare Landschaft.

Was für ein reiches Leben! Voller Weisheit, Vertrauen und dem Wissen, dass alles so ist, wie es sein soll.

Bewertung vom 09.12.2025
Donskoy, Daniel

Brennen


ausgezeichnet

Brennen. Es brennt, schwelt, lodert. Seine Seele brennt, sein Herz brennt, die Leidenschaft glüht. Das Feuer des Ich-Erzählers leuchtet, funkelt und zerbirst in einem Feuerball, um sich kurz danach ganz klar und scharf aus dem Chaos zu schälen. In ihm brennt der Wunsch, dazuzugehören, teilzuhaben, Teil von etwas zu sein. Doch der Standortwechsel ist seine Komfortzone geworden.

Mit unbändiger Freude erzählt D. autofiktional von der Suche nach seinen Wurzeln, erforscht, was Heimat sein kann, und erkundet das, was ihn im Kern seines Wesens ausmacht.

Da ist eine unbändige Sehnsucht, zu bleiben und trotzdem wird er immer weitergetrieben, um die eigene Stimme zu finden und das eigene Leben zu leben. Die ewige Schuld, frei sein zu können und eine Wahl zu haben übertüncht er mit Partys, Rausch, Exzessen.

Rasant, absurd, bitter, brutal und absolut ungeschönt erzählt Daniel Donskoy von der Sinnsuche und einer Identität mit multikultureller Prägung. Erst spät erkennt er darin das Privileg, die Welt aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und zahlreiche Perspektiven anbieten zu können. Vielleicht ist darin sein Weg auf die Schauspielschule vorgezeichnet.

Es klingt nach Popliteratur, aber Daniel Donskoy gelingt auch hier das Unmögliche: Er schreibt ein Debüt mit eigener Stimme, spielt auch im Text mit Perspektiven, macht Bedeutungsebenen auf, wird persönlich und bleibt allgemeingültig. Er sucht weiter nach der Heimat, auch in sich, aber es brennt, er reißt seine Wurzeln heraus, um dem Feuer zu entkommen.

Es brennt innen, und es brennt außen. Seine Wohnung nahe der Synagoge, das Theater, Israel.

Ein intelligenter Roman, brillant, intellektuell fast, komisch, tragisch, gesegnet.

Wir dürfen gespannt sein, womit dieses Multitalent als nächstes um die Ecke kommt, auf jeden Fall ist dies ein Meisterwerk für alle Generationen, mit unendlich vielen Anknüpfungspunkten und voller literarischer und kultureller Bezugspunkte, eigenen Fragestellungen, medialen Konnotationen. Wir Kinder der Popkultur sind privilegiert, und wenn ich so etwas lese, dann kann ich die ganze Welt umarmen. So groß.

Bewertung vom 08.12.2025
Chmelik, Daniela

Die Bärin


ausgezeichnet

Dinah wird von ihrem Partner verlassen. Dinah ist wütend. Dinah ist traurig. Der Schmerz schmerzt, alles tut weh. Sie kauft sich ein Bärinnen-Kostüm und schreitet fortan als wandelnder Ausnahmezustand durch die Welt. Ist das nicht befremdlich? Ja, das ist es. So wie Dinah selbst. Die Person tritt hinter das Kostüm und seziert akribisch ihren eigenen Zustand.

Was für eine Wucht in den Sätzen steckt! Hart, schnell, intensiv, die Sprache selbst ist alles zugleich: wütend, rasant, melancholisch, witzig, voller Klang, Rhythmus, Poesie. Sie ist Rugby-Spielerin, Poetin, Literatin, Feministin, Tochter, Schwester, Freundin, Depressive, Suizidgefährdete, Liebende, Bärin. Sie ist trotzig, explosiv, impulsiv, enttäuscht, weint, betrinkt sich, wütet, tut weh, reist auf den Balkan, schreibt Poesie in ihr Notizbuch, sucht Bilder für das Gefühlte, ihre Seele, ihr Herz.

Sie liest Louise Bourgeois. Die hat gesagt (Zitat im Zitat) Ich mache Kunst, weil meine Gefühle grösser sind als ich. Sie liest feminine Kampfschriften, Susan Sontag, plant ein Kunstprojekt zu wütenden Frauen. Sie zerlegt das Patriarchat und heteronormative Rollenbilder, entlarvt die Wut der Frau als nicht gesellschaftskonform und schuldbehaftet. Doch die Wut wird Motiv, Katalysator für notwendige Veränderung und kreative Kraft.

Daniela Chmelik hat einen furiosen Roman geschrieben, der gewohnte Verhaltensweisen ad absurdum führt, dem Frausein und der Freundinnenschaft einen Orden umhängt, schillert, leuchtet, unzählige Querverweise durch die Welt der (feministischen) Literatur anbietet, Scham und Sich-gehen-lassen zulässt, Mut macht und immer wieder die Fülle des Lebens feiert.

Der Roman ist eine Revolution. Es ist eine feministische Kampfschrift, eine Absage an heteronormative Narrative und ein leuchtendes Plädoyer für Freundschaft und Solidarität. Und plötzlich recke ich meine Faust gen Himmel und lasse mich forttragen von der wilden Stärke der Bärin. Die die Konvention und das Patriarchat verinnerlicht hat und deren Fesseln sprengt.

Bewertung vom 02.12.2025
Rademacher, Cay

Nacht der Ruinen


ausgezeichnet

Dichter Nebel wabert über den Ruinen von Köln, klirrend scharf schneidet das Sonnenlicht durch den Dunst. Der Romantiker, der Beobachter, der Amerikaner sieht, riecht und fühlt das zerbombte Köln, die Ruinen, die Stahltrosse und Trümmerhaufen. Er bahnt sich seinen Weg durch die Zerstörung, taucht ein mit allen Sinnen. Und trotz der Ruinen funkelt immer wieder die unbändige Schönheit des Lichts und der Hoffnung über dieser Stadt. Denn es ist seine Stadt.

1938 immigrierte der Jude Joseph Salomon mit seinen Eltern nach Amerika, um jetzt, im März 1945, als amerikanischer Soldat mit dem Spezialauftrag, einen Mord aufzuklären, nach Köln zurückzukehren.

Wenn Dialoge im Sprachduktus der 1950er-Jahre durch das Zwielicht der Ruinen hallen, dann trägt dies
maßgeblich zur dichten Atmosphäre des Thrillers bei. Es ist eine Freude, dem Verbrechen gemeinsam mit George Orwell, Irmgard Keun und Hermann Claasen an der Seite von Joe Salmon auf die Spur zu kommen. Hier verschmilzt Fiktion und Historie besonders eindrucksvoll.

Doch nicht nur die Lösung des Falls ist tief in den Trümmern vergraben, auch die Vergangenheit des Zurückgekehrten. Auf dem Weg zur Lösung muss er auch in der eigenen Geschichte graben und sich den Geistern der Vergangenheit stellen. Dem Freund, der in Köln zurückgeblieben ist und der Frau, die er liebte.

Was für ein sympathischer Protagonist! Verletzlich, niemals überlegen, emotional und loyal bis zum Äußersten. Ein Antiheld, der so menschlich agiert, dass all seine Aktionen und Gedanken nachvollziehbar sind. Es ist seine Zerrissenheit, die Handlung seine Wege offenhält und eine Entscheidung nicht unbedingt vorhersehbar macht.

In sprachlich wunderbaren Bildern zeichnet Cay Rademacher die Wege seiner Figuren, die alle nahbar, humorvoll und sehr lebendig angelegt sind. Dem außergewöhlichen Erzähler gelingt ein poetischer Thriller, der brillant die historische Zeit kurz vor Kriegsende mit einem spannenden Kriminalfall verknüpft. Das gibt historische Einblicke in ein finsteres Zeitalter und erzählt ungewöhnlich frei von menschlichen Beweggründen in furchtbaren Zeiten.

Was für ein großartiger Roman!

Bewertung vom 01.12.2025
Paar, Tanja

Am Semmering


ausgezeichnet

Kommen Sie an den Semmering! Gönnen Sie sich im Sporthotel am Semmering eine luxuriöse Auszeit von der Hektik Wiens und tauchen Sie ein in die Freuden exquisiter Kulinarik, herrlicher Landschaft, Wellness und fantastischer Sportmöglichkeiten in einem der beliebtesten Luftkurorte Österreichs.

Bis heute ist der Semmering bei Wien ein Luftkurort für die Wohlhabenden. Tanja Paar aber nimmt uns mit in die Parallelwelt der einfachen Leute. Klara und Bertl leben nicht in der mondänen Welt der Luxushotels, auch wenn Klara immer mal wieder einen Blick in Richtung Bürgertum wirft. Sie leben in der Gartenwohnung des Bahnwärterhäuschens, denn Karl hat sich vom einfachen Bahnarbeiter zum Fahrdienstleiter hochgearbeitet.

Gemeinsam mit Klaras bester Freundin Rahel, einer jüdisch-orthodoxe Witwe mit drei Kindern, Fritz, einem Ex-Baron, der sich auf die Seite der Roten schlägt und Szabo, Lebemann, Pianist und Hotelverwalter bilden Klara und Bertl ein fünfblättriges Freundschaftskleeblatt, das das Beste aus dem Leben herausholt.

Der Semmering wirkt wie ein Kokon, in den erst nach und nach die Zeitgeschichte Einzug hält, die Tanja Paar gekonnt mit der Familiengeschichte verwebt.

Die Erzählung beginnt 1928 und reicht bis 1945. Die Bürgerkriegskämpfe 1934 sind Thema, die illegalen Nazis während der Ständediktatur, der Anschluss Österreichs ebenso wie die Kämpfe zwischen Wehrmacht und Roter Armee 1945. So entsteht ein multidimensionales Bild aus Familiengeschichte, Existenzsorgen und Historie Österreichs.

Wunderbar wird der Roman vom authentischen Klang der Sprache getragen, stilsicher nachempfunden und zum Leben erweckt. Die Sprachmelodie trägt wunderbar durch den Alltag, die kleinen Sorgen und die großen Umbrüche.

Tanja Paar zeichnet ein persönliches, wortgewandtes und eindringliches Portrait von Menschen, die keine Held*innen waren und dennoch unweigerlich politisiert wurden. Die Großeltern der Autorin lieferten mit ihrer eigenen Geschichte die Inspiration zu diesem außergewöhnlichen Erzählprojekt, denn der Großvater war Eisenbahner und lebte mit seiner Frau ebenfalls am Semmering. Wieder einmal zeigt sich anschaulich, wie die politische Geschichte ins Private eindringt. Ein absolut lesenswerter Roman, der mit leisen, humorvollen und klangvollen Tönen die Schrecken und Freuden der Zeit einfängt.

Bewertung vom 26.11.2025
Robert, Céline

Liaisons


ausgezeichnet

Vorhang auf und wir sind mitten drin in der ersten Szene einer säuerlichen und Liebeskomödie. Der Roman wird erzählt von fünf Stimmen, teils unwissentlich verwoben durch ein Geflecht aus Begierde, Machtverhältnissen, Befreiungsversuchen, Abhängigkeiten.

Lauren ist 41, verheiratet, hat einen angesehenen Beruf, lebt ohne Dramen. Sie legt sich einen Liebhaber zu, ihren Kollegen Maxime. Er ist schön, leicht beschränkt und völlig verunsichert von der Tatsache, dass Lauren nicht seinem Klischee der bedürftigen Maitresse entspricht. Sie bestimmt die Regeln und nimmt sich, was sie will. Das geht doch so nicht? Maxime ist verheiratet mit Nadia.

Nach einem Burnout versucht sie, der Schublade zu entkommen, in der sie das bourgeoisen Rollenverständnis gefangen hält. Entfremdet von ihrem Ehemann und sichtlich erschöpft kämpft sie um Selbstbehauptung und sucht das Loslassen in der Ekstase der Nacht. Gemeinsam mit ihrem Kindermädchen Emma.

Emma ist Studentin, klug, engagiert und sich ihrer verführerischen Jugend in eine, begehrenswerten Körpers sehr bewusst. Sie lebt das dionysische Prinzip und umgarnt ihren Professor Jean. Jean ist verheiratet mit Lauren und leidet unter der Entfremdung zu Lauren.

Zwischen den alltäglichen Dingen des Lebens entfaltet sich ein Spiel um menschliche Verletzlichkeit, das Wechselspiel zwischen dem Drang nach Freiheit und den Preis, den es dafür zu zahlen gilt und die Ambivalenz der Liebe.

Was bedeutet es, die Kontrolle zu verlieren? Für das eigene Leben, die Glaubenssätze, die Beziehung?

Sprachlich hinreißend pointiert und scharfzüngig führt der Debütroman von Céline Robert in einen erotischen Kosmos aus Wünschen, mühsam aufrecht erhaltenen Fassaden und Begehren. Die Grenzen zwischen Erotik und Sehnsucht nach Nähe verschwimmen ebenso wie die traditionellen Parameter für Anstand und Moral.

Ein wahres Lesevergnügen in einer hervorragenden Übersetzung, die den sprachlichen Witz gekonnt einfängt.

Herrlich kurzweilig, ideal zum Verschenken und absolut erfrischend. Eine uneingeschränkte Empfehlung!

Diese Autorin wird sich sicherlich innerhalb kürzester Zeit einen Namen machen.

Bewertung vom 24.11.2025
Behm, Martina

Hier draußen


ausgezeichnet

Der Traum vom Leben auf dem Land. Kein Lärm, die Kinder können sich frei bewegen, Bio-Lebensmittel und viel Zeit für die Familie. Zurück zur Natur. Die Ablenkungen bleiben in Hamburg. Das Grundstück liegt nicht weit vom See entfernt, es ist so schön in Schleswig-Holstein, im Land zwischen den Meeren. Der Blick geht weit und die Luft ist klar.

Martina Behm schafft in Hier draußen eine wunderbare Persiflage auf das Ideal vom Resthof und dem Glück auf dem Dorf. Sie bevölkert Fehrdorf mit eigenwilligen, liebenswerten, engstirnigen hoffnungsvollen, warmherzigen und kantigen Charakteren. Sie alle haben ihre Sorgen, ihre Träume, ihre Resignation, ihre sehr eigenen Lebens- und zarten Liebesgeschichten.

In diese Dorfgemeinschaft hinein geraten Lara und Ingo, die mit ihrer festgefahrenen Ehe, zwei Kindern und einem Knall in ihrer Mitte landen.

Der Roman beginnt mit einem Autounfall. Ingo ist auf dem Heimweg aus Hamburg und überfährt eine weiße Hirschkuh. Ingo ruft den Jäger Uwe aus dem Dorf, doch der ist abergläubisch und weigert sich, die HIrschkuh alleine zu erschießen. Denn wer einen weißen Hirsch tötet, der wird selbst innerhalb des kommenden Jahres tot sein. Ist das wahr? Beide schliddern in das neue Leben, das sie sich so ganz anders vorgestellt haben.

Warmherzig, ironisch und voller Liebe zum Detail entspinnt Martina Behm eine Dorfgemeinschaft voller Individuen. Lara und Ingo finden und bringen Veränderung, so wie jedes Gefüge sich verschiebt, wenn etwas in Bewegung gerät. Die eingefahrenen Rollen und die alten Traditionen werden dann doch noch ganz leise hinterfragt, und wer weiß, was sich alles entwickelt, wenn sich mit dem Wohnort auch die Haltung ändert. Alles ist möglich.

Die Stimmen der Zugereisten wechseln mit den alteingesessenen Dorfbewohner*innen, den Landwirten, den Viehzüchtern. Grandios trifft Martina Behm den norddeutschen Ton. Ich war sofort zu Hause in Fehrdorf. Vermutlich ist es nur ein Dorf weiter.

Die verschiedenen Perspektiven machen diesen Roman so lesenswert. Ich bin so tief eingetaucht ins Dorfleben, dass es mir, als ich wieder auftauchte, seltsam vorkam, dass Fehrdorf fiktiv sein soll. Ich ziehe meinen Hut!

Eine absolute Leseempfehlung für alle, die Lust auf Geschichten, Humor und lebendige Charaktere haben, die schnell ans Herz wachsen.

Bewertung vom 16.11.2025
Hörner, Unda

Frauen am Bauhaus Dessau


ausgezeichnet

Vor 100 Jahren, 1925, zog das Bauhaus von Weimar nach Dessau. Die Frauen der Bauhausmeister sollten den neuen Standort maßgeblich prägen, sie fanden ein neues Selbstverständnis im Schnellzug der Avantgarde, der verstaubte Frauenbilder einfach zurückließ.

Wie viele Avantgarde-Bewegungen war das Bauhaus patriarchalisch organisiert. Wie groß die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit sich angefühlt haben muss!

Wo Männer im Rampenlicht standen, waren Frauen oft dazu verdammt, im Verborgenen zu wirken.
Die Architektur des Bauhauses lässt sich in diesem Fall also auch metaphorisch lesen. Die Frau bleibt hinter den Wänden in einem gut funktionierenden Haushalt verborgen, die Männer strahlen in der Öffentlichkeit und ziehen, genau wie die neue Architektur, die Blicke auf sich.

Die Ideen von Revolution und Reform blieben also häufig hinter der Regierenden Realität zurück. Das Bauhaus revolutionierte das Denken über Kunst, sowie die Ästhetik selbst. Unter dem Dach der Architektur fanden alle Künste zu einer Symbiose, die die Wahrnehmung von Kunst grundlegend veränderte.

Nach aussen zeigte die Architektur die klaren Strukturen im markanten Design, innen sollte die Kunst das alltägliche Leben erheben und erleichtern. Dieses Verhältnis von innen und aussen spricht Bände. Um die Männer herrschte ein Meisterkult, die Frauen hatten keinen offiziellen Status, sahen sich mit Ablehnung und überholten Rollenbildern konfrontiert. Sie wurden kollektiv in die Textilklassen verbannt.

Wunderbar eindrücklich webt Unda Hörner die Lebensfäden der Bauhausfrauen ineinander. Ihre Mitarbeit, ihre Texte und ihre Fotos wurden oft weder gekennzeichnet noch respektiert, und doch leisteten sie Großes. Ise Gropius übernahm Führungen und Veranstaltungen an der Schule, organisierte Konzerte und sorgte für einen regen Austausch. Lucia Moholy-Nagy und Gertrud Arndt wurden anerkannte Fotografinnen, Anni Albers und Gunta Stölzl wurden Bauhaus-Meisterinnen und weltbekannte Textilkünstlerinnen.

Mit Zielstrebigkeit und Disziplin behauptete Lilly Reich ihren Platz in der von überholten Stereotypen geprägten Bauhaus-Welt. Sie kämpft mit dem Gegenwind der konservativen Gesellschaft, in der starke Frauen anecken.

Herrlich anschaulich im Wechsel von Zeitgeschichte und Biografie beschreibt Unda Hörner den Anteil der Meister-Frauen am Bauhaus als dem leuchtenden Stern am Avantgarde-Himmel. Gleichzeitig erzählt sie von selbstbewussten Individuen, die ihren Platz in der Kunst und in der Gesellschaft behaupteten und das Erbe ihrer berühmten Gatten verwalteten oder vor den Vernichtung retteten.

Frauen am Bauhaus Dessau ist ein weitreichender Einblick in einen bedeutenden Abschnitt der Kunstgeschichte und erzählt mit großer Kraft von mutigen Frauen, die sich ihr Recht auf Freiheit erkämpften, eine neue Art des Sehens schufen und und bis heute unvergessene Vorbilder sind.

Bewertung vom 10.11.2025
Mell, Eli

Merry Crisis - ein fast besinnliches Weihnachtsfest


ausgezeichnet

Chaosmanagement in 24 Kapiteln

Am 23. Dezember macht sich Olivia auf, um Weihnachten mit ihrer Familie zu feiern. Wie jedes Jahr. Und wie jedes Jahr zieht die gesamte Familie für 5 Tage in das Elternhaus. Anstrengend ist gar kein Ausdruck.
Schon die Anreise entpuppt sich als mittlere Katastrophe. Erst dem Uber-Fahrer und dann einer Bowling-Truppe im Zug ausgeliefert, kommt sie mit angegriffenem Nervenkostüm zu Hause an.

Sofort hat die Familiendynamik sie wieder, und Olivia aktiviert ihr Weihnachtsgesicht, mit dessen Hilfe sich so manche Situation überstehen lässt. Der Bruder bringt die neue Freundin mit, ein neuer Onkel bereichert das Gefüge, die altbekannte Dynamik nimmt ihren Lauf.

Eli Mell nimmt in ihrem Debütroman Weihnachten mit der Familie aufs Korn und erschafft eine Protagonistin, die entschieden hat, dass Weihnachten am besten zu ertragen ist, wenn man sich selbst in den kritischen Situationen von außen betrachtet.

Zwischen den jährlichen Ritualen und vielen unplanbaren Situationen, die sich durch eine interessant komponierte Familienzusammensetzung ergeben, erlebt sie die Feiertage, die zwar in ihrer Absurdität überspitzt sind, aber dennoch Reminiszenzen an viele Weihnachtsfeste im Familienkreis hervorrufen dürften.

Es gibt Aqua Aerobic mit der Ömi, Ausdruckstanz und Plätzchenschlachten, Weihnachtsbaumkämpfe, Triggersituationen, Tränen und über allem die Liebe der Menschen, denen Olivia viel bedeutet, die es aber nicht immer gut zeigen können.

Der Stil des Romans ist interessant. Eloquent und bildreich, derbe-schnoddrig und in der harschen, ironischen Distanziertheit fast schon masochistisch. Doch immer dann, wenn der ironische Ton einmal beiseite geschoben wird, kommt dahinter eine verletzliche Protagonistin zum Vorschein, die ihren Platz im Leben und der Familie sucht.

Eli Mells Debüt ist ganz sicher kein cosy X-mas-Escape, vielmehr ein rasantes Rauschen durch das Fest der Liebe. Ich hatte das Vergnügen, zu hören, wie Eli Mell Ausschnitte ihres Romans selbst vorliest. Die professionelle und facettenreiche Sprecherin, deren Stimme ich die ganze Zeit im Kopf hatte, machte den Weihnachtsurlaub zu einem reinen Fest. Das Hörbuch wird ganz sicher brillant.

Merry Crisis ist vielschichtig, fröhlich, tiefsinnig, witzig und vor allem brillant geschrieben. Der Roman wird ein großes Publikum finden. Denn alle, die sich fragen, ob es Weihnachten eigentlich nur ihnen so geht, dass sie nicht wissen, wie sie die Festtage überstehen sollen, haben hier eine die Antwort: Du bist nicht allein. Frohe Weihnachten!