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Kwinsu
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Salzburg

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Insgesamt 111 Bewertungen
Bewertung vom 06.08.2025
Feilitzsch, Hanna von

Der letzte Ouzo (eBook, ePUB)


weniger gut

Nach einiger Zeit in Deutschland kehrt die ehemalige Kriminalpolizistin Christina in ihre Heimat Griechenland zurück: auf der kleinen Insel Paros nimmt sie ihre Polizeitätigkeit wieder auf. Während sie sich anfänglich einen gemütlichen Wiedereinstieg in ihre berufliche Tätigkeit als Polizistin erhofft, überschlagen sich die Ereignisse: eine Inselbewohnerin wird tot aufgefunden und ihr Ehemann gilt als wahrscheinlicher Täter. Doch Christina ahnt von Beginn an, dass der Fall nicht so einfach gelagert ist, wie sich das ihre Kollegen vorstellen...

Hanna von Feilitzsch deckt in ihrem selbstpublizierten Krimidebut "Der letzte Ouzo" die engen Banden der Inselbewohner schonungslos auf. Die Antwort scheint schnell gefunden zu sein, doch die Ermittlerin Christina weiß, dass nichts so ist, wie es scheint. Sie verlässt sich auf ihre Intuition und Menschenkenntnis und ist überzeugt davon, dass der verdächtige Ehemann nicht der Täter sein kann. Sie ahnt, dass honore Menschen mehr zu verbergen haben, wie sie nach außen den Anschein wahren.

Die Erzählperspektive schwankt zwischen Christina und einer weiteren Person, von der wir einige Zeit nicht erfahren wer sie ist. Diese Person wirkt anfangs verdächtig, ist sie doch offensichtlich psychisch beeinträchtigt und weiß selbst nicht, was sie mit der Tat zu tun hat. Christina jedoch folgt unabweichlich ihrer Intuition und soll letztendlich auch recht behalten.

Die Autorin schafft es eindringlich, die Stimmung und Landschaft der kleinen griechischen Insel zu beschreiben und einzufangen: sofort fühlt man sich als Teil der Gemeinschaft und der Landschaft. Leider wird einiges für meinen Geschmack zu genau beschrieben, weshalb sich die Geschichte für mich enorm in die Länge zieht. Die Gedanken der Ermittlerin Christina werden umfangreich und detailliert beschrieben, was für meinen Geschmack die Spannung abflachen lässt: zu vieles wird aus erzählt, statt es nur anzuteasern. Im gesamten Roman werden immer wieder Floskeln wiederholt, wie beispielsweise: "Sie wusste es nicht" - was mir im Laufe des Lesens fast zu viel wurde. Das mag viele nicht stören und soll auch nicht davon abhalten, den atmosphärischen Krimi zu lesen. Mir persönlich war es aber zu wenig "show, don't tell", das heißt, für meinen Geschmack wurde zu viel aus erzählt. Hinzu kommt, dass die Aufklärung des Falles dann sehr rasch erfolgt. Die Protagonistin Christina spricht dann davon, dass sie den Fall aufgeklärt hat, ohne, dass für mich ersichtlich ist, weshalb sie das getan hat; sprich: sie sagt, den Fall aufgeklärt zu haben, aber die tatsächliche Aufklärung folgt in einer für mich langatmigen Handlung danach. Die Ermittlerin handelt meines Erachtens auch oft irrrational und unrealistisch. Sie will über weite Strecken keinem vertrauen und tut dies dann in einem vorhersehbaren Ausmaß, dass ihr leider viel Ärger und Schaden einbringt.

Zweifelsohne fühlt man sich beim Lesen gut in die kleine Welt der touristischen Insel versetzt, der Fall an sich wirkt für mich aber zu konstruiert und zu langatmig. Freundschaften sind plötzlich existent und die ehrenwerten Bürger sind vorhersehbar korrupt. Vertrauen wird scheinbar zufällig verteilt. Ich habe von der Autorin zuvor einen Familienroman gelesen, der mir ob der ausführlichen Erzählweise tief in Erinnerung geblieben ist, für einen Krimi ist mir diese aber leider zu langatmig.

Bewertung vom 06.08.2025
Engler, Leon

Botanik des Wahnsinns


ausgezeichnet

Es gibt nichts, was es nicht gibt, heißt es so schön und das trifft auch auf den erzählenden Protagonisten zu: seine Familie ist voller Wahnsinn. Depression, Suizidversuche, bipolare Störung, Alkoholismus, nochmal Depression, Realitätsverweigerung, etc. pp. Kein Wunder also, dass er Angst vor dem Wahnsinn hat. Schließlich landet er selbst in der Psychiatrie: als Psychologe. Seine Spurensuche in der eigenen Familie deckt allerhand psychisches Chaos auf, das aber nicht immer krankhaft sein muss. Es kann auch die Verzweiflung an der Gesellschaft sein.

Leon Engler legt mit seinem Debüt "Botanik des Wahnsinns" nicht nur ein grandioses Cover vor (wie großartig treffend kann ein Cover nur sein?!?!), sondern auch ein schwarzhumoriges, tiefgehendes und kurzweiliges Schreibwerk, das einen in rund zweihundert Seiten auf eine Reise durch eine notorisch psychisch vorbelastete Familiengeschichte und schließlich zu ihm selbst mit schippert. Vieles ist tragisch, manches befremdlich, doch irgendwie meistert der Protagonist trotz seiner Vorbelastung den Alltag ganz gut. Er versucht viel Neues, weiß nicht so recht, wo die Reise hinführt und landet schließlich im Naheliegenden: dem Beruf als Psychologen. Seine Vorgesetzte lässt ihn rotieren, er macht die unterschiedlichsten Erfahrungen, um am Ende doch festzustellen: das will ich nicht.

Der Autor strotzt nicht nur selbst mit einer philosophischen, humorigen und treffend klugen Sprache, sondern bedient sich auch an wichtigen Zitaten aus der Intellektuellengeschichte, schneidert dies aber größtenteils dem ikonischen Nachbarn des Protagonisten zu. Sätze wie "Ich gehe ins Bad, schaue in den Spiegel und werde alt." (S. 198), "Wie lächerlich klein wirkt doch die Erfindung der Glühbirne, der Fotografie oder des Quantencomputers verglichen mit der Erfindung eines liebenden Gottes" (S. 152) oder "Ich glaube, er mag die Menschen, doch verzweifelt an der Menschheit" (S. 81) sind genauso treffsicher wie kreativ und: einfach großartig! Ob der Thematik kippt einiges verständlicherweise ins Deprimierende, doch das weiß der Erzähler liebevoll, humorvoll und auch sehr schräg zu kaschieren, ohne dabei den Realitätssinn zu verlieren.

Eines ist gewiss: die Geschichte ist tragisch, aber vielleicht ist es der Umstand, dass der Autor längere Zeit in Wien residierte: es ist auch lustig; und schräg. So stellt der Protagonist über seine ehrgeizige Mutter, die trotz bildungsbefremdlicher Herkunft mitunter durchaus erfolgreich wurde, bis sie mit einer fast beispiellosen Ignoranz den Erfolg auch wieder erfolgreich zunichte macht, die Herkunft nicht in Frage: "Wenn meine Mutter einmal keine Eins geschrieben hatte, vergrub sie aus Furcht vor meiner Großmutter ihre Prüfungen. Auf dem Schulweg hatte sie einen Friedhof der Misserfolge eröffnet. Neben den S-Bahn-Gleisen verrotteten Ovid und Seneca zwei Jahrtausende später ein weiteres mal." (S. 25)

Zugegeben: oft musste ich das Buch weglegen, um nicht selbst zu verzweifeln, doch konnte ich nie lange von ihm ablassen. Der Autor trifft meine Vorliebe für schräges, tiefgründiges Drama gekonnt und lässt dieses kurzumfassende Buch zu einem Highlight des Jahres heranwachsen, das ich einerseits nicht so schnell vergessen werde und andererseits bestimmt des Öfteren noch einmal lesen muss. Es ist einfach wahnsinnig großartig!

Bewertung vom 05.08.2025
Nothomb, Amélie

Psychopompos


ausgezeichnet

Amélie Nothomb arbeitet in "Psychopompos" ihre eigene Geschichte auf: das Heranwachsen als Botschaftertochter in verschiedenen Ländern, ein traumatisches Erlebnis, das sie fortan nicht nur prägte, sondern fast umbrachte, die Suche nach sich selbst, die Verbindung zu Vögel, der stets anwesende Tod und schließlich ihr Schreiben.

Die Autorin war mir bislang unbekannt, nach diesem ergreifenden Selbstportrait, das durch eine philosophische und teils poetische Sprache beeindruckt, möchte ich das rasch ändern. Von der ersten Seite weg zog mich ihre feinfühlige Sprache in den Bann, ihre innige Verbindung zu Vögel, der Genuss diese Tiere zu beobachten, die Versuche Verbindungen mit ihnen aufzubauen, Ähnlichkeiten mit sich selbst zu finden, der große Wunsch und die kindliche Überzeugung eines Tages fliegen zu können - als das kann ich zutiefst nachempfinden. Nebenher ist das Trauma so verheerend, dass sie es nicht beschreiben kann, doch löst sie es anhand ihrer metapherhaften und intensiven Sprache auf und hinterlässt die Lesenden schockiert. Danach sind auch die Vögel nicht mehr von großer Bedeutet, schlichtes Überleben zählt. Nicht all ihre Gedanken sind nachvollziehbar, aber grundsätzlich weiß man, worauf Nothomb hinaus will - sie schenkt den Leser*innen Vertrauen, indem sie ihre Gedankenwelt offenlegt.

Die Autorin scheint sich gut auf die unterschiedlichen Kulturen, die sie im Laufe ihrer Kindheit kennenlernte, einlassen zu können, ja auch lieben zu lernen. Im Fokus steht, neben den Vögeln, immer ihr Vater, zu dem sie eine besondere Zuneigung hegt und dem sie am Ende seines Lebens etwas gibt, was sie auch noch nach seinem Tod verbindet. Die Verbindung zum Vater bleibt tief, auch nachdem ihr als Zwölfjährige dieses furchtbare Etwas passiert, das ihr die Liebe zum Meer, den Vögeln und auch zu sich selbst nimmt. Fortan ist sie unsicher, ob sie noch leben möchte, oder doch eher sterben, lange Zeit schwankt sie in einem Stadium zwischendrin. Irgendwann ist sie auf die antike Legende des Psychopompos gestoßen, ein Seelengeleiter, der die Seelen Verstorbener ins Jenseits begleitet und sie fragt sich, ob das ihre Rolle im Leben und im Sterben sein soll. Doch irgendwann weiß sie: ihre Bestimmung ist das Schreiben.

Mein Fazit: Psychopompos ist ein ergreifendes Selbstportrait, das nicht nur Vögel, sondern auch die Vater-Tochter-Beziehung und die Beziehung zu sich selbst in den Mittelpunkt setzt. Es ist ein Versuch, sich selbst zu verstehen, das Hin- und Hergerissenwerden zwischen Lebensfreude und Todessehnsucht und ein Trauma durch das eigene Schreiben zu überwinden. Es ist eine Empfehlung an alle, die bereit sind, sich auf philosophische (Selbst-)Erkenntnisse einzulassen und die es nicht stört, dass man vielleicht nicht alles zu hundert Prozent nachvollziehen kann. Die Zerrissenheit und die siegende Liebe zum Leben fühlt mal allemal.

Bewertung vom 04.08.2025
Fonthes, Christina

Wohin du auch gehst


ausgezeichnet

Bijoux stammt aus Kinshasa, muss aber vorgeblich aufgrund der Unruhen in der Heimat zu ihrer Tante Mira nach London ziehen. Sie versteht nicht nur die distanzierte Art ihrer Verwandten nicht, auch deren wahnhaften Glauben an Gott und die Gemeinschaft setzen sie in Fesseln. Als sie im Erwachsenwerden erkennt, dass ihre Liebe Frauen gilt, erfährt sie die volle Härte der familiären Banden. Doch auch Mira hat eine Vergangenheit, die so gar nicht in das vorgegebene Weltbild passt.

Christina Fonthes erzählt in "Wohin du auch gehst" die Geschichte zweier Frauen, die sich zwischen den engen Grenzen afrikanischer Traditionen und den sich auflösenden Beschränkungen in der europäischen afrikanischen Community bewegen bzw. daraus auszubrechen versuchen. Sie erzählt aus zwei Perspektiven: Protagonistin Miras Erzählung spielt in der Zeit zwischen 1974 und 1997, Bijoux Erlebnisse verfolgen wir von 2004 bis 2007. Schnell kann gemutmaßt werden, dass die beiden eine engere Vergangenheit miteinander verbindet, als sie zu wissen scheinen. Durch die Rückblenden wissen wir, dass Mira vieles durchmachen musste, auch wenn uns bis kurz vor Ende die wahren Ausmaße nicht bewusst sind und auch nicht geahnt werden können. Miras gegenwärtiges Ich ist nur schwer zu greifen: sie ist äußerst distanziert und fanatisch gläubig. Lange Zeit ist unverständlich, wie sie eine so harte und strickt konservative Frau werden konnte, denn in ihren Rückblenden ist sie eine sensible und durch die vielen Schicksalsschläge immer stärker werdende Frau. Ihre Nichte Bijoux fühlt sich von ihr abgestoßen, sie kann und will sie nicht durchschauen, auch wenn sie sich lange Zeit an ihre strikten Regeln hält. Besonders erschreckend ist die Vorgehensweise, nachdem Bijoux ihrer Tante die Liebe zu einer Frau gesteht: mittels des Pastors wird eine Art Teufelsaustreibung durchgeführt, die die junge Frau von ihrer Homosexualität heilen soll. Bijoux fügt sich und geht eine arrangierte Ehe ein, doch nachdem auch mit ihrem Mann "etwas nicht stimmt" und sie in der Kirchengemeinde eine neue Liebe kennenlernt, versucht sie einen Ausbruch aus den starren Fesseln der Gemeinschaft.

In "Wohin du auch gehst" durchlebte ich ein Wechselbad der Gefühle. Die groben Einschränkungen der Gemeinschaft lassen einen kaum Raum zum Atmen, ich fühlte das Hin- und Hergerissen-Sein zwischen sogenannter Tradition der christlich-afrikanischer Gemeinschaft und dem Streben nach dem eigenen Glück der Protagonistin Bijoux. Lange Zeit konnte ich kein Verständnis für Mira aufbringen, konnte mir ihre extreme Distanziertheit Bijoux gegenüber und ihren fanatischen Glauben nicht erklären. Bis kurz vor Schluss dachte ich mir, es gäbe keine Erklärung für ihr Verhalten, doch am Ende schafft es die Autorin das Rätsel zu lösen, auch wenn die Aufklärung für das Gesamtbild fast ein wenig zu spät kommt. Bijoux, in moderneren Zeit aufgewachsen, ist trotzdem tief in der Community verwurzelt, fügt sich lange Zeit dem gesellschaftlichen Druck, bis sie es schafft, sich selbst daraus zu befreien.

Besonders beeindruckend fand ich das Spiel mit den Twists in der Geschichte - oft ahnen die Leser*innen schon einiges und es dauert manchmal unnpackbar lange, bis die beiden Protagonistinnen erkennen, was Sache ist. Das stellt die eigene Geduld manchmal auf die Probe, lässt die Geschichte aber auch glaubhafter machen. Anderes wiederum konnte bis zum Schluss nicht geahnt werden, wodurch man am Ende mit einem großen Aha-Erlebnis belohnt wird und einen auch mit der oft unverständlichen Mira versöhnt. Als kleinen Kritikpunkt möchte ich erwähnen, dass die Auflösung fast zu rasch geschieht, besonders was den religiösen Fanatismus betrifft, der trotz allem eher unverständlich bleibt.

Mein Fazit: "Wohin du auch gehst" ein gelungener Roman über die engen Grenzen einer Community und das safte Ausbrechen daraus. Er ermöglicht es, die eigene Meinung anhand der Geschichte immer wieder ein Stück zurecht zu rücken und zu erkennen, dass meist mehr hinter gewissen Konventionen und Verhaltensweisen steckt, als auf den ersten Blick ersichtlich. Am Schluss überrascht die Autorin mit einem Twist, der einen schließlich auch mit der unzugänglich scheinenden Protagonistin Mira versöhnt. Eine große Leseempfehlung für alle, die Frauen bei der Selbstermächtigung begleiten wollen und dafür auch die nötige Geduld aufbringen.

Bewertung vom 27.07.2025
Morton-Thomas, Sophie

Das Nest


sehr gut

Fran verzweifelt Zusehens. Ihr Mann Dom entgleitet ihr, genauso ihr kleiner Sohn Bruno, nicht zu sprechen von ihrer Schwester Ros, die mit ihrer Tochter Sadie und ihrem Lebensgefährten Ellis nach gescheitertem Leben kostenlose Zuflucht in einem ihrer Mobilheime findet. Ständig wundert und sorgt Fran sich über bzw. um ihre Verwandtschaft und ihr einziger Trost scheint die brütende Mutter eines seltenen Zwergseeschwalbennests zu sein, um dessen Verlust sie immer mehr bangt. Das bessert sich auch nicht, als sich gegenüber ihrer Mobilheimsiedlung eine Familie von reisenden Roma niederlässt. Als schließlich Brunos & Sadies Lehrerin verschwindet und mit ihr auch Ellis, scheint das beschauliche Leben am einsamen, englischen Küstenstreifen ein Ende zu haben...

"Das Nest" besticht gleich durch mehrere Tatsachen: die langsame, eindringliche Beschreibung der Küstenlandschaft; die eingehende Beobachtung von Vögel; die verschiedenen Blickwinkel, aus denen die Geschichte erzählt wird; das große Fragezeichen, dass bis kurz vor Ende über dem Erzählten schwebt; die unterschiedlichen Charaktere, die allesamt suspekt erscheinen, der intensive Blick in die Psyche der Erzählenden. Es hat ein paar Seiten gedauert, bis ich in den außergewöhnlichen, gemächlichen Erzählstil hineingefunden habe, aber als ich den Kipppunkt überschritten hatte, gab es kein Halten mehr: ich musste das Buch in einem Satz zu Ende lesen. Das schaffen nicht viele Bücher, doch Morton-Thomas spinnt ein Netz aus vielschichtigen Strängen, die einen gefangen halten, bis man am Ende - etwas unzufrieden - ausgespuckt wird. Aber von vorne:

Wir lesen die Geschichte aus zwei Perspektiven: aus der Sicht der bereits angeführten Fran und Tad, einem Rom. In Frans Welt werden wir umgehend eingeführt, wohingegen Tads Erzählung vorerst rätselhaft bleibt, man kann nicht so richtig verorten, wie er in die starke Geschichte Frans hinein passt. Diese beiden Stränge zusammenzuführen, gelingt der Autorin kunstvoll und sie schafft dabei einen grandiosen Spannungsbogen. Je weiter man liest, desto mehr Rätseln scheinen sich aufzutun, man weiß bald, es gab einen Mord und irgendwie verdächtigt man gleich einmal alle Charaktere, denn alle sind besonders: schrullig, ein wenig irre, mitunter auch gewalttätig, aber auch tragisch. Kurzum: etwas lost. Die Figuren werden so beschrieben, dass sie einem sympathisch und unsympathisch zugleich sind und alle sind verdächtig. Das trifft nicht nur auf die Erwachsenen zu, sondern auch auf die Kinder. Immer wieder (Achtung: Triggerwarnung!) werden zu Tode gequälte Vögel gefunden und eigentlich könnte sie jeder getötet haben. Grundsätzlich: wir erfahren viel über die Psyche der vorkommenden Personen und irgendwie wird dieses Psychogramm auch anhand der unterschiedlichen Vogelliebe erstellt.

"Das Nest" ist kein Krimi im klassischen Sinn, obwohl sich die Spannung um des Mordes Rätsel zunehmend steigert. Die Polizei scheint aus absoluten Losern zu bestehen, die nicht ordentlich ermitteln, aber der Schein kann trügen, denn beim Lesen sollte man sich vergegenwärtigen, dass wir nur zwei, sehr, sehr subjektive Perspektiven erzählt bekommen. Grundsätzlich lässt sich das Genre dieses Buches nur schwer greifen, was es als perfekte Wahl für den kleinen Verlag "Pendragon" macht, der Jahrs zuvor mit "Das Haus in dem Gudelia stirbt" ein ähnlich undefinierbares Werk herausbrachte. Wobei, wenn Psychogramm ein eigenes Genre ist, trifft es auf beide Bücher zu.

Auch Gesellschaftliches wird in vielen Facetten thematisiert. Armut, Verwahrlosung, Vernachlässigung, Vorurteile, die gekonnt ins Gegenteilige gesetzt werden, verstummende Beziehungen, Beeinträchtigungen, Solidarität, Gerüchte, Natur, Gewalt, und so weiter. Alles nicht zu offensichtlich, sondern fein eingewoben in die Geschichte und deren starke Atmosphäre.

Der Grund, weshalb meine Bewertung einen Stern Abzug erhält, ist das Ende. Auch wenn ich das Buch wirklich jedem, der etwas Außergewöhnliches lesen mag, nur sehr ans Herz legen kann: das Ende war für meinen Geschmack zu konstruiert und zu viele Fragen bleiben offen. Das war aber auch bestimmt so gedacht, denn, wie bereits erwähnt, erfahren wir ja nur aus zwei Erzählperspektiven von dem Geschehen. Nichtsdestotrotz bleibt eine sachte Enttäuschung, dass enorm viel der Spekulation der Leser*innen überlassen bleibt und manche Handlungen zum Schluss auch mit viel Menschenkenntnis nicht nachvollzogen werden können.

Mein Fazit: "Das Nest" ist ein grandios geformtes Psychogramm einer Dorfgemeinschaft, das absolute Spannung bietet, die sich langsam aufbaut und immer mehr zuspitzt. Die geschaffene Atmosphäre ist sehr stark und prägt sich nachhaltig ein, die Rätsel verlangen den Hirngewinden immer mehr Geschwindigkeit ab, um die Lesenden am Ende erschöpft und ein klein wenig enttäuscht zurückzulassen. Eine absolute Leseempfehlung an alle, die kein vorgegebenes Genre brauchen und besonderen Lesestoff suchen, über den noch jahrelang spekuliert werden kann.

Bewertung vom 21.07.2025
Sußebach, Henning

Anna oder: Was von einem Leben bleibt


ausgezeichnet

"Jeder Mensch stirbt zweimal": so eröffnet Henning Sußebach sein Buch. Er meint damit einerseits das körperliche Dahinscheiden, andererseits aber auch das soziale Sterben: das Vergessen einer Person. Während in der Menschheitsgeschichte nur sehr wenige Personen - dabei handelt es sich nach wie vor größtenteils um Männer - in Erinnerung bleiben, werden all die "kleinen Leute", die den Alltag ausmachen und die Geschichte vorantreiben, ohne viele Spuren zu hinterlassen, spätestens nach zwei Generationen vergessen. Dagegen kämpft Sußebach in "Anna oder: was von einem Leben bleibt" an.

Seine Urgroßmutter Anna war einst Lehrerin, musste sich dem Lehrerinnenzölibat unterwerfen, konnte anfangs ihre große Liebe Clemens nicht heiraten, weil sie laut Familienverband nicht den richtigen Stand hatte. Als ihr Glück doch noch in Erfüllung geht, verliert sie es umgehend wieder, denn nach nur wenigen Wochen Ehe verunglückt Clemens. Doch Anna gibt nicht auf, übernimmt die vererbten Familiengeschäfte und heiratet zu späterer Zeit erneut. Soviel ist nachzuvollziehen, anhand von einigen noch vorhandenen Quellen, vieles ist aber Spekulation und kann nur im Rahmen des Zeitgeschehens rekonstruiert werden.

Immer wieder spannt Sußebach den großen Bogen zum Weltgeschehen, lässt die Leser*innen wissen, was zur Zeit, in der Anna wirkte, an Weltgeschichtlichem vonstatten ging, setzt ihr Leben so immer wieder in den großen Kontext. Er phantasiert, wie es Anna wohl mit den verschiedenen Schicksalsschlägen ergangen sein mag, weißt aber explizit darauf hin, dass manches nur erdacht ist, da konkrete Spuren darüber fehlen. Immer wieder lässt er Quellen sprechen, zeigt und interpretiert die wenigen Fotos, die von Anna und ihrer Familie übrig geblieben sind, gibt Auszüge von Schulmaterial zum Besten, um den Leser*innen einen Eindruck vom Zeitgeist des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu geben. Kritisch anzumerken ist, dass besonders letzterwähnte leider nicht groß kommentiert werden, obwohl sie an vielen Stellen rassistische Aussagen enthalten. Auch wenn man davon ausgeht, dass die Leser*innenschaft historienkundig ist, wäre es angebracht gewesen, diese Zitate in einen Kontext zu setzen.

Dem Autor gelingt es hervorragend aufzuzeigen, wie schwierig es ist, ein längst vergangenes Frauenleben zu halten, da mit jedem Tag, an dem die Geschichte voranschreitet, Erinnerungen und Spuren verblassen. Anna kann als Charakter so nicht mehr greifbar gemacht werden, trotzdem schafft er es, sie vorm endgültigen, nachhaltigen Vergessen zu bewahren, indem er ihr mit diesem Buch ein Denkmal setzt.

Mein Fazit: "Anna oder: was von einem Leben bleibt" ist ein berührender Versuch, ein Leben einer Vorfahrin für die Nachwelt zu konservieren, mit nur spärlich vorhandenen Quellen und wenigen familiären Erzählungen einen Charakter, der um die Jahrhundertwende in Deutschland lebte und wirkte, nachzubilden. Er zeigt die Schwierigkeit eine historische Persönlichkeit ohne jeglichen Bekanntheitsgrad, vor allem wenn es sich um eine Frau handelt, einzuordnen und nachzuvollziehen, was sie bewegte. Trotz kleinerer Unterlassungen an Erklärungen kann ich das Buch nur wärmstens an alle empfehlen, die sich nicht nur für die Großen in der Geschichte interessieren, sondern offen sind für Menschen wie du und ich.

Bewertung vom 21.07.2025
Engelmann, Julia

Himmel ohne Ende


ausgezeichnet

Charlie ist 15 und ihr Leben scheint gerade den Bach hinunter zu gehen: ihre vermeintlich beste Freundin will von heute auf morgen nichts mehr von ihr wissen, ihre Mutter hat einen neuen Partner und sie selbst schafft es einfach nicht, ihre Stimme zu erheben. Doch dann taucht Pommes auf, ein Junge, der ihr vollkommen unvoreingenommen entgegentritt, sie so mag wie sie ist und ihr zeigt, worauf es in einer Freundschaft wirklich ankommt. Sie planen ihren ersten gemeinsamen Urlaub, doch das Leben stellt ihnen etliche Steine in den Weg...

Welch schönes Debut ist Julia Engelmann hier geglückt! Mit ihrer einnehmenden, poetischen und teilweise philosophischen Sprache versetzt sie einen sofort in die unendlich scheinenden Leiden eines schüchternen Teenagers, die sich lieber über die Welt und den Himmel Gedanken macht, als über Äußerlichkeiten und Cliquen. Charlie ist ein Mädchen, dass sich selbst nicht so wirklich mag, immer nur die eigenen Fehler sieht und vor lauter Selbstfixiertheit übersieht, dass auch sie jemand für andere ist. Jemand, der nicht nur fehlerhaft ist, sondern lustig und intelligent und talentiert. Alleine kann Charly, gefangen hinter einer Glasscheibe - wie sie es selbst wahrnimmt - nicht aus diesem Negativkreislauf aussteigen. Dabei hilft ihr, ohne, dass sie es bemerkt, Pommes, ein Junge, der ebenso traurig ist wie Charly, aber der durch seine Offenheit, wie er mit der Welt umgeht und seinen Träumen, nicht in der Vergangenheit steckenbleibt, sondern trotz erlittener Traumata hoffnungsvoll in die Zukunft blickt. Pommes zeigt Charly, was Freundschaft ist und dass diese Freundschaft wachsen kann, auch wenn sie Enttäuschungen mit sich bringt. Mit diesen positiven Vibes stellt die Protagonistin fest, dass sie doch nicht so unbeliebt ist, wie sie dachte und kann schließlich auch erkennen, dass sich die Welt - und der Himmel - nicht nur um sie dreht.

Mein Fazit: Himmel ohne Ende ist ein wunderschöner, tiefgründiger und vielschichtiger Roman über ein viel nachdenkendes Mädchen, dass durch eine Freundschaft erkennt wie Himmel und Erde sich anfühlen können, wenn man sich auf Zuversicht und Offenheit einlässt. Er kommt ohne jede Teenager-Romantik aus, fühlt sich zu hundert Prozent authentisch an und legt ein wunderbares Gefühl in die Magengegend. Er gehört zu meinen Jahreshighlights und ich kann ihn nur jeder und jedem ans Herz legen, besonders jenen, die in ihrer eigenen Pubertät nicht nur rosige Zeiten hatten.

Bewertung vom 07.07.2025
Gerstberger, Beatrix

Die Hummerfrauen


gut

Eines Tages wird eine junge Frau an die Küste vor Stone Harbor in Maine angespült und von Ann und ihrer Freundin Julie liebevoll aufgenommen und aufgepäppelt. Wie sich herausstellt, war Mina, wie die "Meerjungfrau" heißt, bereits als Kind als Sommergast mit ihrer Familie öfter in der Gegend. Die drei Frauen werden zu einer freundschaftlichen Einheit, doch jede einzelne von ihnen hat mit der Liebe und dem Leben als Hummerfischerin zu kämpfen.

Üblicherweise erwähne ich das Cover in meinen Rezensionen nicht, aber jenes der "Hummerfrauen" verdient eine spezielle Erwähnung - der äußere Umschlag zeigt einen roten Hummer, während der Druck am Hardcover einen blauen zeigt - eine schöne Anspielung auf Ann's ungewöhnliches Haustier - den blauen Hummer Mr. Darcy. Nicht nur das Haustier ist ungewöhnlich (besonders, wenn man bedenkt, dass Ann die Tiere ansonsten fängt, um sich mit ihnen ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihnen so einen grausamen, im heißen Wasser eintretenden Tod beschert), sondern auch die Frauen selbst. Die eine - Ann - hat sich vor Jahrzehnten trotz des Widerstands des gesamten Dorfes durchgesetzt und ist Hummerfischerin geworden, obwohl das bislang nur Männern vorbehalten war. Auch Julie ist störrisch, vorlaut und derb und schert sich nicht um Konventionen. Mina hingegen ist eingeschüchtert und geprägt von ihrer herrischen und negativen Mutter, die ihr nie Liebe entgegenbringen konnte.

Die Sprache ist eingehend und angenehm zu lesen, die Geschichte springt zwischen den Jahren 2000/2001 und 1982, mit Ausnahme von Prolog und Epilog, die in der Gegenwart angesetzt sind. Die Zeitsprünge bringen eine willkommene Abwechslung in das Geschehen. Bedauerlicherweise dümpelt die Geschichte über weite Strecken so vor sich hin, zieht sich und ist nur wenig spannend. Als dann im letzten Drittel ein spannender Verdacht im Raum steht und sich das Blatt wenden zu scheint, wird dieser aber schnell wieder fallen gelassen. Das ist schade, denn es hätte der Geschichte eine entscheidende Wendung geben können. So verfolgen wir über weite Strecken Dorftratsch, gescheitere Beziehungen, bösartige Mütter und Nachbarinnen, unerfüllt und aufgegebene Lieben, Konflikte unter Freund*innen und das meist ohne Ziel. An vielen Stellen dachte ich beim Lesen an "Virgin River" in Maine. Viele Charaktere werden eingeführt und immer wieder erwähnt, ohne, dass sie für die Geschichte eine wesentliche Bedeutung hätten. Das Gefühl der rauen Landschaft und See konnte die Autorin sehr gut vermitteln, die Entwicklung der Charaktere und der Geschichte blieb aber größtenteils langweilig und vorhersehbar. Nach Beendigung des Buches habe ich das Gefühl, dass zwar viel, aber nichts wirklich erzählt wurde. Schade, besonders die Mutter-Tochter-Beziehung von Mina und ihrer Mutter Judith hätte Potential gehabt, wird aber leider auch nicht ansatzweise weiterverfolgt oder aus erzählt.

Mein Fazit: "Die Hummerfrauen" mag ein sommerlicher, leichter Roman sein, der oberflächlich von Freundschaft, Liebe und Konflikten erzählt und für alle empfehlenswert ist, die "Virgin River" lieben. Tiefe, Weiterentwicklung der Charaktere und Beziehungen und das große Ganze bleibt das Buch aber leider schuldig. Highlights sind die kurzen Sequenzen, in denen der blaue Hummer Mr. Darcy als Haustier vorkommt.

Bewertung vom 02.07.2025
Dickreiter, Lisa-Marie;Oelsner, Winfried

Der kleine Bubu. Mittagsschlaf ganz schnell und fix? Der Bubu, der kennt alle Tricks!


gut

Vorweg: die Illustrationen finde ich großartig! Sie sind sehr detailliert und erinnern an manchen Stellen an Wimmelbilder, das finde ich immer besonders schön, wenn man mit den Kindern viel entdecken kann. Besonders die Tiere sind herzerwärmend gezeichnet und dass die Schöpfer:innen des Buches mit einer Illustration und einem Reim vorgestellt werden ist spitze!

Der große und der kleine Bubu, flauschige Fellwesen, helfen den großen und den kleinen Menschen beim Mittagseinschlafen. Während die Erwachsenen freudig die Hilfe des großen Bubus in Anspruch nehmen, tut sich der kleine Bubu bei den Kindern schwer, partout wollen sie kein Nickerchen machen. Er plagt sich sehr und irgendwann gelingt es ihn dann doch, meistens durch Berührungen, die Kleinen in den Schlaf zu bringen.

Ich finde es wirklich sehr schön, wie die Erwachsenen liebend gerne zu mittags schlafen - und dich Kinder nicht. Allerdings finde ich, dass jetzt nicht wirklich etwas lehrreiches oder hilfreiches thematisiert wird, was die Kinder zum Schlaf animieren soll. Außerdem habe ich - besonders zu Beginn des Buches - etwas Schwierigkeiten, beim Vorlesen in das Reimschema hineinzukommen, das wirkt für mich nicht ganz stimmig. Außerdem finde ich die Reime für die Zielgruppe fast ein wenig zu lange.

Also grundsätzlich ein sehr schön und liebevoll illustriertes Kinderbuch, das mir von der textlichen Gestaltung und dem Lerneffekt nicht ganz überzeugt.

Bewertung vom 23.06.2025
Clavadetscher, Martina

Die Schrecken der anderen


sehr gut

Ein Toter im Eis, der soziophobe Schibig, die Alte, Kern und dessen Mutter: das sind die Hauptfiguren in Martina Clavadetschers "Die Schrecken der Anderen". Langsam werden die Personen eingeführt und sachte miteinander verwoben. Die Sprache ist zwar einfach zu lesen, aber doch sehr anspruchsvoll und komplex, es bedarf einer hohen Konzentration, um dem Erzählten die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.

Gewaltig und dicht ist nicht nur die Sprache, sondern auch der Inhalt. Jede einzelne Figur bekommt einen schrägen Charakter, ist mit eigenen Besonderheiten ausgestattet. Was sie vereint, ist das Unzugängliche, das Mysteriöse das ihnen anhaftet. Jede und jeder ist etwas auf der Spur, lang ist nicht erkennbar, dass es sich um Gemeinsames handelt. Die Geschichte ist Geschichte und Ungeschichte zugleich, sie ist nicht fassbar und lässt sich deshalb auch kaum beschreiben.

Es ist ein Leseerlebnis, das man selbst erfahren muss, es hat etwas Märchenhaftes, aber doch sehr Reales, könnte vor oder in hundert Jahren spielen. Es beeindruckt und stößt ab zugleich. Schließlich geht es - wie in vielen Dingen - um das Geld, dass nicht nur Dreck am Stecken hat, sondern auch Blut - und alle gieren danach, aus unterschiedlichen Motiven. Und auch hier, in der neutralen Schweiz, tauchen abstoßende Spuren von Alt- und Neonazis auf.

Es benötigt definitiv einen zweiten Durchlauf, um dieses Buch zu verstehen und es fassen zu könne, denn es bleibt: ein Rätsel. Eines allerdings, dass es sich lohnt lösen zu wollen. Und hoffentlich gelöst werden kann.