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Ich bin Bookstagrammerin und Germanistik-Studentin und nutze NetGalley, um neue Bücher kennenzulernen, Rezensionsexemplare zu lesen und meine Eindrücke auf Instagram, TikTok, Bookie, Goodreads und in persönlichen Empfehlungen zu teilen.

Bewertungen

Insgesamt 2 Bewertungen
Bewertung vom 03.10.2025
Mustard, Jenny

Beste Zeiten


sehr gut

✨ REZENSION zu „Beste Zeiten“ von Jenny Mustard, übersetzt von Lisa Kögeböhn und erschienen im Eichborn Verlag

📖 Inhalt (spoilerfrei): Im Mittelpunkt steht Sickan, die eigentlich Siv heißt, sich jedoch selbst einen neuen Namen gibt, um sich von ihrer Vergangenheit zu lösen. Mit Anfang 20 ist sie für ihr Studium gerade nach Stockholm gezogen und versucht nun, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen, fernab ihrer exzentrischen Eltern, die hochintelligente Wissenschaftler, aber sozial unbeholfen und auffällig sind. Sie selbst kämpft mit Scham, Einsamkeit und dem tiefen Wunsch, „normal“ zu sein und dazuzugehören und muss erkennen, wie schwer es ist, sich selbst zu verstehen, während man versucht, in einer Welt voller Erwartungen seinen Platz zu finden.

🖋️ Erzählstruktur & Stil : Jenny Mustard wählt eine fragmentarische, introspektive Erzählweise. Mit beinahe jedem Absatz wechselt die Perspektive zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Erinnerungsfetzen. Wir sind mal in Stockholm, mal in Sickans Kindheit, mal während der Weihnachtsferien bei ihren Eltern. Diese ständigen Zeit- und Ortswechsel fordern die Lesenden, ohne sie zu überfordern. Der Stil ist nüchtern, präzise und poetisch. Viele Sätze wirken beiläufig und tragen doch eine tiefe emotionale Wucht. Besonders auffällig ist die sprachliche Ehrlichkeit: Körperliche und intime Erfahrungen werden nicht ausgespart, sondern selbstverständlich in den Text integriert. Wenn Sickan über ihre Menstruation spricht oder den Kauf von Tampons reflektiert, wird deutlich, wie subtil gesellschaftliche Schammechanismen wirken und wie absurd sie sind. Jenny Mustard benennt Scham, Sexualisierung und Körperlichkeit offen und enttabuisiert damit Themen, die in vielen Romanen noch ausgespart werden. Die Sprache ist dabei nie plakativ, sondern ruhig, beobachtend, reflektiert und kraftvoll.

👥 Figuren: Sickan ist eine komplexe, oft widersprüchliche Figur: sensibel, introspektiv, manchmal kühl, abgebrüht, dann wieder verletzlich und unsicher. Diese Ambivalenz macht sie authentisch und menschlich. Ihre Eltern, Freunde und Partner sind weniger im Mittelpunkt, dienen aber als Spiegel ihrer Entwicklung. Besonders ihre Beziehung zu Abbe ist ambivalent: von Zuneigung geprägt, aber auch von Distanz, Unsicherheit und Schmerz.

🌙 Symbolik: Einerseits spiegelt die fragmentarische Struktur Sickans seelische Unruhe und die Suche nach Orientierung wider: Wie sie selbst sich noch nicht zurechtfindet, muss man sich als Leserin ebenfalls immer wieder neu verorten. Die Benennung ihrer Menstruation steht für Körperlichkeit, Weiblichkeit und Normalität, wird ungeschönt integriert ein Akt sprachlicher Ehrlichkeit. Die Tampon-Kaufszene macht internalisierte Scham sichtbar, die Angst, über den Körper bewertet zu werden, und das Bewusstsein, dass selbst Intimes gesellschaftlich aufgeladen ist. Das Einsetzen der Blutung tritt genau zeitgleich zu ihrem emotionalen Schmerz ein, weil ihr Abbe kein „god jul!“ zu Heilig Abend wünscht. Die fast erfrorene Zehen symbolisieren die fragile Beziehung zu Abbe: sie sind „fast tot“, kehren aber schmerzhaft, doch lebendig zurück, wie auch er in ihrem Leben präsent bleibt.

🕳️ Thematische Tiefe: Jenny Mustard thematisiert eindrücklich, wie junge Frauen in einer leistungsorientierten, bewertenden Gesellschaft aufwachsen. Sie beschreibt den Druck, attraktiv und begehrenswert zu sein, die frühe Sexualisierung, die Scham über den eigenen Körper, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Normalität, die Schwierigkeit, echte Nähe zuzulassen.

💡 Fazit: „Beste Zeiten“ ist ein stilles, aber starkes feministisches Werk, das den Blick nach innen richtet, auf die Prägungen, Erwartungen und Unsicherheiten, die uns in frühen Erwachsenenjahren begleiten. Es ist ein sprachlich starkes, introspektives Coming-of-Age über Selbstsuche, Scham, Körperlichkeit und Zugehörigkeit. Mir gefiel besonders die atmosphärische Dichte des Stockholmer Settings, die ehrliche Sprache, die stille Symbolik und die thematische Relevanz. Dennoch hat das Buch emotional nicht allzu viel mit mir gemacht. Es blieb stellenweise distanziert, vieles wurde nur angedeutet, manche Erinnerungen blieben offen (was ist mit ihrer Narbe am Finger?!). Spannend ist der autofiktionale Eindruck: Jenny Mustard hat selbst in Stockholm gelebt und studiert, und einige Details (wie das Rasieren der Haare) scheinen aus ihrem eigenen Leben inspiriert. Doch der Roman ist klar als Fiktion angelegt und nutzt persönliche Erfahrungen eher atmosphärisch als biografisch, ganz ähnlich zu den kreativen Dialogen, die Sickan im Buch auf Grundlage wahrer Gespräche schreibt, aber abändert. Insgesamt ein unglaublich energetisches und mutiges Buch, das wichtige Themen flüsternd auf den Punkt bringt und dabei keinerlei Authentizität einbüßt.

Bewertung vom 05.09.2025
Kurisu, Hiyoko

Der Laden in der Mondlichtgasse


gut

✨ Rezension zu "Der Laden in der Mondlichtgasse" von Hiyoko Kurisu, übersetzt von Charlotte Scheurer und erschienen im Droemer Knaur Verlag. Die Autorin hat mit "The Twilight Post Office in the Night Alley" inzwischen eine Fortsetzung vorgelegt.

📖 Inhalt (spoilerfrei): In einer kleinen japanischen Stadt gibt es einen unscheinbaren Schrein. Menschen, deren Dasein ins Wanken geraten ist, finden dort den verborgenen Zugang zur Mondlichtgasse, einem Ort zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Am Ende dieser Gasse liegt eine traditionsreiche Confiserie namens "Kohaku", geführt von Kogetsu, halb Mensch, halb Fuchsgeist. Besucher:innen können dort Süßigkeiten erwerben, die manchmal eine besondere Wirkung haben können.

✍️ Erzählstruktur und -stil: Der Roman ist in sechs eigenständige Geschichten eingeteilt, die alle nur durch Kogetsus größtenteils stille Beobachtung verbunden sind. Jedes Kapitel trägt den Namen der jeweiligen Süßigkeit, die darin verzehrt wird, und ist mit einer passenden Illustration versehen. Im Anhang findet sich zudem ein Glossar, in dem alle erwähnten Süßigkeiten, typische japanische Kleidung sowie die auftauchenden Geister, Tiere und humanoiden Fabelwesen aus dem Volksglauben erklärt werden. Jede Episode folgt einem ähnlichen Rhythmus: eine Figur in einer Krise, der Weg durch den Schrein, die Begegnung in der Confiserie, eine kleine Veränderung. Das wirkt vertraut, fast rituell, aber auch schnell repetitiv. Die Sprache ist schlicht, zugänglich und ruhig. Der Tonfall erinnert an Märchen, weniger an komplexe Prosa, und legt den Fokus klar auf Atmosphäre statt auf sprachliche Raffinesse. Das Buch lässt sich gut in eine Strömung der zeitgenössischen japanischen Unterhaltungsliteratur einordnen, die unter Begriffen wie iyashikei (癒し系, „heilend/beruhigend“) oder feel-good literature bekannt ist. Diese Texte wollen kein literarisches Gewicht entfalten, sondern ein wohliges, leicht melancholisches, letztlich beruhigendes Gefühl vermitteln. Typisch sind der episodische Aufbau, die rituelle Wiederholung ähnlicher Muster, die Vermittlung kleiner Lebensweisheiten (Ehrlichkeit, Selbstakzeptanz, Loslassen) sowie der Vorrang von Atmosphäre vor psychologischer Tiefe.

👥 Figuren: Die Figuren sind eher Typen als tief ausgearbeitete Charaktere: Menschen, die Einsamkeit, Schuld, Selbstzweifel oder Sehnsucht verkörpern. Sie stehen stellvertretend für allgemeine menschliche und emotionale Erfahrungen und entwickeln sich nur in kleinen Schritten. Kogetsu, der Fuchsgeist, bleibt geheimnisvoll und distanziert, fast wie ein melancholischer Fremder. Erst allmählich zeigt sich, wie auch er durch menschliche Begegnungen berührt wird.

🌙 Symbole: Die Menschen, die den Schrein betreten, stehen jeweils in einer Phase tiefen Kummers und innerer Zerrissenheit. Aus diesem Zustand heraus werden sie in die Mondlichtgasse geführt, an deren Ende sie die Confiserie finden. Der Schrein markiert dabei eine Schwelle, und die Gasse selbst wirkt wie ein Zwischenraum: ein stiller Ort, der Menschen im Verborgenen zu einer Begegnung mit sich selbst führt. Die Süßigkeiten sind Symbole für kleine, selbst gewählte Impulse: Sie ersetzen keine Lösung, eröffnen aber die Möglichkeit für neue Wege. Folkloristische Elemente wie der Fuchsgeist verankern das Ganze in der japanischen Sagenwelt, ohne die Geschichten zu überfrachten. Besonders hervorzuheben ist die Symbolik des Bernsteins: Der Laden trägt den Namen Kohaku, was sowohl auf den Familiennamen eines Menschen verweist, dem er gewidmet ist, als auch auf Kohakutō, eine traditionelle Süßigkeit, die „Bernsteinzucker“ bedeutet. Wörtlich übersetzt würde der Titel des Buches auf Deutsch „Der Süßigkeitenladen im Bernsteinschein der Nachtgasse“ heißen.

💭 Fazit: "Der Laden in der Mondlichtgasse" ist ein typisches Beispiel japanischer Cozy-Literatur: warm, atmosphärisch und märchenhaft. Es geht um Ehrlichkeit, Mitgefühl, Offenheit, Achtsamkeit. Themen, die einfach und kindlich-naiv vermittelt werden. Für mich persönlich war die Lektüre daher zu repetitiv, zu simpel und zu wenig fesselnd, um wirklich zu berühren. Als kleine, tröstliche Zwischendurchlektüre funktioniert das Buch jedoch gut, wie eine Süßigkeit, die man sich kurz gönnt, ohne dass sie lange vorhält.

3|5 ⭐️