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Monsieur
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Amorbach

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Insgesamt 49 Bewertungen
Bewertung vom 30.08.2025
Yagisawa, Satoshi

Die Tage im Café Torunka


sehr gut

Ein Café, in dem die Zeit stillsteht

„Die Tage im Café Torunka“ ist bereits der dritte Roman von Satoshi Yagisawa, der in deutscher Übersetzung erschienen ist. Auch diesmal wählt der Autor einen besonderen Ort als Bühne für Begegnungen ganz unterschiedlicher Menschen und ihrer alltäglichen Geschichten. Statt der bekannten Buchhandlung Morisaki steht nun jedoch ein abgelegenes Café im Mittelpunkt – ein Platz, der meist nur von Einheimischen besucht wird und gerade durch seine Ruhe und Abgeschiedenheit eine besondere Anziehungskraft entfaltet.
Im Unterschied zu seinen beiden früheren Romanen rückt Yagisawa diesmal nicht eine einzelne Hauptfigur ins Zentrum, über die die Leser nach und nach auch andere Charaktere kennenlernen. Stattdessen überlässt er nacheinander verschiedenen Ich-Erzählern die Bühne, die aus jeweils ganz eigenen Beweggründen den Weg ins Café Torunka finden. So entsteht ein Mosaik aus Lebensgeschichten, das von gewöhnlichen Menschen erzählt – Bürgern mit ihren Sorgen, Hoffnungen und kleinen wie großen Träumen. Diese sind nicht immer unbeschwert: Gerade auch die jüngeren Figuren haben bereits Erfahrungen mit Verlust, Unsicherheit oder Orientierungslosigkeit gemacht. Da ist etwa der Student, der noch keinen Platz im Leben gefunden hat, oder das Mädchen, das sich in den Freund ihrer verstorbenen Schwester verliebt – weniger aus romantischen Gründen, sondern als Ausdruck ihres Wunsches nach Reife und einem Umgang mit ihrer Trauer.
Wie schon in seinen Vorgängerwerken bleibt Yagisawas Ton ruhig und unaufgeregt. Seine Erzählweise ist leicht zugänglich, lädt zum Mitfließen ein und vermittelt das Gefühl, als stünde die Zeit still, sobald die Figuren das Café betreten. Die Welt außerhalb rückt in den Hintergrund; einzig die Geschichten der Menschen zählen. Atmosphärisch arbeitet der Autor mit leisen Andeutungen, ohne sich in ausführlichen Beschreibungen zu verlieren.
„Die Tage im Café Torunka“ ist eine stille, unprätentiöse Lektüre, die keine großen Gesten braucht, um das Auf und Ab des Lebens einzufangen – auf eine Weise, in der sich viele Leser wiedererkennen können. Zwar bleibt Yagisawas Werk auch im dritten Band nicht ganz frei von dem Verdacht, vor allem als ansprechendes „Geschenkbuch“ zu funktionieren. Doch hebt es sich von vielen vergleichbaren Titeln ab, weil es trotz seiner Schlichtheit eine untergründige Ernsthaftigkeit und Tiefe bewahrt, die es lesenswert macht.

Bewertung vom 23.08.2025
Biedermann, Nelio

Lázár


sehr gut

Ein Familienroman in klassischer Manier

„Lázár“ von Nelio Biedermann ist ein Familienroman im klassischen Gewand – und wirkt zunächst wie eine Veröffentlichung, die nicht so recht ins Jahr 2025 passen will. Erzählt wird die Geschichte einer ungarischen Adelsfamilie im 20. Jahrhundert, deren Schicksal erkennbar auf den eigenen Vorfahren des Autors basiert. In rascher Folge werden zahlreiche Familienmitglieder als handelnde Figuren eingeführt. Ausgangspunkt ist das abgelegene Waldschloss der Familie, in dem seit Generationen nach den immer gleichen Regeln „regiert“ wird. Doch mit den Kindern, die im Verlauf des Romans die Geschicke nicht nur der Familie, sondern auch der Handlung übernehmen, beginnt das starre Gefüge zu wanken – befördert durch die historischen Zäsuren des Weltkriegs und seiner Folgen.
Dabei begnügt sich „Lázár“ nicht mit einer reinen Nacherzählung von Zeitgeschichte oder einer bloßen Familienbiografie. Immer wieder findet der Roman Raum, die inneren Konflikte seiner Figuren – Lajo, Eva und Pista – auszuloten: ihre Zweifel, Ängste, Sehnsüchte und Hoffnungen. So entsteht ein dichtes Bild einer Epoche, die in all ihren Umbrüchen, Wirrungen und Gegensätzen greifbar wird und zugleich die individuelle Entwicklung der Protagonisten mit einschließt.
Das hohe Tempo der Erzählung erweist sich als notwendiges Stilmittel, um diesem weiten Panorama gerecht zu werden. Es birgt zwar die Gefahr der Oberflächlichkeit, doch Biedermann versteht es, den Rhythmus zu halten: sein Roman ist schnell, lebendig, zuweilen verspielt, wechselt zwischen realistischen Schilderungen historischer Ereignisse und beinahe surrealen Momenten innerer Kämpfe.
Die Geschichte, die im abgeschiedenen Herrschaftsgebiet der Familie ihren Anfang nimmt, entfaltet sich als eine Reise durch die Biografie einer ganzen Epoche – und zugleich als intime Erzählung einzelner Schicksale.
Natürlich ist diese Art Familienroman nicht neu. Zahlreiche Werke haben bereits das Leben adeliger Familien im Kontext von Vorkrieg, Krieg und Nachkriegszeit behandelt – sowohl von Zeitzeugen als auch von zeitgenössischen Autoren. Nelio Biedermann erfindet dieses Genre nicht neu, sondern schreibt in einem klassischen, erwartbaren Stil. Dennoch bewegt er sich dabei auf hohem Niveau: „Lázár“ ist ein unterhaltsamer, mitreißender Roman, der souverän mit Figuren, Historie und Fiktion spielt.
Und doch wirkt das Werk eher wie ein Nachtrag – solide, aber nicht zwingend notwendig für unsere Gegenwart. Zwar lassen sich die Verlorenheit und Orientierungslosigkeit der Figuren mühelos auf heutige Menschen übertragen, dennoch wirkt der Roman insgesamt zu konventionell, um wirklich herauszustechen. Somit ist „Lázár“ ist eine empfehlenswerte Lektüre – ein komplexes, souveränes Familienepos über eine ungarische Adelsfamilie, das die Leser nicht enttäuschen wird, auch wenn es im Genre keine neuen Maßstäbe setzt.

Bewertung vom 22.04.2025
Stern, Anne

Wenn die Tage länger werden


sehr gut

Starker Start, dann driftet der Roman zu sehr ab

Anne Sterns Roman „Wenn die Tage länger werden“ beginnt als intensive Innenschau einer Frau am Rande ihrer Kräfte. Lisa, eine alleinerziehende Musiklehrerin, jongliert zwischen Schulalltag und der Erziehung ihres Sohnes – eine Aufgabe, die ihr kaum Raum für eigene Bedürfnisse lässt. In kurzen, prägnanten Aussagesätzen zeichnet Stern das Porträt einer Frau, die sich selbst über Jahre hinweg vergessen hat – mitsamt ihren Träumen, insbesondere jenem, eine professionelle Violinistin zu werden.
Diese bedrückende, aber überaus realistische Darstellung weiblicher Selbstaufopferung ist das große Pfund des Romans – zumindest in seiner ersten Hälfte. Stern gelingt es, mit hoher Sensibilität und sprachlicher Klarheit die erschöpfte Lebensrealität vieler Frauen einzufangen, ohne ins Klagende abzudriften.
Doch mit Beginn der Sommerferien erfährt die Erzählung eine abrupte Wende: Lisa gibt ihren Sohn für einige Wochen in die Obhut seines Vaters und gewinnt dadurch zum ersten Mal seit Jahren Zeit für sich selbst. Als sie ihre geerbte Geige zur Reparatur bringt, öffnet sich nicht nur ein musikalisches, sondern auch ein historisches Fenster. Der Roman wechselt nun in eine Spurensuche, die über die Geschichte der Geige zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs führt.
Diese zweite Hälfte wirkt jedoch weniger kohärent. Der Fokus verlagert sich von Lisas emotionaler Innenwelt zu einer losen und stellenweise konstruiert wirkenden Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Die Verbindungen zwischen Lisa, der Geige und deren Geschichte erscheinen oft zufällig und lassen den sorgfältigen Aufbau der ersten Kapitel seltsam wirkungslos, wenn gar überflüssig erscheinen. Fragen nach Identität, Verantwortung und persönlicher Entwicklung werden zugunsten eines zunehmend unterhaltungsorientierten Plots nur oberflächlich gestreift.
Was als vielversprechende Reflexion über moderne Mutterschaft und weibliche Selbstverwirklichung beginnt, verliert sich zunehmend in einer etwas beliebig wirkenden Vergangenheitsgeschichte. Die Tiefe des Auftakts wird nicht gehalten, die Themen der Überforderung und Selbstfindung weichen einer Story, die mehr auf Spannung als auf Relevanz setzt.
Als reiner Unterhaltungsroman erfüllt „Wenn die Tage länger werden“ seine Funktion – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenngleich der Anfang deutlich mehr versprach.

Bewertung vom 16.04.2025
Bußmann, Nina

Drei Wochen im August


gut

Ein Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen

In „Drei Wochen im August“ versammelt Nina Bussmann ihre Figuren in einem abgelegenen Ferienhaus an der französischen Atlantikküste. Was auf den ersten Blick wie ein klassischer Familienroman anmutet, erweist sich schnell als Versuch, das Genre auf unkonventionelle Weise neu zu denken. Im Mittelpunkt steht Elena, die sich in einer kriselnden Ehe befindet. Um Abstand zu gewinnen, reist sie ohne ihren Mann, aber mit ihren drei Kindern und zwei familienfremden Personen in den Urlaub.
Bussmann interessiert sich weniger für äußere Handlung als für das feine Geflecht der zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie seziert das Zusammensein auf engem Raum mit präzisem Blick, besonders Elenas ambivalentes Verhältnis zu ihren Kindern. Im Zentrum dieser Entwicklung steht die bislang eher verschlossene, dickliche Tochter, die im Verlauf des Aufenthalts zögerlich beginnt, sich zu öffnen.
Spannungen entstehen schleichend und bleiben oft unter der Oberfläche – ein erzählerischer Kniff, der die Atmosphäre unterschwellig auflädt, ohne sie zu dramatisieren. Der Reiz dieses Ansatzes liegt darin, dass der vermeintlich idyllische Rückzugsort zur Projektionsfläche für verdrängte Emotionen wird. Elena, gezwungen zur Innenschau, entdeckt dabei nicht nur ihre Rolle als Mutter, sondern auch sich selbst neu.
Trotz dieser vielversprechenden Anlage gelingt es Bussmann nicht durchgehend, ihre Figuren greifbar zu machen. Sie bleiben distanziert, fast austauschbar. Diese emotionale Unnahbarkeit erschwert die Identifikation und lässt die literarische Auseinandersetzung mit den Charakteren unbefriedigend wirken. Gerade weil der Roman beinahe vollständig auf seine Figuren baut und Handlung nur als Hintergrundrauschen dient, wiegt dieser Mangel schwer.
Auch stilistisch bleibt Bussmann hinter den Erwartungen zurück: Ihr knapper, teils abgehackter Schreibstil wirkt oft spröde und schafft es nicht, über die gesamte Länge zu tragen.
„Drei Wochen im August“ ist ein ambitionierter, aber letztlich blasser Roman. Er hinterlässt kaum Spuren – weder inhaltlich noch emotional. Nach der letzten Seite sind Elena und ihre Familie schnell vergessen.

Bewertung vom 25.03.2025
Andrea, Jean-Baptiste

Was ich von ihr weiß


sehr gut

Mimos steiniger Weg

Am 1. April 2025 bringt der Luchterhand Literaturverlag den mit dem Prix Goncourt 2023 ausgezeichneten Roman "Was ich von ihr weiß" des französischen Autors Jean-Baptiste Andrea endlich auch in deutscher Übersetzung heraus. Dieses literarische Werk, das sich als ambitioniertes Epos über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts versteht, vereint mehrere Genres in sich: Es ist zugleich Künstlerroman, Historienbuch, Bildungs- und Gesellschaftsroman – ein komplexes Unterfangen, das hohe Erwartungen weckt.
Im Zentrum der erzählten Geschichte steht Michelangelo Vitaliani, kurz Mimo, der in bescheidenen Verhältnissen aufwächst und schon früh mit der Bildhauerei in Berührung kommt. Sein Talent offenbart sich schnell, doch der Weg an die Spitze ist lang und voller Rückschläge. Mimo hat nicht nur mit Armut zu kämpfen, sondern muss sich auch gegen Anfeindungen seiner Umgebung zur Wehr setzen. Als Kleinwüchsiger hat er es in dem körperlich anstrengenden Beruf des Bildhauers schwerer als andere. Trotz zahlreicher Rückschläge und Phasen des Scheiterns behauptet er sich schließlich und avanciert zu einem gefeierten und begehrten Künstler.
Eine zentrale Rolle im Roman spielt auch Viola, die Mimo während eines Bildhauerauftrags in ihrer gemeinsamen Kindheit kennenlernt. Im Gegensatz zu ihm stammt sie aus wohlhabenden Verhältnissen, empfindet ihre Startbedingungen jedoch keineswegs als ideal. Als junge Frau im frühen 20. Jahrhundert fühlt sie sich von den gesellschaftlichen Erwartungen eingeengt und strebt nach größerer Freiheit. Ihr Traum, das Fliegen zu lernen, symbolisiert ihren Wunsch nach Unabhängigkeit. Gemeinsam mit Mimo widmet sie sich in ihrer Jugend der Erforschung und dem Bau von Flugmaschinen, doch ihre Bemühungen enden tragisch in einem schweren Unfall.
Jean-Baptiste Andrea erzählt die Geschichte von Mimo und Viola über viele Jahre hinweg. Der Roman verweilt lange in der Kindheit und Jugend der Protagonisten, bevor er sich Mimos Reifeprozess als junger Mann widmet und schließlich zum Wiedersehen der beiden nach vielen Jahren springt. Die latente Liebesgeschichte zwischen Mimo und Viola wird dabei immer wieder von langen Trennungen und den Wirren der Zeitgeschichte unterbrochen. Die politischen Entwicklungen, insbesondere die beiden Weltkriege, bilden den Hintergrund der Handlung, geraten jedoch erst im letzten Drittel des Romans in den Vordergrund. Hier wird Mimo unmittelbar in die politischen Fronten verwickelt, was der Geschichte eine zusätzliche Dimension verleiht.
Bis dahin bleibt der Roman jedoch überraschend einfach gestrickt. Wer anhand des Klappentextes eine tiefgehende Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen erwartet, könnte zunächst enttäuscht sein. Der Schwerpunkt liegt vor allem auf der Schilderung von Mimos Kindheit, seiner Ausbildung in der ersten Werkstatt, seiner Freundschaft mit Viola und seinem kämpferischen Streben nach einem Platz in der Welt. Auch die Figur Viola, die aufgrund ihres rebellischen Wesens und ihrer Suche nach Freiheit eine vielversprechende Protagonistin hätte sein können, bleibt eher im Hintergrund. Sie wird zur Nebenfigur degradiert, während Mimos Lebensweg klar im Mittelpunkt steht.
Dieser Fokus auf Mimo und die teilweise nur oberflächliche Behandlung der anderen Themen führen dazu, dass "Was ich von ihr weiß" insgesamt weniger komplex wirkt, als man es von einem Prix-Goncourt-Gewinner erwarten würde. Der Roman erinnert stellenweise fast an einen Trivialroman, wenngleich er auf einem höheren Niveau unterhält. Jean-Baptiste Andreas Stärke liegt vor allem in der erzählerischen Gestaltung der Geschichte selbst – mit spannenden Wendungen, viel Tragik, Leidenschaft und Drama – weniger jedoch in der Tiefe seiner Themen. Diese bleiben oft unausgearbeitet und bieten wenig neue Einsichten.
Auch die Darstellung von Mimos Ausbildung und Leben als Bildhauer ist zwar zweckmäßig und zufriedenstellend, aber nur bedingt authentisch. Zwar fügen sich historische Details sauber in die Handlung ein, doch die Darstellung des Handwerks und der Zeit bleibt insgesamt eher durchschnittlich. Mimo ist eine vielschichtige Figur, der man gerne durch die Geschichte folgt, doch über die Stationen seines Lebens hinaus fehlt ihm das gewisse Etwas, das eine tiefere Auseinandersetzung mit seinem Charakter spannend machen würde. Dasselbe gilt für Viola, die trotz ihres Potentials nicht über die Rolle einer Nebenfigur hinauskommt.
Als Unterhaltungsroman kann "Was ich von ihr weiß" dennoch überzeugen. Die spannende Geschichte, die zahlreichen dramatischen Wendungen und die tragischen Momente dürften viele Leser ansprechen und bis zum Schluss fesseln. Wer jedoch auf eine tiefere Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Themen der Zeit hofft, könnte eher ernüchtert sein. Jean-Baptiste Andreas Roman bleibt hinter seinen Erwartungen zurück und bietet letztlich wenig neue Erkenntnisse in seinen zentralen Themen.

Bewertung vom 14.03.2025
Hagena, Katharina

Flusslinien


ausgezeichnet

Eine Brücke zwischen den Generationen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Katharina Hagenas vierter Roman Flusslinien erzählt von drei Protagonisten in unterschiedlichen Lebensphasen: Margit, Luzie und Arthur. In einer poetischen, fragmentierten Erzählweise verwebt Hagena Vergangenheit und Gegenwart.
Margit, über hundert Jahre alt, lebt in einer Seniorenresidenz. Ihre Erinnerungen an Krieg, Nachkriegszeit und ihre Karriere als Stimmbildnerin tauchen bruchstückhaft auf, fernab pathetischer Geschichtsstunden. Trotz ihrer bewegten Vergangenheit strahlt sie Ruhe aus.
Luzie hat sich nach einer traumatischen Erfahrung vom Abitur abgemeldet. Sie flüchtet sich in die Kunst des Tätowierens und beginnt, Margit und andere Senioren mit Motiven zu verzieren. Abgeschieden an der Elbe sucht sie nach Halt, doch ihre Entschlossenheit macht sie zu einer starken, facettenreichen Figur.
Arthur, zunächst unauffällig, fährt Senioren zu Terminen. Hinter seiner Orientierungslosigkeit verbirgt sich die Sehnsucht nach seinem verschwundenen Zwillingsbruder. Er verbindet Luzie und Margit, Vergangenheit und Zukunft.
Hagena zeichnet ihre Figuren vielschichtig und verbindet schwere Themen mit sanfter, poetischer Sprache. Flusslinien ist ein melancholischer, aber hoffnungsvoller Roman über Erinnerung, Schmerz und unerwartete Verbindungen. Er erscheint am 13. März 2025 bei Kiepenheuer & Witsch und zählt zu den bemerkenswerten Neuerscheinungen des Frühjahrs.

Bewertung vom 07.03.2025
Glattauer, Daniel

In einem Zug


sehr gut

Eine Unterhaltung, die im Zug Fahrt aufnimmt

Daniel Glattauers Roman "In einem Zug", der am 13. Januar 2025 bei Dumont erschienen ist, kann in vielerlei Hinsicht als eine Rückbesinnung auf die größten Stärken des Autors angesehen werden. Wie bereits in seinem Bestseller "Gut gegen Nordwind" gelingt es Glattauer erneut, eine eindringliche Erzählung auf engstem Raum zu inszenieren, die durch ihre Dialogführung beeindruckt.
Die Handlung ist denkbar simpel: Eduard Brünhofer, ein gefeierter Autor von Liebesromanen, sitzt im Zug nach München einer jungen Frau, Catrin, gegenüber. Und sie beginnen eine Unterhaltung. Was als belangloses Gespräch beginnt, entwickelt sich zunehmend zu einer tiefgehenden Konversation, in der sich die beiden Fremden mit einer erstaunlichen Offenheit begegnen. Der Leser wird Zeuge eines sich entfaltenden Dialogs, in dem Eduard und Catrin sich gegenseitig Einblicke in ihre innersten Gedanken und Gefühle gewähren.
Glattauer bleibt seinem Stil treu und erschafft eine beeindruckende Charakterzeichnung allein durch die Worte seiner Figuren. Die gesamte Handlung entfaltet sich fast ausschließlich in der Unterhaltung zwischen den beiden, nur unterbrochen von kurzen, reflektierenden Einschüben. Die Konservation nimmt bald an Intensität zu, begünstigt auch durch den Genuss von etwas Wein. Eduards anfängliche Zurückhaltung weicht einem immer offeneren Gespräch, in das Catrin sich mehr und mehr einbringt.
Die Metaphorik der Zugfahrt als Sinnbild für den fortlaufenden Gesprächsfluss ist brillant gewählt: So wie der Zug zwischen den Stationen nicht anhalten kann, so scheinen auch Eduard und Catrin sich nicht mehr aus ihrem Gedankenaustausch lösen zu können. Sie springen von Thema zu Thema, tasten sich langsam an immer intimere Geständnisse heran und verlieren sich schließlich ganz in ihrem Dialog.
Glattauer versteht es, seine Leser zu fesseln, auch wenn sich die gesamte Handlung auf den begrenzten Raum einer Zugkabine beschränkt. Die emotionale Tiefe und die kunstvolle Sprachführung machen "In einem Zug" zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis. Zwar mag die eine oder andere dramaturgische Wendung am Ende etwas unnötig erscheinen, doch beeinträchtigt dies nicht die Gesamtharmonie des Romans. Fans von "Gut gegen Nordwind" werden an diesem Werk große Freude haben.

Bewertung vom 27.02.2025
Chen, Karissa

Die Tage nach dem Pflaumenregen


sehr gut

Verlorene Träume

Karissa Chens Debütroman "Die Tage nach dem Pflaumenregen", der am 27. Februar 2025 im Gutkind Verlag erscheint, ist ein ambitioniertes Werk, das das Schicksal zweier Menschen eng mit der Geschichte Chinas verknüpft. Schon im Vorfeld deutete sich eine epische, zeitlich umspannende Erzählweise an, die die Lebenswege der Protagonisten Sushi und Haiwen von ihrer Kindheit in den 1930er Jahren bis zu ihrem späten Wiedersehen in Los Angeles nachzeichnet.
Die Geschichte beginnt im Jahr 1938, als sich die beiden Nachbarskinder Sushi und Haiwen kennenlernen. Beide sind schüchtern und zurückhaltend, doch gerade diese Gemeinsamkeit bringt sie einander näher. Hinter ihren stillen Fassaden verbergen sich große Träume: Haiwen möchte eines Tages als professioneller Geiger auftreten, während Sushi von einer Karriere als Sängerin träumt. Doch das Schicksal hat andere Pläne für sie, und die Leser wissen bereits zu Beginn, dass sie weder ihre Träume verwirklichen noch als Paar zusammenfinden werden. Dies wird durch eine kluge Erzählentscheidung der Autorin früh enthüllt: Gleich zu Beginn beschreibt sie ein erneutes Aufeinandertreffen der beiden in Los Angeles – sechzig Jahre später.
Der Roman schildert in einem prägnanten und fließenden Erzählstil die Lebenswege der beiden Hauptfiguren. Feinfühlig beschreibt Karissa Chen die stillen Momente ihrer Kindheit, das vorsichtige Erkunden des anderen Geschlechts und die ersten Herausforderungen, die ihnen in den Weg gelegt werden. Besonders Sushis Eltern stehen einer Verbindung mit Haiwen skeptisch gegenüber, und doch könnte man anfangs meinen, dass ihre Freundschaft die Widerstände überdauern wird.
Doch das Leben hält andere Wendungen bereit: Haiwen gibt seine Karriere als Geiger und auch seine Beziehung zu Sushi auf, um sich dem Militär anzuschließen und seiner Familie zu helfen. Damit gerät sein Leben auf eine völlig andere Bahn, und erst im Alter wagt er einen letzten Versuch, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Doch kann man einst verlorene Träume wiederbeleben? Oder sind sie im Laufe der Jahre nur noch blasse Erinnerungen?
„Die Tage nach dem Pflaumenregen“ wirft grundlegende Fragen über Identität und Anpassung auf. Chen zeichnet das Bild zweier Menschen, deren Charakter nicht festgelegt ist, sondern sich den Umständen beugen muss. Vielleicht ist es ein notwendiger Überlebensmechanismus – nicht nur für Individuen, sondern auch für Nationen. Während Sushi und Haiwen mit den Umwälzungen ihrer Heimat ringen, verändert sich auch China über sechs Jahrzehnte hinweg radikal. Politische und gesellschaftliche Umbrüche sind nicht nur eine Kulisse, sondern nehmen direkten Einfluss auf die Lebenswege der Figuren. Die Autorin zeigt auf, dass persönliche Schicksale stets untrennbar mit historischen Ereignissen verwoben sind.
Sushi und Haiwen verlassen China schließlich und beginnen in den USA ein neues Leben. Sushi übernimmt die Verantwortung für ihre Schwester und nimmt selbst die erniedrigende Arbeit in einem Restaurant auf sich. Doch aus dieser Notlage entwickeln sich unerwartete Wendungen: Ein reicher Gönner nimmt sie zur Frau, und sie wird Mutter. Doch trotz ihrer neuen Familie scheint Sushi nie wahres Glück zu finden. Ähnlich ergeht es Haiwen, der ohne Musik und ohne Sushi ein Dasein fristet, das ihn ebenso wenig erfüllt.
Eine der zentralen Fragen des Romans lautet daher: Hätten sie ihr Glück gefunden, wenn sie auf ihrem ursprünglichen Weg geblieben wären? Oder waren ihre Träume in einem von Krieg und Revolution geprägten Land ohnehin zum Scheitern verurteilt? Karissa Chen wagt keine eindeutige Antwort, sondern überlässt es den Lesern, selbst darüber nachzudenken, wie viel Einfluss ein Einzelner auf sein Schicksal hat.
Für einen Debütroman ist „Die Tage nach dem Pflaumenregen“ ein durchaus gelungenes Werk. Karissa Chen nimmt sich die Zeit, ihre Protagonisten über Jahrzehnte hinweg zu begleiten, ohne dass der Roman dabei überladen oder unausgeglichen wirkt. Trotz des historischen Hintergrunds erhebt das Buch keinen belehrenden Anspruch und konzentriert sich in erster Linie auf die beiden Hauptfiguren. Ihre Erlebnisse stehen zwar exemplarisch für viele chinesische Emigranten, doch bleiben sie in ihrer individuellen Tiefe glaubwürdig und greifbar.
Der Roman folgt einer bewährten Erzählstruktur, wie sie bereits in vielen Werken über das Leben im Exil zu finden ist. Dennoch gelingt es Chen, das Thema auf eine Weise zu behandeln, die berührt und zum Nachdenken anregt. „Die Tage nach dem Pflaumenregen“ ist eine einfühlsame Geschichte über verpasste Chancen, über die Anpassungsfähigkeit des Menschen und über die Frage, ob sich verlorene Träume jemals wiederfinden lassen. Wer sich auf das bewegende Schicksal von Sushi und Haiwen einlässt, wird in diesem Buch einige fesselnde Lesestunden erleben.

Bewertung vom 26.02.2025
Würger, Takis

Für Polina


sehr gut

Umwege eines Lebens

Takis Würgers neuer Roman "Für Polina", erschienen am 26. Februar 2025 im Diogenes Verlag, stellt erneut eine außergewöhnliche Frauenfigur ins Zentrum der Geschichte. Die titelgebende Polina ist jedoch nicht konkurrenzlos, denn der Erzähler Hannes, der seit seiner Kindheit mit ihr verbunden ist, verfolgt noch eine zweite bedeutende Leidenschaft: das Klavierspielen.
Hannes ist ein schüchterner und verschlossener Junge, der zunächst kaum den Eindruck erweckt, ein besonderes Talent zu besitzen. Er wächst vaterlos bei seiner Mutter Fritzi auf, die ihn als junges Mädchen während einer Italienreise unfreiwillig mit einem Marmorhändler gezeugt hat. Durch eine fast zufällige Begebenheit kommt er in Kontakt mit dem Klavier seines Vermieters Heinrich Hildebrand und entdeckt seine außergewöhnliche Begabung. Bald zeigt sich nicht nur sein Talent für das Spiel, sondern auch für das Komponieren. Hannes, der zuvor ziellos durchs Leben driftete und in der Schule wenig Erfolg hatte, findet in der Musik eine Bestätigung, die ihm Halt gibt und seine Träume entfacht.
Doch der Preis für diese Kunst ist hoch. An einem bestimmten Punkt beschließt Hannes, ihn nicht länger zu zahlen. Dies führt ihn in eine existenzielle Krise, in der er sich mehrmals verliert, aber auch immer wieder findet. Hannes ist eine vielschichtige Figur, die oft zwischen Extremen schwankt. Er fürchtet den Verlust von Dingen, die ihm wichtig sind, und neigt dazu, aufzugeben, bevor er eine Niederlage erleiden könnte. Dies betrifft nicht nur seine Beziehung zur Musik, sondern auch seine Liebe zu Polina. Obwohl er sich zeitlebens nach ihr sehnt, weist er sie in jungen Jahren immer wieder unbewusst zurück.
Die beiden lernen sich in einer fast villenartigen Mietwohnung kennen, in der Hannes mit seiner Mutter lebt. Polina ist die Tochter einer Freundin von Fritzi. Mit der Zeit entwickelt sich zwischen den beiden eine enge Verbindung. Zunächst wirkt es, als sei Hannes hingebungsvoll an ihr interessiert, während Polina distanzierter bleibt. Doch ein Band zwischen ihnen bleibt bestehen, auch wenn es immer wieder zu reißen droht.
Polina führt ein anderes Leben als Hannes. Sie ist unabhängiger und trifft selbstbewusster Entscheidungen, die sie jedoch nicht vor Fehlern bewahren. Auch sie muss mit Fehltritten und Reue umgehen. Trotz der starken Verbindung der beiden zeichnet "Für Polina" weniger die Momente des Zusammenseins nach, sondern konzentriert sich auf das Getrenntsein. Der Roman ist mehr eine Innenschau Hannes' als eine klassische Liebesgeschichte. Er erkennt zu spät, dass sowohl Polina als auch die Musik sein wahres Lebensglück darstellen. Erst nachdem er auf Abwege geraten ist, findet er den Weg zu sich selbst.
Obwohl Polina als Figur weniger im Fokus der Erzählung steht, bleibt sie stets im Hintergrund präsent und hat eine große Strahlkraft auf Hannes' Leben. Die Erzählweise des Romans gleicht einem wilden Ritt, der bereits mit Fritzis Italienreise an Fahrt aufnimmt und bis zur letzten Seite nicht an Tempo verliert. Auf knapp 300 Seiten schildert Würger die Stationen von Hannes' Leben, von seiner Kindheit bis zum Beginn seiner großen Karriere, und lässt dabei auch seine zahlreichen Umwege nicht aus.
Der Roman ist in einem schnörkellosen Stil geschrieben, der oft nur einen knappen Abriss einzelner Ereignisse liefert, fast wie eine Inhaltsangabe. Würger verweilt selten länger bei einer Szene und springt schnell von einem Meilenstein zum nächsten. Dennoch wirkt der Roman nicht überhastet oder oberflächlich. Besonders die detailreichen Beschreibungen von Hannes' Beruf als Klavier-Transporteur sowie die Charakterisierung von Nebenfiguren wie seinem Chef Blau oder seinem Kollegen Bosch verleihen der Geschichte Tiefe.
Allerdings gibt es auch Aspekte, die weniger gelungen erscheinen. Die Darstellung von Hannes als Wunderkind wirkt oft überzogen und wenig glaubwürdig. Zudem erscheint die Musikwelt, wie sie Würger schildert, manchmal klischeehaft und nicht immer realistisch. Der Roman bietet in dieser Hinsicht wenig Neues und bleibt letztlich ein unterhaltsames, aber nicht innovatives Werk.
"Für Polina" präsentiert sich als solider Liebesroman, der insbesondere durch die eindrucksvolle Darstellung von Hannes' Lebenskrise und deren Überwindung punktet. Auch wenn die Liebesgeschichte vorhersehbar ist, sorgt das hohe Erzähltempo sowie die Leuchtkraft der Figuren für anhaltende Spannung. Der Roman lebt von den Irrwegen, die Hannes' Leben nimmt, und zeigt eindrucksvoll, dass man manchmal Umwege gehen muss, um das Wesentliche zu erkennen. Trotz seiner Schwächen ist "Für Polina" ein fesselnder Roman, der seine Leser mitnimmt auf eine Reise durch ein Leben voller Musik, Liebe und Selbstfindung.

Bewertung vom 25.02.2025
Davies, Bea

Super-GAU


sehr gut

Distanzierte Sicht auf eine Katastrophe

Bea Davies wagt sich mit ihrer Graphic Novel "Super-GAU" an ein Thema heran, das in der Literatur bislang nur selten behandelt wurde: die Fukushima-Katastrophe von 2011. Am 25. Februar 2025 im Carlsen Verlag erschienen, verwebt die Künstlerin geschickt Fiktion und Realität, indem sie die Katastrophe nicht direkt darstellt, sondern vielmehr die mentalen Auswirkungen auf acht Berliner in den Fokus rückt. Dieser indirekte Zugang spiegelt die Art und Weise wider, wie viele Menschen in Deutschland das Ereignis damals erlebt haben – durch Nachrichten, Gespräche und schleichende Sorgen.
Die Wahl, die Geschichte nicht aus der Perspektive unmittelbar Betroffener zu erzählen, sondern aus der Sicht von Menschen, die Tausende Kilometer entfernt sind, ist eine mutige und gleichzeitig treffende Entscheidung. Sie ermöglicht es den Lesern, sich mit den Figuren zu identifizieren, die selbst von der Katastrophe nur aus zweiter Hand erfahren und dennoch mit ihren Auswirkungen konfrontiert werden. Anfänglich ist das Unglück für die Figuren nur eine Randnotiz in den Nachrichten, doch im Verlauf der Geschichte beginnt es, sich in ihre Gedankenwelt einzuschleichen, Ängste hervorzurufen und das alltägliche Leben zu beeinflussen – sei es durch besorgte Diskussionen, Reflexionen über die eigene Sicherheit oder direkte Auswirkungen auf Familie und Freunde.
Diese Erzählweise macht sich die universelle Erfahrung zunutze, dass es bestimmte historische Momente gibt, die sich unauslöschlich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt haben. Die Fukushima-Katastrophe gehört sicherlich dazu – ein Ereignis, von dem viele Menschen noch genau wissen, wo sie waren, als sie davon erfuhren. Die Graphic Novel spielt geschickt mit diesen Erinnerungen und schafft eine Brücke zwischen den fiktionalen Schicksalen der Figuren und den realen Erfahrungen der Leser. Dadurch entfaltet "Super-GAU" eine emotionale Wirkung, die über den reinen Inhalt hinausgeht und eigene Erinnerungen an diesen Tag wachruft.
Mit nur 208 Seiten und einem Fokus auf Bildsprache anstelle von ausführlichem Text ist "Super-GAU" erzählerisch knapp gehalten. Acht Figuren ausreichend Raum zur Entfaltung zu geben, ist eine große Herausforderung – Davies begegnet dieser, indem sie ihre Geschichte eher skizzenhaft erzählt. Vieles bleibt angedeutet, Leerstellen werden bewusst offengelassen, sodass die Leser dazu eingeladen sind, sich selbst ein Bild zu machen und eigene Gedanken zu den Charakteren und ihrer Entwicklung zu formen.
Diese skizzenhafte Erzählweise spiegelt sich auch in der visuellen Gestaltung wider. Davies’ Illustrationen sind bewusst reduziert, oft nur flüchtig angedeutet und verzichten auf übermäßige Detailfülle. Die Figuren und Hintergründe wirken teilweise abstrahiert, was den introspektiven Charakter der Geschichte unterstreicht. Dieser Stil unterstützt die Atmosphäre der Unsicherheit und des Ungewissen, die das Fukushima-Unglück nicht nur für die Betroffenen in Japan, sondern auch für Menschen in anderen Teilen der Welt ausgelöst hat.
Letztlich ist "Super-GAU" weniger eine klassische Graphic Novel mit einer stringenten Handlung als vielmehr ein Denkanstoß. Die Lektüre regt dazu an, sich erneut mit der Fukushima-Katastrophe auseinanderzusetzen und über deren langfristige Folgen nachzudenken – sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf persönlicher Ebene. Gleichzeitig spiegelt das Buch die Unterschiedlichkeit individueller Lebensrealitäten wider. Jede der acht Figuren erlebt den 11. März 2011 auf ihre eigene Weise, und doch verbindet sie alle die gleiche Nachricht, das gleiche Entsetzen, die gleichen Fragen. Diese Parallelen lassen auch die Leser innehalten und ihre eigenen Erinnerungen mit denen der Charaktere abgleichen.
"Super-GAU" bleibt trotz seiner künstlerischen und erzählerischen Stärken ein eher zurückhaltendes Werk, das sich nicht durch spektakuläre Inszenierung oder emotionale Zuspitzung auszeichnet, sondern durch seine leise, aber nachhaltige Wirkung. Es ist eine Graphic Novel, die vielleicht nicht sofort mitreißt, aber nachhallt – und genau darin liegt ihre Stärke. Wer eine tiefgründige Reflexion über Katastrophen, Medienwahrnehmung und die Fragilität des Alltags sucht, wird in diesem Werk einen wertvollen Beitrag finden.