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Christina19

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Insgesamt 86 Bewertungen
Bewertung vom 18.08.2025
Erdmann, Kaleb

Die Ausweichschule


ausgezeichnet

Ein Ereignis, das kaum in Worte zu fassen ist, gut aufgearbeitet

Kaleb Erdmann ist 11 Jahre alt, als am 26. April 2002 die ersten Schüsse fallen. Er besucht die 5. Klasse des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums, an dem an diesem Tag 16 Menschen das Leben verlieren, ehe der Amokläufer die Waffe gegen sich selbst richtet.
Mehr als 20 Jahre später sorgt eine zufällige Begegnung dafür, dass die erschreckende Tat in Erdmanns Leben zurückkehrt. Er beginnt sich zu erinnern, an sein Leben in Erfurt, die Stunden am Tattag und die Zeit nach dem Amoklauf. Er stellt den Wahrheitsgehalt seiner Erinnerungen in Frage, recherchiert Zusammenhänge und überlegt, wie man über etwas schreiben kann, das kaum in Worte zu fassen ist.

Kaleb Erdmann erlebte als Schüler den Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt. In „Die Ausweichschule“ berichtet er über die damaligen Geschehnisse sowie seine persönlichen Erlebnisse und Erinnerungen. Die Art, wie er all das niedergeschrieben hat, empfinde ich als mehr als gelungen. Er schafft es, diese erschütternde Tat weder sensationslustig noch aufmerksamkeitsheischend zu verpacken, sondern nähert sich dem Geschehenen behutsam. Erdmann beschreibt dabei den Prozess, wie er sich als Autor an das Thema herangewagt hat. Er hinterfragt, ob man nach so langer Zeit alte Wunden aufreißen sollte, ob er der Richtige ist, darüber zu schreiben und erzählt schließlich von einem Treffen mit einem Dramatiker. In regelmäßigen Rückblicken schildert er unter anderem Telefonate, die er vorab mit dem Dramatiker geführt hat und in denen beide ihr Wissen und ihre Ansichten miteinander teilten. Diese Zeit- und Szenenwechsel bringen Abwechslung sowie Spannung in den Roman. Gleichzeitig sorgt der Aufbau dafür, dass Erdmanns Ausführungen zum Anschlag in kleinere Abschnitte geteilt werden, was die Geschehnisse zwar nicht weniger entsetzlich macht, sich beim Lesen aber besser aushalten lässt – andernfalls hätte ich wohl häufiger Lesepausen gebraucht.
Während sich große Teile des Buches dem Schreibprozess des Autors und dem Amoklauf widmen, lenkt Kaleb Erdmann die Aufmerksamkeit auch auf die Folgen für die Überlebenden. Das breite Medieninteresse und damit die Berichterstattung sind schon wenige Wochen nach dem Anschlag abgeebbt, Betroffene kämpfen dagegen teils noch heute mit dem erlittenen Trauma. Doch wie kann man solche Ereignisse verarbeiten und kann man jemals damit fertig werden?
Ich bin sehr angetan von der Art und Weise, wie Erdmann den Erfurter Amoklauf aufarbeitet. Angesichts der Tatsache, dass es sich um reale Ereignisse und keine fiktive Geschichte handelt, fühlt es sich dennoch falsch an, in überschwängliche Lobeshymnen zu verfallen. Daher nur kurz und knapp: Unbedingte Leseempfehlung für „Die Ausweichschule“!

Bewertung vom 11.08.2025
Kuhn, Yuko

Onigiri


sehr gut

Unerwartet schwerwiegend und ergreifend

Als junge Frau kam Akis Mutter nach Deutschland. Sie heiratete, bekam zwei Kinder, ließ sich scheiden. Als sie im Alter an Demenz erkrankt, beschließt ihre Tochter, mit ihr noch einmal in ihre alte Heimat zu reisen. Zwischen Erinnern und Vergessen, Freude und Trauer – während Keiko ein letztes Mal von Japan Abschied nimmt, reflektiert ihre Tochter Aki, weshalb sich auf ihre einst so lebensfrohe Mutter in Deutschland diese bedrohliche Müdigkeit legte.

„Onigiri“ erzählt die Geschichte einer Familie zwischen zwei Kulturen. Sie ist aus der Perspektive von Aki geschrieben, die als Tochter einer japanischen Mutter und eines deutschen Vaters aufwuchs. Ihre Eltern trennten sich früh, wodurch Aki viel Zeit bei der fortan alleinerziehenden Keiko sowie ihren deutschen Großeltern Gesine und Ludwig verbrachte. Nun, selbst Mutter, blickt sie zurück auf die beiden Seiten ihrer Familie, zwischen denen Welten liegen. Aki schildert Szenen aus ihrer Kindheit, aus der Beziehung ihrer Eltern sowie aus dem Leben ihrer Mutter Keiko. Die zahlreichen Rückblenden verleihen dem Roman eine aus meiner Sicht beinah melancholische Stimmung. Vor allem helfen sie dabei, das Leben von Keiko zu verstehen: Neugierig auf die Welt kam sie nach Deutschland, lernte die Sprache und engagierte sich in einem Chor. Dennoch scheint sie nie richtig angekommen zu sein und Anschluss gefunden zu haben. Insbesondere von der wohlhabenden Familie ihres deutschen Mannes wurde Keiko nicht akzeptiert. Die Autorin zeigt an dieser Stelle deutlich auf, welche Schwierigkeiten der Umzug in ein fernes Land mit einer fremden Kultur mit sich bringen kann. Da ist das Gefühl, nicht willkommen zu sein, die Einsamkeit und das Heimweh, das man nie ganz überwinden kann. Zudem bindet Yuko Kuhn sehr ernste und schwerwiegende Themen wie Depressionen und Demenz ein – beides Erkrankungen, die das Leben der Betroffenen und ihres Umfeldes stark beeinflussen und im schlimmsten Fall den Abschied von einer vertrauten Person bedeuten können.
Obwohl der Roman nicht mit der Leichtigkeit daherkommt, die ich mir anfangs erhofft habe, kann ich „Onigiri“ guten Gewissens weiterempfehlen!

Bewertung vom 04.08.2025
Engler, Leon

Botanik des Wahnsinns


sehr gut

Eine tiefgehende Familienanamnese mit teils philosophischen Gedanken

Seine Mutter ist alkoholabhängig, sein Vater depressiv. Sein Großvater ist schizophren, seine Großmutter bipolar, schizophren, alkoholabhängig und hat mehrere Suizidversuche hinter sich. Das Leben und die psychische Gesundheit des Erzählers scheinen vorgezeichnet. Leon Engler begibt sich auf Spurensuche, versucht die Traurigkeit mehrerer Generationen zu verstehen und nachzuempfinden. Was er herausfindet, lässt ihn hinterfragen, wo eigentlich die Grenze verläuft zwischen Normalität und Wahnsinn. Und es lässt ihn Frieden schließen mit der eigenen Familiengeschichte.

Mit seinem Debütroman „Botanik des Wahnsinns“ gibt Leon Engler einen Einblick in seine Familiengeschichte und den Verlauf seines eigenen Lebens. Dabei verfolgt er die Spuren seiner Vorfahren weit zurück, wobei in dem Buch vor allem seine Eltern und Großeltern in den Fokus gerückt werden. In Ich-Perspektive erzählt der Autor von deren psychischen Erkrankungen. Er beschreibt die Symptome und welchen Einfluss diese auf das Leben der Betroffenen hatten: Die Mutter rutschte in Schulden, verlor ihre Wohnung und war mehrmals auf Entzug. Der Vater zog sich immer mehr zurück, verbrachte Tage, wenn nicht Wochen im Bett und hatte kaum mehr soziale Kontakte. Leon Engler, der selbst Psychologie studiert hat und in einer psychiatrischen Klinik arbeitete, sieht jedoch nicht nur die Diagnose, sondern auch die Menschen dahinter. Er hört zu und versucht zu verstehen, wie seine Patienten und seine Familienmitglieder zu denen geworden sind, die sie sind. Die Gedanken, die er dazu niedergeschrieben hat, sind sehr tiefgreifend und teils philosophisch. Immer wieder nimmt der Autor Bezug auf Freud, Nietzsche und weitere Personen, die sich mit Menschen und deren geistiger Gesundheit, dem „Wahnsinn“, befasst haben. Seine Quellen listet Leon Engler im Anhang des Buches auf, was aus meiner Sicht zeigt, wie intensiv und mit welcher Ernsthaftigkeit er sich mit dem Thema befasst hat. Er wirft außerdem einen Blick auf sein eigenes Leben. Immer wieder ist er vor seinem Schicksal geflohen, erst nach New York, dann nach Paris, später nach Wien, bis er sich schließlich der Familiengeschichte stellte. In insgesamt 46 kurzen Kapiteln, die sich rasch lesen lassen, erzählt er davon. Dazwischen gibt es stetige Zeitsprünge vor und zurück, was für mich anfangs etwas gewöhnungsbedürftig war, dann aber viel Abwechslung in den Roman brachte. Ich mochte dieses Buch sehr gerne und werde es garantiert noch einmal lesen!

Bewertung vom 19.07.2025
Runcie, Charlotte

Standing Ovations


gut

Gekonnte Beleuchtung beider Seiten oder Täter-Opfer-Umkehr?

Alex besucht als Theaterkritiker das Kulturfestival in Edinburgh. Hayleys Bühnenprogramm ist eines der ersten, das er während der Festwochen sieht und äußerst kritisch mit nur einem Stern bewertet. Am Abend nach der Show – noch vor Veröffentlichung seiner Rezension in einer überregionalen Zeitung – treffen die beiden in einer Bar aufeinander. Hayley erkennt den Starkritiker nicht und Alex verschweigt er ihr seine Meinung zu ihrem Auftritt. Sie verbringen die Nacht miteinander, ehe Hayley am nächsten Morgen von Alex‘ vernichtender Kritik erfährt. Verletzt beschließt sie, ihn zum Thema ihres Bühnenprogramms zu machen und damit Rache zu üben.

„Standing Ovations“ erzählt von der Demütigung einer Frau durch einen Mann und ihrer öffentlichen Abrechnung mit ihm. Die beiden, Hayley und Alex, stehen dabei in einem gewissen Machtverhältnis zueinander: Er kann als Theaterkritiker ihre Karriere zerstören. Sie ist als Künstlerin von seinem Urteil abhängig, kann ihrerseits aber wiederum die Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwird, nutzen, um seine Karriere zu gefährden.
Die Geschehnisse werden von Alex‘ Kollegin Sophie geschildert. Damit hat Charlotte Runcie für ihren Roman eine interessante Perspektive gewählt, die den Blick einer außenstehenden Person ermöglicht, gleichzeitig aber so nah dran ist, dass sie alles aus erster Hand zu berichten weiß.
Sophie beschreibt sämtliche Ereignisse, angefangen bei Alex‘ negativer Kritik über die Nacht mit Hayley bis hin zur Hayleys neuer Show. Sie zeigt, dass daraufhin eine regelrechte Hexenjagd beginnt, gefördert vor allem durch die Verbreitung im Internet. Die Erzählerin beleuchtet dabei stets beide Seiten der Geschichte: Hayley, die mit großen Hoffnungen und Ambitionen zum Kulturfestival kam, die Alex ihr Herz ausschüttete, sich verletzlich zeigte und schließlich von ihm gedemütigt wurde. Und sie beschreibt Alex, der als Kritiker für seine scharfen Worte bekannt ist und gegenüber Frauen schon öfter ein teils misogynes Verhalten an den Tag gelegt hat. Die Sachlage, wer hier Täter und wer das Opfer ist, scheint somit klar. Im Laufe der Geschichte erfahren wir aber auch, wie Hayley ihre Show nutzt, um Frauen gegen Alex und Männer seiner Art zu mobilisieren. Und wir lesen, wie Alex in besonderen Familienverhältnissen aufgewachsen ist und sich seinen Rang als Starkritiker hart erarbeitet hat. Sophie erzählt, welche Auswirkungen Hayleys öffentliche Abrechnung auf Alex‘ Psyche hat, wie sich gute Freunde von ihm abkehren und ihm der Jobverlust droht. Die Verhältnisse, wer nun Täter und wer das Opfer ist, haben sich augenscheinlich umgekehrt.
Ich finde es ausgesprochen gut, dass die Autorin beide Seiten der Geschichte beleuchtet und ihre Figuren somit nicht eindimensional daherkommen. Dennoch wirkt Alex aus Sophies Sicht für mich zu häufig wie der Leidtragende der Geschichte. Ich hätte mir gewünscht, dass die Verantwortung für die Situation, die meiner Meinung klar bei ihm liegt, noch deutlicher herausgearbeitet worden wäre. So aber wirkt der Roman für mich streckenweise fast wie eine Kritik am Feminismus.
Den Höhepunkt der Geschichte schließlich empfand ich als zu viel des Guten: zu viele Zufälle, zu viel Drama. Da mich das Buch dennoch unterhalten hat, kann ich – anders als der Kritiker Alex Lyons – mehr als einen Stern vergeben, für fünf Sterne reicht es aufgrund der Schwächen jedoch nicht.

Bewertung vom 18.06.2025
Noort, Tamar

Der Schlaf der Anderen


sehr gut

Schicksalhafte Begegnung zweier Frauen am Rande der Gesellschaft

Janis arbeitet im Schlaflabor. Seit vielen Jahren schon verrichtet sie ihren Dienst Nacht für Nacht – immer dann, wenn alle anderen schlafen. Eines Abends besucht Sina die Station, um aufgrund ihrer Schlafstörungen ein Schlafprofil aufzeichnen zu lassen. Augenblicklich spürt Janis eine Verbindung zu ihrer Patientin, nichtsahnend, dass diese Begegnung tatsächlich das Leben der beiden Frauen ändern wird.

Janis und Sina sind die Protagonistinnen in Tamar Noorts zweitem Roman. Man lernt sie in stetig wechselnden Kapiteln intensiv kennen, wobei die Autorin geschickt mit den Perspektiven spielt. Während sie anfangs über Janis in der dritten Person erzählt und Sina in Ich-Perspektive vorstellt, wechselt Noorts dies im Laufe der Geschichte. Dadurch bleibt das Lesen abwechslungsreich.
Die Frauen führen recht unterschiedliche Leben, aber haben dennoch eine Gemeinsamkeit: Beide sind aus dem klassischen Tag-Nacht-Rhythmus geraten; Janis, da sie im Schichtdienst arbeitet, Sina, weil sie Schlafprobleme hat. Woher letztere rühren, erfährt man im Laufe der Geschichte, wobei unter anderem die Erwartungen anderer sowie die traditionellen Geschlechterrollen thematisch aufgegriffen werden. Dass dies zu dem Gefühl führen kann, stets und ständig funktionieren zu müssen, was wiederum unruhige Nächte nach sich zieht, liegt auf der Hand.
Welche Macht Schlaf, vor allem fehlender Schlaf, auf das Leben eines Menschen ausübt, hat die Autorin schließlich überzeugend herausgearbeitet. Er sorgt dafür, dass sowohl Janis als auch Sina sich selbst vernachlässigen, Freundschaften kaum mehr pflegen, ihren Hobbys nicht nachgehen und sich der Gesellschaft nicht mehr zugehörig fühlen. Diese Einsamkeit sowie daraus resultierend der Wert der Gemeinschaft bzw. einer echten Freundschaft sind aus meiner Sicht neben dem Thema der Selbstverwirklichung wesentliche Elemente des Romans.
Die Art, wie Noorts Situationen und Handlungsabläufe beschreibt, war mitunter sehr detailreich. An vielen Stellen mochte ich diesen Erzählstil sehr, hin und wieder empfand ich Abschnitte jedoch auch als etwas langatmig.
Den Weg, den die Geschichte einschlägt, konnte ich nicht vorhersehen. Die Entwicklung der Figuren war für mich aber schlüssig und so hat mir das Ende des Romans gut gefallen.

Bewertung vom 07.06.2025
Blum, Alma Corina

fantastisch fermentiert


ausgezeichnet

Fundierte Grundlagen, strukturierter Aufbau, vielfältige Rezepte

„Fantastisch fermentiert“ führt uns ein in die Welt des Fermentierens. Diese alte Technik hilft nicht nur dabei, Lebensmittel zu konservieren, sondern unterstützt auch die Darmgesundheit. Auf den ersten Seiten des Buches kann man viel über die Grundlagen lernen: Wie funktioniert die Milchsäurefermentation? Welche Bakterien bringen mein Darmmikrobiom in Schwung? Was benötige ich zum Fermentieren? Daran schließt sich ein großer Teil mit Rezepten an, wobei neben Gemüse auch Obst, Kräuter und Pilze haltbar gemacht werden. Der letzte Abschnitt zeigt mit einer Vielzahl an weiteren Rezepten, wie die Fermente in Suppen und Salaten, Hauptspeisen sowie in Saucen, Dips und Beilagen weiterverarbeitet werden können.

Als Einsteiger im Fermentieren gefällt mir dieses Buch sehr gut! Es ist übersichtlich strukturiert und daher leicht zu handhaben. Der Grundlagenteil hilft mir zu verstehen, wie das Ganze funktioniert und zeigt auch auf, was man möglichst vermeiden sollte, um seine Lebensmittel erfolgreich zu konservieren. Die Anleitungen zum Fermentieren sind sehr vielfältig, sodass für Jede/Jeden etwas dabei ist. Die ersten Fermente habe ich angesetzt, kurz nachdem ich das Buch bekommen habe. Ich kam mit den Beschreibungen gut zurecht, da die Vorgehensweise verständlich erklärt wird und entsprechend einfach nachzumachen ist. Den Geschmack kann ich aktuell allerdings noch nicht beurteilen, da die Fermentation einige Zeit dauert. Von den Rezepten, die zeigen, wie man Fermente in seine Gerichte einbinden kann, habe ich daher aktuell noch keines ausprobieren können. Grundsätzlich finde ich es aber klasse, dass dieser Teil im Buch bedacht und aufgegriffen wurde. Die Rezepte sehen sehr ansprechend aus, sodass ich mich schon darauf freue, bald die ersten umsetzen zu können!

Bewertung vom 31.05.2025
Eui-kyung, Kim

Hello Baby


ausgezeichnet

Mutterschaft und unerfüllter Kinderwunsch

Als ihr Handy aufblinkt, liest Munjeong eine Nachricht in einem ihrer Gruppenchats. Sie hatte die Gruppe gegründet, um sich mit Frauen auszutauschen, die wie sie die Kinderwunschklinik besuchen. Regelmäßig teilen sie hier Updates über Erfolge und Misserfolge ihrer IVF-Behandlung. Nun soll ausgerechnet Yeonghyo, die sich seit über einem Jahr nicht mehr gemeldet hatte, ein Baby bekommen haben. So sehr sich die Frauen für ihre Freundin freuen, wirft der plötzliche Nachwuchs jedoch auch einige Fragen auf. …

„Hello Baby“ rückt die Themen Mutterschaft sowie den unerfüllten Kinderwunsch in den Fokus. Die Autorin Kim Eui-kyung, selbst einstige Patientin einer Kinderwunschklinik, schreibt in ihrem Roman von sechs Frauen über 35 Jahren, die ihr Schicksal eint: Keine von ihnen kann auf natürlichem Wege schwanger werden. In jedem Kapitel des Romans steht eine der Frauen im Mittelpunkt, was das Lesen abwechslungsreich macht. Schon lange habe ich kein Buch mehr so schnell beendet wie dieses! Die einzelnen Geschichten sind dabei höchst unterschiedlich: Die Frauen entstammen unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten. Einige verspüren einen sehr starken Kinderwunsch, andere sind sich hinsichtlich der eigenen Mutterschaft nicht ganz sicher. Die Ursachen, weshalb es nicht auf natürliche Weise klappt, sind vielfältig. Auch die Art, wie die jeweiligen Partner der Patientinnen mit dem Thema umgehen, unterscheidet sich voneinander. Während einige der Männer offen über die eigene Unfruchtbarkeit sprechen und ihre Frauen zu den Behandlungen in der Klinik begleiten, zeigen andere Scham und unterstützen ihre Partnerinnen kaum. Ich mochte es sehr, wie die einzelnen Charaktere und ihre Lebenswege gezeichnet waren, da ich diese als sehr authentisch empfunden habe.
Neben der eigentlichen Handlung beschreibt die Autorin alle Schritte einer IVF-Behandlung, die für Frauen gegenüber ihren Männern physisch und teilweise auch psychisch kräftezehrender und schmerzhafter sind. Dabei fängt sie die Emotionen der Patientinnen gekonnt ein: Hoffnung, Unsicherheit, Sorge und Verzweiflung hinsichtlich des eigenen Kinderwunsches. Mitgefühl, Freude oder Neid bezüglich der Behandlungen ihrer Mitstreiterinnen.
Obwohl das Ende schon früh abzusehen war, hat mich die Geschichte an keiner Stelle gelangweilt. Viel zu interessant war es, wie die Autorin sich zwischen den Zeilen der Frage gewidmet hat, ob Mutterschaft zwingend zum Frau-Sein gehört. Aus meiner Sicht schließt sie mit der Feststellung, dass sich niemand den familiären oder gesellschaftlichen Erwartungen beugen sollte, sondern jede Frau für sich entscheiden darf, worauf sie den eigenen Lebensentwurf ausrichtet.

Bewertung vom 25.05.2025
Oertel, Friederike

Urlaub vom Patriarchat


sehr gut

Informative Mischung aus Reise-/Erfahrungsbericht und Sachbuch

Als Friederike Oertel merkt, dass es ihr nicht mehr gut geht, sie unglücklich, gestresst und überfordert ist, fasst sie einen Entschluss: Sie braucht Urlaub vom Patriarchat. So tritt sie die Reise nach Juchitán an. Über die Stadt an der Westküste Mexikos heißt es, dort herrsche das Matriarchat. Drei Monate verbringt die Autorin dort und macht sich in dieser Zeit ein eigenes Bild von den Menschen vor Ort, den vorherrschenden Gesellschaftsstrukturen und gelebten Geschlechterrollen.

Mit großer Neugier und viel Interesse habe ich Friederike Oertels Buch erwartet. Die Journalistin reiste vor einiger Zeit in eine Stadt, in der angeblich mächtige Frauen das Sagen haben und traditionell die Töchter das Haus und Vermögen erben. Vor Ort in Juchitán muss die Autorin jedoch schnell feststellen, dass das Matriarchat nicht automatisch das Gegenteil des Patriarchats und damit die Vorherrschaft der Frau sowie die Unterdrückung des Mannes bedeutet. In diesem Zuge klärt sie zunächst darüber auf, dass es keine einheitliche Definition des Begriffs Matriarchat gibt und man demzufolge unterschiedliche Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens darunter verstehen kann.
In insgesamt zwölf Kapiteln beschreibt Friederike Oertel ihre Beobachtungen und Erlebnisse in der Stadt am Isthmus: Sie erlebt Frauen, die auf dem Marktplatz Handel betreiben und finanziell unabhängig sind. Sie lernt sogenannte Muxe kennen, die als drittes Geschlecht akzeptiert werden. Und sie nimmt an traditionellen Festen teil, die so gar nicht in eine matriarchale Gesellschaft passen wollen. Oertel versucht, die Geschlechterrollen in Juchitán zu verstehen, stößt dabei aber immer wieder auf Ungereimtheiten, sodass sich zunächst kein schlüssiges Gesamtbild ergibt.
Zum Vergleich beleuchtet sie immer wieder auch die Rolle der Frau im Patriarchat: Die Autorin schreibt u. a. über die Ehe, die Aufgabenverteilung innerhalb einer Familie, Frauenrechte wie das Wahlrecht, den Zugang von Frauen zu politischen Ämtern uvm. Dabei untermauert sie ihre Ausführungen mit Verweisen auf wissenschaftliche Untersuchungen und Statistiken. Gleichzeitig übernimmt sie nicht alle Sichtweisen von Wissenschaftlern, sondern setzt sich durchaus kritisch mit einigen Forschungsergebnissen auseinander, wobei sie ihre Argumente verständlich und nachvollziehbar darlegt. Sämtliche Quellenangaben kann man am Ende des Buches nachlesen, was zeigt, mit welcher Seriosität Oertel an das Thema herangegangen ist.
„Urlaub vom Patriarchat – Wie ich auszog, das Frausein zu verstehen“ ist somit eine Mischung aus Reise- bzw. Erfahrungsbericht und Sachbuch. Auch wenn einige Fakten mehrmals aufgegriffen wurden, mochte ich die Einbeziehung des sachlichen Hintergrundwissens. Für mich war das Buch sehr informativ und hinsichtlich der Diversität von Formen des gesellschaftlichen Zusammenleben augenöffnend.

Bewertung vom 23.04.2025
Brandi, Charlotte

Fischtage


gut

Anders als erwartet

Ella steckt mitten in der Pubertät, was nicht immer einfach ist. Oft sind es Kleinigkeiten, die ungehaltene Wutausbrüche in ihr hervorrufen. Die meisten ihrer Mitmenschen halten sich von ihr fern – und Ella sich von ihnen. Als eines Tages ihr jüngerer Bruder spurlos verschwindet, spürt sie jedoch nicht mehr nur Wut, sondern auch Sorge. Ella begibt sich daraufhin auf die Suche nach ihm. Dabei erfährt sie überraschend Unterstützung durch einen Fisch und schließt neue Bekanntschaften.

Mit „Fischtage“ hat Charlotte Brandi ihren Debütroman veröffentlicht. Die Geschichte ist in Ich-Perspektive aus der Sicht von Ella erzählt. Der Schreibstil gibt die Gedanken und Gefühle einer 16-jährigen glaubwürdig wieder – oft genervt, voller Sarkasmus, rotzig und bisweilen übermütig. Thematisch behandeln die ersten Seiten neben der Pubertät auch das Leben in einer dysfunktionalen Familie sowie die daraus resultierenden Folgen: Ellas Eltern nämlich sind an ihrem Verhalten nicht ganz unschuldig. Damit konnte mich vor allem das erste Viertel das Buches sehr fesseln.
Ab Ellas Begegnung mit dem Fisch fiel es mir allerdings schwerer, mich weiter auf die Geschichte einzulassen. Unter dem, was im Klappentext angekündigt war und was die ersten Seiten versprochen hatten, hatte ich eine authentische Geschichte erwartet, wie sie aus dem Alltag stammen könnte. Ein sprechender Plastikfisch gehört hier definitiv nicht dazu. Ausgerechnet dieser Fisch spielt im weiteren Verlauf jedoch eine nicht unwesentliche Rolle. Hinzukommt, dass im Folgenden auch Figuren und deren Verhaltensweisen, Begegnungen und Ereignisse auf mich zu konstruiert und damit unglaubwürdig wirkten.
Inhaltlich wird der Roman noch vielfältiger: Demenz, das Drogenmilieu und eine versuchte Vergewaltigung finden zusätzlich Eingang in die Geschichte. Manche dieser Themen werden in meinen Augen nicht ausreichend aufgearbeitet. Da insbesondere die Demenz und das Sexualdelikt für den Handlungsverlauf keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen, hätte ich es gutgeheißen, sie somit gar nicht erst anzureißen.
Als gelungen empfinde ich die Entwicklung, die Ella von der ersten bis zur letzten Seite durchläuft. Die Autorin lässt ihre Protagonistin behutsam und doch spürbar reifen, sodass der Roman für sie ein versöhnliches Ende bereithält.

Bewertung vom 01.04.2025
Kucher, Felix

Von Stufe zu Stufe


sehr gut

(Österreichische) Filmgeschichte mit Stärken und Schwächen

Nachdem vor einigen Jahren die Kinematographen auf den Markt gekommen sind, träumt Luise davon, den ersten Langspielfilm Österreichs zu drehen. Kein einfaches Unterfangen angesichts der Vorbehalte ihres Mannes gegenüber dem neuen Medium und der Tatsache, dass man ihr als Frau den Erfolg Anfang des 20. Jahrhunderts nicht zutraut.
Über 100 Jahre später hat Marc ganz andere Sorgen. Nach seinem Studium der Filmwissenschaft hatte er eine Anstellung im Filmarchiv in Wien gefunden. Wenn in wenigen Tagen seine Stelle gestrichen wird, wird er arbeitslos sein. Als Marc jedoch von der Existenz längst verloren geglaubter Filme von Louise Kolm erfährt, sieht er seine Chance gekommen, als ernstzunehmender Wissenschaftler einen Job an der Universität zu bekommen. Ob sich die alten Filmrollen nicht längst in ihren Dosen zersetzt haben, kann ihm niemand mit Gewissheit sagen. Marc kann es nur herausfinden, indem er die waghalsige Reise in die Ukraine antritt, wo die frühen Werke österreichischer Filmgeschichte in einem Keller aufgetaucht sein sollen…

„Von Stufe zu Stufe“ ist ein Roman, der in Teilen auf wahren Begebenheiten beruht. In zwei Erzählsträngen, die sich regelmäßig abwechseln, erzählt Felix Kucher ein Stück (österreichischer) Filmgeschichte. Ein Teil des Buches spielt in den Jahren 1906 bis 1909, in denen Louise Kolm, ihr Mann sowie ihr Bediensteter die ersten Versuche mit einem Kinematographen unternehmen. Sie drehen kürzere und längere Filme, müssen Rückschläge hinnehmen, können aber auch Erfolge verbuchen. Der zweite Erzählstrang spielt am Ende des Jahres 2021. Darin berichtet der Ich-Erzähler Marc von seinem drohenden Jobverlust und all dem, was er unternimmt, nachdem er ein Foto sieht, das alte Filmdosen in einem Keller in der Ukraine zeigt.
Beim Lesen – und auch jetzt, da ich die Geschichte beendet habe – hatte ich ambivalente Gefühle zu diesem Buch. So musste ich mich anfangs erst an die Sprache gewöhnen. Diese ist durch einige österreichische Ausdrucksweisen geprägt, die für mich etwas fremd klangen. In dem Teil, der von Louise erzählt, fließt außerdem die Wortwahl des letzten Jahrhunderts ein, sodass z. B. die Mehrzahl von Film als „Films“ gebildet wird.
Streckenweise habe ich zudem sehr mit dem Ich-Erzähler gehadert. Ich habe ihn immer wieder als übergriffig, wenn nicht gar frauenfeindlich empfunden. Obwohl er sich seiner unpassenden Gedanken und Taten teilweise bewusst ist, sich selbst auch als Se*isten betitelt, macht ihn das nicht unbedingt sympathischer.
Gleichzeitig muss ich festhalten, dass der Roman stellenweise einen solchen Sog entwickelt hat, dass ich ihn nicht mehr aus der Hand legen wollte. Vor allem am Ende der Kapitel baut der Autor immer wieder eine solche Spannung auf, dass man förmlich den Atem anhält.
Gut gefallen hat mir auch die Rolle von Louise. Sie ist es, die die Idee entwickelt, einen längeren und vor allem niveauvollen Film zu drehen. Während sie anfangs nur zusehen darf, wie ihr Mann und ihr Angestellter den Kinematographen bedienen, nimmt sie zusehends das Zepter in die Hand und emanzipiert sich. Interessant an dieser Stelle ist, dass ihre Figur auf Luise Fleck zurückgeht, die als zweite Filmregisseurin der Welt in die Geschichte eingegangen ist. Der Film, nach dem das Buch betitelt ist, wurde tatsächlich von ihr und den Personen im Roman gedreht und gilt bis heute als verschollen.
Auch wenn der Film im Buch schließlich gefunden wird und der Ausgang der Geschichte somit ein anderer ist, bildet „Von Stufe zu Stufe“ dennoch ein interessantes Stück den (österreichischen) Filmhistorie ab.