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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Kwinsu
Wohnort: 
Salzburg

Bewertungen

Insgesamt 90 Bewertungen
Bewertung vom 06.05.2025
Wie du mich ansiehst
Lohmann, Eva

Wie du mich ansiehst


ausgezeichnet

Johanna ist Mitte vierzig und es trifft sie, dass sie nicht mehr gesehen wird. Grundsätzlich ist sie glücklich mit ihrem Leben - ihr Blumenladen floriert, seit sie die exzentrische und kreative Ruby eingestellt hat, ihre Ehe mit Hendrik läuft gut, ihre Tochter pubertiert altersgemäß. Nur der Tod ihres Vaters, der ihr einen kleinen Garten hinterlassen hat, macht ihr zu schaffen. Und: die tiefe Sorgenfalte auf ihrer Stirn. Als sie sich diese wegmachen lässt und es keiner bemerkt, gerät ihre Gedankenwelt ins Wanken...

Was für ein schöner Roman Eva Lohmann hier gelungen ist! Er ist ruhig und aufwühlend zu gleich, er regt enorm zur Selbstreflexion an, besonders, wenn man in einem ähnlichen Alter wie die Protagonistin ist. Durch die Hauptfigur, die sich auf die Selbstreflexion einlässt, erhalten auch die anderen Charaktere ihre Haltung, ihren Zeitgeist. Die Geschichte selbst ist alltäglich, sie behandelt unterschiedliche Beziehungen, beleuchtet wie das Miteinander funktioniert und wie auch das Getrennt-sein etwas heilbares hat. Die Emotionen Johannas sind so nachvollziehbar, ohne je ins kitschige zu geraden. Die Autorin schreibt mit Liebe zum Detail und schafft es, wunderbare Bilder in den Kopf zu zaubern.

"Wie du mich ansiehst" ist ein wunderbares, reflektiertes Buch über das Älterwerden, über das Tochter- und das Mutter-Sein, über Makel im Äußeren, im Inneren und in Beziehungen, über die Herausforderungen des Miteinanders. Vor allem aber geht es um das Sehen und Gesehen-werden und hinterlässt ein irrsinnig wohliges Gefühl im Brustkorb, weshalb ich ein Lesen dieses Kleinods nur jedem ans Herz legen kann.

Bewertung vom 06.05.2025
Das Lieben danach
Bracht, Helene

Das Lieben danach


sehr gut

In "Das Lieben danach" nimmt uns die Autorin Helene Bracht (Pseudonym) mit in die Aufarbeitung ihrer eigenen Missbrauchserfahrungen. Im Alter von fünf bis acht Jahren wurde sie von einem Nachhilfelehrer sexuell missbraucht. Eindringlich beschreibt sie den Widerspruch zwischen enormen Schmerzen und dem Gefühl endlich geliebt und gesehen zu werden, etwas besonderes zu sein.

Dass eine solche traumatische Erfahrung nicht spurlos an ihr vorübergeht und sie ihr weiteres Leben auf die ein oder andere Weise begleitet, ist klar. Bracht reflektiert viel und eingehend, über den Missbrauch, ihren Umgang damit, aber auch über die Rolle ihrer Eltern. Und sie bleibt nicht dabei stehen, nimmt ihr weiteres Leben in den Blick. Beispielsweise berichtet sie über eine Beziehung mit einem Heiratsschwindler und wie sie auf ihn hereinfallen konnte, beleuchtet eine beinahe Vergewaltigung, die sie mit Worten abwenden konnte und schließlich erkennt sie auch, dass sie selbst Täterin war.

Ihre Lebensreflexion ist beeindruckend, ehrlich, hart und direkt. Oft blieb mir der Atem weg, oft war ich fasziniert von der Widersprüchlichkeit. Besonders zu denken gab mir, wie Bracht eine Begegnung mit einer Frau schildert, der sie in der Vergangenheit Gewalt angetan hatte, sie sich selbst aber an diese kaum mehr erinnern konnte. Wie oft es einem selbst wohl so ergeht, dass man einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat, es selbst aber aus eigener Bedeutungslosigkeit - oder als Schrecken vor einem selbst - verdrängt?

Helene Bracht, die selbst als Psychotherapeutin arbeitet, ist mit "Das Lieben danach" eine tiefgründige Reflexion über ihre Missbrauchserfahrungen gelungen, die sich zwischen Essay, Sachbuch und philosophischer Abhandlung bewegt. Obwohl es zwischendurch seine Längen hat, ist es ein lesenswertes Buch für alle, die an der Thematik interessiert sind und sich von der Direktheit der Sprache nicht abschrecken lassen.

Bewertung vom 26.04.2025
Die Frau und der Fjord
Strohmeyer, Anette

Die Frau und der Fjord


gut

Gro ist gefangen in ihrer Trauer - nachdem ihr Mann Nicklas unerwartet verstarb, weiß sie nichts mehr mit ihrem Leben anzufangen. Sie gibt ihre Arbeit als Geologin bei einem großen Erdölkonzern auf und kauft sich ein Haus an einem einsamen Fjord in den Lofoten. In der Einsamkeit sucht sie nach Heilung. Nach und nach erkennt sie, dass die völlige Isolation unmöglich ist. Als eines Tages ehemalige Kollegen auftauchen, um in ihrem Fjord nach Öl zu suchen, werden neue Kampfesgeister in ihr geweckt.

"Die Frau und der Fjord" ist ein ruhiger, nachdenklicher Roman. Intensiv erleben wir das Innenleben der Protagonistin Gro, das zerrissen ist vor Trauer und Selbstmitleid. Die Sprache der Autorin Anette Strohmeyer ist einnehmend und kurzweilig, die umfangreichen Beschreibungen von Flora und Faune ermöglichen ein tiefes Eintauchen in die lofotische Landschaft. Die kurzen Kapitel ermöglichen ein rasches Vorankommen.

Nichtsdestotrotz ist der Roman nur oberflächlich tiefgründig. Gros Welt dreht sich nur um sich selbst und sie zerfließt in ihrem Selbstmitleid um das Schicksal ihres verstorbenen Mannes. Immer wieder wiederholen sich die selben Gedanken und die Selbstsüchtigkeit der Protagonistin nervt zusehends. Kategorisch stößt sie andere Menschen fort, will eigentlich gar nicht aus ihrem Selbstmitleid heraus. Aber erst durch den Kontakt mit anderen Menschen gelingt es ihr, ihre Situation zu reflektieren, auch wenn dies schier ewig dauert. Die Erkenntnis, dass es ohne andere Menschen nicht geht, ein glückliches Leben zu führen, dauert, kommt aber schließlich doch noch an.

Die Trauergeschichte basiert auf persönlichen Erlebnissen der Autorin. Deshalb ist dieses selbstgebaute, innere Gefängnis, das sich die Protagonistin Gro baut, auch authentisch und nachvollziehbar. Leider empfinde ich Gro und auch die anderen Charaktere als etwas einseitig - entweder gut oder böse. Schattierungen dazwischen blinken zwar kurz auf, werden aber nicht eingehender beleuchtet. "Die Frau und der Fjord" war ein netter Roman zum Zwischendurchlesen, der vor allem wegen seiner landschaftlichen Atmosphäre einnehmend ist, jedoch keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen wird.

Bewertung vom 21.04.2025
Im Wind der Freiheit (eBook, ePUB)
Kinkel, Tanja

Im Wind der Freiheit (eBook, ePUB)


weniger gut

In Tanja Kinkels neuem Historienroman "Im Wind der Freiheit" begleiten wir die beiden Frauen Susanne und Louise in ihrem Kampf um die Demokratie. Die Welt aus der sie stammen, könnte nicht unterschiedlicher sein: während Louise eine erfolgreiche Schriftstellerin aus gutem Hause ist, ist Susanne Arbeiterin in einer Fabrik. Als sie bei einem Versuch Gerechtigkeit für eine Freundin zu erlangen ihre Arbeit verliert, ist sie gezwungen als Sexarbeiterin zu arbeiten. Von Anfang an ist ihr Schicksal miteinander verwoben und in den heißen Kämpfen im Jahr 1848 kommen sie ohne einander nicht aus, auch wenn ihre Beweggründe im Kampf nicht die gleichen sind...

Die Autorin verknüpft gekonnt tatsächlich existierende Frauen aus der Geschichte (wie Louise Otto) mit jenen, die aufgrund ihrer "geringen" Stellung nicht in die Geschichtsbücher eingegangen sind. Sehr detailliert lässt sie uns die historischen Geschehnisse von 1848 anhand ihrer Figuren miterleben, die in den deutschen Fürstentümern und in Österreich für eine Republik und ein allgemeines, wenn auch nur für Männer geltendes Wahlrecht kämpfen. Dass auch Frauen ein wichtiger Teil dieses Befreiungskampfes waren, gelingt der Autorin anschaulich aufzuzeigen.

Grundsätzlich ist die Sprache, in der der Roman verfasst wurde, einfach und kurzweilig zu lesen. Allerdings haben die einzelnen historischen Abhandlungen definitiv ihre Längen, was es nicht einfach macht, dem Roman in allen Teilen zu folgen. Zudem ist die Anzahl der unterschiedlichen Charaktere hoch, leider wurde verabsäumt eine Figurenliste anzufügen, an der man sich orientieren hätte können. So wird auch mit keinem Wort erwähnt, welche Charaktere auf wahren, welche auf fiktiven Begebenheiten beruhen. Lediglich eine kurze Quellenliste am Ende lässt die historischen Persönlichkeiten vermuten. Dieses vollkommene Fehlen von Aufklärungsarbeit - nicht einmal anhand eines Nachworts - überlässt es den Lesenden selbst, Fakten zu recherchieren. Das ist für meine Ansprüche an einen Historienroman sehr schwach.

Früher habe ich ganz viele historische Romane gelesen, in den letzten Jahren ist mir die Vorliebe dafür allerdings abhanden gekommen. Grund dafür ist, dass die Romane oft ähnlich aufgebaut sind: im Zentrum steht meistens eine Liebesgeschichte, die Protagonist:innen wollen allesamt einen gesellschaftlichen Fortschritt und haben oft Vorstellungen davon, die so von der Gegenwart geprägt sind, dass mir diese unglaubwürdig erscheinen. Trotzdem schafft es die Figur irgendwie, nach ihren Vorstellungen leben zu können, auch wenn das in der jeweiligen Zeit ziemlich unvorstellbar war. Als ich die Leseprobe zu diesem Buch gelesen habe, dachte ich mir, dass "Im Wind der Freiheit" einen anderen Weg gehen könnte. Leider war dem nicht so und oft ertappte ich mich dabei, gewisse Gedankengänge oder Taten der handelnden Personen als unglaubwürdig zu empfinden. Zudem waren die Liebensgeschichten viel zu vorhersehbar und hätten - für meinen Geschmack - bei den fiktiven Charakteren auch nicht unbedingt sein müssen. Hatte ich mir erhofft, dass vor allem die Frauenfiguren, die sich nach Anerkennung sehnen, Tiefe erhalten, wurde ich dahingehend leider enttäuscht und ihr Wunsch nach Gleichberechtigung wurde nur oberflächlich verfolgt. Letztendlich empfand ich das Lesen als ermüdend.

Mein Fazit: "Im Wind der Freiheit" ist ein klassischer Historienroman, der viel Aufklärungsarbeit über die Freiheitskämpfe des Jahres 1848 liefert, der für meinen Geschmack aber zu klischeebeladen und vorhersehbar ist. Leider fehlt eine Information über historische Persönlichkeiten genauso wie eine Figurenübersicht. Wer etwas über das wichtige Jahr 1848 lernen will, ist hier gut aufgehoben, wenn einem viele Längen, die üblichen Liebensgeschichten und kaum überraschende Charaktere nicht stören.

Bewertung vom 08.04.2025
Bis die Sonne scheint
Schünemann, Christian

Bis die Sonne scheint


gut

Westdeutschland, 1983: Daniels Eltern sind pleite. Der 14-Jährige hätte sich auf einen schönen Konfirmationsanzug und auf den Schüleraustausch in Frankreich gefreut, aber ob damit etwas wird, ist ungewiss. War das bisherige Leben der sechsköpfigen Familie bislang gutbürgerlich angenehm, kämpfen sie nun darum, nicht auch noch ihr Haus zu verlieren. Doch immer wieder verschließen die Eltern die Augen vor der Realität und Daniel ist gefangen zwischen seinen Träumen und der bitteren familiären Realität.

Christian Schünemann zeichnet in "Bis die Sonne scheint" ein liebevolles Portrait der 80er Jahre mit vielen Anleihen an die Popkultur und lässt seinen Protagonisten Daniel trotz der familiären Krise humorvoll und jugendlich auftreten. Abwechselnd verfolgen wir seine Geschichte: seine Freundschaft zu Zoe und seiner Bewunderung für den Austauschschüler Jean Pierre, aber auch wie er aus beobachtender Rolle den Abstieg seiner Familie wahrnimmt. In einem zweiten Erzählstrang werden die Hintergründe ihrer Familiengeschichte näher betrachtet: wie es den Großeltern im Nationalsozialismus ergangen ist und wie sich die Zeit danach gestaltete; wie Daniels Eltern Marlene und Siegfried aufwuchsen und wie sie sich schließlich kennenlernten, gemeinsam Eltern wurden und Wohlstand aufbauten.

Spannend ist, wie unterschiedlich die Sprache der beiden Erzählstränge ist. Daniels Episoden sind trotz der schwierigen Lage humorvoll erzählt, zudem sind am Anfang jedes Daniel-Kapitels französische Sätze samt Übersetzung, die das Folgende andeuten; wohingegen die historischen Familienrückblicke in einer äußerst nüchternen Betrachtungsweise geschildert werden. Nichtsdestotrotz nahmen mich die Blicke in die Vergangenheit mehr ein, als der gegenwärtige Erzählstrang um Daniel. Das mag auch daran liegen, dass ich bis zum Schluss kaum eine Verbindung mit dem 14-Jährigen herstellen konnte, war mir seine Zeichnung irgendwie zu oberflächlich und - irgendetwas fehlte mir. Auch die anderen Figuren waren für mich wenig greifbar, aber ihr Schicksal war trotz der Nüchternheit ergreifend.

Es ist nun eine Woche her, dass ich das Buch gelesen habe und ich musste erschrocken feststellen, dass ich mich kaum noch daran erinnern konnte - erst das Nachlesen im Buch und das Durchlesen einiger Rezensionen brachten die Erinnerungen zurück. So etwas passiert mir doch recht selten, ich lasse mir eigentlich immer Zeit, um das Gelesene nachwirken zu lassen. Nun kann ich mich aber auch daran erinnern, dass das Ende für mich viel zu offen war und ich mir einen Schluss gewünscht hätte, der einem die Möglichkeit gibt, dem Protagonisten noch eine hoffnungsvolle Zukunft anzudenken. Immerhin ist die Geschichte, wie uns der Autor im Nachwort wissen lässt, auf seiner persönlichen Biografie basierend. Trotzdem das Buch angenehm zu lesen war, wird es mir wie Daniels Eltern gehen: ich werde die Existenz dieser Geschichte (erneut) aus dem Gedächtnis verdrängen.

Bewertung vom 07.04.2025
Wackelkontakt
Haas, Wolf

Wackelkontakt


ausgezeichnet

Während Franz Escher auf den Elektriker wartet, der seine Steckdose mit Wackelkontakt reparieren soll, vertreibt er sich die Zeit mit einem Buch über den Mafioso Elio Russo. Dieser sitzt im Gefängnis und soll ins Zeugenschutzprogramm, da er zahlreiche seiner Mafiakollegen verraten hat. Während er auf sein neues Leben wartet, schmökert er in einem Buch über einen Begräbnisredner namens Franz Escher - uns so beginnt die Geschichte zweier Männer, die sich lesend kennenlernen.

Wolf Haas beweist mit "Wackelkontakt" aufs neue seine schriftstellerische Genialität. Als ich von der Story hörte, dachte ich mir: wie soll das funktionieren? Geht dieser Kreisel auf? Ja, er tut es, sowas von! Die Übergänge von dem einen Charakter auf den anderen funktionieren fließend, ohne dass man den Anschluss verliert. Bis zum Schluss weiß man nicht, ob die beiden Männer sich jemals treffen werden und wie alles zusammenhängt, die Spannung bleibt durchgehend hoch.

Haas' Sprache ist wie gewohnt pointiert und schwarzhumorig, seine Figuren haben allesamt einen liebevollen Hau, man muss sie einfach mögen, so schrullig sie auch sind. Zu keinem Zeitpunkt ist mir langweilig geworden, ich wollte einfach weiterlesen und weiterlesen, nicht mehr ausbrechen aus dieser Dauerschleife - stets mit einem Lächeln auf den Lippen. Dem ersten Anschein nach sind Haas' Wackelkontakt-Figuren gar nicht tiefgründig, aber das täuscht - mit seiner besonderen Beobachtungsgabe skizziert er schräge Charaktere, die so Nahe an der Realität liegen, dass man sich sicher ist, sie würden existieren. Und vielmehr sollte man auch gar nicht sagen. Sondern "Wackelkontakt" einfach lesen. Es ist ein absurder Genuss!

Bewertung vom 07.04.2025
Lyneham
Westerboer, Nils

Lyneham


ausgezeichnet

Nachdem die Erde dem Untergang geweiht ist, verläßt eine Gruppe Menschen ihren Heimatplaneten um eine neue Bleibe zu finden. Der auserwählte Mond Perm bietet keine optimalen Voraussetzungen, aber die Menschen wollen sich ihn zum Untertan machen. Henry Meadows verunglückt mit seinen Geschwistern und seinem Vater bei der Ankunft, aber mit Müh und Not gelingt es ihnen, die sicheren Biome zu erreichen. Doch wo ist nur ihre Mutter, die schon längst hier sein sollte? Es beginnt ein beschwerlicher Spießrutenlauf, um die Wahrheit über deren Verbleib herauszufinden - und auch die Frage, ob Perm tatsächlich zur neuen Heimat werden kann.

Nils Westerboer gelingt es in "Lyneham" auf großartige, reflektierte Art und Weise die menschliche Existenz und die steten ethischen Fragen um die Legimitation des Fortbestehens der Spezies mit allen erforderlichen Mitteln anhand einer spannenden und vielschichtigen SciFi-Geschichte zu diskutieren. Ist es gerechtfertigt, anderes Leben zu töten, damit wir weiterbestehen können? Dürfen wir die Lebensbedingungen so anpassen, dass wir unsere Bedürfnisse erfüllen können, koste es was es wolle?

Dem Autor gelingt es mit einer fast magischen Sprache eine spezielle Atmosphäre zu schaffen - er erweckt die fiktive Welt Perms zum Leben, beschreibt sie so liebevoll und detailliert, dass die Lesenden seine Welt im Kopf vor Augen sehen. Er schafft den Schritt aus dem eigenen Denken und kreiert Welten, die man sich als Erdenbürger:in nur schwer vorstellen kann. Die ganze Geschichte, die vielfältig beschriebenen Beziehungen sind komplex und werden stets neu- und weiterverhandelt. Im Fokus stehen Vertrauen und Wahrheit, Schein und Sein. Die Technologie ist der Menschen Untertan, aber kann ein Neuanfang auch die Abschaffung menschlicher Hierarchien bedeuten? Westerboer glaubt nicht daran, auch wenn seine Figuren lange daran festhalten. Er kennt das Wesen des Menschen, philosophiert auf eindringliche Art darüber, um zum Schluss zu kommen, dass wir wohl nie aus Fehlern lernen werden. Aber es gibt auch Hoffnung und diese heißt Empathie. Sie reicht für die eigene Spezies, aber wird sie auch für Fremde reichen?

Direkt und teilweise brachial wirken die nüchternen Betrachtungen der Charaktere, regen aber kontinuierlich zum Nachdenken und Reflektieren an: "Eine Gesellschaft, deren Mitglieder glauben, etwas zu haben, unterliegt einer fundamentalen Illusion, die ihr unweigerliches Scheitern nach sich ziehen muss." (S. 159) Das sitzt und berauscht ob seiner scharfen Beobachtungsgabe.

Neben all dem Philosophischen und Existenziellen reißt auch die Geschichte einen mit, getragen von der besonderen Atmosphäre Perms mit all seinen unsichtbaren Lebewesen. Die Geschichte erzählt sich aus Henrys Perspektive und jener seiner Mutter, die in unterschiedlichen Zeiten leben und doch stark verbunden sind. Die Existenz aller ist ein großes Rätsel, das am Ende in weiten Teilen aufgelöst wird.

Mein Fazit: Lyneham ist ein absolut lesenswerter SciFi-Roman, der die großen Fragen um die verändernden Eingriffe der Menschen stellt und neben einer großartigen Geschichte auch noch zum Philosophieren und Reflektieren einlädt. Ein großes Highlight, das nicht nur für SciFi-Leser:innen geeignet ist, sondern für alle, die unser Tun hinterfragen möchten.

Bewertung vom 27.03.2025
Fischgrätentage
Laznia, Elke

Fischgrätentage


ausgezeichnet

Elke Laznias Prosagedicht-Buch "Fischgrätentage" ist ein sprachgewaltiger, eindringlicher Text über familiäre Beziehungen, das Abschied-Nehmen, Erinnerungen, Vergänglichkeit und Verlust. Oft werden Sprichworte verwendet, um eindrückliche Bilder zu erzeugen. Der Text kommt ohne Satzzeichen aus, was einem dazu anhält, Passagen immer und immer wieder zu lesen, um sich die Worte verständlich zu machen und für sich selbst zu deuten.

Die Stimmung, die der Text vermittelt, ist voller Sehnsucht nach dem Vergangenen, Melancholie durchzieht die treffsicheren Worte wie ein Schleier. Man spürt förmlich die Innigkeit, zu den Personen, aber auch zu der Erinnerung. Trauer und Wohlgefühl verschmelzen, kleine Gesten brennen sich ins Gedächtnis. "Fischgrätentage" ist anspruchsvolle Lyrik, die erst kürzlich mit dem Helena-Adler-Preis für rebellische Literatur ausgezeichnet wurde. Zum Lesen sollte man sich Zeit und Ruhe gönnen.

Bewertung vom 27.03.2025
Tigerträume
Tapprich, Julian

Tigerträume


ausgezeichnet

Der kleine, gelbe Vogel Leo ist anders - ihn langweilt der schlichte Vogelgesang seiner Artgenossen, denn das Träumen ist seine Leidenschaft: er möchte mit einer wilden Katze befreundet sein. Die Nachbarskatze jedoch hat nur das ihn-fressen im Sinn und so denk Leo groß: dann macht er sich halt einen Tiger zum Freund.

Julian Tapprich erzählt in "Tigerträume" von den großen, undenkbaren Träumen, die wahr werden können, wenn man sich nur traut. Neben der entzückenden und ermutigenden Aussage ist das Buch wunderbar illustriert. Die Farben sind knallig und so perfekt geeignet für Kinder ab 4 Jahren. Für Erwachsene mögen die Bilder etwas schräg und unförmig wirken, in Kinderaugen stimmen sie jedoch bestimmt und regen die Fantasie an. Und gemeinsam mit der abenteuerlichen Geschichte kann "Tigerträume" Kinder ermutigen, sich von Grenzen nicht aufhalten zu lassen. Sondern das zu versuchen, was sie träumen.

Bewertung vom 27.03.2025
Kalt wie die Nacht (eBook, ePUB)
Stäber, Bernhard

Kalt wie die Nacht (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Der "Wolf"-genannte Rolf Larsen braucht nach dem Tod seiner Frau Veränderung. So gibt er sein Polizisten-Dasein auf und zieht in das kleine Städtchen Bø, um sich als Privatdetektiv zu verdingen. Schnell kommt der erste Auftrag, doch aus einer einfachen Beschattung unter Mutmaßung einer Affäre wird schnell ein Mordfall. Gemeinsam mit der seltsamen Journalistin Sanna versucht er das, was der Polizei nicht so leicht gelingen mag: den Fall aufzuklären.

Bernhard Stäber setzt in "Kalt wie die Nacht" einen gelungen Start in die neue norwegische Krimireihe rund um den Privatermittler Wolf und der Journalistin Sanna. Der Spannungsbogen wird ordentlich gespannt, man wird ermutigt, wild zu spekulieren und hat lange Zeit Fragezeichen, die nur langsam weniger werden. Letztendlich wird kurz vor Schluss der Fall plausibel gelöst, ohne das Fragen offen bleiben.

Wolf ist ein sympathischer Kerl und man fühlt mit ihm - seinen Schmerz, über den Verlust seiner Frau, spürt man förmlich. Bei der Journalistin Sanna dachte ich mir erst: oh nein, sie hat eine dissoziativer Persönlichkeitsstörung - das kann ja nur schief gehen. Aber der Autor überraschte mich, beschreibt er die Erkrankung doch ohne Klischees sondern feinfühlig und glaubhaft.

Ich mag es sehr gern, wie die einzelnen Figuren ihre Beziehungen zueinander aufbauen, besonders Wolf und Sanna, aber auch andere Charaktere. Hier funktioniert nicht alles reibungslos und genau das macht die Geschichte glaubwürdig. Die Landschaft spielt - wie bei skandinavischen Krimis meistens - eine wichtige Rolle und wird gekonnt in die Geschichte eingewoben.

Mein Fazit: "Kalt wie die Nacht" ist ein gelungener Auftakt einer neuen, norwegischen Krimireihe, der sich durch einen spannenden, zu Spekulationen anregenden Fall auszeichnet und seine Charaktere mit viel Feingefühl und Authentizität versieht. Eine große Leseempfehlung an alle, die langsame, nordische Krimis mögen!