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Kwinsu
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Salzburg

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Insgesamt 121 Bewertungen
Bewertung vom 21.09.2025
Flasar, Milena Michiko

Der Hase im Mond


sehr gut

"Anders als in der Fernsehserie gab es weder eine Pointe noch eine Moral noch das obligatorische Happy End." (S. 214)

Dieses Zitat aus Milena Michiko Flasars Erzählband "Der Hase im Mond" fasst vortrefflich zusammen, wie ich ihre neun Kurzgeschichten wahrgenommen habe. Ich konnte oft weder eine Moral, noch eine Pointe, geschweige denn ein Happy End finden. Das ist grundsätzlich auch nicht nötig. Der Schreibstil der Autorin ist sehr besonders, er hat mich eingenommen, auch wenn der Ablauf der Geschichten ab und an zäh und nervig daherkam. Es erfordert einiges an Geduld, eine Geschichte so hinzunehmen, ohne dass sie augenscheinlich Sinn ergibt. Das Zitat, was zum Ende des Buches aufgeworfen wird, scheint mir auch sehr bewusst dorthin gesetzt worden zu sein.

Sie setzt die Realität oft in einem schwebenden Zustand, der ab und an ins Fantastische gleitet, an. "Was ist tatsächlich geschehen?" ist eine zentrale Frage, die ich mir beim Lesen ständig gestellt habe. Die verhandelten Themen sind vielfältig und wiederkehrend: Mann-Frau- & Eltern-Kind-Beziehungen, Rollenverteilung, Verwahrlosung, Aufgabe des Alltags, Äußerlichkeiten (v.a. weiße Zähne), Gefühlsstörungen & Wahnhaftigkeiten, ein intensives sich-Hineinsteigern in unterschiedliche Beobachtungen, die Suche nach dem Selbst, das eigene Scheitern und andere Abhängigkeiten. Auch Tiere spielen immer wieder eine Rolle.

Es wäre schön, das Buch mit einer japanischen Brille lesen zu können: die Autorin hat einen japanischen Elternteil, die Geschichten spielen in Asien und wären vermutlich greifbarer, hätte man einen entsprechenden kulturellen Background. Meine Gefühlslagen zu den Erzählungen schwankte zwischen Bezauberung, Mitgerissen-sein, Abstoßung, Langeweile, Entnervung, Verwirrtheit und Begeisterung. Solche Schwankungen zu verursachen, zeugt von großem Talent, vor allem unter dem Aspekt, dass sich eine Sinnhaftigkeit der Geschichten nur selten einstellt. So alltäglich sie sein mögen, so sehr versetzen sie einen in eine andere, beinahe schon alienesque Welt. Begleitet werden die unterschiedlichen Protagonist*innen stets von philosophischen Gedankengängen. Eines steht fest: hinterher ist man keineswegs schlauer.

Mein Fazit: "Der Hase im Mond" ist eine sehr spezielle Kurzgeschichtensammlung, die mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet. Sie glänzt durch eine magische literarische Sprache, die einen in eine andere Welt zu versetzen mag. Eine Leseempfehlung spreche ich aus für alle, die es nicht stört, nach dem Lesen keinen Sinn entdecken zu müssen.

Bewertung vom 21.09.2025
Schoeters, Gaea

Das Geschenk


gut

Die Leute staunen nicht schlecht, als sie nach und nach Elefanten in der Hauptstadt entdecken, die badend, fressend und trompetend durch Seen und Straßen ziehen. Bald wird klar: sie sind ein besonderes Geschenk, das der botswanische Präsident Deutschland gemacht hat, nachdem es ein Einfuhrverbot von Jagdtrophäen beschlossen hat. Die Anzahl von 20.000 Stück stellt das ganze Land vor eine riesige Herausforderung...

Gaea Schoeters gelingt mit "Das Geschenk" eine humorige und kurzweilige Satire, die der deutschen Politik und Gesellschaft gekonnt den Spiegel vorhält. Auf nur rund 140 Seiten begleiten wir 435 Tage des Ausnahmezustands und der zunehmenden Handlungsunfähigkeit von Politiker*innen und Expert*innen. Die Autorin thematisiert unterschiedlichste Schieflagen, von der europäischen Überheblichkeit gegenüber Afrika, über den fehlenden Mut von Politiker*innen, unpopuläre Entscheidungen zu treffen, aus Angst bei der nächsten Wahl zu scheitern, bis hin zu der Frage ob ein Elefantenleben mehr wiegt als ein menschliches. Besonders im ersten Teil hat sie die Geschichte perfekt durchdacht, sie stellt Fragen, wie sich die Landschaft durch die Anwesenheit so vieler lebensraumfremder Tiere verändert, sei es durch deren Nahrungsbedürfnissen, deren Kot oder deren Beeinflussung der menschlichen Ansiedelungen.

Erheiternd sind hierbei die Anspielungen auf tatsächliche Personen, wie die ehemalige Kanzlerin, die als Ratgeberin des Protagonisten und derzeitigen Kanzler Winkler dient und meint "Wir schaffen das". Traurig stimmt die Erkenntnis des Patriarchats, das die kluge Hartmann, die zur Elefantenministerin auserkoren wird und als einzige wagt konstruktive Lösungen vorzuschlagen, gegen die Wand fahren lässt. Überhaupt sind die Anspielungen auf die Realpolitik gekonnt und deswegen auch ernüchternd.

So hundertprozentig konnte mich "Das Geschenk" aber nicht überzeugen. Besonders die erste Hälfte ist kurzweilig, utopisch, mutig und satirisch, ab der zweiten Hälfte jedoch überlagert die ausweglose Realpolitik alles. Da geht es nur mehr um Machterhalt und Wählerstimmen und die Handelnden weigern sich, mutige Schritte zu setzen aus Angst, ihre eigene Position zu verlieren. Wir erhalten hier nähere Einblicke in das persönliche Leben des Kanzlers, ohne dass ich herausfinden konnte, weshalb dies nun für den Fortgang der Geschichte notwendig ist. An etlichen Stellen habe ich mich gelangweilt und habe es bedauert, dass die Autorin ihre begonnenen Utopien nicht mutig fortführt. Beginnt "Das Geschenk" als lustiges Spiel, das 20.000 Elefanten im Porzellanladen veranstalten, hinterlässt es uns im zweiten Teil mit dem traurigen Trümmerhaufen der zerbrochenen Realität.

Mein Fazit: "Das Geschenk" beginnt als humorig satirisches Büchlein, das einen viel zum Schmunzeln animiert und eine eigentlich tragische Geschichte augenzwinkernd betrachtet. Die zweite Hälfte wird überschattet von einer trostlosen Politik, die einen viel zu oft an die Realität erinnert. Schade, dass die Autorin nicht mehr Mut zur Utopie hatte. Nichtsdestotrotz ist das Buch eine kurzweilige Geschichte, die zum Nachdenken anregt.

Bewertung vom 21.09.2025
Gablé, Rebecca

Rabenthron / Helmsby Bd.3


sehr gut

England im Jahr 1013: der junge Aelfric of Helmsby reist nach London, um seinen wertvollen, dänischen Gefangenen zu Geld zu machen - und gerät rasch in die komplizierten Verstrickungen des Königshauses. Er wird zum Vertrauten der klugen Königin Emma, für die er in den nächsten Jahrzehnte treue Dienste leistet und stets an ihrer Seite verweilt. Denn es ist eine Zeit, in der nur Emma die strahlende Konstante zu sein scheint...

Rebecca Gablé liefert mit "Rabenthron" in gewohnt souveräner Manier ein Prequel zu "Das zweite Königreich" ab, das aber absolut alleinstehend gelesen werden kann - wie alle ihre historischen Romane. Es ist wieder hervorragend recherchiert und wie keine andere schafft es die Autorin, ihre fiktiven Protagonist*innen auf glaubwürdige Art und Weise in das historische (politische) Geschehen einzubetten und sie zu zentralen Figuren in der Geschichte zu machen.

Wie immer bei Gablé lernt mal viel über die mittelalterliche Welt Europas, mit Fokus auf England und die Normandie. Wir lesen über Könige, die sterben wie die Fliegen, über einen fliegenden Mönch, über den Sklavenhandel und das Leben der Sklav*innen zu dieser Zeit, über Geschlechterrollen, die Vielehe und die unglaubliche Macht, die Dänemark dazumals hatte. Wir erfahren, dass ein Zusammenleben von Dän*innen und Engländer*innen in England existierte, das mal mehr, mal weniger funktioniert hat. Und über die weiterreichenden politischen Verstrickungen, die sich durch ganz Europa gezogen haben.

Die Protagonist*innen im Buch sind vielfältig. Aelfric ist treuherzig, ehrenhaft und glaubt (oft schon übertrieben) an das Gute im Menschen. Sein Gegenspieler Offa ist ein absoluter Stinkstiefel, der aber ab und an auch Gutes aufblitzen lässt. Aelfrics Sohn Penda weiß was er will und holt es sich auch. Die leuchtendste Figur ist aber Königin Emma, die es mit ihrer Intelligenz schafft, die politischen Geschicke zu ihren Gunsten zu nutzen. Dann gibt es noch Hakon, der ehemalige Gefangene von Aelfric, der leider nur oberflächlich beschrieben wird. Doch ihn, Aelfric und den großartig humorigen Bruder Eilmer verbindet eine tiefe Freundschaft, die über Jahrzehnte hinweg lebendig bleibt. Diese Charaktere begleiten uns beinahe 30 Jahre durch die Geschichte.

Der Schreibstil Gablés ist wie immer einnehmend und kurzweilig. Trotzdem habe ich mir diesmal nicht so leicht getan, Zugang zu den Figuren zu finden. Die Szenen, in denen wir sie begleiten, scheinen mir diesmal besonders kurz und eher an der Oberfläche zu bleiben. Da wir gleich mehreren Charakteren folgen, ist es mir diesmal nicht gelungen, eine Verbindung zu ihnen herzustellen. Meines Empfindens nach bekommt diesmal lediglich Königin Emma einen Auftritt, zu dem man in den rund 900 Seiten nachvollziehbaren Zugang findet. Ich war es von der Autorin gewohnt, dass sie es sehr gut schafft, (zeitliche und handlungstechnische) Lücken durch Hinweise zu füllen, das habe ich in Rabenthron etwas vermisst. Nichtsdestotrotz wird man gut und lehrreich unterhalten. Außerdem ist der Fokus auf Liebesgeschichten sehr im Hintergrund, was ich als erfrischend und sehr positiv wahrgenommen habe.

Mein Fazit: Rabenthron ist ein souverän geschriebener historischer Roman aus der Helmsby-Reihe, dessen Figuren uns in die Welt des englischen, normannischen und dänischen Mittelalters eintauchen lässt. Die Charaktere scheinen unzugänglicher als gewohnt, da man sehr vielen von ihnen folgt, dafür treten Liebesgeschichten eher in den Hintergrund. Wie immer ein hervorragend recherchierter und informativer Roman der Autorin, die uns wieder wundervoll in die politischen Ränkespiele vor rund 1000 Jahren eintauchen lässt.

Bewertung vom 17.09.2025
Hauff, Kristina

Schattengrünes Tal


weniger gut

Lisas Leben ist ganz ok, zwar hat die Ehe mit Simon die besten Jahre schon hinter sich und ihr sturer, alter Vater Carl will einfach nichts an dem immer maroder werdenden Hotel, das seinen Glanz längst verloren hat, ändern, aber sie gibt sich mit wenig zufrieden. Dann jedoch betritt Daniela die Bühne. Die eigenartige Frau ist Lisa nicht so recht geheuer, doch als diese es schafft, Lisas Umfeld immer mehr für sich einzunehmen, lässt sie sich mehr und mehr auf sie ein. Hätte sie sich doch lieber auf ihre Bauchgefühl verlassen...

Die erste Hälfte des Buches macht echt Spaß zu lesen - der Schreibstil ist sehr kurzweilig, es wird ein gewisser Spannungsbogen aufgebaut, die Autorin baut atmosphärische Bilder auf, man kann Lisas Zweifel und ihr schlechtes Bauchgefühl was Daniela betrifft gut nachvollziehen, genauso wie die nicht mehr so frische Beziehung zu ihrem Mann und den Ärger über ihren Vater, der einfach nicht sieht, dass die gute alte Zeit im Hotel längst vorüber ist und vollkommen unwillig ist, sich auf Neues einzulassen. Schnell lesen lässt sich die Geschichte auch, weil sie in kurzen Kapiteln immer verschiedenen Figuren folgt. Und man verfällt rasch in Spekulationen, was es mit dieser ominösen Daniela wohl auf sich hat und wie sich das Erzählte wohl weiterentwickeln wird. Soweit so gut.

Als dann aber im zweiten Teil des Buches fast jede Vermutung dann tatsächlich eintritt und dann auch noch ein Geschlechterstereotyp nach dem anderen bedient wird, hat sich der Spaß für mich aufgehört und ich musste mich einigermaßen ärgern. Schwanzgesteuerte Männer, rachsüchtige, manipulative und als Gegentyp naive Frauen, Frauen, die alles mit sich machen lassen und zur Krönung noch ein Happy End auf allen Ebenen. Alles bleibt oberflächlich, die Figuren haben keinerlei Tiefe, leider stelle ich mir persönlich so eine gute Geschichte nicht vor. Schade, es hatte vielversprechend begonnen.

Mein Fazit: Schattengrünes Tal beginnt vielversprechend mit einem kurzweiligen Schreibstil und einem schnell einsetzenden Spannungsboden, bedient aber rasch sämtliche Geschlechterstereotypen und ist sehr vorhersehbar. Wem das nicht stört, könnte das Buch gefallen.

Bewertung vom 15.09.2025
Lynch, Paul

Jenseits der See


ausgezeichnet

Der Fischer Bolivar begeht einen fatalen Fehler: er entscheidet sich, trotz Unwetterwarnung in See zu stechen und überredet den jungen Hector, ihm zu assistieren. Die Konsequenzen sind so grauenhaft wie unvorstellbar: der Sturm reißt sie auf offene See, alles was ihnen bleibt ist das defekte Boot und sie selbst. Es beginnt ein Kampf um Leben und Tod, der beide weit über ihre Grenzen treibt.

Was für ein wahnsinnig gutes Buch ist Autor Paul Lynch hier gelungen! Die philosophischen Betrachtungen auf das Leben und das Sein, der immer intensiver werdende Wahn, die rohe Grausamkeit alles zu tun um zu überleben - oder aber auch nicht, das Existieren im Nichts mit einem fremden Menschen, der Freund und Feind zugleich wird - all das schildert der Autor atemberaubend überzeugend und in metapherngeladener Sprache.

Bolivar war vor dem einschneidenden Erlebnis, das über mehrere Monat andauert, ein Schlitzohr, ein Kleinkrimineller, der Frauen benutzte und nur auf sein eigenes Wohl aus war. Hector wiederum ein junger, fröhlicher Mensch, dem das Leben noch bevorstand. Die Ausnahmesituation scheint ihre Charaktereigenschaften zu brechen, während Bolivar zum Optimisten wird, öffnet Hector dem Wahn Tür und Tor, seine Gedanken werden paranoid, soweit, dass er irgendwann bei Gott landet. Bolivar kommt nicht mehr zu ihm durch und hört doch nicht auf, seine Überzeugung, dass für sie alles gut ausgehen wird, dem jungen Mann zu übertragen - vergebens.

Lynch erzeugt ein so realistisches Bild von dieser auf wahren Begebenheiten beruhender Geschichte, dass ich den Schmerz und die Hoffnung der Protagonisten fühlen konnte, als würde ich als stille Beobachterin mit im Boot sitzen. Die Wandlungen der Figuren ist stet und nachvollziehbar, während der eine in eine unberechtigte Dauerbeichte verfällt, erkennt der andere seine Fehler, reflektiert sie und setzt Hoffnung darin, sie wieder gutmachen zu können. Neben der philosophischen Komponente verbaut der Autor auch eine Spiegelung der Abgründe der Menschheit in die Umgebung der Weltmeere. Hier treiben Maßen an (Plastik)Müll, die in der ausweglosen Situation aber zu dankbaren Werkzeugen werden. Trotzdem ist die Anzahl und auch die bloße Existenz der achtlos entsorgten Verbrauchsgüter mitten im offenen Meer ein Umstand, der mich höchst traurig gestimmt hat. Ein weiterer schwer erträglicher Aspekt ist die Grausamkeit gegenüber Tieren, die Bolivar an den Tag legt, um zu überleben. Hier geht es nicht ums reine Töten, sondern ums Quälen, um das eigene Überleben zu sichern.

Nichts an der Geschichte wirkt unrealistisch, sie zieht einen Sog aus Ausweglosigkeit und Hoffnung, Aufgeben und Kämpfen, Verhandeln von Existenz und Tod. Und als Draufgabe die umwerfende Sprache des Autors, der sich mit Metaphern austobt, die nicht immer nachvollziehbar, dafür aber eine literarische Wohltat sind.

Mein Fazit: Jenseits der See ist ein großartiger Roman über den Existenzkampf auf hoher See in einer ausweglosen Situation, der den beiden Protagonisten alles abverlangt und sie in einen Zustand versetzt, der sie zwischen Wahn und Wirklichkeit, Hoffnung und Aufgabe, Grausamkeit und Zuneigung gefangen hält, um sie schließlich in ihrer eigenen Erkenntnis auszuspucken. Hier zeigt sich Sprachgewalt in metaphernhafter Höchstleistung, die in keiner Sekunde auf Kosten der Geschichte geht. Jenseits der See ist für mich eines der Jahreshighlights 2025 und ich kann allen, die beim Lesen emotional gerne an ihre Grenzen getrieben werden, raten: lest dieses Buch!

Bewertung vom 14.09.2025
Kitamura, Katie

Die Probe


sehr gut

Akt 1: Eine Begegnung mit dem jungen Xavier bringt das Leben der erzählenden Schauspielerin durcheinander. Er eröffnet der Protagonistin, er glaube sie wäre seine Mutter. Dabei kann das gar nicht sein, nie hat sie ein Kind geboren. Trotzdem lässt sie die Begegnung nicht los.
Akt 2: Xavier ist bei der namenlosen Schauspielerin und ihrem Mann Tomas eingezogen. Während sie über ihr bisher verbrachtes, gemeinsames Familienleben sinniert, das Großziehen von Xavier, ihre Gefühle zu ihm, ihre nicht greifbare Beziehung, scheint dieser gekommen sein, um zu bleiben - und das nicht alleine.

Katie Kitamura nimmt die beobachtenden Leser*innen in "Die Probe" mit in ein gekonntes Verwirrspiel, das - je weiter man in die Geschichte vordringt - immer undurchsichtig wird. Was ist wahr und was ist falsch, gibt es sowas wie die Wahrheit überhaupt und worin kann man Theater und Realität unterscheiden? Was ist passiert, in der Lücke, die zwischen dem ersten und dem zweiten Teil klafft? Und ist die Protagonistin überhaupt zurechnungsfähig oder befindet sie sich in einer sich stetig steigernden Wahnvorstellung? Diese Fragen und viele mehr begegnen einem unwillkürlich beim Lesen dieses Dramas in zwei Akten. Es gibt unzählige Weisen, wie man welches Ereignis / wie man die Gedanken der Protagonistin und ihrer Familie, seien es jene im Theater oder jene der vermeintlichen Realität, interpretieren kann, es bieten sich viele Spielräume, die unklar und glasklar zugleich sind. Fest steht: diesen Roman sollte man am Besten in einem Lesekreis lesen, denn alleine macht das Rätselraten, das Zurechtbiegen der eigenen Wahrnehmung, die Anstrengungen der Hirnwindungen nur halb soviel Spaß.

Man sollte gefasst sein auf eine dichte Sprache, die jedes Wort ernst nimmt und gleichzeitig ad absurdum führt, nur eines ist gewiss: die Erzählerin ist absolut unzuverlässig. Zwar hat das Büchlein nur wenige Seiten, es sind nur 176 abzüglich der üblichen Leerseiten, aber es verlangt die volle Aufmerksamkeit, damit einem die Geschichten nicht davon rennen. Zu der ganzen Unklarheit kommt dann auch noch die Gewissheit, dass die Protagonistin eine hervorragende Schauspielerin ist, nicht nur im wörtlichen Sinn, sondern auch im beruflichen. Ist man mit dem Lesen fertig, beginnt erst die richtige Arbeit, denn verstehen tut man nur das, was man selbst hineininterpretieren will. Und das ist pure Absicht der Autorin. Für dieses Spiel muss man offen sein, muss sich darauf einlassen und auch bereit sein, die eigene Meinung zu revidieren.

Viele kluge Fragen ergeben sich, über das Zusammenleben, über Beziehungen und Wünsche, über Karriere, über Mann und Frau - und natürlich übers Theater. Letzteres ist bekanntlicherweise eine spezielle Welt und war für mich auch der Grund, weshalb ich bei den teilweise längeren Schilderungen darüber manchmal etwas entnervt war. Überhaupt war das Milieu, in dem sich die Protagonistin bewegt, für mich sowohl unzugänglich, wie auch unverständlich. Annahmen über Menschen wirkten teilweise befremdlich, weshalb ich auch keine wirkliche Anteilnahme an dem verwirrenden Leben der Schauspielerin nehmen konnte.

Mein Fazit: "Die Probe" ist ein gekonnt inszeniertes Verwirrspiel, das wohl bewusst so geschrieben wurde, dass es nicht aufgelöst werden kann. Es taucht tief ein in die wirre Psyche der Protagonistin sowie die Welt des Theaters und glänzt durch eine präzise eingesetzte Sprache. Es ist eine Empfehlung für alle, die offen sind einem unlösbaren Rätsel gegenüberzutreten und sich nicht scheuen, in die Welt des Theaters einzutauchen.

Bewertung vom 14.09.2025
Hewitt, Seán

Öffnet sich der Himmel


ausgezeichnet

James kämpft als schwuler Teenager mit dem engen Korsett eines nordenglischen Dorfes. Nach seinem Outing zieht er sich zurück und macht sich selbst zum Außenseiter. Getragen durch seine Fantasie, ändert sich alles, als er den eigenwilligen und störrischen Luke kennenlernt. Mit ihm erlebt er das erste Mal, was es heißt zu lieben, auch wenn er nicht weiß, ob Luke seine Gefühle erwidert.

Ich kann nicht umher, "Öffnet sich der Himmel" als literarische Wucht zu bezeichnen. Seán Hewitt haucht seinem Protagonisten so viel Begehren, Unsicherheit, Verlangen, sozialisierten Anstand ein, dass ich mehrere Tage nach Beenden des Buches immer noch in James' Gefühlswelt gefangen bin. Der Autor erzählt die Geschichte ohne pathetisch zu sein und frei von jedem Kitsch, zudem ist es auch vollkommen egal, wem seine Liebe gilt, denn sie ist vollkommen. Zugegebenermaßen sind James' Gedanken und Reflexionen fast zu reif für einen Teenager, jedoch bettet Hewitt das Erzählte in eine Rückschau aus Erwachsenensicht - der nunmehr erwachsene James kehrt Jahre nach dem Geschehen in die Ortschaft zurück und schildert so das Jahr, das ihn für immer verändert hat - und wird somit authentisch.

Die Sprache des Erzählers ist dicht und eindringlich, oft habe ich beim Lesen vergessen zu atmen. Mitunter hat der Text seine Längen und das Fortkommen scheint zäh und langsam, allerdings sind die Worte so gesetzt, dass jedes Einzelne seinen treffsicheren Platz hat, nichts erscheint unnötig, um einen in die Gefühlswelt hineinzuversetzen. Andererseits beherrscht der Autor auch nachhaltige Bilder zu erzeugen, die wohl dauerhaft im Kopf verweilen werden. Ganz nebenbei, aber natürlich, wird auch das Thema Armut angesprochen und wie es sich auf das Leben eines Teenagers auswirkt.

Mein Fazit: "Öffnet sich der Himmel" ist ein beeindruckend authentisch erzählter Roman über die erste und prägendste Liebe, die all ihre Fassetten - von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt - durchspielt, ohne dabei kitschig zu sein. Den Protagonisten lernt man dabei so gut kennen, dass es fast schade ist, nicht mehr aus dem weiteren Verlauf seines Lebens zu erfahren. Die stellenweisen Längen sind nicht störend, sondern unterstreichen die Authentizität des Protagonisten - eine absolute Leseempfehlung für alle, die sich in die Gefühlswelt eines Teenagers mitreißen lassen wollen.

Bewertung vom 09.09.2025
Halls, Smriti

Huhu und Momo - Für dich trau ich mich!


ausgezeichnet

Huhu und Momo ist wirklich ein ganz entzückendes Kinderbuch!
Ich habe es mit meiner vierjährigen Nichte gelesen und sie war wirklich sehr begeistert! Besonders von den vielen kleinen Details, die Fliegenpilze, die Glühwürmchen, die vielen süßen Wohndetails, die lustigen Schlappen und die Zipfelmütze - meine Nichte amüsiert sich prächtig und entdeckt immer wieder Neues, das sie in Begeisterung versetzt.

Die Geschichte ist sehr nett: die Eule Huhu ist am Liebsten bei sich zuhause, verlässt ihre Baumhöhle nur sehr ungern - aber sie fühlt sich einsam. Schließlich schließt sie mit der Maus Momo Freundschaft, sie besucht Huhu jeden Tag und sie verbringen gemütliche Stunden zusammen. Als Momo aber eines Abends fort bleibt, macht sich Huhu Sorgen - und überwindet schließlich ihre Draußen-Angst, um ihrer Freundin zu Hilfe zu eilen.

Die kurzen Texte sind in Reimform getextet, die zeitweise etwas holprig zu lesen sind, aber je öfter man den Text liest, desto einfacher fällt es, in den Flow des Gereimten hinein zu kommen. Aus rein subjektiver Erfahrung mit meiner Nichte würde ich sagen, dass die Geschichte hier aber gar nicht so im Vordergrund steht, sondern eher die schönen Illustrationen, die immer wieder Neues entdecken lassen. Das ist bei anderen Kindern sicher anders, ich persönlich finde die Story mit der Moral "über den eigenen Schatten springen, um anderen zu helfen" sehr gelungen. Ich finde das Buch sehr altersentsprechend und kann es allen empfehlen, die gerne mit Kindern auf eine visuelle Entdeckungsreise gehen!

Bewertung vom 31.08.2025
Dröscher, Daniela

Junge Frau mit Katze


gut

Ela steht kurz vor ihrer Promotion, als sie plötzlich von allen möglichen Krankheiten befallen wird. Nicht nur ihr Abschluss, sondern auch ihre wissenschaftliche Karriere laufen Gefahr zu scheitern. Obwohl sie gesundheitlich stark gebeutelt ist, arbeitet und lernt sie, immer kurz vor dem endgültigen Kollaps. Doch nicht nur dies macht ihr zu schaffen, auch ihre komplizierten Familienverhältnisse scheinen sie in den Abgrund zu ziehen...

Daniela Dröscher legt mit "Junge Frau mit Katze" den autofiktionalen Nachfolger ihres Erfolgsbuches "Lügen über meine Mutter" vor. Während letztgenanntes mich seinerzeit umgehend in den Bann zog, ich schockiert, betroffen, mitfühlend war und ständig auch Parallelen zu meiner eigenen Biographie vorfinden konnte, bin ich von ihrem aktuellen Buch einigermaßen enttäuscht. Zwar mag ich den Schreibstil der Autorin sehr, allerdings fehlte mir eine tiefere Aussage oder grundsätzlich eine einnehmende Geschichte.

Hauptsächlich geht es um Krankheit. Immer neue Krankheiten tauchen auf, über weite Strecken weiß man nicht, ist das nun echt oder eingebildet, wurde ihr ihre Kränklichkeit von der Mutter anerzogen oder weiß Ela einfach nicht, wann einmal Schluss sein muss. Trotzdem es ihr miserabel geht, arbeitet sie weiter und lernt sogar japanisch im Schnelldurchlauf, weil sie es einfach nicht schafft, ein Missverständnis aufzuklären. Strikt hält sie am eingeschlagenen Weg der literaturwissenschaftlichen Karriere fest, ohne zu wissen, ob sie das eigentlich will. Gleichzeitig regt sie sich über ihre Mutter auf, die sich endlich zu emanzipieren scheint, kehrt immer hervor, wie dick und unbeweglich ist und zwischen den Zeilen liest man, dass auch sie sich für ihre Mutter schämt. Statt sich mit ihr zu freuen, stellt sie ihre eigene Abhängigkeit vor das Wohl ihrer geplagten Mutter. Wenig ist gemein mit dem Mitfühlenden aus den "Lügen". Ihre engste Freundin Leo scheint sie nur zu akzeptieren, wenn Ela sich um deren Tochter Henny kümmert, auch wenn sie zum Kindersitten eigentlich zu krank ist. Generell wirken Elas Beziehungen alle toxisch. Nur ihr Bruder, lebend im fernen London, scheint ihr eine liebevolle Stütze zu sein. Ihr Arbeitskollege O ein Lichtblick in ihrem Leben. Elas Kater Sir Wilson ist ein Highlight.

Besonders irritiert hat es mich, wie die Protagonistin die Augen für Tatsächliches verschließt. Eine schwerwiegende Krankheit, die sie vor einiger Zeit hatte, stellt sich als einigermaßen harmlos heraus, doch die tatsächliche, positivere Diagnose wollte sie einfach lange Zeit nicht hören. Einmal in den Strudel der Krankheit hineingezogen, scheint es keinen Weg mehr heraus zu geben. Zwar ist mir aus eigener Erfahrung bewusst, wie tief einen ein schweres Krankheitsschicksal oder die Ungewissheit, was man selbst eigentlich so will, schwer belasten kann. Aber in dem Ausmaß, in welchem das die Protagonistin erfährt, ist nicht nur äußerst hinunterziehend, sondern mitunter auch nervig.

Mein Fazit: "Junge Frau mit Katze" kann man lesen, wenn man wissen will, wie es nach "Lügen über meine Mutter" weitergegangen ist oder kein Problem hat, von allen möglichen Krankheitsgeschichten mit hypochondrischen Anflügen gepaart mit toxischen Beziehungen und einigen Lichtblicken einvernommen zu werden. An der Anziehungskraft des Vorgängers kann es leider nicht mithalten.

Bewertung vom 30.08.2025
Berkel, Christian

Sputnik


sehr gut

Dem jungen Sputnik wirft es aus der Bahn, als er erfährt, dass er kein ganzer Deutscher ist. Mit seinen sieben Jahren kann er es noch nicht verstehen, was es bedeutet, halb Jüdisch, halb Deutsch zu sein. Doch dass seine Familie traumatisiert ist, spürt er schon durch die lange Abwesenheit seiner Mutter, ohne die er die erste Zeit aufwächst und die dann nach ihrer Rückkehr oft entrückt scheint. Bald entdeckt er seine Liebe für das Theater und für Frankreich und setzt sich in den Kopf nicht nur die Bühnen der Welt, sondern auch das deutsche Nachbarsland zu erobern. Wir begleiten Sputnik bei seiner Reise ins Erwachsenwerden in der Nachkriegszeit und erleben, wie er stets zwischen den Welten steht.

Autor und Schauspieler Christian Berkel legt mit "Sputnik" einen autobiografischen Roman vor, der manchmal schräg, manchmal lustig, meist unterhaltsam und selten aber doch langatmig ist. Bereits zu Beginn begleiten wir seine ersten Wahrnehmungen, die mit erwachsener Stimme im Fruchtwasser seiner Mutter beginnen. Seine Kindheit ist nicht leicht, der Vater, Arzt, ist herrisch und gewalttätig, die Mutter in ihrem Trauma gefangen - sie überlebte den Holocaust nur knapp und gleitet oft in eine Schockstarre, wenn ihr das Erlebte wieder in den Sinn kommt. Sie verbindet eine Liebe zu Frankreich, sie verbringen Urlaube dort und für Sputnik ist es klar, dass er eines Tages ganz dort bleiben will. Als Jugendlicher geht er schließlich in Paris zur Schule, wird aber von jedem als Deutscher wahrgenommen, was ihm mächtig zusetzt. Sputnik hegt keine Leidenschaft für die Schule und seine Gedanken drehen sich fast ausschließlich um Mädchen - und das Theater. Beide Themen verfolgt er mit Vehemenz und die Szenen, in denen er seine sexuellen Erfahrungen als auch seine ersten Schritte in die Theater- und Schauspielwelt, oft unterlegt mit dem Konsum von Drogen, sind streckenweise langatmig, wenn auch schräg und lustig.

Der Schreibstil des Autors ist sehr einnehmend, das Buch ist leicht und schnell zu lesen, allerdings ist mir nach Beendigung nicht ganz klar, was er denn nun eigentlich erzählen wollte. Themen gibt es zur Genüge: seine Familie, der Holocaust, das Nicht-Thematisieren dessen, Mädchen, Sex, homosexuelle Avancen, die Schauspielerei, das Theater, Drogenkonsum, das Erwachsenwerden, ein Leben zwischen den Welten. Der endgültige Kitt zwischen allem fehlt mir aber ein wenig, auch wenn sich der Autor redlich bemüht, dort zu enden, wo er angefangen hat.

Mein Fazit: "Sputnik" ist ein unterhaltsamer, autobiografischer Roman über das Erwachsenwerden zwischen verschiedenen Welten in der so schwierigen Nachkriegszeit. Geprägt von einer traumatisierten Familie versucht der Protagonist seine Fesseln zu sprengen. Auch wenn sich manche Stellen ziehen und für mich die Erzählung nicht zu hundert Prozent stimmig ist, kann ich allen, die an deutsch-französischer Zeitgeschichte und an der Schauspielwelt interessiert sind, das Buch ans Herz legen. Es erhält von mir 3,5 Sterne.