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Buecherbriefe

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Insgesamt 40 Bewertungen
Bewertung vom 20.11.2025
Moers, Walter

Qwert


ausgezeichnet

Qwert Zuiopü landet nach seinem Sturz durch ein Dimensionsloch in der Parallelwelt Orméa. Dort muss der eher gemütlich veranlagte Gallertprinz feststellen, dass er im Körper von Prinz Kaltbluth gelandet ist – allseits bekannt als unerschrockener und abenteuerlustiger Held kurzweiliger Trivialromane.

Als erste Amtshandlung befreit er eine junge Frau in Not. Doch zu seinem Unglück handelt es sich um die Janusmeduse Jaduse. Die fortan den ganzen Kontinent versteinern möchte.

Zusammen mit seinem Knappen Oyo Pagenherz, dem Reittier Schneesturm und seiner unsichtbaren und unzuverlässigen Waffe „Tarnmeister“ begibt er sich auf eine abenteuerliche Reise, um Jaduse aufzuhalten. Und als wäre dies nicht schwer genug, haben sich der Ritter und die Meduse unsterblich ineinander verliebt …

Kein Vorwissen nötig

Walter Moers zählt seit vielen Jahrzehnten zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellern. Seine Zamonien-Romane werden sogar von Menschen gelesen und besprochen, die sonst um Fantasy-Literatur einen großen Bogen machen.

Wie es sich für eine erfolgreiche Reihe gehört, ist der Roman durchzogen von zahlreichen Anspielungen und Querverweisen auf bestehende Werke. Insbesondere die Hauptfigur Qwert, eigentlich ein Gallertprinz aus der 2364. Dimension, dürfte Lesern aus „Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär“ bekannt sein. Zum Genuss des Bandes ist jedoch kein Vorwissen notwendig. Man kann problemlos mit diesem Band einsteigen – zumal im Anhang die wichtigsten Ausschnitte noch einmal abgedruckt sind. Doch was erwartet uns?

Mehr als eine Parodie

Im Mittelpunkt steht zunächst und zuvorderst eine klassische Abenteuergeschichte: Qwert landet unfreiwillig im Körper des Ritters Kaltbluth und muss notgedrungen dessen Rolle übernehmen. Während er daran arbeitet, das selbst verursachte Medusen-Problem zu lösen, erlebt er eine Reihe von weiteren Abenteuern (43 „Aventuiren“). Und natürlich handelt es sich teilweise um Parodien klassischer Rittergeschichten. Die Anleihen an König Artus, Don Quijote und Co. sind nicht zu übersehen und sorgen für viele erheiternde Momente.

Den Abenteuern kommen die Besonderheiten der Parallelwelt Orméa zugute: Es handelt sich um eine „Trivialwelt“, in der menschliche Bedürfnisse wie Schlaf, Nahrung, lange Reisen oder Ähnliches keine Rolle spielen. Sie ist darauf ausgelegt, Schauplatz unzähliger und ununterbrochener Abenteuer zu sein. Und genau diese erwarten uns in einer hohen Schlagzahl.

Neben der eigentlichen Haupthandlung muss sich unsere Hauptfigur mit engagierten Herausforderern herumschlagen und darf sich typischen Ritter-Problemen stellen. Die dadurch erschwert werden, dass der friedfertig veranlagte Qwert lieber spricht als handelt. Und vom Idealbild eines Ritters sehr weit entfernt ist. Damit sorgt er auf dem eher handfest orientierten Kontinent für Verwirrung und einige unterhaltsame Szenen.

Ein Feuerwerk der Kreativität

Wie man es von Moers erwarten darf, strotzt dieses Werk nur vor kreativen Ideen. Er feuert unablässig aus allen Rohren und das mit einer Frequenz, mit der es allenfalls Jack Vance aufnehmen kann. Ob es nun um liebevoll ausgestaltete Figuren, eine einfallsreiche Welt oder einzelne Handlungselemente geht: Man darf buchstäblich auf jeder Seite gespannt sein, was unser Autor als Nächstes aus dem Hut zaubert.

Und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die geneigte Leserin erwarten unter anderem Rostige Gnome, Riesengletscherzwerge, Kamelianer, die Stadt Creatopolis und die Bedrohung durch die Nichtilisten. Bewundernswert ist, dass trotz des allgegenwärtigen Humors die Balance zur Ernsthaftigkeit bis zu einem gewissen Grad gewahrt bleibt.

Jeder Satz ein Fest

In handwerklicher Hinsicht handelt es sich bei Moers ebenso um einen Meister seiner Zunft. Man merkt Moers die Freude an der Sprache einfach an – und diese Freude ist ansteckend. Jeder einzelne Satz ist ein Fest. Wir finden eine bildgewaltige Sprache, unzählige Wortspiele, urkomische Dialoge, ausschweifende Aufzählungen und grandiose Kofferwörter.

Auch hier kennt der Einfallsreichtum unseres Autors keine Grenzen. Sogar die gehäuft vorkommenden Schachtelsätze stehen in einem angemessenen Verhältnis zum Gesamtwerk. Die Aufteilung in 43 kürzere Abenteuer sorgt zudem für ein insgesamt hohes Erzähltempo.


Qwert von Walter Moers ist Pflichtlektüre für Zamonien-Fans und alle, die es werden wollen.

Bewertung vom 06.11.2025
Brown, Gareth

Die Gesellschaft für magische Objekte


sehr gut

Nach seinem erfolgreichen Debüt liegt die Messlatte für Gareth Brown hoch an. Kann er mit Die Gesellschaft für magische Objekte diesen Erwartungen gerecht werden?

Der Zauber des Alltäglichen

Magda Sparks ist das jüngste Mitglied der Gesellschaft für magische Objekte. Dabei handelt es sich um eine im Verborgenen agierende Gemeinschaft, die Gegenstände mit magischen Kräften aufspürt und sicher vor der Menschheit verwahrt.

Als sie in Hongkong auf ein neues Objekt stößt, heftet sich ein Auftragsmörder an ihre Fersen. Damit beginnt ein Abenteuer um die ganze Welt. Die Reise führt sie bis zu den Anfängen der Londoner Gesellschaft und erschüttert alles, woran sie bisher geglaubt hat.

Zwischen Teepartys und Verfolgungsjagden

Schnell wird klar, warum Gareth Brown eine solche Popularität erlangen konnte. Er schafft - besonders zu Beginn - eine gemütliche Atmosphäre, die jedem Buchliebhaber gefallen dürfte. So ist etwa der zentrale Schauplatz des Romans eine malerische Buchhandlung (Bell Street Books) in London. Die Hauptfigur ist eine erfolgreiche Schriftstellerin, fast alle anderen Figuren sind zumindest mit der Buchszene verbunden. Und der Tee- und Keksverbrauch nimmt bedenkliche Ausmaße an.

Auch die Ausgangslage ist vielversprechend: Im Mittelpunkt des Geschehens stehen magische Objekte, die sich in Alltagsgegenständen verbergen und ihren Besitzern unglaubliche Kräfte verleihen. Natürlich gibt es Menschen, die diese Gegenstände verwenden wollen. Und andere, die dies verhindern wollen. Allein schon der Gegensatz zwischen einem beschaulichen Buchladen und der weltweiten Suche nach mächtigen und gefährlichen Gegenständen erweist sich als reizvoll.

Die Geschichte bietet außerdem viel Action und Spannung. Nach einem gemächlichen Start wechseln wir zwischen den Schauplätzen London, Hongkong und Amerika hin und her. Verfolgungsjagden, waghalsige Fluchtmanöver und überraschend harte Kämpfe halten uns Leser bei Laune und bilden einen harten Kontrast zur sonstigen Wohlfühlatmosphäre.

Flache Charaktere

Bedauerlicherweise kann das Figurenensemble abseits der Hauptfigur Magda nicht vollumfänglich überzeugen. Und das, obwohl unser Schriftsteller sichtlich bemüht ist, anderen Figuren Raum zu verschaffen. Ihre Abschnitte folgen der Formel „schrullig, aber liebenswert“: Sie weisen kleinere und größere Macken auf und sollen trotzdem oder gerade deswegen sympathisch sein. Leider ist der Autor zu sehr auf den ersten Teil der Formel fokussiert und vergisst den zweiten Teil beinahe völlig.

Zudem wirkt die angedeutete Romanze zwischen Magda und James völlig fehl am Platz. Und die plumpe Inszenierung würde Groschenheft-Verfassern die Schamesröte ins Gesicht treiben. Glücklicherweise handelt es sich nur um einen unbedeutenden Nebenschauplatz.
Besonders die Antagonisten enttäuschen. Wir finden ausschließlich bekannte Klischees vor und der Autor unternimmt nicht einmal den Versuch, aus bekannten Versatzstücken etwas Eigenständiges zu machen.

Handwerklich überzeugend

In handwerklicher Hinsicht überzeugt der Roman. Unser Schriftsteller neigt womöglich dazu, einen Nebensatz zu viel zu verwenden. Ich möchte aber nicht ausschließen, dass dies an der Übersetzung liegt. Dafür hat er ein gutes Gespür für lebendige und glaubhafte Dialoge. Es wirkt fast so, als würden wirkliche Menschen miteinander sprechen.

Um Spannung zu erzeugen, greift er zu einem einfachen, aber effektiven Trick: Jedes der kurzen Kapitel endet mit einem Cliffhanger, gerne flankiert von einer Rückblende oder einem Wechsel des Schauplatzes. Dies sorgt für ein insgesamt hohes Tempo und lässt uns durch die Seiten fliegen.

Das hohe Erzähltempo verdeckt zudem die größte Schwäche des Romans: Brown will zu viel auf zu wenig Platz erzählen und macht es sich damit unnötig schwer. Allein das Ausgangsszenario könnte Hunderte Seiten füllen. Doch dann kommen unablässig neue Aspekte hinzu, die nicht immer miteinander harmonieren. Und – viel gravierender - die für sich genommen vielversprechenden Ansätze nicht zur Entfaltung kommen lassen.

Fazit

Die Gesellschaft für magische Objekte von Gareth Brown bietet solide Unterhaltung. Stellenweise etwas überambitioniert, darum aber nicht weniger unterhaltsam.

Bewertung vom 30.10.2025
O'Connell, Joe

Anime - Der ultimative Guide


sehr gut

Die Außenwahrnehmung von Animes hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Lange Zeit galten sie als Nischenprodukte mit zweifelhaftem Inhalt und seltsamen Anhängern. Zudem nutzten viele (deutschsprachige) Fans Fansubs und andere rechtlich fragwürdige Methoden, um das begrenzte hiesige Angebot zu kompensieren.

Inzwischen hat sich die Situation grundlegend verändert. Animes sind längst im Mainstream verankert. Kein großer Streamingdienst kann es sich leisten, auf diese Inhalte zu verzichten. Ganze Generationen sind mit Werken wie Dragonball, Pokémon oder One Piece aufgewachsen. Und Regisseure wie Hayao Miyazaki, Makoto Shinkai oder Mamoru Hosoda erreichen über die Kerngruppe hinaus ein großes Publikum. So veränderte sich das negative Bild, das ohnehin niemals eine richtige Grundlage gehabt hatte.

Chronologischer Aufbau

Das Buch folgt grundsätzlich einem chronologischen Aufbau. Wir beginnen im Jahre 1972 (Devilman) und arbeiten uns vor bis ins Jahr 2024 (Uzumaki, vermutlich nicht die beste Wahl). Jeder Anime wird großzügig bebildert und vermittelt auf diese Weise die für den Werkgenuss so wichtigen visuellen Eindrücke.

Die Kehrseite: Natürlich bleibt dann wenig Platz für ausführliche Besprechungen oder Analysen.
Unser Autor greift in seinen Texten vielmehr ein oder zwei Aspekte auf, die diese Werke aus seiner Sicht ausmachen. Das kann sich von Titel zu Titel unterscheiden. Mal sind es handwerkliche Besonderheiten, mal die historische Bedeutung für das Genre. Und manchmal auch nur persönliche Erinnerungen.

Auch wenn ich längst nicht jeden vorgestellten Anime kenne: In den meisten Fällen trifft er die Essenz des jeweiligen Werks. Und das ist ob der Kürze des zur Verfügung stehenden Platzes eine beachtliche Leistung. Was besonders gut gefällt: Neben einigen Standardinformationen finden wir zu jedem Titel Querverweise und weiterführende Empfehlungen.

Aufgelockert wird der chronologische Aufbau durch längere Texte („Spotlights“), die sich auf ein bestimmtes Thema konzentrieren. Das kann ein bestimmtes Genre (Magical Girl, Shōnen), ein wichtiges Studio (Studio Ghibli, Kyoto Animation) oder ein bedeutender Regisseur sein.

Gelungene Auswahl

Es gibt unzählige großartige Animes. Und eine Auswahl von lediglich hundert Werken kann unmöglich auch nur annähernd vollständig oder unumstritten sein. Doch der Platz in einem Printwerk ist nun einmal begrenzt.

Dafür hat unser Autor eine ausgesprochen gute Auswahl getroffen. Man merkt einfach, dass er sich seit Jahrzehnten mit diesem Thema auseinandersetzt. Natürlich dominieren Klassiker wie Ghost in the Shell, Neon Genesis Evangelion, Cowboy Bebop oder Akira. Aber auch recht aktuelle Titel wie Chainsaw Man, Frieren oder Delicious in Dungeon finden ihren Platz. Daneben dürfen wir längst vergessene Titel wiederentdecken und uns über den einen oder anderen Geheimtipp freuen.

Gelungene Buchgestaltung

Die deutsche Ausgabe erscheint im Prestel Verlag und überzeugt durch hochwertige Materialien. Insbesondere das dicke Papier und der stabile Einband veredeln das Leseerlebnis. Machen das Buch aber auch zu einem wahren Ziegelstein.

Besonders erfreulich: Es gibt nicht nur ein Leseband, sondern sogar eine Fadenheftung. Auch bei der inneren Gestaltung hat man sich Mühe gegeben. Es macht einfach Spaß, durch das Buch zu blättern und die vielen kleinen Details zu entdecken. Alles in allem entspricht die Ausstattung dem aufgerufenen Preis.

Fazit

Anime: Der ultimative Guide von Joe O’Connell stellt eine gelungene Auswahl von Animes dar, die repräsentativ für das gesamte Genre stehen. Neueinsteiger werden neugierig auf das Genre gemacht, Fans können die eine oder andere Perle (wieder)entdecken.

Bewertung vom 26.09.2025
Derennes, Charles

Ungeheuer am Nordpol


ausgezeichnet

Jean-Louis de Venasque entstammt einem alten Adelsgeschlecht, dessen Glanzzeiten bereits der Vergangenheit angehören. Seine Zeit verbringt er gelangweilt mit dem Verwalten des Familienvermögens, doch insgeheim plagt ihn das Fernweh. Eines Tages begegnet er seinem alten Schulkameraden Jacques Ceintras. Dieser ist zwar ein genialer Ingenieur, muss seinen Lebensunterhalt jedoch mit einfachen Auftragsarbeiten bestreiten.

Die beiden tun sich fortan zusammen und Ceintras entwirft einen fortschrittlichen Heißluftballon. Dieser ermöglicht ihnen, zum Nordpol zu reisen. Dort stoßen sie auf die Spuren einer nichtmenschlichen Zivilisation. Doch das soll nicht die größte Bedrohung für unsere beiden Reisenden darstellen …

Die Welt im Wandel

„Ungeheuer am Nordpol“ erschien an der Schnittstelle zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert. Die Menschheit begann gerade erst, den Luftraum zu erobern, und das Fliegen faszinierte und inspirierte die Menschen. Gleichzeitig veränderten viele Erfindungen das Leben nachhaltig.

Parallel dazu machten sich Expeditionen auf, um die letzten blinden Flecke auf der Weltkarte zu beseitigen. Die Welt war offen für Abenteuer und fortschrittliche Gedanken. Den Geist dieser Zeit atmeten die Werke großartiger phantastischer Autoren wie Jules Verne oder H. G. Wells. In jener Tradition steht auch der Roman von Charles Derennes.

Klassischer Abenteuerroman

In erster Linie handelt es sich um eine klassische Abenteuergeschichte: Unsere Protagonisten begeben sich auf eine längere Reise und überwinden währenddessen verschiedene Hindernisse. Angereichert wird die Handlung mit phantastischen Elementen und mit – mittlerweile natürlich überholten – wissenschaftlichen Erkenntnissen und visionären Technologien. Zur Zeit der Erstpublikation war beispielsweise nicht absehbar, dass sich Flugzeuge durchsetzen und Heißluftballons zur Randerscheinung degradiert werden.

Geschickter Spannungsaufbau

Auf der reinen Handlungsebene baut unser Autor die Geschichte in aller Ruhe auf. Wir verbringen zunächst viel Zeit mit der Vorbereitung der Reise. Auch am Nordpol angekommen lernen wir erst die Umgebung kennen. Geschickt streut der Autor Hinweise auf eine nichtmenschliche Spezies, erhöht Schritt für Schritt deren Schlagzahl und baut damit Spannung auf.

Die Geschichte nimmt nach dem Aufeinandertreffen von Menschen und Reptilien an Fahrt auf und erfährt mehrere interessante Wendungen. Besonders gelungen: Der eigentliche Kern – die Polarexpedition – ist in eine kleine Rahmenhandlung eingebunden. Der Autor nutzt am Ende den Epilog, um das Geschehen in einem vollkommen anderen Licht dastehen zu lassen. Damit rundet er das Lesevergnügen hervorragend ab und verleiht der Geschichte noch mehr Tiefe.

Besinnung auf die eigenen Stärken

Man muss Derennes zugutehalten, dass er seine Schwächen und Stärken genau kennt und mit ihnen umzugehen weiß. Natürlich nimmt die Begegnung mit den reptilienartigen Wesen einen nicht unbedeutenden Teil des Romans ein. Wir lernen (teilweise auch grausame) Elemente ihres Lebens und ihrer Kultur kennen.
Und gerne hätte ich hier mehr Zeit verbracht. Aber unser Autor wusste, dass er weder Zeit noch Raum hatte, um eine fiktive Kultur realistisch darzustellen. Deshalb bleibt die Begegnung nur eine – bedeutende – Episode innerhalb eines Abenteuerromans.

Natürlich thematisiert der Roman noch viel mehr: Zwischenmenschliche Beziehungen in Extremsituationen, Kommunikationsprobleme und deren Folgen finden genauso ihren Platz wie wissenschaftliche Erkenntnisse und philosophische Fragen. Aber Derennes versucht glücklicherweise nicht, aus seinem Roman etwas zu machen, wozu letztlich die Substanz fehlen würde. Er mag zwar einen wissenschaftlich-phantastischen Abenteuerroman verfasst haben, aber der Fokus liegt eindeutig auf dem Abenteuer.

Zwischen Verne und Swift

Handwerklich merkt man dem Roman sein Alter an. Derennes Prosa zeichnet sich vorwiegend durch verschachtelte und endlos aneinandergereihte Nebensätze aus. Geübte Leser klassischer Literatur werden damit keine Probleme haben, Neueinsteiger müssen dies berücksichtigen. Im Zweifel gewöhnt man sich schnell daran.

Normalerweise führt ein solcher Stil dazu, dass der Autor weniger Möglichkeiten hat, das Lesetempo zu regulieren. In diesem Fall wirkt sich das nicht gravierend aus. Unser Autor baut sein Werk wie einen fiktiven Reisebericht auf und lehnt sich an Werke wie Gullivers Reisen an.

Solche Reiseberichte lassen ohnehin nur begrenzten Raum für dynamische Abschnitte. Die Spannung wird dann durch das Szenario und nicht durch den Satzbau erzeugt. Und das gelingt unserem Schriftsteller hervorragend.

Fazit

Ungeheuer am Nordpol von Charles Derennes ist ein kleines Juwel der frühen phantastischen Literatur. Ein faszinierender Roman eines Autors, der sich vor Verne oder Wells nicht zu verstecken braucht.

Bewertung vom 13.12.2024
Bulgakow, Michail

Der Meister und Margarita. Schmuckausgabe mit Illustrationen von Alexander Fedorov,


ausgezeichnet

Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow hat seit seiner Veröffentlichung im Jahre 1966 weltweit Kritiker und Leser gleichermaßen begeistert und gilt bereits jetzt als Klassiker der russischen Literatur. Doch kann der Roman den Vorschusslorbeeren wirklich gerecht werden?

Vorbemerkungen

Eines vorweg: Es handelt sich um ein Buch, dass so vollgepackt mit phantastischen Motiven, autobiographischen Elementen und intertextuellen Bezügen ist, dass man beinahe alles hineininterpretieren kann. Die Betonung liegt auf das Wort „kann“ – auch ohne Hintergrundwissen handelt es sich um eine überaus unterhaltsame Lektüre.

Und keine Sorge, ich seziere den Roman an dieser Stelle auch nicht, sondern beschränke mich auf die wichtigsten Aspekte (es gibt auch keine Faust-Anspielungen mehr, versprochen).

Der Roman lässt sich grob in drei Handlungsabschnitte aufteilen, die keinem festen Schema zu folgen scheinen, zum Ende hin aber zu einem runden Abschluss geführt werden – dabei kann bereits jede Ebene für sich überzeugen.

Vielschichtige Handlung

Auf der ersten Ebene erwartet uns ein waschechter Fantasy-Schelmen-Roman (Leser der U- und E-Front dürfen gerne auch magischer Realismus sagen …). Rein oberflächlich handelt es sich um humorvoll-satirische bis bitterböse Episoden (man denke nur an die Wohnungssuche, die zweite Frischeklasse, der Auftritt im Varieté oder die zentrale Ball-Szene) im Zusammenhang mit dem Teufel Woland und seinem Gefolge (insbesondere der riesige Kater Begemot bleibt in Erinnerung). Dahinter verbirgt sich natürlich mehr oder weniger verdeckte Kritik an der Sowjetunion, Stalin und den parasitären bis einfältigen Bewohnern der Stadt.

Die zweite Ebene bewegt sich weg von der Gesellschaft hin zum Individuum und nimmt die namensgebenden Figuren in den Fokus. Neben der mehr oder weniger interessanten Liebesgeschichte faszinieren hier die beiden Hauptfiguren, die als einzige das bestehende System ablehnen und es dennoch nicht zu ihren Gunsten ausnutzen, sondern verzweifelt einen eigenen Weg suchen. Vor allem hier lassen sich viele autobiographische Anleihen finden.

Die dritte Ebene bildet eine Erzählung des Meisters, die sich mit der Beziehung von Pontius Pilatus und Jeschua (Jesus) beschäftigt und die Geschichte im Grunde genommen umklammert. Bevor hier irgendwelche Gefühle verletzt werden: Meines Erachtens wollte Bulgakow hier nicht zu religiösen Fragen Stellung beziehen, sondern ähnlich wie auf der ersten Ebene lediglich die Fehler im System Sowjetunion literarisch verarbeiten.

Handwerklich vielseitig

Handwerklich handelt es sich um einen erstaunlich modernen Roman. Bulgakow wird man sicherlich niemals mit einem Minimalisten wie Cechov verwechseln, aber seine Sätze sind immer zielführend und wir Leser fliegen geradezu durch die Seiten.

Auch sonst gibt es nichts, was Bulgakow nicht kann. Er beherrscht sowohl ernsthafte als auch unterhaltsame Szenen, kann lebendige und unterhaltsame Dialoge verfassen, Leser zum Nachdenken und Lachen bringen und wechselt spielerisch zwischen verschiedenen Perspektiven und Ebenen, ohne das große Ganze aus dem Blick zu verlieren.

Gelungene Schmuckausgabe

Mit der mir vorliegenden Ausgabe hat sich nun auch der Anaconda Verlag auf den wachsenden Markt der Schmuckausgaben gewagt. Uns erwartet ein leicht überdurchschnittlich großes Hardcover mit rotem Farbschnitt und farblich abgestimmten Lese- und Kapitalband. Eine Fadenheftung fehlt zwar, dies ist aber angesichts des günstigen Preises auch nicht anders zu erwarten gewesen.

Im liebevoll gestalteten Inneren finden wir noch zahlreiche Illustrationen von Alexander Fedorov, der diese eigens für eine russische Ausgabe angefertigt hatte. Das lesenswerte Nachwort der Übersetzerin Alexandra Berlina liefert nicht nur Einblicke in ihre Arbeitsweise, sondern besticht auch durch interessante Hintergrundinformationen zu Autor, Lektüre und Rezeption. Alles in allem handelt es sich also um eine gelungene Schmuckausgabe, der gerne noch weitere folgen dürfen.

Fazit

Der Meister von Margarita von Michail Bulgakow zählt völlig zu Recht zu den großen Klassikern der russischen Literatur. Inhaltlich vielschichtig, sprachlich brillant – Pflichtlektüre!

Bewertung vom 29.11.2024
Twain, Mark

Ein Yankee aus Connecticut am Hof von König Artus


ausgezeichnet

Mit Ein Yankee aus Connecticut am Hof von König Artus wagte sich Mark Twain an eine Mischung aus Science-Fiction, Ritterroman-Satire und Gesellschaftskritik – und das bereits im Jahre 1889. Doch hat sich dieses Wagnis auch gelohnt?

Plötzlich Mittelalter

Eben noch war Hank Morgan Vorarbeiter in einer Fabrik in Connecticut und stand vor einer glänzenden Zukunft. Doch dann erhält er bei einer Schlägerei einen Schlag auf den Kopf und erwacht in England am Hof von König Artus.

Nach einigen Anlaufschwierigkeiten wird er zu dessen rechter Hand und nutzt als „Boss“ seinen jahrhundertelangen Wissensvorsprung, um das rückständige England nach seinen Vorstellungen umzugestalten – oder zumindest um Seife salonfähig zu machen. Wird es dem Yankee gelingen, seinen Plan umzusetzen oder wird die Aber- und Leichtgläubigkeit der Bevölkerung seine Vorhaben vereiteln?

Einflussreicher Schriftsteller

Heutzutage unterschätzen wir nur allzu schnell den Einfluss, den Mark Twain bis heute auf unsere Kulturlandschaft hat. Natürlich kennt jedes Kind Tom Sawyer und Huckleberry Finn (zumindest die gekürzten Fassungen).

Doch auch nicht so populäre Werke wie „Prinz und Bettelknabe“ oder „Ein Yankee aus Connecticut am Hof von König Artus“ (eine alte Aufbau-Ausgabe von mir trug noch den Titel „Ein Yankee an König Artus Hof“) hinterließen ihre Spuren. Der Roman inspirierte nicht nur eine Reihe von Verfilmungen, auch Versatzstücke wie die Sonnenfinsternis-Szene lassen sich vielfach in allen möglichen Medien wiederfinden.

Bereits 1889 schuf Twain also einen einflussreichen und lupenreinen Science-Fiction-Roman – und damit sechs Jahre vor H. G. Wells (1895), zugegebenermaßen aber auch erst deutlich nach Louis-Sébastien Merciers Zeitreiseklassiker „Das Jahr 2440“ aus dem Jahre 1770. Doch funktioniert der Roman auch im 21. Jahrhundert?

Parodie der Ritterromane

„Ein Yankee aus Connecticut am Hof von König Artus“ arbeitet auf zwei Ebenen: Zum einen erwartet uns an der Oberfläche eine Parodie auf verklärte Ritterromane im Stile von Sir Walter Scott. Zum anderen nutzt Mark Twain dieses Setting, um gesellschaftliche Missstände im 19. Jahrhundert anzuprangern und seinen (amerikanischen) Zeitgenossen den Spiegel vorzuhalten.

Und glücklicherweise funktioniert der Roman auf beiden Ebenen hervorragend, ohne dass diese sich einander ihrer Wirksamkeit berauben. Die Parodie-Ebene räumt mit den verklärten Vorstellungen der Vergangenheit auf und stellt die Artus-Saga auf den Kopf: Artus ist ein gutgläubiger Trottel, Merlin ein Scharlatan, Ritter alles andere als edel und Seife ein Fremdwort.

Es kommt zu einer Aneinanderreihung von unterhaltsamen und teilweise geradezu absurden Szenen, die unzählige Lacher garantieren. Das fängt schon damit an, dass Hank Morgan in robinsonscher Manier von seinen Plänen und ihrer – denkbar schwierigen - Umsetzung berichtet. Daneben dürfen wir uns beispielsweise über Ritter mit Werbetafeln, Ritter in voller Montur auf Fahrrädern oder nicht ganz so bezaubernde Prinzessinnen in Not freuen.

Diese Szenen funktionieren nicht zuletzt deswegen so gut, weil Hank Morgan mit seiner nüchtern-saloppen Art einen urkomischen Kontrast zur leicht- und gutgläubigen Bevölkerung bildet und dies auch zu kommunizieren weiß.

Schonungslose Gesellschaftskritik

Doch dabei bleibt es nicht. Twain nutzt diese Parodie-Kulisse auch dazu, das Verhalten seiner Zeitgenossen regelrecht an den Pranger zu stellen und behandelt Themen wie Rassismus, Sklaverei, Ausgrenzung und soziale Missstände.

Schonungslos, konsequent und in einem harten Kontrast zum humorvollen Überbau schildert er Unrecht. Sowohl Leser als auch Figuren müssen hilflos mitansehen, wie Familien verhungern, Hexen verbrennen, Adlige mit Ungerechtigkeiten jeglicher Art ungestraft davonkommen und vieles mehr. Die Kommentare des Erzählers machen deutlich, dass es Twain eben nicht um eine Verherrlichung der amerikanischen Lebensweise ging – im Gegenteil.

Sprachliche Kontraste

Das Thema Kontraste setzt sich auch sprachlich fort. Während unsere Hauptfigur Hank Morgan in Twain-typischer Alltagssprache und bisweilen salopp kommuniziert, bedient sich der gemeine Engländer einer barocken Sprache – nachvollziehbarerweise entstehen dadurch einige erheiternde Szenen. Was das für eine Arbeit für die Übersetzerin bedeutet haben muss, kann man nur erahnen.

Die Charaktere sind – wie so oft – nicht mehr als nur Mittel zum Zweck und stellen im Grunde genommen nicht mehr als ein Stilmittel dar. Ausgefeilte Figuren dürfen wir also nicht erwarten, aber ihre Aufgaben erfüllen sie zur vollsten Zufriedenheit.

Fazit

Ein Yankee aus Connecticut am Hof von König Artus von Mark Twain ist ein ebenso tiefgründiger wie unterhaltsamer Roman, der stilistisch und inhaltlich auf mehreren Ebenen überzeugen kann. Eine ebenso unterhaltsame wie lehrreiche Lektüre.

Bewertung vom 15.11.2024
Lee, Young-do

Der Feuergeist / Die Legende vom Tränenvogel Bd.3


ausgezeichnet

Mit Der Feuergeist liegt der dritte und vorletzte Teil der Legende vom Tränenvogel von Lee Young-Do vor. Gelingt es dem südkoreanischen Shooting-Star, das große Finale angemessen vorzubereiten?

Schnell und dynamisch

Bereits der Beginn des Romans erweist sich als abenteuerlich, tauchen wir doch mitten auf dem Schlachtfeld auf, bekommen Kenntnis vom rund vierjährigen Zeitsprung und erfahren en passant, was in der Zwischenzeit geschehen ist.

Das ist dynamisch, das ist elegant gelöst und das gibt den Ton für die restlichen Seiten vor. Die Geschichte schreitet mit einem unglaublichen Tempo voran und auf beinahe jeder Seite wird die Handlung vorangebracht – ein krasser Gegensatz zum letzten Band.

Abwechslungsreich und Erfrischend

Wir dürfen uns dabei über unterschiedliche Szenarien freuen. Ob auf dem Schlachtfeld, bei politischen Ränkespielen oder auf einer klassischen Quest mit unserer Stamm-Heldengruppe (die ihren ersten Auftritt erst nach gut hundert Seiten hat) – hier dürfte für jeden Fantasy-Leser etwas dabei sein.

Dazu trägt abermals auch das Setting bei. Ohne mich wiederholen zu wollen: Das stark asiatisch angehauchte Setting betrifft sowohl die Welt als auch die Verhaltensweise der Protagonisten und stellt damit eine willkommene Abwechslung für westlich geprägte Leser dar.

Sympathisches Figurenensemble

Das Personal besteht zum größten Teil aus altbekannten Figuren der vorherigen Bände. Hier ist besonders schön zu sehen, dass auch vermeintliche Nebenfiguren vom Autor nicht vergessen werden und immer wieder kleinere Auftritte feiern dürfen.
Eine weitere Konstante stellt die Gruppe um Kaygon Draka dar, deren eigenwillige Dynamik immer wieder für Lacher sorgt. Möchte man kleinlich sein, dann könnte man allenfalls die überraschende, weil unbeleuchtete Entwicklung von Ryun Pey kritisieren – aber andererseits hätte eine genaue Darstellung den Roman auch zu sehr entschleunigt.

Handwerklich solide

Sprachlich handelt es sich wieder einmal um ein solides Werk: Lee Young-Dos Prosa ist weder zu einfach noch zu kompliziert, er kann alle möglichen Arten von Szenen schreiben und hält jederzeit die Fäden in der Hand. Grundsätzlich beherrscht unser Autor also sein Handwerk, auch wenn alles beinahe schon ein wenig zu unspektakulär wirkt.

Fazit

Mit Der Feuergeist meldet sich Lee Young-Do eindrucksvoll zurück. Insbesondere das Erzähltempo-Problem wurde eindrucksvoll gelöst, während die restlichen positiven Aspekte beibehalten wurden. Die Reihe revolutioniert nicht das Genre, kombiniert aber ein erfrischendes Setting, asiatische Elemente und grundsolide handwerkliche Fertigkeiten zu einer lesenswerten Reihe – eine wirklich positive Überraschung.

Bewertung vom 18.10.2024
Fitzgerald, F. Scott

Der große Gatsby. Schmuckausgabe mit Kupferprägung


gut

Der große Gatsby von Francis Scott Fitzgerald gilt als Klassiker der modernen amerikanischen Literatur und steht wie kein Zweiter Roman für die Roaring Twenties. Nächstes Jahr wird Fitzgeralds wohl berühmtester Roman 100 Jahre alt – höchste Zeit also, einen ausführlichen Blick zu wagen.

Provokant beliebig

Es fällt mir nicht schwer zu verstehen, warum sich dieser Roman auch noch nach beinahe hundert Jahren einer so großen Beliebtheit erfreut: Er ist kurz und einfach genug geschrieben, um auch Gelegenheitsleser anzulocken. Gleichzeitig ist er durchzogen von zahlreichen Motiven, die immer nur oberflächlich angerissen werden, damit aber Anknüpfungspunkte für beinahe jeden Leser bieten.

Sei es der American Dream, dessen Dekonstruktion, Dekadenz, Roaring Twenties, Prohibition, Liebesgeschichten, Anti-Liebesgeschichten, Sehnsucht, Nostalgie, Melancholie, neue Frauenrollen (von Emanzipation möchte ich bei Figuren wie Jordan Baker oder Daisy nicht sprechen) oder feine Risse in scheinbar makellosen Umgebungen: Fitzgerald schneidet beinahe jeden denkbaren Aspekt an – ohne dabei aber wirklich in die Tiefe zu gehen.

Das ist auch völlig in Ordnung und schadet der Geschichte nicht. Unangenehm wird es nur, wenn Fitzgerald mit dem Holzhammer unterwegs ist und uns banale Botschaften aufdrücken will – glücklicherweise halten sich diese Stellen in Grenzen.

Interessanter Stil

Handwerklich haben wir es mit einer interessanten Mischung zu tun: Einerseits setzt Fitzgerald auf ausführliche Beschreibungen und eine sehr bildhafte Sprache, die durchzogen ist von Metaphern und Akzente auf bestimmte Aspekte (v.a. Farben) setzt. Andererseits setzt er auf eine sehr komprimierte Handlung und wählt Szenen und Rückblenden mit Bedacht aus.

Als Film-Kenner dachte ich beispielsweise, dass die Ausschweifungen seiner Protagonisten viel mehr Raum einnehmen würden. Tatsächlich setzt unser Autor seine Szenen mit Bedacht ein – manchmal schneidet er allerdings zu viel ab, während Aspekte wie die Vergangenheit von Nick viel Raum einnehmen, ohne der Geschichte etwas zu geben.
Unser Erzähler Nick ist ein klassischer unzuverlässiger Erzähler mit allen Vor- und Nachteilen dieses Stilmittels. Er ist immerhin blass genug, um den Fokus stets auf das eigentliche Geschehen zu lenken.

Anstrengendes Figurenensemble

In Sachen Charakteren macht Fitzgerald es uns schwer und präsentiert ein Umfeld, das man mögen muss: Sämtliche entscheidende Figuren (insbesondere Tom und Daisy) sind absurd reich, arrogant und gelangweilt und verhalten sich dementsprechend. Figuren aus den unteren Gesellschaftsschichten wie Wilson oder Myrtle kommen aber auch nicht besser weg.

Die einzigen Ausnahmen sind Nick (Fleiß) und Gatsby. Mein Problem mit Gatsby ist jedoch, dass er absichtlich so schwammig beschrieben wird, dass wir als Leser entscheidende Momente nicht wirklich nachvollziehen können. Ohne zu viel verraten zu wollen: Natürlich kann Liebe zu unüberlegten Handlungen führen. Aber dazu muss zunächst einmal eine Liebesgeschichte nachvollziehbar konstruiert werden – was im entscheidenden Beispiel nicht der Fall ist.

Edle Kupferprägungen

Die mir vorliegende Ausgabe stammt aus dem Anaconda Verlag und kann durch ein ansprechendes Äußeres überzeugen. Grundsätzlich handelt es sich um ein gewöhnliches Anaconda-Hardcover, bei dem wir zwar auf ein Leseband verzichten müssen, dafür aber uns eines unschlagbaren Preis-Leistungs-Verhältnisses erfreuen dürfen.

Diese Ausgabe entstammt der Reihe besonderer Klassiker und kann mit einer ansprechende Cover-Gestaltung und einer gelungenen Kupferprägung aufwarten. Die Übersetzung stammt von Kail Kilian. Auf einen Anhang müssen wir verzichten - das ist aber angesichts des günstigen Preises völlig in Ordnung.

Was bleibt?

Der große Gatsby von Francis Scott Fitzgerald ist leider nicht der große Wurf, den ich mir erhofft habe. Ich verstehe die Faszination, die von diesem Roman ausgeht und warum er so viele unterschiedliche Menschen anspricht. Auch sprachlich handelt es sich um eine durchaus ansprechende Mischung aus bildhafter Sprache und komprimierter Handlung, die gewürzt ist mit anderen klug eingesetzten Stilmitteln.

Leider ist es aber auch die thematische Beliebigkeit, die diesen Roman am Boden hält. Wer alle ein bisschen anspricht, spricht am Ende niemanden wirklich an. Zudem fällt es mir schwer, die zentrale Liebesgeschichte wirklich nachvollziehen zu können – hier hätte ich mir weniger Farben und mehr Szenen gewünscht. Alles in allem also ein durchaus unterhaltsamer Roman, mehr aber (leider) auch nicht.

Bewertung vom 11.10.2024
Gasdanow, Gaito;Barck, Jürgen

Das Schicksal der Salome


ausgezeichnet

Gaito Gasdanow gehört zur scheinbar endlosen Riege russischer Exilautoren, denen erst fern der Heimat der literarische Durchbruch gelungen ist. Mit Das Schicksal der Salome liegen nun zehn seiner besten Kurzgeschichten gesammelt vor.

Außenseiter und Verlorene

Dass die Biographie eines Menschen Einfluss auf sein Schaffen haben kann, mag zunächst einmal keiner Erwähnung wert sein. Das genaue Ausmaß hat mich in Gasdanows Fall aber doch mehr als überrascht. Er verbrachte beinahe sein gesamtes Leben fern seiner russischen Heimat und musste dort unter anderem seine Familie zurücklassen. Zeit seines Lebens muss er sich als Außenseiter und Fremder ohne Auffangnetz und Kompass gefühlt haben. Und genau jenes Gefühl zieht sich durch all seine Geschichten.

Seine Figuren sind genau wie er Grenzgänger und Außenseiter, leben oft weit entfernt von ihrem Geburtsort, sprechen andere Sprachen als ihre Muttersprache und wissen nicht einmal selbst so genau, was sie eigentlich wollen oder brauchen. Äußerlich scheint es immer eine sachliche Distanz zwischen ihnen und ihrem Umfeld zu geben, die nicht überwunden werden kann. Innerlich befinden sie sich auf der Flucht oder auf der Suche - die Grenzen sind fließend - und irren plan- und ziellos umher.

Zwischen Komödie und Tragödie

Thematisch bewegt er sich haarscharf an der Grenze zwischen Komödie und Tragödie. Seine Figuren wirken so, als ob sie sich der Absurdität ihres/des Lebens bewusst wären und begleiten das Geschehen mit einem leicht spöttischen Unterton, gleichzeitig hat sie die Realität fest in ihrem Griff gefangen und lässt sie nicht mehr los.

In seinen Geschichten steht oft das Schicksal rastloser und eindrucksvoller Frauen im Mittelpunkt, aber darauf beschränkt sich sein Schaffen nicht. So erwartet uns ein bunter Strauß an Geschichten, die von Bürgerkriegsepisoden über Schelmengeschichten, klassischen Kurzgeschichten mit Schlusspointen bis hin zu beinahe surreal anmutenden Traumsequenzen reichen.

Melodische Satzstrukturen

Handwerklich kann Gasdanow durch ein einzigartiges Gefühl für Sprache, Tempo und Rhythmus überzeugen. Sein Markenzeichen sind ohne Frage äußerst lange Sätze, die er gerne für die Gedankengänge seiner Figuren oder zur Darstellung dynamischer Handlungselemente nutzt.

Mindestens genauso wichtig sind aber auch seine kurzen Sätze und sein Gefühl dafür, wann welche Satzkonstruktion angemessen ist. Wie kein Zweiter versteht er es, das Tempo zu drosseln oder zu beschleunigen und so seinen Geschichten einen beinahe schon melodischen Charakter zu verleihen.

Eigentlich bin ich ja kein Freund ellenlanger Sätze und bevorzuge einen nüchternen und aufgeräumten Schreibstil. Bei Gasdanow verkommen diese Sätze aber nicht zum reinen Selbstzweck – der Autor weiß genau, wie er einen Text strukturieren muss und verliert niemals den Faden in seinen Erzählungen.

Erstaunlich hochwertig

Gasdanows Werke erlebten vor einigen Jahren im deutschsprachigen Raum eine kleine Renaissance und insbesondere der Hanser Verlag veröffentlichte einige seiner Romane und Kurzgeschichten. Dieses Interesse scheint deutlich abgeflacht zu sein. In den letzten Jahren erschien (bis auf Schwarze Schwäne) keines seiner Werke bei einem großen Publikumsverlag.

In diese Bresche ist Jürgen Barck gesprungen, der in Eigenregie schon einige Kurzgeschichten und Romane Gasdanows übersetzt und als BoD herausgebracht hat. Bei BoD Büchern habe ich als Leser immer noch mit Vorurteilen zu kämpfen und ganz von der Hand zu weisen sind diese Befürchtungen sicherlich nicht. Glücklicherweise belehrte mich diese Publikation eines Besseren.

Bereits der Schutzumschlag kann durch eine minimalistisch-strukturierte Gestaltung überzeugen und könnte genau so auch bei Hanser oder Mare erscheinen. Der Einband selbst weist eine strukturierte Oberfläche und zudem sogar eine Faksimile-Signatur des Autors auf. Darüber hinaus dürfen wir uns über ein Leseband freuen.

Auch die inneren Werte können überzeugen. Im lesenswerten Vorwort stimmt uns Tobias Zeising auf die Geschichten ein und daneben erwartet uns noch ein kurzer Anhang mit einigen bibliographischen Details und Anmerkungen zu den einzelnen Geschichten.

Alles in allem erhält man also einen Band, der locker mit großen Verlagsproduktionen mithalten kann – und das alles noch zu einem mehr als fairen Preis.

Fazit

Das Schicksal der Salome von Gaito Gasdanow überzeugt durch ergreifende Schicksale und eine unverkennbare Sprachmelodie. Lesenswert!

Bewertung vom 04.10.2024
Twain, Mark

Prinz und Bettelknabe. Vollständige, ungekürzte Ausgabe


ausgezeichnet

Was soll man zu Mark Twain noch schreiben, was nicht längst schon jemand anders zu Papier gebracht hat? Seine Romane haben Kultstatus erreicht und ich persönlich halte Tom Sawyer und Huckleberry Finn immer noch für die zwei besten Romane, die jemals geschrieben wurden. Nur wenigen Menschen gelingt es, Witz und Verstand so zu verbinden wie dem ehemaligen Mississippi-Lotsen.

Twain schrieb The Prince and the Pauper bereits 1881, die erste deutsche Fassung sollte allerdings erst 1956 folgen. Grundlage seiner Arbeit bildete die ebenso kurze wie interessante Regentschaft von Eduard VI., Sohn Heinrichs VIII., die tatsächlich einige Doppelgänger-Betrüger inspirierte.

Etabliertes Motiv

Das dem Roman innewohnende Verwechslungsmotiv ist dabei so alt wie der moderne Roman selbst. In der Literatur versuchten sich bereits Jahrzehnte vor Twain einige berühmte Kollegen wie Keller oder Gogol daran. Kein Versuch erlangte aber so eine Popularität wie der vorliegende Roman. Nicht ohne Grund orientieren sich Funk und Fernsehen bis heute an diesem Klassiker, wenn es um Verwechslungsgeschichten geht.

Der Plot bietet keinen Anlass für Überraschungen: Zwei Menschen aus extrem unterschiedlichen sozialen Verhältnissen werden in das jeweils andere Umfeld gepackt und stehen vor zahlreichen größeren und kleineren Herausforderungen. Vorher gibt es noch eine Videobotschaft, in der die Tauschmutter … ach ne, das war eine andere Geschichte …

Die Richtung stimmt dennoch: Das klingt alles nach dem Stoff für eine waschechte Komödie. Und in der Tat sorgt so manche Szene für ausgelassene Lacher. Die geneigte Leserin mag sich einen beliebigen Umstand vorstellen – er wird in diesem Buch zu finden sein. Dass Twain als Meister des Humors in allen Facetten auf allen denkbaren Ebenen zu unterhalten weiß, dürfte wohl für keine großen Überraschungen sorgen.

Humor und Gesellschaftskritik

Darauf ruht sich Twain jedoch nicht aus. Unser Autor hatte schon immer ein Händchen dafür, den Finger in die Wunde zu legen und gesellschaftliche Missstände schonungslos aufzuzeigen. So ist unsere märchenhafte Geschichte durchzogen von recht harten Szenen, in denen Menschen geschlagen, ausgeraubt, ermordet, bedroht oder betrogen werden – in jedem vorstellbaren gesellschaftlichen Verhältnis.

Quasi nebenbei zeigt er Machtmissbrauch und Ungerechtigkeiten auf und macht klar, dass werteorientiertes und moralisches Handeln keine Frage des Geldbeutels ist. Und wer glaubt, dass Twain mit seiner Kritik möglicherweise auch seine Zeitgenossen miteinschloss, der dürfte gar nicht mal so daneben liegen.

Im Laufe der Geschichte begegnen wir einer Reihe von unterhaltsamen Figuren, die wir schnell in unser Herz schließen. Natürlich ist nicht jede Figur bis ins letzte Detail ausgearbeitet. Aber jede erfüllt ihre klar umrissene Rolle mit Bravour.

Fazit

Der Prinz und Bettelknabe von Mark Twain sorgt auch heute noch für einige Stunden kurzweiliger Unterhaltung und überzeugt mit einer Mischung aus Humor und bissiger Gesellschaftskritik. Nicht umsonst prägte der Roman diese kleine Nische der Unterhaltung nachhaltig. Eine ebenso unterhaltsame wie geistreiche Lektüre!