Im frühen 13. Jahrhundert sorgt ein Ereignis für Aufregung: eine Tochter Dschingis Khans heiratet. Aus allen Ecken des Mongolischen Reiches strömen Menschen herbei. Mitten darunter Rana, eine Schamanin und jüngst Großmutter, die die im Buchtitel genannte entwendete Truhe verfolgt. In ihrer Obhut befindet sich auch Asena, ein kämpferisches Mädchen, das ihr Mutter durch Männer des Khan verlor. Doch auch andere Reisende verfolgen eigene Ziele: Lewellyn, ein verkleideter Ire in Begleitung seines druidischen Großvaters und Dawa, ein tibetischer Mönch, dessen Vergangenheit mit Lewellyns verwoben ist.
Der historische Alltag der Figuren wird lebendig und anschaulich erzählt, ohne gekünstelt zu wirken. In diesen historisch-alltäglichen Details zeigt sich die hervorragende Recherche der Autorin. Es geht rau, locker und humorvoll zu. Besonders gut gefiel mir, wie Spiritualität und Mystik nahtlos in den Alltag eingebunden wird und je nach Person auch nicht immer ganz ernst genommen wird. Gleichzeitig tuen sich durch das Zusammentreffen und den Austausch verschiedener Kulturen und Völker Differenzen und Gemeinsamkeiten auf.
Erzähltechnisch gibt es ebenfalls mehrere Reisen. Rana bewegt sich in der Gegenwart, doch über Lewellyn erfahren wir nach und nach mehr über eine komplexe Vergangenheit, die verschiedene Figuren und weitentfernte Orte miteinander verbindet und deren Konsequenzen die Gegenwart und Figurenkonstellationen des Jahres 1209 prägen.
Die Charaktere sind allesamt sehr distinktiv geschrieben, selbst Nebenfiguren, die nur ein- oder zweimal vorkommen, sind anschauliche und erinnerungswürdige Gestalten. In diesem Zusammenhang sei auch gesagt, dass die Darstellung von historischen und fiktiven Charakteren gut zusammenpasst, es gibt bei Begegnungen mit realhistorischen Personen keinen stilistischen Bruch.
Das Buch endet an einer spannenden Stelle mit einem gemeinen Cliffhanger, durch den man sich die Fortsetzung baldmöglich herbeiwünscht.
Im Anhang finden sich ausführliche Listen zu den historischen und fiktiven Personen sowie den Begrifflichkeiten.
Alles in allem ein gelungener historischer Roman, besonders geeignet für Leser mit Interesse an Alltagskulturen.
Ji-Won lebt mit ihrer jüngeren Schwester und der gemeinsamen Mutter in einer kleinen Wohnung und finanziellen Not. Der Vater hat die Familie kürzlich verlassen, was keine der Frauen überwunden hat. Unterdrückte Gefühle, der neue Freund der Mutter und der Stress des Studierens lösen eine Teufelsspirale aus, in deren Verlauf die Grenzen der Realität für die Protagonistin verschwinden und eine krankhafte Obsession mit blauen Augen ihr ganzes Denken einnimmt, während rassistische und sexistische Momente ihr Handeln zusätzlich befeuern.
Der Schreibstil ist schnell, bildlich und stellenweise überraschend humorvoll. Spannungstechnisch geht es hoch her, ich war von der ersten Seite an gefesselt und habe den gesamten Roman an einem Nachmittag verschlungen. Es ist weniger Gänsehaut-Horror oder Schock-Horror als ein stetiges Ansteigen der Spannung, wie ein aufziehendes Gewitter. Und ja, was das Cover verspricht, ist absolut zutreffend.
Alle Charaktere sind irgendwie seltsam, und das macht ihren Charm aus. Obwohl Charm vielleicht das falsche Wort ist, aber es entwickelt sich im Laufe der Handlung weniger Sympathie für die Protagonistin als vielmehr eine dunkle Faszination. Ji-Won ist eine überaus interessante Figur, stellenweise agiert sie nachvollziehbar, dann wieder auf eine Weise, die nur ihrem eigenen moralischen Kompass folgt.
Ich persönlich hätte es nicht als „feministisch“ beschrieben, nur weil Themen erwähnt werden, mit denen Feminismus sich beschäftigt. Dann müsste man ja quasi jeden Roman so nennen, der gesellschaftliche Missstände nicht verheimlicht.
In der zweiten Hälfte kommen vermehrt Traumsequenzen auf. Generell bin ich kein Fan davon, doch hier waren sie gut platziert und sinnvoll in die Entwicklung der Protagonistin eingewoben. Kleiner Kritikpunkt, diese Entwicklung ging mir stellenweise zu schnell, da hätte ich mir ein paar Seiten mehr gewünscht.
Besonders gefreut hat mich gegen Ende des Romans, dass ihr Handeln weder verharmlost noch rechtfertigt wurde.
Alles in allem, unbedingt lesen, wenn man einen starken Magen besitzt.
Wir befinden uns in einem Setting nach der Revolution: nach dem Systemwechsel von Monarchie zu Republik werden Hexen gejagt. Rune, die Protagonistin, ist selbst eine Hexe und hilft als roter Nachtfalter anderen Hexen zu fliehen während sie vorgibt ein überzeugtes Mitglied der jungen Republik zu sein. Gideon ist ein hochrangiger Hexenjäger und hat es auf den roten Nachtfalter abgesehen. Zwischen den Beiden entbrennt ein Vorspielen von Verliebtheit, um dem jeweils Anderen Informationen zu entlocken. Und natürlich ist es plötzlich kein Spiel mehr…
Das Grundkonzept des Romans mit der oben beschriebenen Figurenkonstellation hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Hinzu kommt das Magiesystem: Blutmagie, die ihre Spuren als Narben auf den Körpern der Hexen hinterlässt. Der Schreibstil ist angenehm zu lesen, man fliegt geradezu durch die Seiten. Gegen Mitte des Buches gibt es ein paar langsamere Momente, aber insgesamt geht es handlungsmäßig immer rasch zu. Zwischen Rune und Gideon stimmt die Chemie, die Dialoge wechseln zwischen witzig und charmant. Gegen Ende ging es mir die romantische Entwicklung etwas zu schnell zu, aber das ist wohl Ansichtssache. Beide der Perspektivcharakter haben Schwächen, mit denen sie kämpfen: Rune ist naiv und handelt impulsiv, obwohl sie eigentlich als roter Nachtfalter einen Ruf für mehr durchdachte Aktionen hat. Generell hätte ich mir gewünscht, wir hätte sie mehr tuen sehen, was diesen Ruf rechtfertigt. Zudem ist sie angeblich eine geschickte Verführerin, stellt sich gegenüber Gideon allerdings unbeholfen und linkisch an. Gideon überdenkt sein eigenes Handeln sehr wenig und folgt Befehlen zu oft, er sieht Missstände, geht aber nicht dagegen vor. Doch gleichzeitig hebt er sich überaus positiv von anderen Romantasy-Männern ab: er ist keiner der hypermaskulinen, aufbrausend eifersüchtig und kontrollierenden Typen, die sonst so oft toxische Romanzen schaffen. Gleichzeitig hat auch er eine tragische Vergangenheit, die seine Gegenwart prägt. Die Nebencharaktere wurden leider weniger gut beleuchtet, obwohl das Potenzial dafür vorhanden war.
Auf der Handlungsebene gab es ein paar vorhersehbare Ereignisse, aber mir persönlich ist das lieber als unsinnige Plottwists, die nur dem Schock dienen. Gegen Ende fiel es mir an manchen Stellen schwer, mit den Hauptfiguren mitzufiebern, da mein moralischer Kompass wohl zu stark von dem der Figuren abweicht und als sie dann die Konsequenzen meines Erachtens dummer Entscheidungen traf einfach kein Mitgefühl bei mir aufkam.
Die Blutmagie ist super spannend. Auch darüber hätte ich gerne mehr gelesen. Mini-Spoiler: es besteht ein Zusammenhang mit Menstruation. Alle im Roman vorkommenden Hexen sind Frauen. Die Implikationen wurden nicht wirklich thematisiert. Generell würde ich sagen hat man am meisten Spaß an dem Roman, wenn man nicht nachdenkt. Ich werde auf jeden Fall die Fortsetzung lesen.
Alles in allem ein perfekter Roman für alle, die einen leichten Fantasyroman ohne riesige Figurenkataloge suchen, in dem Romantik nicht zu kurz kommen soll.
Die Handlung fängt spannend an mit dem Tag der Hinrichtung der Protagonistin. In Rhyas Heimat werden magische Wesen aller Art gejagt, sie selbst ist als Halb-Fae in ständiger Angst aufgewachsen und sieht sich nun am Ende. Natürlich kommt es aber anders und plötzlich ist sie in der Gewalt des Generals Scythe, der sie nach Norden verschleppt…
Das erste Kapitel fand ich etwas holprig zu lesen, doch auf den folgenden Seiten wird es angenehmer und flüssiger. Besonders die Kampfszenen waren lesenswert, allerdings kam für mich beim Lesen keine Atmosphäre auf und das Worldbuilding allgemein ist unterentwickelt, aber dazu später mehr.
Die Bezeichnung Enemies to Lovers trifft nicht wirklich zu. Auch Slow Born kommt mir irreführend vor. Die Beziehung beginnt zunächst mit rein physischer Anziehung, das ist zwar nicht mein Ding, aber es kommt in Romantasies häufig vor und mir hat es gereicht, dass es zumindest nicht toxisch ist. Dachte ich. Denn in der zweiten Hälfte verhält sich der männliche Hauptcharakter derart kindisch, überemotional-eifersüchtig, dass ich es schwer zu ertragen fand, besonders wenn man bedenkt, dass er locker 70 Jahre mehr Lebenserfahrung als die Protagonistin hat. Die Protagonistin Rhya ist als Kontrast zur zynischen Art ihrer Flamme eine idealistische Person. Leider mangelt es ihr an einem Ziel, auf das sie hinarbeiten könnte. Den Großteil der Handlung verbringt sie damit, auf irgendetwas zu reagieren oder in Selbstmitleid zu versinken. Dadurch entstehen immer wieder langatmige Strecken. Es wäre so schön gewesen, sie aktiver zu sehen. Das Potenzial dazu ist in der geschriebenen Welt durchaus vorhanden: Man hätte das Schicksal ihres Vaters unklar lassen können, und ihr somit einen Grund gegeben, von General Scythe entkommen zu wollen. Das hätte einen netten Anlass für Konflikt gegeben. Oder die vage Warnung vor ihren Kräften verschärft, indem sie innerhalb einer gewissen Zeit lernen muss, damit umzugehen oder es würde sie von innen heraus verzehren. Irgendwie sowas. Stattdessen lässt sie sich ohne größere Gefahr einfach nur von der Handlung treiben, was nicht sonderlich spannend zu lesen ist.
Bei den Nebencharaktern finde ich es langweilig, wie sehr man von der Beschreibung ihrer Attraktivität daraus schließen kann, ob sie zu den Guten oder Bösen gehören. Was auch noch damit übereinstimmt, ob sie freundlich zu der Protagonistin sind oder nicht. Das ist mir einfach ein zu simples Weltbild. Stichwort Welt: Rhyas Welt ist von Hunger und Krieg geprägt, hinzu kommen Krankheiten und Probleme bei der Geburt von Kindern. Hier hätte man richtig schön ein anderes Wertesystem aufbauen können, aber es ist eine klassische Fantasywelt, wo Edelsteine Reichtum spiegeln und (abgesehen von einer namenlosen Generalin) klassische Geschlechterrollen herrschen. Das ist aber nicht mein Kritikpunkt, sondern lediglich ein was hätte sein können. Was mich konkret gestört hat, ist: Rhya wuchs also mit Not auf, reagiert aber kaum auf den Überfluss, der ihr später begegnet. Besonders ihr Umgang mit Essen wirkt ziemlich unglaubwürdig, so würde niemand handeln und verschwenden, für den Hunger jahrelang ein Thema war.
Alles in allem ist es ein Fantasyroman für Leser, denen die Liebesgeschichte am wichtigsten ist. Für mich war es nett zu lesen, aber nicht sonderlich erinnerungswürdig.
Fesselnde Fantasy von deren Kaliber es mehr geben sollte
In Sabaa Tahirs neuen Roman folgen wir den verschlungenen Wegen von drei Hauptfiguren: Aiz, einer Waise, die ihr hungerndes Volk retten will, Quil, der seinen Pflichten als Kronprinz nicht entkommen kann und Sirsha, einer Verstoßene, die sich mit gefährlichen Aufträgen über Wasser hält. Der Fokus zwischen diesen dreien ist ausgewogen, keiner wird benachteiligt und alle drei Perspektiven sind tatsächlich für die Handlung notwendig. Spannung, Aktion und Charakterentwicklung sind gleichermaßen in allen der miteinander verwobenen Stränge. Alle drei sind hervorragend charakterisiert und auch die Nebenfiguren sprühen vor Leben. Passend zu den distinktiven Charakteren ist auch das Worldbuilding gut durchdacht, es ist sehr eingänglich. Die Magiekonzepte sind auch cool, erfrischend neu und durch Regeln begrenzt sodass keine Figur zu mächtig wirkt. Obwohl man gut in alles eingeführt wird, wäre ein Glossar dennoch hilfreich gewesen.
Die Handlung selbst ist abwechslungsreich und teilweise extrem unvorhersehbar. Gegen Kapitelende gibt es meist fiese Cliffhanger, bei denen man einfach weiterlesen muss. Auch am Ende des Buches werden viele Fragen aufgeworfen, gleichzeitig hat man jedoch auch das Gefühl, dass es für einen ersten Band nicht zu offen ist. Leider scheine ich jetzt erstmal eine Weile auf die Fortsetzung warten zu müssen…
Sabaa Tahirs Heir spielt zwei Jahrzehnte nach ihrer vorherigen Buchreihe um Laia und Elias. Ich habe besagte Bücher nicht gelesen und trotzdem viel Spaß an Heir gehabt, glaube aber, dass man mit Vorkenntnis der Welt und Charakter ein noch besseres Leseerlebnis hat. Der schönen, anschauliche Schreibstil der Autorin hat mich auf jeden Fall davon überzeugt, mehr Werke aus ihrer Feder zu lesen. Man fiebert mit den Figuren mit, rätselt und wird überrascht. Bei mir kommt es öfters vor, dass der romantische Subplot eines Fantasyromans mich bestenfalls langweilt und schlimmstenfalls abstößt. Hier jedoch stimmte die Chemie, die Gespräche zwischen den betreffenden Figuren waren angenehm, unterhaltsam und pfiffig zu lesen. Derart positiv überrascht hat mich seit langem kein Autor.
Alles in allem ein toller Fantasyroman für Sabaa Tahir Fans und alle, die es werden wollen.
Es sollte ein gewöhnlicher Auftrag in einem ungewöhnlichen Arbeitsfeld sein: Protagonistin Ellen Brooke ist Sättigungstaucherin. In dem männerdominierten Job verbringt sie ihre Zeit in beengten Druckausgleichkammern und arbeitet am Meeresboden, beispielsweise an Ölpipelines. Es ist eine Welt, in der technisches und menschliches Versagen katastrophale Folgen haben. Bei ihrem neusten Auftrag arbeitete sie mit 5 Männern zusammen, 4 Bekannten und einem Fremden. Doch plötzlich stirbt einer ihrer Kollegen, und es ist kein Unfall…
Vor dem erwähnten Todesfall wird der Leser ausführlich, aber nicht erschöpfend, ins Sättigungstauchen eingeführt. Kürzere Erzählungen der Figuren lockern stellenweise die Handlung auf, schaffen aber auch zunehmend beklemmenden Kontext. Es ist ein spannendes, ungewohntes Setting: die Protagonistin ist mit ihren Kollegen in der Druckausgleichkammer gewissermaßen gefangen, die Dekompression, die nötig ist, um sie aus der Kammer zu lassen, kann nicht beschleunigt werden. Man bekommt einen guten Eindruck von der Enge, der stickigen Nicht-Luft und der klammen Hitze, unter denen die Figuren leiden. Nicht nur physisch, versteht sich – die Psyche der Beteiligten zermürbt zusehens. Ich war wie gefesselt und habe den Großteil des Buches am Stück gelesen, eigene Theorien aufgestellt, für die der Autor reichlich Nahrung bietet, und gerätselt, wie es alles zusammenhängen könnte. Doch leider konnte das Ende und die Auflösung mich nicht überzeugen. Ich mag Thriller, bei denen man im Nachhinein die Hinweise versteht und wundert, wieso man es nicht hat kommen sehen. Das ambivalente Ende hier kam zwar nicht vollends aus dem Nichts, aber es fühlte es sehr konstruiert an. Ohne hier zu Spoilern, ich hätte mir etwas Handfesteres gewünscht als das geradezu klischeehafte Verweisen auf unbehandelte mentale Probleme.
Alles in allem kann ich den Roman allen empfehlen, die einen atmosphärischen Thriller mit einzigartigem Setting suchen und nicht zum Überdenken von Buchenden neigen.
817 scheint das Reich, das Ludwig der Fromme vor einigen Jahren von seinem Vater Karl dem Großen geerbt hatte, gesichert: Drei Kaisersöhne wurden in Ludwigs frühzeitiger Nachfolgeregel mit Titeln und Land bedacht, der älteste Sohn Lothar ist Mitregent und somit als Folgekaiser designiert, die großen Adelsfamilien verhalten sich weitgehend ruhig und nur an den Rändern des Reiches gibt es beispielsweise durch Bretonen und Piraten Problemherde. Nach dem Tod der Kaiserin sieht Ludwig zunächst keinen Grund, sich erneut zu vermählen. Doch in Judith findet er eine ausgezeichnete Gattin, die auch Lothar nur zu gut gefällt. Und alte Differenzen zwischen Kaiser und jungem Mitkaiser entfachen sich erneut und durch Veränderungen der Familienkonstellation kommt es zur Eskalation, die diverse politische Fraktionen nur zu gerne im eigenen Sinne befeuern.
In über 800 Seiten werden bis kurz nach dem Tod Ludwigs die resultierenden Konflikte erzählt. Dem Grundgerüst historischer Fakten fügt der Autor geschickt fiktives Material hinzu, um ein lebendiges Bild des 9. Jahrhunderts zu schaffen. Ludwig, der in der geschichtswissenschaftlichen Forschung lange Zeit als schwacher Mann neben einer bösartigen, machthungrigen Frau galt, erhält ebenso wie besagte Judith gerechterweise ein sympathischeres Erscheinungsbild. Gleichzeitig ist der fiktive Bernhard von Septimanien deutlicher loyaler und positiver als sein historisches Gegenstück. Manche historischen Persönlichkeiten fanden keinen Eingang in die Geschichte. Die Ereignisse und Verwicklungen sind auch für Personen ohne geschichtliches Vorwissen verständlich und nachvollziehbar geschrieben. Zudem sind zur Orientierung eine Karte und ein Personenverzeichnis beigefügt. Trotz der hohen Seitenzahl gibt es keine unnötigen Kapitel oder Passagen, beim Lesen entsteht keine Langeweile. Meiner Meinung nach hätten stellenweise die Beziehungen zwischen den Figuren bzw. manche der Nebenfiguren mehr ausgearbeitet werden können. Erzählt wird primär aus den Perspektiven von Ludwig, Lothar und Judith. Alle Figuren treten voll menschlicher Fehler auf. Stolz, Missgunst, Neid und Groll zersetzen die Familienbande, auf der anderen Seite verbinden der Wunsch nach Harmonie, Friedensbestreben und die Sorge um die Kinder.
Abschließend: man soll ein Buch zwar nicht nach seinem Cover bewerten, doch es ist in diesem Fall ein echter Blickfang. Lob an den Designer.
Alles in allem ein gelungener historischer Roman, den ich allen Mittelalter-Fans empfehle.
Venedig Anfang des 18. Jahrhundert: Anna Maria ist eine von unzähligen Waisen, die als Säuglinge im Ospedale della Pietà abgegeben wurden. Doch dieses Waisenhaus ist eine der größten Musikschulen der Stadt und beherbergt ein europaweit bekanntes Mädchen-Orchester. Anna Maria will Mitglied dort werden. Als Synästhetiker, für die Farben und Töne untrennbar miteinander verbunden sind, übertrifft sie zusammen mit ihrem ehrgeizigen Üben bald die anderen Mädchen. Doch das bloße Spielen fremder Kompositionen ist ihr nicht genug, sie will eigene Musikstücke schaffen und weltberühmt werden. Zwischen Konkurrenz mit anderen Musikerinnen, Konkurrenz mit dem Lehrer Vivaldi und den Restriktionen ihrer Zeit versucht sie, ihren Weg zu bahnen.
Die musikalisch-farblichen Beschreibungen des Romans sind ein Wunder. Sie spiegeln auf malerische Weise die Begeisterung der jungen Protagonistin, die der Leser von Geburt bis in ihre frühen 20er begleitet. Neben der Opulenz und den schöngeistigen Künsten Venedigs werden auch die Schattenseiten der Stadt gezeigt: Armut, Prostitution und ungewollte Neugeborene, die wie Abfall behandelt werden. Auch das Waisenhaus selbst ist voller Missstände. Alle Mädchen, die nicht dem Orchester angehören, sind Personen zweiter Klasse. Konkurrenz und Missgunst wird nährreicher Boden geschaffen. Als Leser sieht man Aspekte und Andeutungen, die der Protagonistin aufgrund ihres jungen Alters zunächst entgehen. Man merkt beim Lesen, wie sie älter und ihr Verstand schärfer wird. Gut gefallen hat mir, dass Anna Maria Fehler macht, deren Konsequenzen sie nicht immer wiedergutmachen kann. Auch ihr Ehrgeiz und Selbstbewusstsein ist erfrischend zu lesen und bringen sie in Konflikt mit dem Frauenbild ihrer Zeit.
Inwieweit die Darstellung von Vivaldi zutrifft, kann ich nicht sagen. Doch es sind tatsächlich Quellen erhalten, aus denen hervorgeht, dass Vivaldi seine Schülerinnen an Stücken von ihm hat komponieren lassen und Werke der Mädchen als seine eigenen ausgab. Wieder einmal eine bittere Erinnerung, dass das Fehlen kultureller Werke von Frauenhand durch Männer geschaffen wurde.
Alles in allem ein großartig bildhafter historischer Roman, den man allen Musikliebhabern ans Herz legen kann.
Nach langer, langer Zeit gibt es endlich wieder Neues aus Gravity Falls! In vier kurzen Geschichten, die zu verstehen man die zwei Staffeln der Serie gesehen haben muss, erhalten wir neue, tiefere Einblicke in das Leben der Pines. Besonders Mabel und Pacifica bekommen Raum, um ihre Charaktere scheinen zu lassen. Es trifft genau den Stil der Serie, sowohl was die Zeichnung als auch Humor, Absurdität und liebevolle Details angeht. Und Spannung kommt natürlich auch nicht zu kurz. Man merkt, dass die Ideen und Handlungen direkt vom Schöpfer der Serie stammen, es hätten allesamt ebenso Folgen der zweiten Staffel sein können.
Minimale Kritik: Im Vergleich mit der englischen Ausgabe fällt auf, dass teils seltsame Übersetzungen gewählt wurden. Ich würde Fans, die beide Sprachen beherrschen, die englische Version empfehlen. Aber wie gesagt, diese Feinheit ist erst im direkten Vergleich bemerkbar und ich weiß nicht, ob irgendjemand außer mir überhaupt die beiden Ausgaben miteinander abgleicht.
Alles in allem: Shembulock.
Mit Wir finden Mörder beginnt Richard Osman eine neue Krimireihe. Man erkennt den angenehmen, von typisch englisch-trockenem Humor durchzogenen Schreibstil Osmans gleich wieder. Doch anders als im Donnerstagsmordclub ist die Sprache dynamischer und durch das andere Umfeld mit moderneren Aspekten durchsetzt. Durch viele, kurze Kapitel und Perspektivwechsel wird Spannung und Tempo aufgebaut. Stilistisch ist der Roman am ehesten eine actionreiche Krimikomödie, Fans von Blut sind hier fehl am Platz, aber auch Leute, die nur ein Buch zum runterlesen suchen werden hier nicht fündig. Die ermittelnden Protagonisten sind Steve, ein Ex-Bulle der in einem kleinen Kaff vor sich hin pensioniert und gleichzeitig immer Mal wieder kleine Detektivfälle löst, und Amy, die im Personenschutz tätig ist. Amy ist Steves Schwiegertochter und in ihrem Umfeld kommt es zu Todesfällen. Wenn ich mich für eine Figur entscheiden müsste, so wäre mein Lieblingscharakter Amys Schützling Rosie, eine Frau unbestimmten Alters mit herrlich exzentrischem Auftreten und bissigen Sprüchen.
Handlungsmäßig bekommen wir es mit einer Schnitzeljagd um die Welt zu tuen. Neben Spannung ist vor allem die Konstellation der Figuren wie bei Richard Osman typisch ein Highlight. Die Figuren sind gut geschrieben, gleichzeitig merkt man, dass noch Entwicklungspotenzial besteht: innerhalb der Figuren untereinander und hin zum Leser durch angedeutete Backstories.
Alles in allem ein schöner, vielschichtiger und in sich schlüssiger Band, der Lust auf den nächsten Teil macht. Empfehlung an alle Krimifans.
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